Scham
002 002 — — Inhalt Magazin
Hier steht die Headline
003
Inhalt — Magazin
Hier steht die Headline
*
10 94
84
42
schuld & schrecken
sieger & scharfmacher
schmach & Schutzlosigkeit
sklaverei & supermodels
sexualität & souveränität
schönheit & sünde
Auftakt
Zu Gaetano Donizettis »Lucrezia Borgia«
Zu Leoš Janáčeks »Jenůfa«
Zu Giuseppe Verdis »Aida«
Zu »Ballets Russes« & »Zugvögel«
Magazin
42 Der Schwierige Leoš Janáček und seine Frauen. Eine Spurensuche in Mähren
62 Ohne jede Scham Eine Ägypterin kämpft für ihr uneheliches Kind
78 Das Tuch und der Tänzer Die Schlacht um »L’après-midi d’un faune«. Anatomie eines Skandals
94 Im Verlassenen Kindesmissbrauch. Wenn die Opfer weiter leiden. Zu Besuch in Eschenau
83 Cartoon Paul Davis illustriert »Schwanensee«
100 Psychotherapie mit dem Messer Wer schämt sich für Schönheitsoperationen?
84 Die Würde des Körpers Warum der Tänzer Raimund Hoghe seinen Körper in den Kampf wirft
104 Zuletzt Eine Kurzgeschichte von Fränk Heller
6 Was ist auf der Bühne noch tabu? Sex, Mord, Inzest — wen regt das auf?
7 Alarmstufe Rot Wie peinlich! Was gegen das Erröten hilft 8 Der Boulevard schämt sich Wann die Nackten von Seite 1 verschwinden
28 Der kleine Cäsar Wie Silvio Berlusconi sein Image poliert 32 Im Schatten der Kirche Priesterkinder und ihr Dasein im Dunkel 36 In bester Gesellschaft Giftmorde gibt es auch heute noch
10 Fotoessay »Shame« von Peter Sutherland
52 Scham & glaube Judentum, Islam, Christentum: ein Rabbiner, ein Imam und ein Monsignore erzählen 56 Das goldene Mädchen Die holländische Sängerin Eva-Maria Westbroek im Gespräch
67 Ware Mensch Sklaverei existiert bis heute. Report über ein weltweites Phänomen 72 Schön & Gut Supermodel Liya Kebede erzählt, was sie antreibt
88 Spannungsfeld Choreograf Jiří Kylián über Scham und Exhibitionismus
20 Schamlos: die Zeit Ein Essay von Elfriede Jelinek
105 »Così fan tutte« Ein Comic von Frank Höhne 110 »Nie sollst du mich befragen« Die unmögliche Enzyklopädie 112 Kulturtipps Bücher & Co.
4 Autoren & Fotografen 5 Impressum
115 Spielplan * Titelbild Maria, fotografiert von Andreas Kohler, aus der Serie »Alabasterkörper«
Diese Texte gibt es auch als Hörversion unter: www.staatsoper.de/maxjoseph _
120 Au revoir! Friedrich Ani spricht mit Max I. Joseph
002 002 — — Inhalt Magazin
Hier steht die Headline
003
Inhalt — Magazin
Hier steht die Headline
*
10 94
84
42
schuld & schrecken
sieger & scharfmacher
schmach & Schutzlosigkeit
sklaverei & supermodels
sexualität & souveränität
schönheit & sünde
Auftakt
Zu Gaetano Donizettis »Lucrezia Borgia«
Zu Leoš Janáčeks »Jenůfa«
Zu Giuseppe Verdis »Aida«
Zu »Ballets Russes« & »Zugvögel«
Magazin
42 Der Schwierige Leoš Janáček und seine Frauen. Eine Spurensuche in Mähren
62 Ohne jede Scham Eine Ägypterin kämpft für ihr uneheliches Kind
78 Das Tuch und der Tänzer Die Schlacht um »L’après-midi d’un faune«. Anatomie eines Skandals
94 Im Verlassenen Kindesmissbrauch. Wenn die Opfer weiter leiden. Zu Besuch in Eschenau
83 Cartoon Paul Davis illustriert »Schwanensee«
100 Psychotherapie mit dem Messer Wer schämt sich für Schönheitsoperationen?
84 Die Würde des Körpers Warum der Tänzer Raimund Hoghe seinen Körper in den Kampf wirft
104 Zuletzt Eine Kurzgeschichte von Fränk Heller
6 Was ist auf der Bühne noch tabu? Sex, Mord, Inzest — wen regt das auf?
7 Alarmstufe Rot Wie peinlich! Was gegen das Erröten hilft 8 Der Boulevard schämt sich Wann die Nackten von Seite 1 verschwinden
28 Der kleine Cäsar Wie Silvio Berlusconi sein Image poliert 32 Im Schatten der Kirche Priesterkinder und ihr Dasein im Dunkel 36 In bester Gesellschaft Giftmorde gibt es auch heute noch
10 Fotoessay »Shame« von Peter Sutherland
52 Scham & glaube Judentum, Islam, Christentum: ein Rabbiner, ein Imam und ein Monsignore erzählen 56 Das goldene Mädchen Die holländische Sängerin Eva-Maria Westbroek im Gespräch
67 Ware Mensch Sklaverei existiert bis heute. Report über ein weltweites Phänomen 72 Schön & Gut Supermodel Liya Kebede erzählt, was sie antreibt
88 Spannungsfeld Choreograf Jiří Kylián über Scham und Exhibitionismus
20 Schamlos: die Zeit Ein Essay von Elfriede Jelinek
105 »Così fan tutte« Ein Comic von Frank Höhne 110 »Nie sollst du mich befragen« Die unmögliche Enzyklopädie 112 Kulturtipps Bücher & Co.
4 Autoren & Fotografen 5 Impressum
115 Spielplan * Titelbild Maria, fotografiert von Andreas Kohler, aus der Serie »Alabasterkörper«
Diese Texte gibt es auch als Hörversion unter: www.staatsoper.de/maxjoseph _
120 Au revoir! Friedrich Ani spricht mit Max I. Joseph
010 — Auftakt
fotoessay —
»Shame«
Peter Sutherland
010 — Auftakt
fotoessay —
»Shame«
Peter Sutherland
022
— Auftakt
und eine Entschuldigung kann ihnen nichts anhaben, die kratzt sie nicht, sie sind das Maß, und sie haben keine Distanz zu sich selbst, weil sie keine brauchen. Sie sind ganz sie. Sie wären nie gern andre, wenn irgend möglich, weil sie am liebsten sie selbst sind. Ihr liebstes Hobby: sie selber sein! Ihr Ich ist das eigentlich bleibende (da muß nichts über sie hinausreichen, da muß sie nichts überleben, denn sie leben sehr gut so, wie sie sind), und nicht das, was andre verbrochen haben und mit dem sie sich nicht beschäftigen wollen und auch nicht müssen. Sie sind die ungeschliffene Manier, mit der sie öffentlich auftreten, und sie schleifen die anderen durch den Dreck. Das macht ihnen großen Spaß. So wie die Zeit sich nicht verläuft, sondern nur verläuft, so verlaufen die J.G.s sich auch nie in ihren Meinungen, denn sie glauben, die Zeit läuft in ihrem Sinne, sie kann gar nicht anders verlaufen. Und wenn die Zeit bleibt und nicht wechselt, wenn man nicht plötzlich in einer andren Zeit sein kann, dann ist das Wissen ausschließlich etwas, das aus einem selbst kommt, und das ist das, was einem gesagt worden ist (fast alle können nur mehr zu einer Erkenntnis kommen, die einem gesagt worden ist, denn selbst erlebt haben es nur noch wenige), und Fanatiker, vor allem die der Rechten, haben zu dem, was gesagt worden ist und was sie sich ausgesucht und angeeignet haben, keinen Abstand, sonst wären sie nicht mehr fanatisch. Und auch Scham würde nur entstehen können, wenn da ein Bruch wäre, ein Abstand. Aber einen Abstand sehen die rechten Fanatiker nicht (die linken, wenn es sie überhaupt noch gibt, sind zu Brüchen gezwungen worden, zur Distanzierung vom Stalinismus, obwohl sie mit dem meist überhaupt nichts zu tun hatten, die Linke hat sich durch diese erzwungenen Haken, die sie schlagen mußte, vor allem, seit es den realen Sozialismus so gut wie nirgends mehr gibt, geschwächt, die Rechte mußte nie von ihrer Meinung abweichen, und ihre Distanzierungen von Verbrechen »ihrer« Leute, »ihrer« Gesinnungskameraden, ihrer Gesinnungsgemeinschaft — eins der Lieblingsworte des verstorbenen Jörg Haider — bleiben immer sehr oberflächlich, sind nicht wirklich so gemeint, denn die
Rechtspopulismus
Rechte kann eine Kontinuität der Zeit sehen, wo andre, die kritischer sein müssen, die sich nichts durchgehen lassen, denn die Zeit ist ihnen ja schon davongerannt, Brüche, Eselsohren, Kniffe in die Zeit zu machen versuchen — das wird auch permanent von ihnen verlangt, sie müssen sich entschuldigen, ob sie wollen oder nicht, sie müssen —, was aber natürlich nicht möglich ist, denn die Zeit hat ihre eigenen Kniffe, sie kneift selbst nie, sie kneift uns zumindest nie im Schritt, obwohl sie uns oft zu eng ist. Sie kann uns genausowenig aufhalten wie wir sie). Die Linke kann nicht geradeaus gehen, nicht weil ihr Zustand so kritisch wäre, das ist er auch, aber weil sich die Linken immer schämen müssen für etwas, für das sie eben nicht verantwortlich sind, was sie am liebsten ungeschehen machen würden, »Entartungen«, wie sie es nennen, die der großen Idee aber nichts anhaben können, während die Rechte stolz ist auf das, was geschehen ist, ungebrochen, ungelogen, unbesehen, unentartet wie die Kunst ihrer Zeit und die Zeit ihrer Kunst. Nicht zwischen sich und der Zeit sieht die Rechte einen Bruch, denn die Zeit wäre ja eine, die sie ohne weiteres wieder begrüßen würden, sogar in derselben Form wie damals, ach, wäre das schön!, und das Wissen über diese Zeit, die Vergangenheit, das Wissen um die Unveränderbarkeit von Zeit, die sich eben nie verläuft, sondern nur verläuft, ist ihre Stärke. Und Stärke ist der allerletzte Grund für Scham. Kein Abstand also und daher auch keine Distanzierung, denn die Zeit geht immer über die volle Distanz, und diejenigen, die mit ihr mitschwimmen und alles nehmen, wie es kommt, die haben den wenigsten Grund, sich zu schämen. Was immer der Rechten vorgeworfen wird, die Wehrsportvergangenheit ihrer jungen, jugendlichen oder junggebliebenen Führer (auch: der »Alten Herren« der schlagenden Verbindungen, die ihrerseits wieder die besten Verbindungen haben), antisemitische Spottlieder, die Pfeife, in der der Haider Jörgl die paar Juden raucht, die noch übrig sind (bald wird die Zeit bewirken, daß er selber Rauch ist, aber nicht Schall, der Schall hallt jedoch noch lange nach, wie der gefrorene Ton eines Jagdhorns), sie schämen sich dessen nicht, im Gegenteil, sie
023
— Auftakt
sind und erleben das Gegenteil von Scham, sie erleben Stolz!, weil sie das, was sie tun und verbreiten, als das verbreiten, was in der Zeit liegt, was, nein, nicht zeitlich ist, was nie früh genug kommen kann, aber trotzdem in der Zeiteinheit, nur Idioten nehmen nicht mit, was die Zeit ihnen bietet, denn die Vergangenheit zählt paradoxerweise ja nicht, die Zeit bestätigt sich immer nur selbst, und sie bestärkt sich darin, ein reines Nacheinander zu sein, ein Nacheinander des Jetzt, verweile doch, Augenblick, du bist so schön, nein, das tu ich nicht, das täte ich nicht einmal, wenn ich es könnte, sagt der Augenblick, ich muß weg, egal, was passiert, denn die Zeit ist unabänderlich, und jede Zeit ist halt irgendwann mal Vergangenheit, ohne daß man das ändern könnte, und ihr Ich, das Ich der stets frei von der Leber weg sprechenden G.s, ist mit der Zeit zur Zeit selber geworden, in der solche wie sie immer obenauf schwimmen. Sie haben sich die Zeit also genommen, und das ist der Zeit recht, wie ihr alles andere auch recht wäre, die Zeit geht brav mit ihnen mit wie ein Tier am Strick, und man sieht nicht, daß die Zeit sowieso gehen würde, wie sie eben geht. Und da die Zeit alles ist, was es gibt, und da sie eben bleibt und nicht in eine andre wechselt, sind die Rechten, die Rechtsgeflügelten, nein, das geht nicht, sind die vom rechten Flügel, die nichts zu bedauern und zu bereuen haben (oder eben bloß höchst oberflächlich, als sogenanntes Lippenbekenntnis, denn Scham ist ihnen eben unmöglich, sie ist wesensunmöglich für sie, so unmöglich wie die Veränderung der Zeit, denn eine denkmögliche Veränderung der Zeit würde ja suggerieren, daß etwas auch falsch sein könnte und man aus ihr hätte aussteigen können. Da man das aber nicht kann, hat man gewollt, was geschehen ist, auch wenn man es selbst aus Altersgründen nicht ausführen konnte, als junger Mann ist man aus einer andren Zeit, die aber dieselbe ist wie die alte und es auch sein soll), mehr in ihr sind, als andere je in ihr sein könnten. Sie sind die Herren der Zeit, die Rechten, denn es ist immer ihre große Zeit (die manche gekannt haben, als sie noch soo klein war!, aber so jemanden habe ich noch nie kennengelernt, ich kenne niemanden, der die Zeit von Anfang an schon gekannt
Rechtspopulismus
hat), und da diese Zeit groß war, in der die Rechte groß war, ist sie es immer noch für sie: groß. Da von der extremen politischen Rechten immer etwas verlangt wird, das sie nicht leisten kann, eine Distanzierung von einer Zeit, die vergangen ist, von der sie aber zu wissen glaubt, daß sie die ihre ist, gerade weil sie ihr Ich nicht als zeitlich begreifen, sondern als eine Norm, als die Zeit selbst, die eben mit ihnen ist, weil sie gar nicht anders kann, sie kann aber sowieso nicht anders (die Linke hat gesungen: Mit uns zieht die neue Zeit, aber das war die Auto suggestion einer Zeit, die wirklich neu hätte sein können, während die Rechte ist, wie die Zeit ist: unveränderlich, in ihrem eigenen Sinn, da ist keine Differenz, Faschismus, Antifaschismus, das eine wird zum anderen, nicht, weil die Zeit sich geändert hätte, sondern weil sie eben immer dieselbe ist, und daher ist es wirklich egal, ob die Antifaschisten von gestern die Faschisten von heute sind oder die von morgen oder umgekehrt, das ist egal, denn ihr Ich ist nicht zeitlich, indem es die Zeit selber ist. Die Rechte hat keinen Sinn mehr für Zeitlichkeit, weil das, was war, immer noch ist und nicht anders sein oder werden soll). Für die Rechte bleibt das Ich ein Ich, und das Andere muß weg, und zwar alles und noch mehr davon, alles muß raus, wir haben keine Lagerräume für etwas, das sie überleben, das über sie hinausgreifen könnte. Alles muß jetzt sein. Achtung! Sofort! Das Ich ist ein Unveränderliches, das genauso bleibt wie die Zeit, die ja auch nicht stehenbleiben kann oder woandershin gehen. Wo sollte da Scham herkommen? Wo es keine Gegnerschaft zur Zeit gibt (im Sinne des aus der Geschichte Lernens), gibt es auch keine Differenz, aus der Scham überhaupt entstehen könnte. Das Ich der Rechten ist ein zeitloses Ich, und wer sich als ewig empfindet, schämt sich dessen natürlich nicht, denn der gehört zur neuen Avantgarde, der ist immer schon vorneweg, und die Zeit nimmt ihn mit, denn warten kann und will sie nicht, sie kann sich nicht aufhalten, sie kann nicht aufgehalten werden. Und solange diejenigen, mit denen die Zeit ist, die selbsternannten Herren der Zeit, ihr Sein nicht als ein zeitliches begreifen, sondern, da die Zeit eben unveränderlich ist, sich selbst
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— Auftakt
und eine Entschuldigung kann ihnen nichts anhaben, die kratzt sie nicht, sie sind das Maß, und sie haben keine Distanz zu sich selbst, weil sie keine brauchen. Sie sind ganz sie. Sie wären nie gern andre, wenn irgend möglich, weil sie am liebsten sie selbst sind. Ihr liebstes Hobby: sie selber sein! Ihr Ich ist das eigentlich bleibende (da muß nichts über sie hinausreichen, da muß sie nichts überleben, denn sie leben sehr gut so, wie sie sind), und nicht das, was andre verbrochen haben und mit dem sie sich nicht beschäftigen wollen und auch nicht müssen. Sie sind die ungeschliffene Manier, mit der sie öffentlich auftreten, und sie schleifen die anderen durch den Dreck. Das macht ihnen großen Spaß. So wie die Zeit sich nicht verläuft, sondern nur verläuft, so verlaufen die J.G.s sich auch nie in ihren Meinungen, denn sie glauben, die Zeit läuft in ihrem Sinne, sie kann gar nicht anders verlaufen. Und wenn die Zeit bleibt und nicht wechselt, wenn man nicht plötzlich in einer andren Zeit sein kann, dann ist das Wissen ausschließlich etwas, das aus einem selbst kommt, und das ist das, was einem gesagt worden ist (fast alle können nur mehr zu einer Erkenntnis kommen, die einem gesagt worden ist, denn selbst erlebt haben es nur noch wenige), und Fanatiker, vor allem die der Rechten, haben zu dem, was gesagt worden ist und was sie sich ausgesucht und angeeignet haben, keinen Abstand, sonst wären sie nicht mehr fanatisch. Und auch Scham würde nur entstehen können, wenn da ein Bruch wäre, ein Abstand. Aber einen Abstand sehen die rechten Fanatiker nicht (die linken, wenn es sie überhaupt noch gibt, sind zu Brüchen gezwungen worden, zur Distanzierung vom Stalinismus, obwohl sie mit dem meist überhaupt nichts zu tun hatten, die Linke hat sich durch diese erzwungenen Haken, die sie schlagen mußte, vor allem, seit es den realen Sozialismus so gut wie nirgends mehr gibt, geschwächt, die Rechte mußte nie von ihrer Meinung abweichen, und ihre Distanzierungen von Verbrechen »ihrer« Leute, »ihrer« Gesinnungskameraden, ihrer Gesinnungsgemeinschaft — eins der Lieblingsworte des verstorbenen Jörg Haider — bleiben immer sehr oberflächlich, sind nicht wirklich so gemeint, denn die
Rechtspopulismus
Rechte kann eine Kontinuität der Zeit sehen, wo andre, die kritischer sein müssen, die sich nichts durchgehen lassen, denn die Zeit ist ihnen ja schon davongerannt, Brüche, Eselsohren, Kniffe in die Zeit zu machen versuchen — das wird auch permanent von ihnen verlangt, sie müssen sich entschuldigen, ob sie wollen oder nicht, sie müssen —, was aber natürlich nicht möglich ist, denn die Zeit hat ihre eigenen Kniffe, sie kneift selbst nie, sie kneift uns zumindest nie im Schritt, obwohl sie uns oft zu eng ist. Sie kann uns genausowenig aufhalten wie wir sie). Die Linke kann nicht geradeaus gehen, nicht weil ihr Zustand so kritisch wäre, das ist er auch, aber weil sich die Linken immer schämen müssen für etwas, für das sie eben nicht verantwortlich sind, was sie am liebsten ungeschehen machen würden, »Entartungen«, wie sie es nennen, die der großen Idee aber nichts anhaben können, während die Rechte stolz ist auf das, was geschehen ist, ungebrochen, ungelogen, unbesehen, unentartet wie die Kunst ihrer Zeit und die Zeit ihrer Kunst. Nicht zwischen sich und der Zeit sieht die Rechte einen Bruch, denn die Zeit wäre ja eine, die sie ohne weiteres wieder begrüßen würden, sogar in derselben Form wie damals, ach, wäre das schön!, und das Wissen über diese Zeit, die Vergangenheit, das Wissen um die Unveränderbarkeit von Zeit, die sich eben nie verläuft, sondern nur verläuft, ist ihre Stärke. Und Stärke ist der allerletzte Grund für Scham. Kein Abstand also und daher auch keine Distanzierung, denn die Zeit geht immer über die volle Distanz, und diejenigen, die mit ihr mitschwimmen und alles nehmen, wie es kommt, die haben den wenigsten Grund, sich zu schämen. Was immer der Rechten vorgeworfen wird, die Wehrsportvergangenheit ihrer jungen, jugendlichen oder junggebliebenen Führer (auch: der »Alten Herren« der schlagenden Verbindungen, die ihrerseits wieder die besten Verbindungen haben), antisemitische Spottlieder, die Pfeife, in der der Haider Jörgl die paar Juden raucht, die noch übrig sind (bald wird die Zeit bewirken, daß er selber Rauch ist, aber nicht Schall, der Schall hallt jedoch noch lange nach, wie der gefrorene Ton eines Jagdhorns), sie schämen sich dessen nicht, im Gegenteil, sie
023
— Auftakt
sind und erleben das Gegenteil von Scham, sie erleben Stolz!, weil sie das, was sie tun und verbreiten, als das verbreiten, was in der Zeit liegt, was, nein, nicht zeitlich ist, was nie früh genug kommen kann, aber trotzdem in der Zeiteinheit, nur Idioten nehmen nicht mit, was die Zeit ihnen bietet, denn die Vergangenheit zählt paradoxerweise ja nicht, die Zeit bestätigt sich immer nur selbst, und sie bestärkt sich darin, ein reines Nacheinander zu sein, ein Nacheinander des Jetzt, verweile doch, Augenblick, du bist so schön, nein, das tu ich nicht, das täte ich nicht einmal, wenn ich es könnte, sagt der Augenblick, ich muß weg, egal, was passiert, denn die Zeit ist unabänderlich, und jede Zeit ist halt irgendwann mal Vergangenheit, ohne daß man das ändern könnte, und ihr Ich, das Ich der stets frei von der Leber weg sprechenden G.s, ist mit der Zeit zur Zeit selber geworden, in der solche wie sie immer obenauf schwimmen. Sie haben sich die Zeit also genommen, und das ist der Zeit recht, wie ihr alles andere auch recht wäre, die Zeit geht brav mit ihnen mit wie ein Tier am Strick, und man sieht nicht, daß die Zeit sowieso gehen würde, wie sie eben geht. Und da die Zeit alles ist, was es gibt, und da sie eben bleibt und nicht in eine andre wechselt, sind die Rechten, die Rechtsgeflügelten, nein, das geht nicht, sind die vom rechten Flügel, die nichts zu bedauern und zu bereuen haben (oder eben bloß höchst oberflächlich, als sogenanntes Lippenbekenntnis, denn Scham ist ihnen eben unmöglich, sie ist wesensunmöglich für sie, so unmöglich wie die Veränderung der Zeit, denn eine denkmögliche Veränderung der Zeit würde ja suggerieren, daß etwas auch falsch sein könnte und man aus ihr hätte aussteigen können. Da man das aber nicht kann, hat man gewollt, was geschehen ist, auch wenn man es selbst aus Altersgründen nicht ausführen konnte, als junger Mann ist man aus einer andren Zeit, die aber dieselbe ist wie die alte und es auch sein soll), mehr in ihr sind, als andere je in ihr sein könnten. Sie sind die Herren der Zeit, die Rechten, denn es ist immer ihre große Zeit (die manche gekannt haben, als sie noch soo klein war!, aber so jemanden habe ich noch nie kennengelernt, ich kenne niemanden, der die Zeit von Anfang an schon gekannt
Rechtspopulismus
hat), und da diese Zeit groß war, in der die Rechte groß war, ist sie es immer noch für sie: groß. Da von der extremen politischen Rechten immer etwas verlangt wird, das sie nicht leisten kann, eine Distanzierung von einer Zeit, die vergangen ist, von der sie aber zu wissen glaubt, daß sie die ihre ist, gerade weil sie ihr Ich nicht als zeitlich begreifen, sondern als eine Norm, als die Zeit selbst, die eben mit ihnen ist, weil sie gar nicht anders kann, sie kann aber sowieso nicht anders (die Linke hat gesungen: Mit uns zieht die neue Zeit, aber das war die Auto suggestion einer Zeit, die wirklich neu hätte sein können, während die Rechte ist, wie die Zeit ist: unveränderlich, in ihrem eigenen Sinn, da ist keine Differenz, Faschismus, Antifaschismus, das eine wird zum anderen, nicht, weil die Zeit sich geändert hätte, sondern weil sie eben immer dieselbe ist, und daher ist es wirklich egal, ob die Antifaschisten von gestern die Faschisten von heute sind oder die von morgen oder umgekehrt, das ist egal, denn ihr Ich ist nicht zeitlich, indem es die Zeit selber ist. Die Rechte hat keinen Sinn mehr für Zeitlichkeit, weil das, was war, immer noch ist und nicht anders sein oder werden soll). Für die Rechte bleibt das Ich ein Ich, und das Andere muß weg, und zwar alles und noch mehr davon, alles muß raus, wir haben keine Lagerräume für etwas, das sie überleben, das über sie hinausgreifen könnte. Alles muß jetzt sein. Achtung! Sofort! Das Ich ist ein Unveränderliches, das genauso bleibt wie die Zeit, die ja auch nicht stehenbleiben kann oder woandershin gehen. Wo sollte da Scham herkommen? Wo es keine Gegnerschaft zur Zeit gibt (im Sinne des aus der Geschichte Lernens), gibt es auch keine Differenz, aus der Scham überhaupt entstehen könnte. Das Ich der Rechten ist ein zeitloses Ich, und wer sich als ewig empfindet, schämt sich dessen natürlich nicht, denn der gehört zur neuen Avantgarde, der ist immer schon vorneweg, und die Zeit nimmt ihn mit, denn warten kann und will sie nicht, sie kann sich nicht aufhalten, sie kann nicht aufgehalten werden. Und solange diejenigen, mit denen die Zeit ist, die selbsternannten Herren der Zeit, ihr Sein nicht als ein zeitliches begreifen, sondern, da die Zeit eben unveränderlich ist, sich selbst
026
— Lucrezia Borgia
Sieger & scharfmacher Zu Gaetano Donizettis »Lucrezia Borgia«
026
— Lucrezia Borgia
Sieger & scharfmacher Zu Gaetano Donizettis »Lucrezia Borgia«
028
— Lucrezia Borgia
Selbstüberschätzung
der kleine cäsar
Hansdampf, Pausenclown und Popstar: Der Narziss Silvio Berlusconi schämt sich für gar nichts — nur für sein Aussehen
— Anke Dörrzapf Fotos — Alex Majoli / Magnum / Agentur Focus Text
Man stelle sich das mal vor: Frau Merkel nimmt eine CD auf mit selbst geschrie benen Liebesliedern, lässt sich dichteres Haar auf den Kopf verpflanzen und hält frisch geliftet und mit 20 Jahre jüngerem Gesicht Reden zur Lage der Nation. Käme nicht so gut. In Italien ist das kein Problem. Da sagt der Ministerpräsident auch noch allen Ernstes Sätze wie: »Wenn ich drei Stunden schlafe, habe ich genug Energie, um drei Stunden Liebe zu machen.« Der Kerl ist mittlerweile 72. Italienische Politik tickt nun einmal anders als in Deutschland, ja selbst anders als in Bayern. Hinzu kommt: Im Lande des einstigen Römischen Reichs und der skrupellosen Papst-Familie Borgia haben sich im Laufe der Jahrhunderte Politiktradi tionen herausgebildet, die Karrieren à la Berlusconi erst ermöglichen. Silvio Berlusconi, Jahrgang 1936, wächst in Mailand auf. Vater Luigi schafft es bei der Banca Rasini bis zum Geschäftsführer. Silvio macht Abitur, studiert danach in Mailand Jura. Zusätzlich jobbt er als Staubsaugervertreter, verdient Geld als Schlagersänger auf Kreuzfahrtschiffen — und findet Gefallen am Auftritt vor Publikum. Ehrgeizig ist er. Sehr sogar. Nach dem Studium arbei tet er in einer Baufirma, wird Geschäftsführer. Im wirtschaftlichen Aufschwung Norditaliens brauchen die Italiener neue Wohnungen und Häuser. Berlusconi riecht, dass in dieser Branche viel Geld zu verdienen ist. Und das will er. 1961 — mit 25 Jahren — gründet er seine eigene Firma. Von da an geht es schnell bergauf: Er baut Hochhäuser und Wohnsiedlungen in Mailand, wird reich und kauft sich eine riesige Villa. Das Startkapital für seine erste Firma stammt von der Bank, in der Berlusconis Vater arbeitet. Und von einer Schweizer Aktien
gesellschaft. Wer genau dahintersteckt, ist bis heute unbekannt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Berlusconis Startkapital stamme aus dem organisierten Verbrechen — denn damals streckte gerade die Mafia ihre Fühler nach Norditalien aus. Später verbreiten MafiaÜberläufer, in Berlusconis Firmen würde Mafia-Geld gewaschen. Der sonst so redselige Berlusconi schweigt beharrlich dazu. In den 70er-Jahren riecht er ein neues Geschäft: das Fern sehen. Damals sind neben der staatlichen Rai nur lokale Sender erlaubt, kein landesweites Privatfernsehen. Berlusconi kauft Stationen in jeder Region. Und findet einen Weg, die Gesetze zu umgehen. Er sendet überall zeitgleich dasselbe Programm: »Dallas«, »Baywatch«, Spielshows. Um die Rechtsprechung zu umgehen, lässt er die Bänder um ein paar Sekunden zeitversetzt abspielen. Silvio Berlusconi schämt sich für gar nichts, nur für sein Aussehen. Liftings von Hals- und Gesichtshaut, Augenlidstraffungen, Tränensackentfernungen, Haarverpflanzungen und eine strikte Diät sollen helfen, das jugendliche Erscheinungsbild zu bewahren. Außerdem nimmt er ständig Provitamine, Enzyme, Mineralstoffe wie Magnesium und Selen, Antioxidantien, immunstärkende Mittel und einen speziellen Joghurt zu sich — das behauptet zumindest sein Leibarzt Umberto Scampagnini. Hand in Hand mit dieser Fixierung auf das eigene Erscheinungsbild geht ein eher anarchisches Verhältnis zur Realität: Scheitert er, sind die anderen schuld. Die böse Linke, später dann die unzuverlässigen Koalitionspartner — oder die Staatsanwälte und Richter, die ihn ja nur aus Neid verfolgen. Berlusconi biegt sich seine Wahrheit zurecht. Er rät seinen Verkäufern, sie sollten Zitate erfinden und sie einer berühmten Person andichten — so könne man eigene Argumente glaubwürdiger machen. Erfolg hat er damit: Heute gehören ihm der Konzern Fin invest, die drei großen Privatsender des Landes und der Fußballverein AC Mailand. Er ist Mehrheitsaktionär der Verlagshäuser Mondadori und Einaudi und einer der reichsten Männer Italiens. Der kleine Cäsar — Berlusconi ist nur 1,64 Meter groß — per fektionierte im Laufe der Jahre eine sehr italienische Art, Geschäfte
028
— Lucrezia Borgia
Selbstüberschätzung
der kleine cäsar
Hansdampf, Pausenclown und Popstar: Der Narziss Silvio Berlusconi schämt sich für gar nichts — nur für sein Aussehen
— Anke Dörrzapf Fotos — Alex Majoli / Magnum / Agentur Focus Text
Man stelle sich das mal vor: Frau Merkel nimmt eine CD auf mit selbst geschrie benen Liebesliedern, lässt sich dichteres Haar auf den Kopf verpflanzen und hält frisch geliftet und mit 20 Jahre jüngerem Gesicht Reden zur Lage der Nation. Käme nicht so gut. In Italien ist das kein Problem. Da sagt der Ministerpräsident auch noch allen Ernstes Sätze wie: »Wenn ich drei Stunden schlafe, habe ich genug Energie, um drei Stunden Liebe zu machen.« Der Kerl ist mittlerweile 72. Italienische Politik tickt nun einmal anders als in Deutschland, ja selbst anders als in Bayern. Hinzu kommt: Im Lande des einstigen Römischen Reichs und der skrupellosen Papst-Familie Borgia haben sich im Laufe der Jahrhunderte Politiktradi tionen herausgebildet, die Karrieren à la Berlusconi erst ermöglichen. Silvio Berlusconi, Jahrgang 1936, wächst in Mailand auf. Vater Luigi schafft es bei der Banca Rasini bis zum Geschäftsführer. Silvio macht Abitur, studiert danach in Mailand Jura. Zusätzlich jobbt er als Staubsaugervertreter, verdient Geld als Schlagersänger auf Kreuzfahrtschiffen — und findet Gefallen am Auftritt vor Publikum. Ehrgeizig ist er. Sehr sogar. Nach dem Studium arbei tet er in einer Baufirma, wird Geschäftsführer. Im wirtschaftlichen Aufschwung Norditaliens brauchen die Italiener neue Wohnungen und Häuser. Berlusconi riecht, dass in dieser Branche viel Geld zu verdienen ist. Und das will er. 1961 — mit 25 Jahren — gründet er seine eigene Firma. Von da an geht es schnell bergauf: Er baut Hochhäuser und Wohnsiedlungen in Mailand, wird reich und kauft sich eine riesige Villa. Das Startkapital für seine erste Firma stammt von der Bank, in der Berlusconis Vater arbeitet. Und von einer Schweizer Aktien
gesellschaft. Wer genau dahintersteckt, ist bis heute unbekannt. Hartnäckig hält sich das Gerücht, Berlusconis Startkapital stamme aus dem organisierten Verbrechen — denn damals streckte gerade die Mafia ihre Fühler nach Norditalien aus. Später verbreiten MafiaÜberläufer, in Berlusconis Firmen würde Mafia-Geld gewaschen. Der sonst so redselige Berlusconi schweigt beharrlich dazu. In den 70er-Jahren riecht er ein neues Geschäft: das Fern sehen. Damals sind neben der staatlichen Rai nur lokale Sender erlaubt, kein landesweites Privatfernsehen. Berlusconi kauft Stationen in jeder Region. Und findet einen Weg, die Gesetze zu umgehen. Er sendet überall zeitgleich dasselbe Programm: »Dallas«, »Baywatch«, Spielshows. Um die Rechtsprechung zu umgehen, lässt er die Bänder um ein paar Sekunden zeitversetzt abspielen. Silvio Berlusconi schämt sich für gar nichts, nur für sein Aussehen. Liftings von Hals- und Gesichtshaut, Augenlidstraffungen, Tränensackentfernungen, Haarverpflanzungen und eine strikte Diät sollen helfen, das jugendliche Erscheinungsbild zu bewahren. Außerdem nimmt er ständig Provitamine, Enzyme, Mineralstoffe wie Magnesium und Selen, Antioxidantien, immunstärkende Mittel und einen speziellen Joghurt zu sich — das behauptet zumindest sein Leibarzt Umberto Scampagnini. Hand in Hand mit dieser Fixierung auf das eigene Erscheinungsbild geht ein eher anarchisches Verhältnis zur Realität: Scheitert er, sind die anderen schuld. Die böse Linke, später dann die unzuverlässigen Koalitionspartner — oder die Staatsanwälte und Richter, die ihn ja nur aus Neid verfolgen. Berlusconi biegt sich seine Wahrheit zurecht. Er rät seinen Verkäufern, sie sollten Zitate erfinden und sie einer berühmten Person andichten — so könne man eigene Argumente glaubwürdiger machen. Erfolg hat er damit: Heute gehören ihm der Konzern Fin invest, die drei großen Privatsender des Landes und der Fußballverein AC Mailand. Er ist Mehrheitsaktionär der Verlagshäuser Mondadori und Einaudi und einer der reichsten Männer Italiens. Der kleine Cäsar — Berlusconi ist nur 1,64 Meter groß — per fektionierte im Laufe der Jahre eine sehr italienische Art, Geschäfte
030
— Lucrezia Borgia
Selbstüberschätzung
zu machen: Business mithilfe eines großen Der Ministerpräsident in seiner 1994 wird er Ministerpräsident und peitscht Netzes von Freunden und Förderern. Einer Prachtvilla in Rom, Gesetze zu seinen Gunsten durchs Parlaseiner wichtigsten Spezln ist in den 80erdem 360 Jahre alten Palazzo Grazioli ment. Heute ist er unter anderem wegen _ Jahren der Mailänder Bettino Craxi. Der Bilanzfälschung und Meineid verurteilt. AlChef der Sozialistischen Partei ist Trauzeuge bei Berlusconis zweiter lerdings gab es danach eine Amnestie. Praktisch, wenn man selbst Hochzeit. Und ein glühender Befürworter des Privatfernsehens. Zu- an der Macht ist. fällig, natürlich. Aus Überzeugung, klar. Craxi setzt als RegierungsNoch im gleichen Jahr zerbricht allerdings seine Koalition. chef eine Lockerung der Gesetze durch und legalisiert Berlusconis Seitdem wechseln die Regierungen zwischen Mitte-Links- und landesweite Sender. Berlusconis Mitte-Rechts-Bündnissen. Seit Mai 2008 ist der stets Doch Anfang der 90er-Jahre decken Mailänder Staatsanwälte Gebräunte zum dritten Mal Ministerpräsident. ein System von Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler ParteienWarum Italiener — oder zumindest ein Teil von ihnen — ihn finanzierung auf. Politiker fast jeder Couleur hatten ihre Macht zur wählten? Berlusconi gibt sich als Antipolitiker, der nur in die Politik eigenen Bereicherung genutzt. Am Ende brechen die alten Parteien gehe, weil die Berufspolitiker so unfähig seien. Und so müsse er zusammen und Craxi, der mancherlei schillernde Freundschaften zu kommen und den Staat mal wie ein Unternehmen leiten. Sich selbst illustren Diktatoren pflegte, flüchtete vor der Strafverfolgung nach bezeichnet er gerne als »Vorstandsvorsitzenden des Betriebs Italien« — Tunesien. Wo er im Badeort Hammamet eine Villa am Meer besaß. der geborene Chef, der seine Koalition im Griff hat und Probleme Berlusconi hat seine Fürsprecher in der Politik verloren. anpackt. Im Gegensatz zur zerstrittenen Linken. Damals hat sein Konzern Fininvest große Schulden. Erste Seine Tricks und Bestechungen hält man gerne für normal in Ermittlungen gegen ihn laufen. Zwei Journalisten soll er gestanden einem Land, in dem ein Fünftel bis ein Drittel des Bruttoinlandshaben: »Wenn ich nicht in die Politik gehe, schicken sie mich ins produkts schwarz erwirtschaftet wird. »In gewisser Hinsicht ist Gefängnis und bringen mich zum Scheitern.« Italien die ultimative postindustrielle Gesellschaft — es hat keine Notgedrungen gründet er selbst eine Partei, die er wie seinen Regierung«, schreibt der US-Autor Thomas Friedman. Konzern führt: Die besten Verkaufsrepräsentanten seiner Firma Anfang des vergangenen Jahres saßen 24 Abgeordnete im sucht er als Kandidaten aus. Für den Parteinamen klaut er schamlos Parlament, die unter anderem wegen Steuerhinterziehung, Meineid, die Parole der italienischen Fußballfans: »Forza Italia«, Vorwärts Korruption oder Anstiftung zum Mord verurteilt sind. Auch dass Italien. Die Leute in den ersten Reihen der Parteiversammlungen Berlusconi nach der Wahl sofort Gesetze zu seinen Gunsten erließ, sind gecastet — damit vorne Mädchen mit tiefen Ausschnitten sitzen liegt durchaus im Rahmen dessen, was die Italiener ohnehin von und der Fernsehzuschauer nicht wegzappt. ihm erwartet hatten. Ein oft gehörter Satz in Rom lautet: »Ich hätte Nach dem Ende der ideologischen Grabenkämpfe hat sich es an seiner Stelle auch so gemacht.« in westlichen Demokratien eine Event-Politik durchgesetzt, in der Doch der schamlose Umgang mit der Macht und die VetternParteitage als Show inszeniert, Wahlkämpfe von Werbestrategen wirtschaft sind keine Erfindung Berlusconis, ja noch nicht einmal durchgeplant werden. Berlusconi, süchtig nach Scheinwerferlicht, die der skrupellosen Papst-Familie Borgia. Dafür gibt es seit der hat diese Show-Politik perfektioniert. Es geht ihm nicht darum, das Antike eine Tradition im Lande, den Klientelismus: Geschäfte und Land in eine Diktatur zu verwandeln. Er nutzt sein Talent vor allem Politik sind stark durch Beziehungen und Freundschaften geprägt. zur Selbstinszenierung. Und natürlich, um seinen Hals zu retten. Man erweist sich gegenseitig Gefälligkeiten — auch dem Wähler.
031
— Lucrezia Borgia
Selbstüberschätzung
Staatsmann und Operettenfürst: Heutzutage funktioniert das in der Regel bezeichnet er als »Arschlöcher«. Wenn ihm Silvio Berlusconi so: Der Abgeordnete schustert seiner Kliendanach ist, lässt er sich live in die Shows in seinem prunkvollen Zuhause tel Baugenehmigungen oder Investitionen seiner Fernsehsender schalten. Demnächst _ zu und bekommt dafür Wählerstimmen. soll seine zweite CD erscheinen — erneut Erreicht ein Abgeordneter bei seiner Fraktion nicht das, was er für mit Liebesliedern, dem ersten gesanglichen Erguss ähnlich. »Meglio seine Wähler braucht, wechselt er die Partei — je nachdem, wer ihm una canzone«, Besser ein Lied, lautete damals der Titel der Silber mehr bietet. scheibe, für die der dichtende Unternehmer Zeilen ersann wie Nach Jahrzehnten, in denen Regierungen selten länger als »Drück mich an dich! Ich fühle, du gehörst mir, ich will dich — in zwölf Monate überlebten und Minister skrupellos die Hand auf- der Nacht, die kommt«. Auch jetzt soll es wieder um Liebe gehen, hielten, erwarten Italiener mittlerweile nicht mehr viel vom Staat. »die wie ein Stern erlischt« oder »die dich weckt, wenn die Nacht Für dieses Jahr hat Berlusconi die Finanzierungen der Opernhäuser dunkel ist«. um 30 Prozent gekürzt. Parallel dazu hat die Regierung allerdings Dennoch — selbst ein Berlusconi kann mit all seiner Macht beschlossen, der Mailänder Scala und dem Orchester Santa Cecilia als Ministerpräsident und Inhaber der drei großen Privatsender die in Rom einen Sonderstatus zu gewähren: Man wolle sich mit seinen italienische Demokratie nicht ernsthaft gefährden. Denn in Italien finanziellen Ressourcen auf diese beiden »Spitzenhäuser« konzent gibt es kaum geschlossen auftretende Fraktionen. Geheime Abstimrieren, wie Kulturminister Sandro Bondi sagte — eine Aktion, die mungen im Parlament sorgen dafür, dass die Abgeordneten extrem kein Künstler versteht. Das venezianische La Fenice etwa belasten undiszipliniert sind: Denn dabei kann man schlecht nachprüfen, schwere Schulden: Würde Berlusconi die Subventionen streichen, wer für wen gestimmt hat. Ein Regierungschef weiß nie, welche es wäre das Ende des traditionsreichen Hauses. seiner Koalitionsmitglieder für oder gegen ihn stimmen werden. Er Die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli fand in einem Interview kann sich selten auf eine sichere Mehrheit stützen. mit einer Tageszeitung deutliche Worte: »Die Situation der Oper Noch dazu scheinen die Italiener Lust am Wechsel gefunin Italien ist tragisch. Es werden immer weniger Opern aufgeführt. den zu haben: Regierten bis 1992 fast immer die gleichen Parteien, Die italienischen Künstler müssen ins Ausland abwandern, weil es wechseln sich nun Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Koalitionen ab. dort Arbeit gibt und hier nicht.« Allerdings: Größere Aufstände hat Spätestens nach ein paar Jahren haben die Wähler offenbar genug Berlusconis Sparpolitik im Mutterland der Oper bisher nicht aus von Berlusconis Sprüchen. Bereits im Oktober 2008 demonstrierten gelöst, dem Durchschnittsitaliener ist das weitgehend egal. Hunderttausende gegen die Amtsführung des Politik-Rambos. Immerhin: Das Volk nimmt seinen Ministerpräsidenten nicht In Demokratien sind schamlose Machtpolitiker eben selten so sehr ernst. Auch ist es ihm durchaus peinlich, wenn er Barack Obama skrupellos wie noch zu Zeiten der Borgias. Eine Demokratie setzt als »gut gebräunt« bezeichnet. Aber Berlusconi bietet etwas, das die der Dreistigkeit im Amt deutliche Grenzen. Die Lebensgeschichte italienische Linke kaum in diesem Maße schaffen wird: Unterhal- Berlusconis wird später kaum Stoff für eine große Oper bieten, tung. Eine Mischung aus Hansdampf, Pausenclown und Popstar in höchstens für eine lustige Operette. der Politik. Nicht mal ein Sarkozy nebst Gattin Carla Bruni kann Am Ende werden die Italiener ihren Politik-Clown vielleicht auf Dauer eine derart Soap-Opera-taugliche Show bieten. wegbefördern: zum Staatspräsidenten. Dann geht die BerlusconiUnd Berlusconi liefert ständig Nachschub: Passen ihm Fragen Show zwar als Unterhaltung weiter. Viel Macht besitzt er dann allervon Journalisten nicht, steht er auf und geht. Die Wähler der Linken dings nicht mehr. Und das ist auch gut so.
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— Lucrezia Borgia
Selbstüberschätzung
zu machen: Business mithilfe eines großen Der Ministerpräsident in seiner 1994 wird er Ministerpräsident und peitscht Netzes von Freunden und Förderern. Einer Prachtvilla in Rom, Gesetze zu seinen Gunsten durchs Parlaseiner wichtigsten Spezln ist in den 80erdem 360 Jahre alten Palazzo Grazioli ment. Heute ist er unter anderem wegen _ Jahren der Mailänder Bettino Craxi. Der Bilanzfälschung und Meineid verurteilt. AlChef der Sozialistischen Partei ist Trauzeuge bei Berlusconis zweiter lerdings gab es danach eine Amnestie. Praktisch, wenn man selbst Hochzeit. Und ein glühender Befürworter des Privatfernsehens. Zu- an der Macht ist. fällig, natürlich. Aus Überzeugung, klar. Craxi setzt als RegierungsNoch im gleichen Jahr zerbricht allerdings seine Koalition. chef eine Lockerung der Gesetze durch und legalisiert Berlusconis Seitdem wechseln die Regierungen zwischen Mitte-Links- und landesweite Sender. Berlusconis Mitte-Rechts-Bündnissen. Seit Mai 2008 ist der stets Doch Anfang der 90er-Jahre decken Mailänder Staatsanwälte Gebräunte zum dritten Mal Ministerpräsident. ein System von Korruption, Amtsmissbrauch und illegaler ParteienWarum Italiener — oder zumindest ein Teil von ihnen — ihn finanzierung auf. Politiker fast jeder Couleur hatten ihre Macht zur wählten? Berlusconi gibt sich als Antipolitiker, der nur in die Politik eigenen Bereicherung genutzt. Am Ende brechen die alten Parteien gehe, weil die Berufspolitiker so unfähig seien. Und so müsse er zusammen und Craxi, der mancherlei schillernde Freundschaften zu kommen und den Staat mal wie ein Unternehmen leiten. Sich selbst illustren Diktatoren pflegte, flüchtete vor der Strafverfolgung nach bezeichnet er gerne als »Vorstandsvorsitzenden des Betriebs Italien« — Tunesien. Wo er im Badeort Hammamet eine Villa am Meer besaß. der geborene Chef, der seine Koalition im Griff hat und Probleme Berlusconi hat seine Fürsprecher in der Politik verloren. anpackt. Im Gegensatz zur zerstrittenen Linken. Damals hat sein Konzern Fininvest große Schulden. Erste Seine Tricks und Bestechungen hält man gerne für normal in Ermittlungen gegen ihn laufen. Zwei Journalisten soll er gestanden einem Land, in dem ein Fünftel bis ein Drittel des Bruttoinlandshaben: »Wenn ich nicht in die Politik gehe, schicken sie mich ins produkts schwarz erwirtschaftet wird. »In gewisser Hinsicht ist Gefängnis und bringen mich zum Scheitern.« Italien die ultimative postindustrielle Gesellschaft — es hat keine Notgedrungen gründet er selbst eine Partei, die er wie seinen Regierung«, schreibt der US-Autor Thomas Friedman. Konzern führt: Die besten Verkaufsrepräsentanten seiner Firma Anfang des vergangenen Jahres saßen 24 Abgeordnete im sucht er als Kandidaten aus. Für den Parteinamen klaut er schamlos Parlament, die unter anderem wegen Steuerhinterziehung, Meineid, die Parole der italienischen Fußballfans: »Forza Italia«, Vorwärts Korruption oder Anstiftung zum Mord verurteilt sind. Auch dass Italien. Die Leute in den ersten Reihen der Parteiversammlungen Berlusconi nach der Wahl sofort Gesetze zu seinen Gunsten erließ, sind gecastet — damit vorne Mädchen mit tiefen Ausschnitten sitzen liegt durchaus im Rahmen dessen, was die Italiener ohnehin von und der Fernsehzuschauer nicht wegzappt. ihm erwartet hatten. Ein oft gehörter Satz in Rom lautet: »Ich hätte Nach dem Ende der ideologischen Grabenkämpfe hat sich es an seiner Stelle auch so gemacht.« in westlichen Demokratien eine Event-Politik durchgesetzt, in der Doch der schamlose Umgang mit der Macht und die VetternParteitage als Show inszeniert, Wahlkämpfe von Werbestrategen wirtschaft sind keine Erfindung Berlusconis, ja noch nicht einmal durchgeplant werden. Berlusconi, süchtig nach Scheinwerferlicht, die der skrupellosen Papst-Familie Borgia. Dafür gibt es seit der hat diese Show-Politik perfektioniert. Es geht ihm nicht darum, das Antike eine Tradition im Lande, den Klientelismus: Geschäfte und Land in eine Diktatur zu verwandeln. Er nutzt sein Talent vor allem Politik sind stark durch Beziehungen und Freundschaften geprägt. zur Selbstinszenierung. Und natürlich, um seinen Hals zu retten. Man erweist sich gegenseitig Gefälligkeiten — auch dem Wähler.
031
— Lucrezia Borgia
Selbstüberschätzung
Staatsmann und Operettenfürst: Heutzutage funktioniert das in der Regel bezeichnet er als »Arschlöcher«. Wenn ihm Silvio Berlusconi so: Der Abgeordnete schustert seiner Kliendanach ist, lässt er sich live in die Shows in seinem prunkvollen Zuhause tel Baugenehmigungen oder Investitionen seiner Fernsehsender schalten. Demnächst _ zu und bekommt dafür Wählerstimmen. soll seine zweite CD erscheinen — erneut Erreicht ein Abgeordneter bei seiner Fraktion nicht das, was er für mit Liebesliedern, dem ersten gesanglichen Erguss ähnlich. »Meglio seine Wähler braucht, wechselt er die Partei — je nachdem, wer ihm una canzone«, Besser ein Lied, lautete damals der Titel der Silber mehr bietet. scheibe, für die der dichtende Unternehmer Zeilen ersann wie Nach Jahrzehnten, in denen Regierungen selten länger als »Drück mich an dich! Ich fühle, du gehörst mir, ich will dich — in zwölf Monate überlebten und Minister skrupellos die Hand auf- der Nacht, die kommt«. Auch jetzt soll es wieder um Liebe gehen, hielten, erwarten Italiener mittlerweile nicht mehr viel vom Staat. »die wie ein Stern erlischt« oder »die dich weckt, wenn die Nacht Für dieses Jahr hat Berlusconi die Finanzierungen der Opernhäuser dunkel ist«. um 30 Prozent gekürzt. Parallel dazu hat die Regierung allerdings Dennoch — selbst ein Berlusconi kann mit all seiner Macht beschlossen, der Mailänder Scala und dem Orchester Santa Cecilia als Ministerpräsident und Inhaber der drei großen Privatsender die in Rom einen Sonderstatus zu gewähren: Man wolle sich mit seinen italienische Demokratie nicht ernsthaft gefährden. Denn in Italien finanziellen Ressourcen auf diese beiden »Spitzenhäuser« konzent gibt es kaum geschlossen auftretende Fraktionen. Geheime Abstimrieren, wie Kulturminister Sandro Bondi sagte — eine Aktion, die mungen im Parlament sorgen dafür, dass die Abgeordneten extrem kein Künstler versteht. Das venezianische La Fenice etwa belasten undiszipliniert sind: Denn dabei kann man schlecht nachprüfen, schwere Schulden: Würde Berlusconi die Subventionen streichen, wer für wen gestimmt hat. Ein Regierungschef weiß nie, welche es wäre das Ende des traditionsreichen Hauses. seiner Koalitionsmitglieder für oder gegen ihn stimmen werden. Er Die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli fand in einem Interview kann sich selten auf eine sichere Mehrheit stützen. mit einer Tageszeitung deutliche Worte: »Die Situation der Oper Noch dazu scheinen die Italiener Lust am Wechsel gefunin Italien ist tragisch. Es werden immer weniger Opern aufgeführt. den zu haben: Regierten bis 1992 fast immer die gleichen Parteien, Die italienischen Künstler müssen ins Ausland abwandern, weil es wechseln sich nun Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Koalitionen ab. dort Arbeit gibt und hier nicht.« Allerdings: Größere Aufstände hat Spätestens nach ein paar Jahren haben die Wähler offenbar genug Berlusconis Sparpolitik im Mutterland der Oper bisher nicht aus von Berlusconis Sprüchen. Bereits im Oktober 2008 demonstrierten gelöst, dem Durchschnittsitaliener ist das weitgehend egal. Hunderttausende gegen die Amtsführung des Politik-Rambos. Immerhin: Das Volk nimmt seinen Ministerpräsidenten nicht In Demokratien sind schamlose Machtpolitiker eben selten so sehr ernst. Auch ist es ihm durchaus peinlich, wenn er Barack Obama skrupellos wie noch zu Zeiten der Borgias. Eine Demokratie setzt als »gut gebräunt« bezeichnet. Aber Berlusconi bietet etwas, das die der Dreistigkeit im Amt deutliche Grenzen. Die Lebensgeschichte italienische Linke kaum in diesem Maße schaffen wird: Unterhal- Berlusconis wird später kaum Stoff für eine große Oper bieten, tung. Eine Mischung aus Hansdampf, Pausenclown und Popstar in höchstens für eine lustige Operette. der Politik. Nicht mal ein Sarkozy nebst Gattin Carla Bruni kann Am Ende werden die Italiener ihren Politik-Clown vielleicht auf Dauer eine derart Soap-Opera-taugliche Show bieten. wegbefördern: zum Staatspräsidenten. Dann geht die BerlusconiUnd Berlusconi liefert ständig Nachschub: Passen ihm Fragen Show zwar als Unterhaltung weiter. Viel Macht besitzt er dann allervon Journalisten nicht, steht er auf und geht. Die Wähler der Linken dings nicht mehr. Und das ist auch gut so.
032
— Lucrezia Borgia
Priesterkinder
033
— Lucrezia Borgia
im schatten der kirche
— Helga Birnstiel Fotos — Andy Rocchelli Text
Lucrezia Borgia war die Tochter eines Papstes. In der Renaissance waren die Kinder des Klerus gesellschaftlich akzeptiert, heute führen sie ein Dasein im Dunkeln Gabriele nannte ihren Vater von klein auf Anselm. Nie Papa. Fast neun Jahre lang, weil sie nicht wusste, wer dieser Onkel Anselm, der so oft da war, tatsächlich war. Weil sie nicht wusste, dass er ihr Vater war, nach dem sie sich immer gesehnt hatte. Später nannte sie ihn Anselm, weil sie ihn als Eindringling empfand. Er war nun in ihren Augen derjenige, der die Welt der kleinen Familie zerstörte. Heute nennt sie ihn manchmal Opa. Nämlich dann, wenn sie sieht, wie liebevoll er mit den Enkelkindern umgeht. Leise sagt sie: »Diese Seite kannte ich als Tochter an ihm nicht — aber ich bin glücklich, sie jetzt erleben zu dürfen.« Gabriele Forster wurde als Kind einer ledigen Lehrerin geboren. Als zweites uneheliches Kind. Die Gerüchteküche brodelte, doch der Schulleiter der Kloster schule stand zu seiner Kunstlehrerin. Was nach christlicher Nächstenliebe aussah, war mehr. Der Pater war der Vater der beiden Kinder. Ein Leben im Schatten der Kirche. Etwa 20 000 Priester und Ordensmänner gibt es zurzeit in Deutschland. Jeder zweite Geistliche hat ein Verhältnis mit einer Frau. Jedenfalls vermute man das, sagt Maria Leunissen von der Initiativgruppe vom Zölibat betroffener Frauen, die seit 1983 existiert und sich als »Stachel im Fleisch« der katholischen Kirche versteht. In wie vielen Beziehungen Kinder geboren wurden? Eine Dunkelziffer. Schätzungen über die vergangenen Jahrzehnte gehen von mehreren Tausend aus. Die Kirche selbst spricht von Einzelfällen und nennt die Kinder sacrilegi — einen Religionsfrevel.
»Mein älterer Bruder war das Wunschkind meiner Eltern«, erzählt Gabriele. Er war die Krönung ihrer Liebe. Auch wenn diese verboten war. »Ich war dann der Unfall.« Ein Kind, das niemand wollte — außer der Mutter. War das geheime Leben schon mit einem Kind schwierig, wird es nun fast unmöglich. Und ist doch möglich. Noch vor der Geburt der Tochter zieht die Mutter Gisela aus der Wohnung gegenüber der Schule aus, eine Woche nach der Entbindung legt sie den Grundstein für ein Haus, in dem die 28-jährige Kunststudentin Gabriele heute noch lebt. Fast neun Jahre findet ein Familienleben statt, von dem nur die Eltern wissen, dass es eines ist. Gemeinsame Geburtstage, gemeinsame Urlaube. »Sie hat sogar dafür gesorgt, dass es Familien fotos gibt.« Neun Jahre, in denen sich die Kinder ausmalen, wer denn der Vater sei, von dem die Mutter sagt, er sei ein Doktor, der in Rom festgehalten wird. »Ich hatte eine Vorstellung von meinem Vater — und ich hatte meine Mutter, das war mir genug«, blickt die junge Frau zurück. Wie groß die Leerstelle war, weiß sie erst heute: »Erst mit eigenen Kindern ist mir klar geworden, wie wichtig ein Vater ist. Ein Vater, der da ist.« Als Gabriele sechs ist, wird ihr älterer Bruder eingeweiht. Sie ahnt nach wie vor nichts. Erst kurz vor ihrem neunten Geburtstag durchschaut sie das Spiel, zählt eins und eins zusammen. Es sind wenige Monate bis zum großen Eklat. »Länger hätte ich auch nicht durchgehalten«, erinnert sie sich. »Ich durfte ja selbst meiner geliebten Oma nichts sagen.« Sie fühlt sich einerseits betrogen von der Familie, andererseits ist sie überglücklich, endlich einen Vater zu haben. Als die Heimlichkeiten auffliegen, ist der Auslöser für Vater Anselm weder das Gefühl von Verantwortung für seine Familie noch die Liebe zu ihr. Zu diesem Zeitpunkt nimmt der Schulleiter längst nicht mehr am klösterlichen Leben teil, sondern lebt ungebunden in einer eigenen Wohnung — weder ganz Mönch noch ganz Familienvater. Ein Machtwort des Abtes muss die Entscheidung bringen: Kirche oder Familie. »Und dann ist er von einem warmen Nest in das andere geflohen«, meint Gabriele süffisant.
Machtfrage und Zölibatsfrage sind grundsätzlich eng miteinander verwoben. Kritiker nennen das Zölibat ein Kontroll instrument, um den Apparat Kirche am Laufen zu halten. Maria Leunissen, selbst seit 37 Jahren mit einem ehemaligen Ordensmann verheiratet, weist zusätzlich darauf hin, dass es auch ein Weg sei, das Weibliche aus der Kirche fernzuhalten: »Der Einfluss von Frauen würde die Priester erden.« Dabei waren nicht nur die Jünger Christi verheiratet, sondern auch die Männer der Urkirche: Jesus heilt die Schwiegermutter des Petrus, wie man in der Bibel nachlesen kann (Mt 8,14-15). Und der Apostel Paulus schreibt im ersten Timotheusbrief über den Bischof: »Er soll ein guter Familienvater sein« (1 Tim 3,1-7). Aus vielen kleinen Gemeinden wird die Kirche: Im 4. Jahrhundert beginnt sie, über das Zölibat zu streiten — es setzte sich die Auffassung durch, dass man Gott nur vollkommen dienen könnte, wenn man seine fleischlichen Begierden dem Verstand unterwerfen würde. Wie es auch bei Paulus im ersten Korintherbrief steht, dass nur der Unverheiratete ganz frei ist für den Dienst Gottes (1 Kor 7,32-35). Der Streit darüber währte acht Jahrhunderte lang. 1139 wird das Zölibat Gesetz. Aber auch danach gibt es sechs Päpste, die nachweislich Kinder hatten. Eines davon war Lucrezia Borgia, die Tochter von Papst Alexander VI. Klug, schön und gefährlich — Teil des übermächtigen Borgia-Clans. Offen hievte der Papst seine Kinder in Positionen, die dem familiären Machtausbau dienten. Historisch einzigartig. Normalerweise galt damals wie heute: Nur nicht darüber sprechen. Es gibt Fälle, in denen Kinder ganz offen im Pfarrhaus leben. Fälle, in denen Kinder ganz offen »Papa« zu einem Pfarrer sagen. Es ist eine stillschweigende Akzeptanz in den Gemeinden. »Hauptsache, der Schein bleibt gewahrt«, sagt Gabriele Forster dazu. Geahnt hatten es im Fall ihrer Eltern wohl viele, gewusst haben will es keiner — und als es öffentlich wird, ist die Empörung groß. Kollegen und Freunde brechen den Kontakt ab. Der Vater verliert, natürlich, seine Arbeit als Schulleiter. Die Mutter, über Jahre von der Kirche angestellt, ihren Job als Lehrerin. Die neue Familie hat
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— Lucrezia Borgia
Priesterkinder
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— Lucrezia Borgia
im schatten der kirche
— Helga Birnstiel Fotos — Andy Rocchelli Text
Lucrezia Borgia war die Tochter eines Papstes. In der Renaissance waren die Kinder des Klerus gesellschaftlich akzeptiert, heute führen sie ein Dasein im Dunkeln Gabriele nannte ihren Vater von klein auf Anselm. Nie Papa. Fast neun Jahre lang, weil sie nicht wusste, wer dieser Onkel Anselm, der so oft da war, tatsächlich war. Weil sie nicht wusste, dass er ihr Vater war, nach dem sie sich immer gesehnt hatte. Später nannte sie ihn Anselm, weil sie ihn als Eindringling empfand. Er war nun in ihren Augen derjenige, der die Welt der kleinen Familie zerstörte. Heute nennt sie ihn manchmal Opa. Nämlich dann, wenn sie sieht, wie liebevoll er mit den Enkelkindern umgeht. Leise sagt sie: »Diese Seite kannte ich als Tochter an ihm nicht — aber ich bin glücklich, sie jetzt erleben zu dürfen.« Gabriele Forster wurde als Kind einer ledigen Lehrerin geboren. Als zweites uneheliches Kind. Die Gerüchteküche brodelte, doch der Schulleiter der Kloster schule stand zu seiner Kunstlehrerin. Was nach christlicher Nächstenliebe aussah, war mehr. Der Pater war der Vater der beiden Kinder. Ein Leben im Schatten der Kirche. Etwa 20 000 Priester und Ordensmänner gibt es zurzeit in Deutschland. Jeder zweite Geistliche hat ein Verhältnis mit einer Frau. Jedenfalls vermute man das, sagt Maria Leunissen von der Initiativgruppe vom Zölibat betroffener Frauen, die seit 1983 existiert und sich als »Stachel im Fleisch« der katholischen Kirche versteht. In wie vielen Beziehungen Kinder geboren wurden? Eine Dunkelziffer. Schätzungen über die vergangenen Jahrzehnte gehen von mehreren Tausend aus. Die Kirche selbst spricht von Einzelfällen und nennt die Kinder sacrilegi — einen Religionsfrevel.
»Mein älterer Bruder war das Wunschkind meiner Eltern«, erzählt Gabriele. Er war die Krönung ihrer Liebe. Auch wenn diese verboten war. »Ich war dann der Unfall.« Ein Kind, das niemand wollte — außer der Mutter. War das geheime Leben schon mit einem Kind schwierig, wird es nun fast unmöglich. Und ist doch möglich. Noch vor der Geburt der Tochter zieht die Mutter Gisela aus der Wohnung gegenüber der Schule aus, eine Woche nach der Entbindung legt sie den Grundstein für ein Haus, in dem die 28-jährige Kunststudentin Gabriele heute noch lebt. Fast neun Jahre findet ein Familienleben statt, von dem nur die Eltern wissen, dass es eines ist. Gemeinsame Geburtstage, gemeinsame Urlaube. »Sie hat sogar dafür gesorgt, dass es Familien fotos gibt.« Neun Jahre, in denen sich die Kinder ausmalen, wer denn der Vater sei, von dem die Mutter sagt, er sei ein Doktor, der in Rom festgehalten wird. »Ich hatte eine Vorstellung von meinem Vater — und ich hatte meine Mutter, das war mir genug«, blickt die junge Frau zurück. Wie groß die Leerstelle war, weiß sie erst heute: »Erst mit eigenen Kindern ist mir klar geworden, wie wichtig ein Vater ist. Ein Vater, der da ist.« Als Gabriele sechs ist, wird ihr älterer Bruder eingeweiht. Sie ahnt nach wie vor nichts. Erst kurz vor ihrem neunten Geburtstag durchschaut sie das Spiel, zählt eins und eins zusammen. Es sind wenige Monate bis zum großen Eklat. »Länger hätte ich auch nicht durchgehalten«, erinnert sie sich. »Ich durfte ja selbst meiner geliebten Oma nichts sagen.« Sie fühlt sich einerseits betrogen von der Familie, andererseits ist sie überglücklich, endlich einen Vater zu haben. Als die Heimlichkeiten auffliegen, ist der Auslöser für Vater Anselm weder das Gefühl von Verantwortung für seine Familie noch die Liebe zu ihr. Zu diesem Zeitpunkt nimmt der Schulleiter längst nicht mehr am klösterlichen Leben teil, sondern lebt ungebunden in einer eigenen Wohnung — weder ganz Mönch noch ganz Familienvater. Ein Machtwort des Abtes muss die Entscheidung bringen: Kirche oder Familie. »Und dann ist er von einem warmen Nest in das andere geflohen«, meint Gabriele süffisant.
Machtfrage und Zölibatsfrage sind grundsätzlich eng miteinander verwoben. Kritiker nennen das Zölibat ein Kontroll instrument, um den Apparat Kirche am Laufen zu halten. Maria Leunissen, selbst seit 37 Jahren mit einem ehemaligen Ordensmann verheiratet, weist zusätzlich darauf hin, dass es auch ein Weg sei, das Weibliche aus der Kirche fernzuhalten: »Der Einfluss von Frauen würde die Priester erden.« Dabei waren nicht nur die Jünger Christi verheiratet, sondern auch die Männer der Urkirche: Jesus heilt die Schwiegermutter des Petrus, wie man in der Bibel nachlesen kann (Mt 8,14-15). Und der Apostel Paulus schreibt im ersten Timotheusbrief über den Bischof: »Er soll ein guter Familienvater sein« (1 Tim 3,1-7). Aus vielen kleinen Gemeinden wird die Kirche: Im 4. Jahrhundert beginnt sie, über das Zölibat zu streiten — es setzte sich die Auffassung durch, dass man Gott nur vollkommen dienen könnte, wenn man seine fleischlichen Begierden dem Verstand unterwerfen würde. Wie es auch bei Paulus im ersten Korintherbrief steht, dass nur der Unverheiratete ganz frei ist für den Dienst Gottes (1 Kor 7,32-35). Der Streit darüber währte acht Jahrhunderte lang. 1139 wird das Zölibat Gesetz. Aber auch danach gibt es sechs Päpste, die nachweislich Kinder hatten. Eines davon war Lucrezia Borgia, die Tochter von Papst Alexander VI. Klug, schön und gefährlich — Teil des übermächtigen Borgia-Clans. Offen hievte der Papst seine Kinder in Positionen, die dem familiären Machtausbau dienten. Historisch einzigartig. Normalerweise galt damals wie heute: Nur nicht darüber sprechen. Es gibt Fälle, in denen Kinder ganz offen im Pfarrhaus leben. Fälle, in denen Kinder ganz offen »Papa« zu einem Pfarrer sagen. Es ist eine stillschweigende Akzeptanz in den Gemeinden. »Hauptsache, der Schein bleibt gewahrt«, sagt Gabriele Forster dazu. Geahnt hatten es im Fall ihrer Eltern wohl viele, gewusst haben will es keiner — und als es öffentlich wird, ist die Empörung groß. Kollegen und Freunde brechen den Kontakt ab. Der Vater verliert, natürlich, seine Arbeit als Schulleiter. Die Mutter, über Jahre von der Kirche angestellt, ihren Job als Lehrerin. Die neue Familie hat
Priesterkinder
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— Lucrezia Borgia
Priesterkinder
20 000 Priester und Ordensmänner gibt es in Deutschland. Sie leben in Pfarrhäusern, Klöstern und kirchlich-karitativen Einrichtungen. Jeder Zweite von ihnen, vermuten Insider, hat ein Verhältnis mit einer Frau _
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— Lucrezia Borgia
praktisch ihre Existenzgrundlage verloren. Das ist die Realität, der sie nach der ersten Euphorie ins Auge sehen müssen. Die Mutter, pragmatisch, schult zur Altenpflegerin um. Der Vater kommt mit dem neuen Leben nicht zurecht. Über 40 Jahre war er Teil der Klostergemeinschaft. Zuerst als Schüler, dann als Lehrer, später als Schulrektor. »Er hatte seine Familie verloren«, weiß Gabriele heute. »Aber wir waren auch ohne ihn eine intakte Familie. Er war der Fremdkörper.« Sie erinnert sich an Streit, an die Hilflosigkeit des Vaters im Alltag und im Umgang mit den Kindern. Sie blickt durch die Küche, die jetzt die ihre ist, und ihr Blick bleibt am Fenster hängen: »Da stand er und trank.« Nur kurze Zeit nach der Heirat trennen sich die Eltern. Eine Liebe, die 15 Jahre im Verborgenen blühte, hält der Realität nicht stand. Der Neubeginn ist häufig schwierig. Es ist ja nicht irgendein Job, den man an den Nagel hängt, wenn er einem nicht mehr gefällt. Priester wird man aus Berufung. »Was bleibt, sind weniger Scham-, aber häufig Schuldgefühle«, erklärt Maria Leunissen. Die Frauen fühlen sich schuldig, ihn der Kirche entrissen zu haben. Ihre eigene Geschichte ist eine positive. Sie und ihr Mann trafen sich zu einer Zeit, als der Geist der 68er auch durch Kirchenmauern wehte: »Wir lernten uns kennen, lieben und wussten, dass wir unseren Weg gemeinsam gehen wollten. Ohne Heimlichkeiten.« Es war eine andere Zeit: Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war die Kirche geprägt von Aufbruchstimmung. So verteidigte Papst Paul VI. zwar das Zölibat als solches, erteilte aber gleichzeitig großzügig Dispens. Wer um Laisierung bat, bekam die Erlaubnis dazu. So konnten Priester, selbst wenn sie sich gegen ein zölibatäres Leben und für Frau und Kinder entschieden, weiterhin in kirchlichen Bereichen tätig sein, wenn sie kein großes Aufsehen erregten. Ein Kurs, der weder von Papst Johannes Paul II. noch von Benedikt XVI. weiter verfolgt wird. Dispense gibt es kaum. So bleibt Priestern mit Familie nur der völlige Bruch mit der Vergangenheit. Die harte kirchliche Linie führt nicht nur dazu, dass sich immer weniger Männer zum Priester weihen lassen. Sie führt auch
Priesterkinder
in ein Doppelleben. Für die Priester funktioniert es simpel: »Es wird nicht weg-, aber auch nicht direkt hingeschaut«, bringt es Maria Leunissen auf den Punkt. Für die Frauen hat es häufig etwas Beschämendes. Sie müssen abtauchen. Ein Leben in Heimlichkeit. Kinder, die nicht wissen, wer ihr Vater ist: »Es ist die völlige Selbstaufgabe.« Warum sich Frauen auf Priester einlassen, vermag Maria Leunissen auch nach 25 Jahren Engagement in der Initiativgruppe nicht ganz zu erklären. Vielleicht weil sie für viele Frauen einem Ideal nahekommen? Sie sind gebildet, geistvoll, inspirierend. Vor allem bei der gemeinsamen Arbeit käme man sich näher. Es ist einfach, sich in einen Priester zu verlieben. Wenn gegenseitige Liebe daraus wird, wird es schwierig. Priestertochter Gabriele hat gesehen, wie ihr Vater, ihre ganze Familie an dem Zwiespalt zwischen Kirche und Familie fast zugrun de gingen. Sie fordert: »Man darf einen Priester nicht von seiner Berufung abbringen. Es muss beides möglich sein.« Doch davon ist die Realität weit entfernt. Auch ist ihr Vater für sein ehemaliges Kloster nach wie vor eine Persona non grata. Gabriele Forster lebt heute Tür an Tür mit ihrer Mutter. Mit ihren beiden Kindern, aber ohne ihren Lebensgefährten. Eine bewusste Entscheidung: »Meine Eltern hatten 14 Jahre eine harmonische Partnerschaft — bis sie zusammenzogen.« Gisela und Anselm Forster unterrichten heute wieder als Kollegen an einer Privatschule. Ob sie erneut ein Paar sind, will die Tochter gar nicht wissen.
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Priesterkinder
20 000 Priester und Ordensmänner gibt es in Deutschland. Sie leben in Pfarrhäusern, Klöstern und kirchlich-karitativen Einrichtungen. Jeder Zweite von ihnen, vermuten Insider, hat ein Verhältnis mit einer Frau _
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— Lucrezia Borgia
praktisch ihre Existenzgrundlage verloren. Das ist die Realität, der sie nach der ersten Euphorie ins Auge sehen müssen. Die Mutter, pragmatisch, schult zur Altenpflegerin um. Der Vater kommt mit dem neuen Leben nicht zurecht. Über 40 Jahre war er Teil der Klostergemeinschaft. Zuerst als Schüler, dann als Lehrer, später als Schulrektor. »Er hatte seine Familie verloren«, weiß Gabriele heute. »Aber wir waren auch ohne ihn eine intakte Familie. Er war der Fremdkörper.« Sie erinnert sich an Streit, an die Hilflosigkeit des Vaters im Alltag und im Umgang mit den Kindern. Sie blickt durch die Küche, die jetzt die ihre ist, und ihr Blick bleibt am Fenster hängen: »Da stand er und trank.« Nur kurze Zeit nach der Heirat trennen sich die Eltern. Eine Liebe, die 15 Jahre im Verborgenen blühte, hält der Realität nicht stand. Der Neubeginn ist häufig schwierig. Es ist ja nicht irgendein Job, den man an den Nagel hängt, wenn er einem nicht mehr gefällt. Priester wird man aus Berufung. »Was bleibt, sind weniger Scham-, aber häufig Schuldgefühle«, erklärt Maria Leunissen. Die Frauen fühlen sich schuldig, ihn der Kirche entrissen zu haben. Ihre eigene Geschichte ist eine positive. Sie und ihr Mann trafen sich zu einer Zeit, als der Geist der 68er auch durch Kirchenmauern wehte: »Wir lernten uns kennen, lieben und wussten, dass wir unseren Weg gemeinsam gehen wollten. Ohne Heimlichkeiten.« Es war eine andere Zeit: Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war die Kirche geprägt von Aufbruchstimmung. So verteidigte Papst Paul VI. zwar das Zölibat als solches, erteilte aber gleichzeitig großzügig Dispens. Wer um Laisierung bat, bekam die Erlaubnis dazu. So konnten Priester, selbst wenn sie sich gegen ein zölibatäres Leben und für Frau und Kinder entschieden, weiterhin in kirchlichen Bereichen tätig sein, wenn sie kein großes Aufsehen erregten. Ein Kurs, der weder von Papst Johannes Paul II. noch von Benedikt XVI. weiter verfolgt wird. Dispense gibt es kaum. So bleibt Priestern mit Familie nur der völlige Bruch mit der Vergangenheit. Die harte kirchliche Linie führt nicht nur dazu, dass sich immer weniger Männer zum Priester weihen lassen. Sie führt auch
Priesterkinder
in ein Doppelleben. Für die Priester funktioniert es simpel: »Es wird nicht weg-, aber auch nicht direkt hingeschaut«, bringt es Maria Leunissen auf den Punkt. Für die Frauen hat es häufig etwas Beschämendes. Sie müssen abtauchen. Ein Leben in Heimlichkeit. Kinder, die nicht wissen, wer ihr Vater ist: »Es ist die völlige Selbstaufgabe.« Warum sich Frauen auf Priester einlassen, vermag Maria Leunissen auch nach 25 Jahren Engagement in der Initiativgruppe nicht ganz zu erklären. Vielleicht weil sie für viele Frauen einem Ideal nahekommen? Sie sind gebildet, geistvoll, inspirierend. Vor allem bei der gemeinsamen Arbeit käme man sich näher. Es ist einfach, sich in einen Priester zu verlieben. Wenn gegenseitige Liebe daraus wird, wird es schwierig. Priestertochter Gabriele hat gesehen, wie ihr Vater, ihre ganze Familie an dem Zwiespalt zwischen Kirche und Familie fast zugrun de gingen. Sie fordert: »Man darf einen Priester nicht von seiner Berufung abbringen. Es muss beides möglich sein.« Doch davon ist die Realität weit entfernt. Auch ist ihr Vater für sein ehemaliges Kloster nach wie vor eine Persona non grata. Gabriele Forster lebt heute Tür an Tür mit ihrer Mutter. Mit ihren beiden Kindern, aber ohne ihren Lebensgefährten. Eine bewusste Entscheidung: »Meine Eltern hatten 14 Jahre eine harmonische Partnerschaft — bis sie zusammenzogen.« Gisela und Anselm Forster unterrichten heute wieder als Kollegen an einer Privatschule. Ob sie erneut ein Paar sind, will die Tochter gar nicht wissen.
037
— Lucrezia Borgia
Giftmorde
in bester gesellschaft
— Andreas Benedikt Kleinschmidt ILLUSTRATION — Lisa Schweizer Text
Lucrezias Ehemann Alfonso tötet mit Gift. Und Sohn Gennaro stirbt einen öffentlichen Tod — genauso wie Ex-KGB-Agent Alexander Litwinenko. Auf den Spuren der Täter und ihrer Opfer, einst und jetzt
Achtung, tödlich! 1 Polonium, ein radioaktives chemisches Element 2 E 605, Parathion, das sogenannte »Schwiegermuttergift« 3 Rizin, der bohnenartige Samen einer Rizinusstaude 4 Eisenhut, eine Pflanze aus der Familie der Hahnenfußgewächse 5 Arsen, ein chemisches Element, das schon seit der griechischen Antike bekannt ist _
Die Sesselchen sind mit einem weichen Leder bespannt, dessen Farbe an Milchkaffee erinnert. Spiegel, Säulen, ein Art-nouveau-Leuch ter an der Decke, seine gläsernen Schirme sehen wie Blütenkelche aus. Die drei osteuropäischen Kellner verstecken ihre Langeweile hinterm Tresen: mal schnell wischen, mal mit den Tee tassen klappern. Ob es hier passiert ist, in der »Pine Bar« des »Millennium Hotels« in Mayfair? Oder doch ein paar Meilen weiter in der »Sushi Bar« beim Piccadilly Circus, wo die Fischröllchen am Fließband vor den Nasen der Hungrigen vorbeifahren? Ein Griff und das Tellerchen steht auf dem Tisch. Hat er hier seine tödliche Dosis verabreicht bekommen, kam hier das Polonium in seinen Körper? Geht von hier die radioaktive Spur aus, die Alexander Litwinenko und seine Mörder durch London schleppten? Im Herbst 2006 hielt die Stadt den Atem an. Hunderte Menschen ließen ihre
Körper auf Strahlung untersuchen. Nicht nur jene, die sich im »Millennium Hotel« aufgehalten hatten und in der »Sushi Bar«, wo die gemessene Dosis am höchsten war. Dutzendschaften der Polizei suchten erfolg los nach den Tätern. Wer auch immer Litwinenko töten wollte, den ehemaligen KGB-Mann, den Vertrauten des umstrittenen Exil-Oligarchen Boris Beresowski — Mangel an Geld und Erfahrung hatte er nicht. »Schon Giftmord ist ein eher seltenes Ereignis«, urteilt Professor Ludwig von Meyer. »Mord mit radioaktivem Material kommt jedoch derart selten vor, dass wir normalerweise gar nicht danach suchen.« Von Meyer muss es wissen, arbeitete er doch rund 40 Jahre in der forensischen Toxikologie des Münchner Instituts für Rechtsmedizin. »Ich habe eine Apothekerausbildung. Aber die Aufklärung von Gifttoden hat mich einfach mehr fasziniert als der Verkauf von Kopfschmerztabletten.« Als er noch studierte, schenkte ihm sein Vater ein Buch über Giftmord, seine Professorin bot eine Vorlesung zum Thema an — und schon war es um ihn geschehen, hatte er Berufung und Beruf gefunden. Freilich spiegelte sich in den Giftmorden, die er selbst im Laufe seines Lebens
bearbeitete, nicht immer die große Weltpolitik. Da war die tote Pfarrköchin, die wieder ausgegraben wurde, weil die Nachbarin unkte, Gift sei im Spiel gewesen (»Bei so was weiß ich aber meist schon vorher, dass nichts dran ist«). Da war der Arbeiter, ironischerweise mit Nachnamen Killer, der in der Fabrik mit Blausäure hantierte und schließlich damit tötete (»Der hat sich dann aber umbenannt«). Da war das Ehepaar vom Starnberger See, das aus dem Urlaub in die Villa zurückkehrte und dem übel wurde, nachdem es einen ersten Kaffee trank (»Im Pulver waren Teile vom giftigen Eisenhut — die Schwägerin besaß ein verräterisches Pflanzenbuch und noch dazu während der Abwesenheit den Hausschlüssel«). Und da war der Chemielehrer, der seiner Ehefrau Marmeladen ins Krankenhaus brachte, nach deren Genuss sie sich unwohl fühlte (»Darin fand man krebserregendes Dimethylnitrosamin, mit dem die Frau über Jahre in kleinen Dosen vergiftet wurde. Kurz nachdem ihr Mann wegen Mordes verurteilt worden war, starb die Frau an Leberkrebs«). Dieser letzte Fall ist in mancherlei Hinsicht typisch für einen Giftmord: Anders als bei einer Tat mit gezogenem Dolch findet er fast immer heimlich statt. Und entgegen der landläufigen Meinung, die Täter seien zumeist Frauen, mischen auch Männer eifrig mit. »Das Geschlecht hält sich da die Waage«, sagt von Meyer.
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— Lucrezia Borgia
Giftmorde
in bester gesellschaft
— Andreas Benedikt Kleinschmidt ILLUSTRATION — Lisa Schweizer Text
Lucrezias Ehemann Alfonso tötet mit Gift. Und Sohn Gennaro stirbt einen öffentlichen Tod — genauso wie Ex-KGB-Agent Alexander Litwinenko. Auf den Spuren der Täter und ihrer Opfer, einst und jetzt
Achtung, tödlich! 1 Polonium, ein radioaktives chemisches Element 2 E 605, Parathion, das sogenannte »Schwiegermuttergift« 3 Rizin, der bohnenartige Samen einer Rizinusstaude 4 Eisenhut, eine Pflanze aus der Familie der Hahnenfußgewächse 5 Arsen, ein chemisches Element, das schon seit der griechischen Antike bekannt ist _
Die Sesselchen sind mit einem weichen Leder bespannt, dessen Farbe an Milchkaffee erinnert. Spiegel, Säulen, ein Art-nouveau-Leuch ter an der Decke, seine gläsernen Schirme sehen wie Blütenkelche aus. Die drei osteuropäischen Kellner verstecken ihre Langeweile hinterm Tresen: mal schnell wischen, mal mit den Tee tassen klappern. Ob es hier passiert ist, in der »Pine Bar« des »Millennium Hotels« in Mayfair? Oder doch ein paar Meilen weiter in der »Sushi Bar« beim Piccadilly Circus, wo die Fischröllchen am Fließband vor den Nasen der Hungrigen vorbeifahren? Ein Griff und das Tellerchen steht auf dem Tisch. Hat er hier seine tödliche Dosis verabreicht bekommen, kam hier das Polonium in seinen Körper? Geht von hier die radioaktive Spur aus, die Alexander Litwinenko und seine Mörder durch London schleppten? Im Herbst 2006 hielt die Stadt den Atem an. Hunderte Menschen ließen ihre
Körper auf Strahlung untersuchen. Nicht nur jene, die sich im »Millennium Hotel« aufgehalten hatten und in der »Sushi Bar«, wo die gemessene Dosis am höchsten war. Dutzendschaften der Polizei suchten erfolg los nach den Tätern. Wer auch immer Litwinenko töten wollte, den ehemaligen KGB-Mann, den Vertrauten des umstrittenen Exil-Oligarchen Boris Beresowski — Mangel an Geld und Erfahrung hatte er nicht. »Schon Giftmord ist ein eher seltenes Ereignis«, urteilt Professor Ludwig von Meyer. »Mord mit radioaktivem Material kommt jedoch derart selten vor, dass wir normalerweise gar nicht danach suchen.« Von Meyer muss es wissen, arbeitete er doch rund 40 Jahre in der forensischen Toxikologie des Münchner Instituts für Rechtsmedizin. »Ich habe eine Apothekerausbildung. Aber die Aufklärung von Gifttoden hat mich einfach mehr fasziniert als der Verkauf von Kopfschmerztabletten.« Als er noch studierte, schenkte ihm sein Vater ein Buch über Giftmord, seine Professorin bot eine Vorlesung zum Thema an — und schon war es um ihn geschehen, hatte er Berufung und Beruf gefunden. Freilich spiegelte sich in den Giftmorden, die er selbst im Laufe seines Lebens
bearbeitete, nicht immer die große Weltpolitik. Da war die tote Pfarrköchin, die wieder ausgegraben wurde, weil die Nachbarin unkte, Gift sei im Spiel gewesen (»Bei so was weiß ich aber meist schon vorher, dass nichts dran ist«). Da war der Arbeiter, ironischerweise mit Nachnamen Killer, der in der Fabrik mit Blausäure hantierte und schließlich damit tötete (»Der hat sich dann aber umbenannt«). Da war das Ehepaar vom Starnberger See, das aus dem Urlaub in die Villa zurückkehrte und dem übel wurde, nachdem es einen ersten Kaffee trank (»Im Pulver waren Teile vom giftigen Eisenhut — die Schwägerin besaß ein verräterisches Pflanzenbuch und noch dazu während der Abwesenheit den Hausschlüssel«). Und da war der Chemielehrer, der seiner Ehefrau Marmeladen ins Krankenhaus brachte, nach deren Genuss sie sich unwohl fühlte (»Darin fand man krebserregendes Dimethylnitrosamin, mit dem die Frau über Jahre in kleinen Dosen vergiftet wurde. Kurz nachdem ihr Mann wegen Mordes verurteilt worden war, starb die Frau an Leberkrebs«). Dieser letzte Fall ist in mancherlei Hinsicht typisch für einen Giftmord: Anders als bei einer Tat mit gezogenem Dolch findet er fast immer heimlich statt. Und entgegen der landläufigen Meinung, die Täter seien zumeist Frauen, mischen auch Männer eifrig mit. »Das Geschlecht hält sich da die Waage«, sagt von Meyer.
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— Lucrezia Borgia
Und auch was die Aufdeckung betrifft, ist der Chemielehrer-Fall beispielhaft: Der Nachweis des Gifts in der mitgebrachten Marmelade wurde im Labor nur per Zufall erbracht, erinnert sich der Professor. »Der Kollege wurde durch einen Telefonanruf abgelenkt. Deshalb ließ er das Analyse gerät, einen Gas -Chromatografen, weit länger laufen als üblich, sodass auch seltenere Substanzen angezeigt wurden — wie eben Dimethylnitrosamin. Unter normalen Umständen hätte man den Lehrer nie überführt.« Allerdings: Wo der Zufall bei der Aufdeckung eine große Rolle spielt, ist vermutlich auch die Dunkelziffer hoch. »Wir haben für gängige Gifte natürlich strukturierte Verfahren«, sagt von Meyer. »Aber finden können wir nur, wonach wir suchen.« Im Fall Litwinenko war die erste heiße Spur Thallium gewesen, ein anorganisches Gift, das die gleichen Symptome hervorruft wie das radioaktive Polonium: Haarausfall, Übelkeit und Zusammenbruch des Immun systems. Doch alle Tests darauf verliefen negativ, lange standen die Ärzte vor einem Rätsel. Kein Wunder — die Täter waren Profis. »Wer sich die enorme Mühe macht und Polonium einsetzt«, sagt Ludwig von Meyer, »der will natürlich nicht, dass sein Mordanschlag entdeckt wird.« Doch genau in diesem Punkt scheiden sich die Geister. Manch einer sieht in der Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko den Versuch, in möglichst großer
Giftmorde
Öffentlichkeit ein Exempel zu statuieren. Das Bild des kahlköpfigen, schwachen, aber stolz blickenden Mannes im Krankenhausbett — es hat sich eingebrannt ins Bewusstsein der Welt. So wie die Entstellungen Viktor Juschtschenkos, des ukrainischen Präsidenten. Heimtückisch verabreichtes Dioxin hatte ihn während seines Wahlkampfs im Herbst 2004 fast umgebracht; zurück blieb eine hässliche Chlor-Akne in seinem Gesicht. Wie er, der glücklicherweise überlebte, wurde auch Litwinenko durch den Giftanschlag scheinbar zum Märtyrer. Dessen Kreuz war ein grauenvoller Strahlentod. Die Botschaft seiner Mörder, so mutmaßte mancher Leitartikler, gehe an die Adresse von Kreml-Feinden auf der ganzen Welt: Passt nur auf, euch erwischen wir auch noch. Julia Latynina, prominente russische Wirtschaftsjournalistin der Moskauer Tages zeitung »Nowaja Gaseta«, meint zum Fall Litwinenko: »Das Verbrechen trägt die Handschrift einer aggressiven Fraktion innerhalb der Staatssicherheit, deren Ziel es ist, Putins Integrationsbemühungen gen Westen Einhalt zu gebieten.« Vielen Westeuropäern gilt Latyninas Blatt als wichtiges Oppositionsorgan in Russland. Insbesondere seit ihre Kollegin, die Journalistin Anna Politkowskaja, im Oktober 2006 im Eingang ihres Wohnhauses erschossen wurde. Sergej Sokolow, der stellvertretende Chefredakteur der »Nowaja Gaseta«, ist ein
039
schmaler Mann mit schütterem Haar. Wenn er spricht, bewegt sich sein Schnurrbart und eine Zahnlücke wird sichtbar. An der Wand seines Büros in einem Moskauer Hinterhof hängen die SchwarzWeiß-Fotos ermordeter Redaktionskollegen. Doch zu seinen Freunden gehörte auch Litwinenko nicht: »Er und die korrupten russischen Exil-Oligarchen unterscheiden sich gar nicht so sehr von Putin«, sagt er. »Menschen, denen es um Macht und Geld geht.« Es wundere ihn, wenn Litwinenko als großer Oppositioneller dargestellt wird, hatte jener doch während seiner KGB-Zeit selbst als Killer gearbeitet. Das Resümee Sokolows: »Die Vergiftung Litwinenkos war ein Schauspiel, das unter Menschen gleichen Schlags ablief.« Seit jeher scheinen Giftmörder und -opfer in vielen Fällen aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein: Schon der Feldherr Marcus Antonius besuchte seine gefährliche Geliebte Kleopatra nur mit Vorkostern. Ihren eigenen Tod fand die Ptolemäer königin vermutlich durch Gift. Die kolchische Herrscherfamilie, die einst auf dem Gebiet des heutigen Georgien lebte und deren Länder besonders reich an ungesunden Gewächsen waren, ließ neben ihren Giftpflanzen nicht von ungefähr auch die Gegengifte anbauen. Hinter hohen Mauern und drei Eisentoren versteckt, bewacht von der schrecklichen Artemis und von Hunden mit feurigen Augen, wie die Überlieferung verrät.
— Lucrezia Borgia
Auch so mancher Mittelalter-Papst, etwa Alexander VI., Vater Lucrezias und berüchtigter Schrecken von Rom, ließ mit Gift töten — und so mancher Papst wurde eben damit selbst zur Seite geschafft. Die Familie Borgia allerdings nicht: Alexander starb an Malaria, sein Sohn Cesare auf dem Schlachtfeld, seine Tochter Lucrezia im Alter von 39 Jahren im Kindbett. Giftmorde haben nicht nur dann erhebliche politische Auswirkungen, wenn sie Dynastien und Erbfolgen beenden oder Regierungen in Misskredit bringen — im Fall Litwinenko die russische —, sondern auch dann, wenn sie nicht stattfinden, aber nachdrücklich behauptet werden: Berichte über vermeintliche Brunnenvergiftungen durch Juden hatten im Mittelalter Hochkonjunktur. Angeblich hätten sie Aussätzige bezahlt, damit diese so viele Christen wie möglich anstecken, wie Louis Lewin, Toxikologe, Arzt und Begründer der Drogenforschung, in seinem Standardwerk »Die Gifte in der Weltgeschichte« (1920) zu berichten weiß: »Sie nahmen etwas ihres aussätzigen Blutes und Harns, kneteten damit einen Teig, mengten Krötenlaich und giftige Kräuter darunter und senkten solchen Teig, zu Kügelein gemacht, mit angebundenen Steinen in den Grund der Brunnenquellen.« Ein Beweis für einen Giftanschlag ist allerdings oft nicht leicht zu erbringen, wie der Fall Litwinenko gezeigt hat: So mutmaßt mancher, der ehemalige KGB-Agent sei nur
Giftmorde
deshalb ausgerechnet mit dem schwer nachweisbaren Polonium ermordet worden, um den Verdacht gezielt auf den — in Wahrheit unschuldigen — Kreml zu lenken. Denn Polonium ist rar. Und teuer. Wer außer den Machthabern an der Moskwa hätte sonst noch Zugriff auf ein derart kostbares Gift? Jedes Zeitalter hatte seine speziellen Moden: So wurde Arsen schlagartig unbeliebt, als Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals ein sicherer Nachweis möglich war. Und das Pflanzenschutzmittel E 605 verstärkt zum Mittel der Wahl, als die Zeitungen über erste Vergiftungen berichteten. Zweites wichtiges Auswahlkriterium für Täter: Das Gift muss schwer nachweisbar sein. Längst nicht jeder Selbstmörder macht es den Pathologen so leicht wie jener Lebensmüde, der einst mit der tödlichen Überdosis Schlafmittel auch noch den Beipackzettel verschluckte. Aus Sicht des Opfers ist die Entdeckung des Gifts vor der Einnahme natürlich wünschenswerter als während der Leichen zerlegung. Doch noch heute gilt, was der griechische Militärarzt Dioskurides, der berühmteste Pharmakologe des Altertums, schon vor rund 2000 Jahren formulierte: »Die Vorbeugung gegen Gifte ist schwierig, weil die, welche heimlich Gift geben, es so anstellen, dass auch die Erfahrensten getäuscht werden. Die Bitterkeit nehmen sie den Giften dadurch, dass sie Süßes hinzu fügen, und den schlechten Geruch decken sie durch Duftmittel.«
Hinzu kommt: Ist das Gift erst verschluckt, ähneln die in der Regel unspezi fischen Symptome nicht selten denen einer Lebensmittelvergiftung. Die Mehrheit der Giftmorde liegt womöglich im Dunkeln. Und ist die Tat einmal nachgewiesen, so fehlen oft — wie im Fall Litwinenko — letzte Beweise für die Täterschaft. Wer sicher gehen will, trinkt daher Tee stets ohne Zucker. Und besser, er trinkt ihn kalt. Ist er heiß, könnte die Wärme vom Zerfall einer radioaktiven Substanz herrühren. Besser auch, er verweigert die Nahrungsaufnahme insgesamt und hofft, dass das todbringende Gift nicht in der Raumluft wabert. Besser zudem, er speichert in seinem Telefon jene Nummer, die Leben retten könnte, etwa die des Münchner Giftnotrufs: 089/19240. Nur: Gegen Polonium ist auch der machtlos.
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— Lucrezia Borgia
Und auch was die Aufdeckung betrifft, ist der Chemielehrer-Fall beispielhaft: Der Nachweis des Gifts in der mitgebrachten Marmelade wurde im Labor nur per Zufall erbracht, erinnert sich der Professor. »Der Kollege wurde durch einen Telefonanruf abgelenkt. Deshalb ließ er das Analyse gerät, einen Gas -Chromatografen, weit länger laufen als üblich, sodass auch seltenere Substanzen angezeigt wurden — wie eben Dimethylnitrosamin. Unter normalen Umständen hätte man den Lehrer nie überführt.« Allerdings: Wo der Zufall bei der Aufdeckung eine große Rolle spielt, ist vermutlich auch die Dunkelziffer hoch. »Wir haben für gängige Gifte natürlich strukturierte Verfahren«, sagt von Meyer. »Aber finden können wir nur, wonach wir suchen.« Im Fall Litwinenko war die erste heiße Spur Thallium gewesen, ein anorganisches Gift, das die gleichen Symptome hervorruft wie das radioaktive Polonium: Haarausfall, Übelkeit und Zusammenbruch des Immun systems. Doch alle Tests darauf verliefen negativ, lange standen die Ärzte vor einem Rätsel. Kein Wunder — die Täter waren Profis. »Wer sich die enorme Mühe macht und Polonium einsetzt«, sagt Ludwig von Meyer, »der will natürlich nicht, dass sein Mordanschlag entdeckt wird.« Doch genau in diesem Punkt scheiden sich die Geister. Manch einer sieht in der Vergiftung des Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko den Versuch, in möglichst großer
Giftmorde
Öffentlichkeit ein Exempel zu statuieren. Das Bild des kahlköpfigen, schwachen, aber stolz blickenden Mannes im Krankenhausbett — es hat sich eingebrannt ins Bewusstsein der Welt. So wie die Entstellungen Viktor Juschtschenkos, des ukrainischen Präsidenten. Heimtückisch verabreichtes Dioxin hatte ihn während seines Wahlkampfs im Herbst 2004 fast umgebracht; zurück blieb eine hässliche Chlor-Akne in seinem Gesicht. Wie er, der glücklicherweise überlebte, wurde auch Litwinenko durch den Giftanschlag scheinbar zum Märtyrer. Dessen Kreuz war ein grauenvoller Strahlentod. Die Botschaft seiner Mörder, so mutmaßte mancher Leitartikler, gehe an die Adresse von Kreml-Feinden auf der ganzen Welt: Passt nur auf, euch erwischen wir auch noch. Julia Latynina, prominente russische Wirtschaftsjournalistin der Moskauer Tages zeitung »Nowaja Gaseta«, meint zum Fall Litwinenko: »Das Verbrechen trägt die Handschrift einer aggressiven Fraktion innerhalb der Staatssicherheit, deren Ziel es ist, Putins Integrationsbemühungen gen Westen Einhalt zu gebieten.« Vielen Westeuropäern gilt Latyninas Blatt als wichtiges Oppositionsorgan in Russland. Insbesondere seit ihre Kollegin, die Journalistin Anna Politkowskaja, im Oktober 2006 im Eingang ihres Wohnhauses erschossen wurde. Sergej Sokolow, der stellvertretende Chefredakteur der »Nowaja Gaseta«, ist ein
039
schmaler Mann mit schütterem Haar. Wenn er spricht, bewegt sich sein Schnurrbart und eine Zahnlücke wird sichtbar. An der Wand seines Büros in einem Moskauer Hinterhof hängen die SchwarzWeiß-Fotos ermordeter Redaktionskollegen. Doch zu seinen Freunden gehörte auch Litwinenko nicht: »Er und die korrupten russischen Exil-Oligarchen unterscheiden sich gar nicht so sehr von Putin«, sagt er. »Menschen, denen es um Macht und Geld geht.« Es wundere ihn, wenn Litwinenko als großer Oppositioneller dargestellt wird, hatte jener doch während seiner KGB-Zeit selbst als Killer gearbeitet. Das Resümee Sokolows: »Die Vergiftung Litwinenkos war ein Schauspiel, das unter Menschen gleichen Schlags ablief.« Seit jeher scheinen Giftmörder und -opfer in vielen Fällen aus dem gleichen Holz geschnitzt zu sein: Schon der Feldherr Marcus Antonius besuchte seine gefährliche Geliebte Kleopatra nur mit Vorkostern. Ihren eigenen Tod fand die Ptolemäer königin vermutlich durch Gift. Die kolchische Herrscherfamilie, die einst auf dem Gebiet des heutigen Georgien lebte und deren Länder besonders reich an ungesunden Gewächsen waren, ließ neben ihren Giftpflanzen nicht von ungefähr auch die Gegengifte anbauen. Hinter hohen Mauern und drei Eisentoren versteckt, bewacht von der schrecklichen Artemis und von Hunden mit feurigen Augen, wie die Überlieferung verrät.
— Lucrezia Borgia
Auch so mancher Mittelalter-Papst, etwa Alexander VI., Vater Lucrezias und berüchtigter Schrecken von Rom, ließ mit Gift töten — und so mancher Papst wurde eben damit selbst zur Seite geschafft. Die Familie Borgia allerdings nicht: Alexander starb an Malaria, sein Sohn Cesare auf dem Schlachtfeld, seine Tochter Lucrezia im Alter von 39 Jahren im Kindbett. Giftmorde haben nicht nur dann erhebliche politische Auswirkungen, wenn sie Dynastien und Erbfolgen beenden oder Regierungen in Misskredit bringen — im Fall Litwinenko die russische —, sondern auch dann, wenn sie nicht stattfinden, aber nachdrücklich behauptet werden: Berichte über vermeintliche Brunnenvergiftungen durch Juden hatten im Mittelalter Hochkonjunktur. Angeblich hätten sie Aussätzige bezahlt, damit diese so viele Christen wie möglich anstecken, wie Louis Lewin, Toxikologe, Arzt und Begründer der Drogenforschung, in seinem Standardwerk »Die Gifte in der Weltgeschichte« (1920) zu berichten weiß: »Sie nahmen etwas ihres aussätzigen Blutes und Harns, kneteten damit einen Teig, mengten Krötenlaich und giftige Kräuter darunter und senkten solchen Teig, zu Kügelein gemacht, mit angebundenen Steinen in den Grund der Brunnenquellen.« Ein Beweis für einen Giftanschlag ist allerdings oft nicht leicht zu erbringen, wie der Fall Litwinenko gezeigt hat: So mutmaßt mancher, der ehemalige KGB-Agent sei nur
Giftmorde
deshalb ausgerechnet mit dem schwer nachweisbaren Polonium ermordet worden, um den Verdacht gezielt auf den — in Wahrheit unschuldigen — Kreml zu lenken. Denn Polonium ist rar. Und teuer. Wer außer den Machthabern an der Moskwa hätte sonst noch Zugriff auf ein derart kostbares Gift? Jedes Zeitalter hatte seine speziellen Moden: So wurde Arsen schlagartig unbeliebt, als Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals ein sicherer Nachweis möglich war. Und das Pflanzenschutzmittel E 605 verstärkt zum Mittel der Wahl, als die Zeitungen über erste Vergiftungen berichteten. Zweites wichtiges Auswahlkriterium für Täter: Das Gift muss schwer nachweisbar sein. Längst nicht jeder Selbstmörder macht es den Pathologen so leicht wie jener Lebensmüde, der einst mit der tödlichen Überdosis Schlafmittel auch noch den Beipackzettel verschluckte. Aus Sicht des Opfers ist die Entdeckung des Gifts vor der Einnahme natürlich wünschenswerter als während der Leichen zerlegung. Doch noch heute gilt, was der griechische Militärarzt Dioskurides, der berühmteste Pharmakologe des Altertums, schon vor rund 2000 Jahren formulierte: »Die Vorbeugung gegen Gifte ist schwierig, weil die, welche heimlich Gift geben, es so anstellen, dass auch die Erfahrensten getäuscht werden. Die Bitterkeit nehmen sie den Giften dadurch, dass sie Süßes hinzu fügen, und den schlechten Geruch decken sie durch Duftmittel.«
Hinzu kommt: Ist das Gift erst verschluckt, ähneln die in der Regel unspezi fischen Symptome nicht selten denen einer Lebensmittelvergiftung. Die Mehrheit der Giftmorde liegt womöglich im Dunkeln. Und ist die Tat einmal nachgewiesen, so fehlen oft — wie im Fall Litwinenko — letzte Beweise für die Täterschaft. Wer sicher gehen will, trinkt daher Tee stets ohne Zucker. Und besser, er trinkt ihn kalt. Ist er heiß, könnte die Wärme vom Zerfall einer radioaktiven Substanz herrühren. Besser auch, er verweigert die Nahrungsaufnahme insgesamt und hofft, dass das todbringende Gift nicht in der Raumluft wabert. Besser zudem, er speichert in seinem Telefon jene Nummer, die Leben retten könnte, etwa die des Münchner Giftnotrufs: 089/19240. Nur: Gegen Polonium ist auch der machtlos.
040
— Jenůfa
schmach & Schutzlosigkeit Zu Leoš Janácˇeks »Jenůfa«
040
— Jenůfa
schmach & Schutzlosigkeit Zu Leoš Janácˇeks »Jenůfa«
042
— Jenůfa
Einsamkeit
043
— Jenůfa
Einsamkeit
der schwierige
Entflammter Ehemann, tyrannischer Greis, anbetender Verehrer — der tschechische Komponist Leoš Janáček hat alle Facetten der Liebe durchlebt, war ebenso leidenschaftlich wie eiskalt. Auf den Spuren eines Egomanen
— Kilian Kirchgeßner Fotos — Yann Gross Text
Absolut ruhig ist es, kein einziges Geräusch dringt bis her nach oben. Am frühen Morgen liegt die Stadt noch unter einer nebligen Glocke, einzig die Türme der Burg Spielberg durchstoßen den Dunst. Hier auf der Anhöhe ist der beste Platz zum Lauschen: Von schräg gegenüber klingen zur vollen Stunde die schweren Schläge aus dem Glockenturm der Peter-und-Pauls-Kathedrale, unten auf der Straße wird gleich der Berufsverkehr losbrechen, die Trambahn-Chauffeure werden mit ihren durchdringenden Schellen die Autos verscheuchen. Was hätte er alles aufzuschreiben, der Mann mit dem Notizblock! Sein Brünn, Hauptstadt der mährischen Lande — wie anders klingt es heute als zu seinen Lebzeiten. Damals war Leoš Janáček häufig in den Gassen der Stadt unterwegs. Als er jung war, ein Mann mit dichtem Bart und ungebändigtem Haar, gehörte Brünn noch zum Habsburgerreich, man schrieb das Jahr 1865, und der junge Leoš war hungrig nach Leben. Sobald er frei hatte in seinem Kloster-Gymnasium und später als Musiklehrer, streifte er durch die Landschaft. Hügel ziehen sich durch Mähren, bewaldet und sanft — aber Leoš Janáček nahm seine Heimat nicht mit den Augen war, sondern mit den Ohren. Und was er hörte, setzte er in Noten. Die Vogelstimmen etwa, das Knarzen der Äste, das Pfeifen des Windes. Und wenn er auf einem Dorf zwei Bäuerinnen miteinander reden hörte, notierte er die Melodie ihrer Sprache: Er schrieb die Worte auf und malte darüber in die fünf Linien des Notenpapiers Tonhöhe und Rhythmus. Anfangs ist in dem jungen Eigenbrötler noch nichts von dem Mann zu erahnen, zu dem er im Laufe seines Lebens werden wird. Das Schicksal wird ihn beugen, er wird gefangen sein zwischen zwei Frauen, von denen die eine ihn abgöttisch liebt und die andere
seine großen Gefühle bekommt. Sämtliche Höhen und Tiefen wird er durchleben, vom armen Studenten zum berühmten Komponisten, vom entflammten Ehemann zum tyrannischen Greis. Dabei fing alles an wie in einer der lieblichen Opern seiner Zeit. Ein Klang von unerhörter Harmonie und Süße muss es gewesen sein, als Leoš Janáček zum ersten Mal die junge Zdenka Schulz traf. Die Kleine war 14 Jahre alt, der elf Jahre ältere Janáček unterrichtete sie am Klavier. Als er bei ihren Eltern um die Hand der Tochter anhielt, schickten die ihn erst einmal auf Studienreise nach Leipzig. Ein Jahr solle die Verliebtheit anhalten, danach werde man weitersehen. In der Ferne brach aus Janáček die Leidenschaft heraus. Nie zuvor hatte er so tief empfunden: »Ich sprach laut Deinen Namen«, schrieb er nach Brünn an seine Verlobte, »und liebe Zdenči, ich betete zum ersten Mal, damit ich in diesen aufgeregten Zuständen Dich in meinem Geist mit ungetrübter Kraft erhalte, denn aus Dir schöpfe ich Kraft, um aller dieser Gemütswallung Herr zu werden.« An guten Tagen schickte Leoš Janáček drei Briefe — einen morgens, einen mittags und einen am Abend. Seine jugendliche Angebetete bombardierte er mit seiner Zuneigung: Als er gerade einmal sieben Monate weg ist, hat sie 500 Briefe von ihm bekommen. Kaum kehrt er zurück, heiraten die beiden: Leoš Janáček, Musiklehrer, Komponist und Dirigent, wird Ehemann. »Er hatte einen emotionalen Charakter. Er war zäh und voller Leidenschaft«, sagt Miroslav Srnka. Der 33-Jährige ist selbst Komponist, einer der renommiertesten Musiker der jungen tschechischen Generation. Für ihn ist Janáček eine Quelle der Inspiration: Mehrfach schon hat er über ihn gearbeitet, inspiriert von dessen Briefen und Kompositionen. Srnka liest in ihnen Janáčeks Charakter, sieht zwischen den Zeilen die Leidenschaft, aber auch die Unangepasstheit, eine Neigung zum Aufbrausen, etwas Unstetes. Genauso lässt sich die Ehe denn auch an: Janáček hat kaum Zeit für seine junge Gattin, tagsüber lehrt er in Brünn, abends geht er auf Streifzüge und notiert die Stimmen und Geräusche in seiner Umgebung, nachts setzt er sich nieder und komponiert. Ein Jahr
Trostlos einsam: am Stadtrand von Brünn, Janác ˇeks Wohnort über sechs Jahrzehnte. Die Melancholie und Tristesse der Landschaft inspirierte den Komponisten, einen Einzelgänger und Sonderling, und machte ihn zum schärfsten Realisten des Musiktheaters _
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— Jenůfa
Einsamkeit
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— Jenůfa
Einsamkeit
der schwierige
Entflammter Ehemann, tyrannischer Greis, anbetender Verehrer — der tschechische Komponist Leoš Janáček hat alle Facetten der Liebe durchlebt, war ebenso leidenschaftlich wie eiskalt. Auf den Spuren eines Egomanen
— Kilian Kirchgeßner Fotos — Yann Gross Text
Absolut ruhig ist es, kein einziges Geräusch dringt bis her nach oben. Am frühen Morgen liegt die Stadt noch unter einer nebligen Glocke, einzig die Türme der Burg Spielberg durchstoßen den Dunst. Hier auf der Anhöhe ist der beste Platz zum Lauschen: Von schräg gegenüber klingen zur vollen Stunde die schweren Schläge aus dem Glockenturm der Peter-und-Pauls-Kathedrale, unten auf der Straße wird gleich der Berufsverkehr losbrechen, die Trambahn-Chauffeure werden mit ihren durchdringenden Schellen die Autos verscheuchen. Was hätte er alles aufzuschreiben, der Mann mit dem Notizblock! Sein Brünn, Hauptstadt der mährischen Lande — wie anders klingt es heute als zu seinen Lebzeiten. Damals war Leoš Janáček häufig in den Gassen der Stadt unterwegs. Als er jung war, ein Mann mit dichtem Bart und ungebändigtem Haar, gehörte Brünn noch zum Habsburgerreich, man schrieb das Jahr 1865, und der junge Leoš war hungrig nach Leben. Sobald er frei hatte in seinem Kloster-Gymnasium und später als Musiklehrer, streifte er durch die Landschaft. Hügel ziehen sich durch Mähren, bewaldet und sanft — aber Leoš Janáček nahm seine Heimat nicht mit den Augen war, sondern mit den Ohren. Und was er hörte, setzte er in Noten. Die Vogelstimmen etwa, das Knarzen der Äste, das Pfeifen des Windes. Und wenn er auf einem Dorf zwei Bäuerinnen miteinander reden hörte, notierte er die Melodie ihrer Sprache: Er schrieb die Worte auf und malte darüber in die fünf Linien des Notenpapiers Tonhöhe und Rhythmus. Anfangs ist in dem jungen Eigenbrötler noch nichts von dem Mann zu erahnen, zu dem er im Laufe seines Lebens werden wird. Das Schicksal wird ihn beugen, er wird gefangen sein zwischen zwei Frauen, von denen die eine ihn abgöttisch liebt und die andere
seine großen Gefühle bekommt. Sämtliche Höhen und Tiefen wird er durchleben, vom armen Studenten zum berühmten Komponisten, vom entflammten Ehemann zum tyrannischen Greis. Dabei fing alles an wie in einer der lieblichen Opern seiner Zeit. Ein Klang von unerhörter Harmonie und Süße muss es gewesen sein, als Leoš Janáček zum ersten Mal die junge Zdenka Schulz traf. Die Kleine war 14 Jahre alt, der elf Jahre ältere Janáček unterrichtete sie am Klavier. Als er bei ihren Eltern um die Hand der Tochter anhielt, schickten die ihn erst einmal auf Studienreise nach Leipzig. Ein Jahr solle die Verliebtheit anhalten, danach werde man weitersehen. In der Ferne brach aus Janáček die Leidenschaft heraus. Nie zuvor hatte er so tief empfunden: »Ich sprach laut Deinen Namen«, schrieb er nach Brünn an seine Verlobte, »und liebe Zdenči, ich betete zum ersten Mal, damit ich in diesen aufgeregten Zuständen Dich in meinem Geist mit ungetrübter Kraft erhalte, denn aus Dir schöpfe ich Kraft, um aller dieser Gemütswallung Herr zu werden.« An guten Tagen schickte Leoš Janáček drei Briefe — einen morgens, einen mittags und einen am Abend. Seine jugendliche Angebetete bombardierte er mit seiner Zuneigung: Als er gerade einmal sieben Monate weg ist, hat sie 500 Briefe von ihm bekommen. Kaum kehrt er zurück, heiraten die beiden: Leoš Janáček, Musiklehrer, Komponist und Dirigent, wird Ehemann. »Er hatte einen emotionalen Charakter. Er war zäh und voller Leidenschaft«, sagt Miroslav Srnka. Der 33-Jährige ist selbst Komponist, einer der renommiertesten Musiker der jungen tschechischen Generation. Für ihn ist Janáček eine Quelle der Inspiration: Mehrfach schon hat er über ihn gearbeitet, inspiriert von dessen Briefen und Kompositionen. Srnka liest in ihnen Janáčeks Charakter, sieht zwischen den Zeilen die Leidenschaft, aber auch die Unangepasstheit, eine Neigung zum Aufbrausen, etwas Unstetes. Genauso lässt sich die Ehe denn auch an: Janáček hat kaum Zeit für seine junge Gattin, tagsüber lehrt er in Brünn, abends geht er auf Streifzüge und notiert die Stimmen und Geräusche in seiner Umgebung, nachts setzt er sich nieder und komponiert. Ein Jahr
Trostlos einsam: am Stadtrand von Brünn, Janác ˇeks Wohnort über sechs Jahrzehnte. Die Melancholie und Tristesse der Landschaft inspirierte den Komponisten, einen Einzelgänger und Sonderling, und machte ihn zum schärfsten Realisten des Musiktheaters _
044
— Jenůfa
Einsamkeit
045
— Jenůfa
Einsamkeit
Die Bungalows eines Autocamps in der Nähe von Bystr ˇice nad Pernštejnem im Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren. Bis heute typisch für
Weites Land: Werbung für Mineralwasser, 30 Kilometer südlich von Brünn — eine Gegend, die einst Kornkammer des Landes war. Es gab große
die Region sind sanfte, hügelige Landschaften und kleine Dörfer; Städte haben hier selten mehr als ein paar Tausend Einwohner _
Anbauflächen mit Getreide aller Art, aber auch mit Zuckerrüben und Gemüse, Wein und Obst _
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Einsamkeit
Die Bungalows eines Autocamps in der Nähe von Bystr ˇice nad Pernštejnem im Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren. Bis heute typisch für
Weites Land: Werbung für Mineralwasser, 30 Kilometer südlich von Brünn — eine Gegend, die einst Kornkammer des Landes war. Es gab große
die Region sind sanfte, hügelige Landschaften und kleine Dörfer; Städte haben hier selten mehr als ein paar Tausend Einwohner _
Anbauflächen mit Getreide aller Art, aber auch mit Zuckerrüben und Gemüse, Wein und Obst _
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— Jenůfa
er ihr. »Ihr Wesen und Ihr Äußeres sind so liebenswert, dass in Ihrer Gesellschaft die Seele federleicht ist.« Die junge Kamila weiß nicht so recht, wie ihr geschieht. Natürlich kennt sie den alten Herrn, er ist schließlich eine kleine Berühmtheit, und selbstverständlich fühlt sie sich geschmeichelt. Das Problem ist nur: Sie ist verheiratet, gerade zum zweiten Mal Mutter geworden; außerdem ist da noch Janáčeks Ehefrau. Der alte Mann aber hat Feuer gefangen: Seine Leidenschaft treibt ihn an — wie einst, als er Zdenka mit Briefen überschüttete. Jetzt also Kamila. 70 Depeschen schickt er ihr im ersten Jahr nach ihrer zufälligen Begegnung, »gnädige Frau« schreibt er, und »Ihnen vollends ergeben«. Für Janáček-Expertin Eva Drliková ist die Sache klar: »Sie muss so etwas wie eine Madonna für ihn gewesen sein.« Angebetet, vergöttert, aber auch unerreichbar. Niemals wird er sie anrühren, seine Geliebte im Geiste, die ihm immer nur von Freundschaft und Verbundenheit schreibt. Die Katastrophe aber naht unaufhaltsam. Janáček und seine Kamila wahren alle Formen des Anstands, in den Briefen siezen sie sich vornehm. Aber eines Tages bittet der alte Herr, seine Gefühle sind aufgewallt, inständig darum, nur ein einziges Mal möge sie ihm als »Deine Kamila« schreiben. Sie erfüllt ihm den Wunsch — aber ausgerechnet jenen Brief findet zu Hause in Brünn Janáčeks Ehefrau Zdenka auf seinem Schreibtisch. »Wie wenn eine Granate in eine grüne Wiese einschlägt, sie zerpflügt, zerschmettert, ein schwarzes Loch aushebt, so wirkte auf mich der Brief«, schrieb Zdenka später auf. »Mir wurde die ganze Nutzlosigkeit meines Lebens bewusst. Dass mein Leben und unsere Ehe für ihn so viel Wert haben wie ein verwelktes Blatt: eine Weile interessiert er sich dafür, hebt es auf und liebkost es, und dann wirft er es weg, zertritt es.« Sie, Zdenka, ist die liebende Ehefrau, auch so viele Jahre nach der Hochzeit. Alles hatte sie ihm nachgesehen, dem grummelnden, unwirschen Mann, die vielen Demütigungen, seine Lieblosigkeit. Zwei Worte sind es, die ihr Schande und Scham bereiten, zwei Worte nur: »Deine Kamila«.
Einsamkeit
051
— Jenůfa
Einsamkeit
Dass sie ihn nicht mehr zurückgewinnen wird, ihren dick köpfigen Mann, weiß Zdenka nach den vielen Jahrzehnten an seiner Seite. Aber dass er so aufblüht, dass er vergnügt ist wie ein Jugend licher, während sie wie geprügelt neben ihm lebt — das trifft sie tief. Der alte Janáček, immerhin, hat endlich wieder eine Inspi ration: »Nachdem er Kamila kennenlernte«, sagt Miroslav Srnka, »arbeitete er noch besessener, er bringt große Werke plötzlich in einem Zug zu Papier und nicht mehr wie ›Jenůfa‹ über etliche Jahre hinweg.« Janáček schreibt »Katja Kabanova«, »Das schlaue Füchslein«, »Die Sache Makropulos« und »Aus einem Totenhaus«, außer dem die »Glagolitische Messe«. Und er komponiert das zweite Streichquartett: »Intime Briefe«. Es ist für Kamila. »Selbst wenn man den Hintergrund nicht kennt«, sagt Miroslav Srnka, Janáčeks junger Komponistenkollege, »dann spürt man, was für ein Gefühl darin steckt: was für ein dichtes, großes Gefühl!« Mit seiner Frau Zdenka wird sich Leoš Janáček nicht mehr versöhnen. 1928 stirbt er bei einem Aufenthalt in seinem Landhaus, in dem er sich mit Kamila trifft. Seine Frau verabschiedete er zuvor in Brünn, nicht wissend, dass es der letzte Abschied werden sollte. Zdenka schreibt später voller Verbitterung auf: »Ich hielt mich am Tisch fest, klammerte mich mit aller Kraft an ihn [den Tisch]. Sprechen konnte ich nicht. Er gab mir nochmals die Hand und wollte mich küssen. Während am Bahnhof die andere wartete.« Am Ende überlebt Zdenka sie alle. Ihren Mann um zehn, Kamila um drei Jahre. Ob sie jemals wieder glücklich geworden ist, sie, die Ehefrau des großen Komponisten, davon ist nichts überliefert.
Theater, das offene Geheimnis: im einstigen Stadttheater, dem heutigen Mahen-Theater. Hier wurden fast alle Opern Janác ˇeks uraufgeführt: 1904 »Jenu ˚fa«, 1921 »Katja Kabanova«, 1924 »Das schlaue Füchslein«, 1926 »Die Sache Makropulos« und 1930 »Aus einem Totenhaus« _
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er ihr. »Ihr Wesen und Ihr Äußeres sind so liebenswert, dass in Ihrer Gesellschaft die Seele federleicht ist.« Die junge Kamila weiß nicht so recht, wie ihr geschieht. Natürlich kennt sie den alten Herrn, er ist schließlich eine kleine Berühmtheit, und selbstverständlich fühlt sie sich geschmeichelt. Das Problem ist nur: Sie ist verheiratet, gerade zum zweiten Mal Mutter geworden; außerdem ist da noch Janáčeks Ehefrau. Der alte Mann aber hat Feuer gefangen: Seine Leidenschaft treibt ihn an — wie einst, als er Zdenka mit Briefen überschüttete. Jetzt also Kamila. 70 Depeschen schickt er ihr im ersten Jahr nach ihrer zufälligen Begegnung, »gnädige Frau« schreibt er, und »Ihnen vollends ergeben«. Für Janáček-Expertin Eva Drliková ist die Sache klar: »Sie muss so etwas wie eine Madonna für ihn gewesen sein.« Angebetet, vergöttert, aber auch unerreichbar. Niemals wird er sie anrühren, seine Geliebte im Geiste, die ihm immer nur von Freundschaft und Verbundenheit schreibt. Die Katastrophe aber naht unaufhaltsam. Janáček und seine Kamila wahren alle Formen des Anstands, in den Briefen siezen sie sich vornehm. Aber eines Tages bittet der alte Herr, seine Gefühle sind aufgewallt, inständig darum, nur ein einziges Mal möge sie ihm als »Deine Kamila« schreiben. Sie erfüllt ihm den Wunsch — aber ausgerechnet jenen Brief findet zu Hause in Brünn Janáčeks Ehefrau Zdenka auf seinem Schreibtisch. »Wie wenn eine Granate in eine grüne Wiese einschlägt, sie zerpflügt, zerschmettert, ein schwarzes Loch aushebt, so wirkte auf mich der Brief«, schrieb Zdenka später auf. »Mir wurde die ganze Nutzlosigkeit meines Lebens bewusst. Dass mein Leben und unsere Ehe für ihn so viel Wert haben wie ein verwelktes Blatt: eine Weile interessiert er sich dafür, hebt es auf und liebkost es, und dann wirft er es weg, zertritt es.« Sie, Zdenka, ist die liebende Ehefrau, auch so viele Jahre nach der Hochzeit. Alles hatte sie ihm nachgesehen, dem grummelnden, unwirschen Mann, die vielen Demütigungen, seine Lieblosigkeit. Zwei Worte sind es, die ihr Schande und Scham bereiten, zwei Worte nur: »Deine Kamila«.
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Einsamkeit
Dass sie ihn nicht mehr zurückgewinnen wird, ihren dick köpfigen Mann, weiß Zdenka nach den vielen Jahrzehnten an seiner Seite. Aber dass er so aufblüht, dass er vergnügt ist wie ein Jugend licher, während sie wie geprügelt neben ihm lebt — das trifft sie tief. Der alte Janáček, immerhin, hat endlich wieder eine Inspi ration: »Nachdem er Kamila kennenlernte«, sagt Miroslav Srnka, »arbeitete er noch besessener, er bringt große Werke plötzlich in einem Zug zu Papier und nicht mehr wie ›Jenůfa‹ über etliche Jahre hinweg.« Janáček schreibt »Katja Kabanova«, »Das schlaue Füchslein«, »Die Sache Makropulos« und »Aus einem Totenhaus«, außer dem die »Glagolitische Messe«. Und er komponiert das zweite Streichquartett: »Intime Briefe«. Es ist für Kamila. »Selbst wenn man den Hintergrund nicht kennt«, sagt Miroslav Srnka, Janáčeks junger Komponistenkollege, »dann spürt man, was für ein Gefühl darin steckt: was für ein dichtes, großes Gefühl!« Mit seiner Frau Zdenka wird sich Leoš Janáček nicht mehr versöhnen. 1928 stirbt er bei einem Aufenthalt in seinem Landhaus, in dem er sich mit Kamila trifft. Seine Frau verabschiedete er zuvor in Brünn, nicht wissend, dass es der letzte Abschied werden sollte. Zdenka schreibt später voller Verbitterung auf: »Ich hielt mich am Tisch fest, klammerte mich mit aller Kraft an ihn [den Tisch]. Sprechen konnte ich nicht. Er gab mir nochmals die Hand und wollte mich küssen. Während am Bahnhof die andere wartete.« Am Ende überlebt Zdenka sie alle. Ihren Mann um zehn, Kamila um drei Jahre. Ob sie jemals wieder glücklich geworden ist, sie, die Ehefrau des großen Komponisten, davon ist nichts überliefert.
Theater, das offene Geheimnis: im einstigen Stadttheater, dem heutigen Mahen-Theater. Hier wurden fast alle Opern Janác ˇeks uraufgeführt: 1904 »Jenu ˚fa«, 1921 »Katja Kabanova«, 1924 »Das schlaue Füchslein«, 1926 »Die Sache Makropulos« und 1930 »Aus einem Totenhaus« _
052
— Jenůfa
Religion
053
— Jenůfa
Religion
scham & glaube
Wie wichtig ist einem Juden, einem Muslim, einem Katholiken die Scham? Drei Geistliche erzählen
— Andreas Benedikt Kleinschmidt Illustrationen — Gesine Grotrian-Steinweg protokolle
Scham & Würde Rabbiner Tom Kucera, 38, München Als Erstes entschuldigt sich der Rabbiner für die Bartstoppeln. Die beiden vorangegangenen Nächte hatte er im Reisebus verbracht; unweit von Prag wohnte er der Enthüllung eines Holocaust-Denkmals bei. Doch trotz Schlafmangels ist Tom Kucera guter Dinge, als er die Räume der Liberalen Jüdischen Gemeinde betritt: Wenige Tage zuvor hat der weltberühmte Architekt Daniel Libeskind seiner Gemeinde angeboten, sie bei der Planung eines neuen Gemeindehauses zu unterstützen. »Ich unterscheide zwischen zwei Formen der Scham: interne Scham und externe Scham. Interne Scham empfinde ich, wenn ich mich schofel verhalten habe und andere durch mich zu Schaden kommen. Von zentraler Bedeutung ist für mich als Jude und Rabbiner aber vor allem die externe Scham: die Scham, die ich anderen zufüge. Im Talmud heißt es: Jemandes Gesicht in der Öffentlichkeit weiß machen, ist wie Blut vergießen. Und ein Gesicht wird — der Überlieferung nach — weiß, wenn sich jemand öffentlich schämen muss. Natürlich ist diese Analo gie übertrieben: Mord wiegt schwerer, als einen anderen Menschen öffentlich zu beschämen. Aber aus erzieherischen Gründen übertreiben Rabbis gerne einmal. Sie unterstreichen damit vor allem, wie wichtig diese Maßgabe ist. Das zeigt übrigens auch eine andere Episode des Talmud: Die Beschämung einer anderen Person führte da zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem — ein kollektives Trauma für das Judentum. Scham ist deshalb so wichtig im Judentum, weil unsere Religion besonderen Wert auf die Würde des Einzelnen legt —
Scham & Leben Imam Abdullah al-Hasan, 26, London sogar nach dem Tod. Beispielsweise muss der leblose Körper gewaschen werden. Aber wenn schon den Toten Ehre widerfährt — wie viel mehr muss die Ehre der Lebenden geachtet werden! Auch deshalb sollten wir niemals einen anderen beschämen. In den Segenssprüchen des Morgengebets werden wir Juden täglich an die Bedeutung der Scham erinnert: ›Lasst unser Leben von der Liebe und der Achtung zu Gott geprägt sein, damit wir niemals unsere Selbstachtung verlieren noch beschämt sein müssen, denn Du bist Gott, der uns Selbstachtung zuteilwerden lässt.‹«
Das Outreach Centre, ein islamisches Bildungs- und Kulturzentrum in East London: Der sunnitische Imam lässt auf sich warten, unter dessen erzählt eine junge osteuropäische Studentin von ihrer Konversion zum Islam. Für ihren Verlobten wurde sie einst zur Muslima. Die Ehe kam zwar nie zustande, doch ihrem christlichen Glauben trauert sie nicht nach: Sofort nach dem Übertritt seien alle Verfehlungen vergeben. Bedeutet das aber nicht, dass eine Konversion kurz vor dem Tod besonders sinnvoll wäre — nämlich um sündenfrei ins Paradies einzuziehen? Diese Frage quittiert sie mit einem wohlwollenden Lachen: Nein, so einfach sei das nicht. Dann erscheint der Imam. »Ich bin selbst in East London geboren und aufgewachsen, habe aber unter anderem Zeit in Jordanien, Syrien, Ägypten und SaudiArabien verbracht. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass bestimmte Dinge von vielen Muslimen auf der ganzen Welt als schmachvoll und schambesetzt erlebt werden. Der Bruch des Fastengebots im Ramadan ruft beispielsweise bei manchen Scham hervor, weil sie wissen, dass sie einer Verpflichtung nicht nachkommen. Es gibt aber auch lokale Eigenheiten. Hier in East London beobachte ich bei manchen meiner Altersgenossen manchmal eine gewisse Zurückhaltung, sich als Muslime zu erkennen zu geben. Scham, aber auch Angst spielen dabei eine wichtige Rolle. Viele Londoner haben das Stereotyp des gefährlichen Muslim verinnerlicht: Sie assoziieren das Wort Muslim mit dem Wort Terror. Wir erscheinen als potenzielle Terroristen. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center und die Londoner U-Bahn wollten sich viele Muslime nicht mehr nach islamischem Gebot kleiden. Diese Scham ist aber vor allem eine Schwäche im Glauben. Der Koran ruft an vielen Stellen zur Bescheidenheit auf. Es gibt ein Wort des Propheten, das man grob so übersetzen könnte: Fühlt eine Person keine Scham, ist sie zu allem fähig, vor allem zu Üblem.
Hayyah — ein Wort, das in etwa dem englischen Begriff »shame« entspricht — hat im Arabischen zusätzlich die Bedeutung von »Leben«. Ein Leben im Einklang mit dem Islam ist ein beschei denes — und Scham im Sinne von Etikette ist Teil davon: Pärchen dürfen in der Öffentlichkeit nicht intim werden — das würde alle miteinander bloßstellen, das Paar ebenso wie seine Beobachter. Zurückhaltung im Zusammenhang mit einem Gefühl von Schamhaftigkeit ist auch im Hinblick auf Kleidung wichtig. Frauen etwa sollen die Hejab tragen. Je nach Auslegung muss dieses lockere, nicht zu farbenfrohe Gewand ihren ganzen Körper bedecken, mit Ausnahme von Gesicht und Händen. Die Hejab ist ein Schutz für die Frau und bewahrt sie vor lüsternen Blicken. Die harten Strafen, welche die Scharia, das islamische Recht, vorsieht, sind als Abschreckung gedacht. Bei Ehebruch ist beispielsweise die öffentliche Hinrichtung vorgesehen. Die Schande färbt aber auf die ganze Familie ab; sie wird beschämt. Daher übt die Familie von vornherein auch einen gewissen sozialen Druck aus, der präventiv wirkt. Die Angst vor Scham bewahrt vor Verfehlungen.«
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Religion
scham & glaube
Wie wichtig ist einem Juden, einem Muslim, einem Katholiken die Scham? Drei Geistliche erzählen
— Andreas Benedikt Kleinschmidt Illustrationen — Gesine Grotrian-Steinweg protokolle
Scham & Würde Rabbiner Tom Kucera, 38, München Als Erstes entschuldigt sich der Rabbiner für die Bartstoppeln. Die beiden vorangegangenen Nächte hatte er im Reisebus verbracht; unweit von Prag wohnte er der Enthüllung eines Holocaust-Denkmals bei. Doch trotz Schlafmangels ist Tom Kucera guter Dinge, als er die Räume der Liberalen Jüdischen Gemeinde betritt: Wenige Tage zuvor hat der weltberühmte Architekt Daniel Libeskind seiner Gemeinde angeboten, sie bei der Planung eines neuen Gemeindehauses zu unterstützen. »Ich unterscheide zwischen zwei Formen der Scham: interne Scham und externe Scham. Interne Scham empfinde ich, wenn ich mich schofel verhalten habe und andere durch mich zu Schaden kommen. Von zentraler Bedeutung ist für mich als Jude und Rabbiner aber vor allem die externe Scham: die Scham, die ich anderen zufüge. Im Talmud heißt es: Jemandes Gesicht in der Öffentlichkeit weiß machen, ist wie Blut vergießen. Und ein Gesicht wird — der Überlieferung nach — weiß, wenn sich jemand öffentlich schämen muss. Natürlich ist diese Analo gie übertrieben: Mord wiegt schwerer, als einen anderen Menschen öffentlich zu beschämen. Aber aus erzieherischen Gründen übertreiben Rabbis gerne einmal. Sie unterstreichen damit vor allem, wie wichtig diese Maßgabe ist. Das zeigt übrigens auch eine andere Episode des Talmud: Die Beschämung einer anderen Person führte da zur Zerstörung des Tempels in Jerusalem — ein kollektives Trauma für das Judentum. Scham ist deshalb so wichtig im Judentum, weil unsere Religion besonderen Wert auf die Würde des Einzelnen legt —
Scham & Leben Imam Abdullah al-Hasan, 26, London sogar nach dem Tod. Beispielsweise muss der leblose Körper gewaschen werden. Aber wenn schon den Toten Ehre widerfährt — wie viel mehr muss die Ehre der Lebenden geachtet werden! Auch deshalb sollten wir niemals einen anderen beschämen. In den Segenssprüchen des Morgengebets werden wir Juden täglich an die Bedeutung der Scham erinnert: ›Lasst unser Leben von der Liebe und der Achtung zu Gott geprägt sein, damit wir niemals unsere Selbstachtung verlieren noch beschämt sein müssen, denn Du bist Gott, der uns Selbstachtung zuteilwerden lässt.‹«
Das Outreach Centre, ein islamisches Bildungs- und Kulturzentrum in East London: Der sunnitische Imam lässt auf sich warten, unter dessen erzählt eine junge osteuropäische Studentin von ihrer Konversion zum Islam. Für ihren Verlobten wurde sie einst zur Muslima. Die Ehe kam zwar nie zustande, doch ihrem christlichen Glauben trauert sie nicht nach: Sofort nach dem Übertritt seien alle Verfehlungen vergeben. Bedeutet das aber nicht, dass eine Konversion kurz vor dem Tod besonders sinnvoll wäre — nämlich um sündenfrei ins Paradies einzuziehen? Diese Frage quittiert sie mit einem wohlwollenden Lachen: Nein, so einfach sei das nicht. Dann erscheint der Imam. »Ich bin selbst in East London geboren und aufgewachsen, habe aber unter anderem Zeit in Jordanien, Syrien, Ägypten und SaudiArabien verbracht. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass bestimmte Dinge von vielen Muslimen auf der ganzen Welt als schmachvoll und schambesetzt erlebt werden. Der Bruch des Fastengebots im Ramadan ruft beispielsweise bei manchen Scham hervor, weil sie wissen, dass sie einer Verpflichtung nicht nachkommen. Es gibt aber auch lokale Eigenheiten. Hier in East London beobachte ich bei manchen meiner Altersgenossen manchmal eine gewisse Zurückhaltung, sich als Muslime zu erkennen zu geben. Scham, aber auch Angst spielen dabei eine wichtige Rolle. Viele Londoner haben das Stereotyp des gefährlichen Muslim verinnerlicht: Sie assoziieren das Wort Muslim mit dem Wort Terror. Wir erscheinen als potenzielle Terroristen. Nach den Anschlägen auf das World Trade Center und die Londoner U-Bahn wollten sich viele Muslime nicht mehr nach islamischem Gebot kleiden. Diese Scham ist aber vor allem eine Schwäche im Glauben. Der Koran ruft an vielen Stellen zur Bescheidenheit auf. Es gibt ein Wort des Propheten, das man grob so übersetzen könnte: Fühlt eine Person keine Scham, ist sie zu allem fähig, vor allem zu Üblem.
Hayyah — ein Wort, das in etwa dem englischen Begriff »shame« entspricht — hat im Arabischen zusätzlich die Bedeutung von »Leben«. Ein Leben im Einklang mit dem Islam ist ein beschei denes — und Scham im Sinne von Etikette ist Teil davon: Pärchen dürfen in der Öffentlichkeit nicht intim werden — das würde alle miteinander bloßstellen, das Paar ebenso wie seine Beobachter. Zurückhaltung im Zusammenhang mit einem Gefühl von Schamhaftigkeit ist auch im Hinblick auf Kleidung wichtig. Frauen etwa sollen die Hejab tragen. Je nach Auslegung muss dieses lockere, nicht zu farbenfrohe Gewand ihren ganzen Körper bedecken, mit Ausnahme von Gesicht und Händen. Die Hejab ist ein Schutz für die Frau und bewahrt sie vor lüsternen Blicken. Die harten Strafen, welche die Scharia, das islamische Recht, vorsieht, sind als Abschreckung gedacht. Bei Ehebruch ist beispielsweise die öffentliche Hinrichtung vorgesehen. Die Schande färbt aber auf die ganze Familie ab; sie wird beschämt. Daher übt die Familie von vornherein auch einen gewissen sozialen Druck aus, der präventiv wirkt. Die Angst vor Scham bewahrt vor Verfehlungen.«
060
— Aida
Sklaverei & Supermodels Zu Giuseppe Verdis »Aida«
060
— Aida
Sklaverei & Supermodels Zu Giuseppe Verdis »Aida«
062
— Aida
Doppelmoral
063
— Aida
Doppelmoral
ohne jede scham
Ihr Kind ist unehelich. Die Mutter geht vor Gericht, um die Vaterschaft feststellen zu lassen. Keine große Sache mehr, heutzutage? In Ägypten schon
— Jürgen Stryjak Fotos — Andri Pol Text
1 _
Das ganze Land war gespalten, als Hind Al Hinnawy in Kairo ihren Gerichtsprozess gewann. Die Magazine des Boulevard empörten sich heftig und in den TV-Talkshows wurde ohne Unterlass gestritten. Kein Konsens weit und breit. Dabei wäre er in so einem Fall das Normalste der Welt. Was war geschehen? Eine 27-jährige Kostümbildnerin hatte 2006 die von Männern dominierte Gesellschaft ihres Landes heraus gefordert. Sie stritt für das Recht ihrer Tochter Lina auf eine juristisch abgesicherte Existenz. »Ich werde bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen«, erklärte sie im Fernsehen, »denn es geht um mein Baby.« Und sie gewann. Hatte Erfolg mit einem Vaterschaftsprozess, der Lina, damals zwei Jahre alt, zum bekanntesten Kleinkind Ägyptens machte. Linas Mutter kam dabei nicht immer gut weg. »Schämt die sich denn nicht?«, lautete die Standardfrage. Denn Hind Al Hinnawy hatte außerehelichen Sex gehabt. Und ein uneheliches Kind ge-
boren. Beides ist keine Seltenheit im Land am Nil — für Empörung sorgte lediglich, dass Hind beides zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung machte. Wäre sie den üblichen Verhaltensmustern gefolgt, hätte sie Scham empfunden und ihr Kind entweder abgetrieben oder wenigstens daheim in aller Stille großgezogen — ohne den leiblichen Vater bloßzustellen und ohne zu fordern, dass er sich zum Nachwuchs bekennen möge. Mehrere Zehntausend Kinder wachsen in Ägypten in solch einer Situation auf. Sie besitzen keine Geburtsurkunde, erhalten keinen Familiennamen und keine finanzielle Unterstützung. Sie können nicht auf die kostenlosen staat lichen Schulen gehen und bekommen keinen Personalausweis. Elementare Bürgerrechte werden ihnen vorenthalten. Sie sind die Opfer einer Doppelmoral, die die Familien ehre schützen will. Denn die ist in Ägypten heilig. Hind musste zweimal in die Berufung gehen. Sie beantragte eine DNA-Analyse. »Kein Mann kann zu einem Gentest gezwungen werden«, verkündete das muslimisch-religiöse Oberhaupt des Landes. Und Ahmed Al Fishawy, der Kindsvater, weigerte sich. DNA-Analy sen sind unüblich in Ägypten, Männer fürchten sie wie das Fegefeuer. Das hat einen guten Grund: Im Land am Nil verlieben sich nicht einfach zwei Menschen ineinander und heiraten dann — immer sind es auch Familien, die einander ehelichen, selbst im 21. Jahrhundert. Das ist
nach wie vor Realität. Oder zumindest eine von mehreren, die gleichzeitig existieren. Nennen wir sie Realität Nummer eins. In der Realität Nummer eins gelten bei der Partnerwahl traditionelle Maßstäbe. Dass zwei Menschen sich lieben, ist dabei kein Hinderungsgrund. Wichtiger ist, dass das junge Glück sich — und notfalls die Angehörigen — versorgen kann. In einer Gesellschaft, in der kein soziales Netz das Individuum auffängt, ist die Familie alles. Ihr den Rücken zu kehren, kann ins Elend führen. Ein schlechter Leumund ebenfalls. Für beides ist der Mann verantwortlich. Er versorgt die Familie, zumindest theoretisch, er kontrolliert die Ehefrau. Dass eine DNAAnalyse ihn nicht auch noch einer außerehelichen Sünde überführt, ist dabei von elementarer Bedeutung. Hind Al Hinnawy hat diese Realität Nummer eins bedroht, den schönen Schein. Was wäre das für ein verheerendes Signal, sollte sie Recht bekommen! Ein Freibrief für die Sünde, für gefallene Frauen, die alle Schamgrenzen durchbrochen haben! Eine Grenze, die in den Köpfen nur so lange existiert, solange sie gepredigt wird, in den Moscheen und Kirchen, in den Kaffee häusern und an den Esstischen daheim. So entsetzte es viele Ägypter, als das Gericht bei der zweiten Berufungsverhandlung doch gegen Ahmed entschied, auch ohne DNAAnalyse. Es sei ausreichend erwiesen, dass Ahmed der Vater sei, da er ein Verhältnis mit Hind hatte.
062
— Aida
Doppelmoral
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Doppelmoral
ohne jede scham
Ihr Kind ist unehelich. Die Mutter geht vor Gericht, um die Vaterschaft feststellen zu lassen. Keine große Sache mehr, heutzutage? In Ägypten schon
— Jürgen Stryjak Fotos — Andri Pol Text
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Das ganze Land war gespalten, als Hind Al Hinnawy in Kairo ihren Gerichtsprozess gewann. Die Magazine des Boulevard empörten sich heftig und in den TV-Talkshows wurde ohne Unterlass gestritten. Kein Konsens weit und breit. Dabei wäre er in so einem Fall das Normalste der Welt. Was war geschehen? Eine 27-jährige Kostümbildnerin hatte 2006 die von Männern dominierte Gesellschaft ihres Landes heraus gefordert. Sie stritt für das Recht ihrer Tochter Lina auf eine juristisch abgesicherte Existenz. »Ich werde bis zum letzten Tropfen Blut kämpfen«, erklärte sie im Fernsehen, »denn es geht um mein Baby.« Und sie gewann. Hatte Erfolg mit einem Vaterschaftsprozess, der Lina, damals zwei Jahre alt, zum bekanntesten Kleinkind Ägyptens machte. Linas Mutter kam dabei nicht immer gut weg. »Schämt die sich denn nicht?«, lautete die Standardfrage. Denn Hind Al Hinnawy hatte außerehelichen Sex gehabt. Und ein uneheliches Kind ge-
boren. Beides ist keine Seltenheit im Land am Nil — für Empörung sorgte lediglich, dass Hind beides zum Gegenstand einer öffentlichen Auseinandersetzung machte. Wäre sie den üblichen Verhaltensmustern gefolgt, hätte sie Scham empfunden und ihr Kind entweder abgetrieben oder wenigstens daheim in aller Stille großgezogen — ohne den leiblichen Vater bloßzustellen und ohne zu fordern, dass er sich zum Nachwuchs bekennen möge. Mehrere Zehntausend Kinder wachsen in Ägypten in solch einer Situation auf. Sie besitzen keine Geburtsurkunde, erhalten keinen Familiennamen und keine finanzielle Unterstützung. Sie können nicht auf die kostenlosen staat lichen Schulen gehen und bekommen keinen Personalausweis. Elementare Bürgerrechte werden ihnen vorenthalten. Sie sind die Opfer einer Doppelmoral, die die Familien ehre schützen will. Denn die ist in Ägypten heilig. Hind musste zweimal in die Berufung gehen. Sie beantragte eine DNA-Analyse. »Kein Mann kann zu einem Gentest gezwungen werden«, verkündete das muslimisch-religiöse Oberhaupt des Landes. Und Ahmed Al Fishawy, der Kindsvater, weigerte sich. DNA-Analy sen sind unüblich in Ägypten, Männer fürchten sie wie das Fegefeuer. Das hat einen guten Grund: Im Land am Nil verlieben sich nicht einfach zwei Menschen ineinander und heiraten dann — immer sind es auch Familien, die einander ehelichen, selbst im 21. Jahrhundert. Das ist
nach wie vor Realität. Oder zumindest eine von mehreren, die gleichzeitig existieren. Nennen wir sie Realität Nummer eins. In der Realität Nummer eins gelten bei der Partnerwahl traditionelle Maßstäbe. Dass zwei Menschen sich lieben, ist dabei kein Hinderungsgrund. Wichtiger ist, dass das junge Glück sich — und notfalls die Angehörigen — versorgen kann. In einer Gesellschaft, in der kein soziales Netz das Individuum auffängt, ist die Familie alles. Ihr den Rücken zu kehren, kann ins Elend führen. Ein schlechter Leumund ebenfalls. Für beides ist der Mann verantwortlich. Er versorgt die Familie, zumindest theoretisch, er kontrolliert die Ehefrau. Dass eine DNAAnalyse ihn nicht auch noch einer außerehelichen Sünde überführt, ist dabei von elementarer Bedeutung. Hind Al Hinnawy hat diese Realität Nummer eins bedroht, den schönen Schein. Was wäre das für ein verheerendes Signal, sollte sie Recht bekommen! Ein Freibrief für die Sünde, für gefallene Frauen, die alle Schamgrenzen durchbrochen haben! Eine Grenze, die in den Köpfen nur so lange existiert, solange sie gepredigt wird, in den Moscheen und Kirchen, in den Kaffee häusern und an den Esstischen daheim. So entsetzte es viele Ägypter, als das Gericht bei der zweiten Berufungsverhandlung doch gegen Ahmed entschied, auch ohne DNAAnalyse. Es sei ausreichend erwiesen, dass Ahmed der Vater sei, da er ein Verhältnis mit Hind hatte.
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Hind Al Hinnawy, die junge, moderne Ägypterin mit offenem Haar und schicker Sonnenbrille, lässig nach oben geschoben, entstammt der Realität Nummer zwei. Hier hatte sie Ahmed Al Fishawy kennengelernt, den jungen, erfolgreichen Schauspieler, Linas Vater. Ahmed war für viele junge Ägypter ein Idol. Der heute 28-Jährige war nicht nur Star einer TV-Seifenoper, er moderierte auch die religiöse Erbauungsshow »Yalla Ya Shabab« im Fernsehen. Darin erklärte er den Shabab, also den Jugendlichen, wie sie gleichzeitig modern und dennoch fromm sein können. Natürlich war Ahmeds uneheliches Kind ein gefundenes Fressen für die Medien. Die ägyptische Realität Nummer zwei ist ein Paralleluniversum. Und es wird von Bildschirmen beherrscht. Auf arabischen Satellitenkanälen dudeln Musikvideos so freizügig und erotisch, dass immer mal wieder eines zum Gegenstand von hitzigen Parlamentsdebatten wird. Auf Sendern wie Al-Dschasira kommen neben HardlinerImamen auch Menschenrechtler und Feministinnen zu Wort. Auf Spielfilmkanälen laufen Hollywood-Blockbuster, reich an Affären und Liebschaften, sowie amerika nische Talkshows mit arabischen Unter titeln, in denen die Partnerschaftsprobleme des Westens diskutiert werden. Junge, urbane Ägypter wie Hind und Ahmed wachsen mit dieser Realität auf. Sie steht in direktem Widerspruch zur konservativen Tradition des Landes, zur Realität Nummer eins.
Aber über Internet und TV-Satelliten dringt nicht nur die westliche Moderne mit ihren Menschen- und Frauenrechten in die ägyptischen Haushalte, sondern auch ihre postmoderne Variante, bei der Sex und Partnerschaft zu indifferenten Vehikeln hedonistischer Lust geworden sind. »Ich kann den Leuten doch nicht vorschreiben, was sie sich im Internet angucken sollen«, sagte der ägyptische Postminister, als er aufgefordert wurde, den Konsum von Pornoseiten zu unterbinden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit rekeln sich nackte Frauen vor den Fernsehkameras. Dabei zoomt das Objektiv gerne einmal so dicht an sie heran, dass ihre Vagina schon mal den kompletten Bildschirm füllt. Rechts oben, neben der grünen Fahne SaudiArabiens, ist dann häufig eine Nummer eingeblendet für Telefonsex. Zwischen diesen Realitäten hin und her gerissen, versucht die ägyptische Turnschuhgeneration, beide miteinander in Einklang zu bringen: die Welt der Traditionen und ihrer Eltern mit ihren eigenen, durch die Medien geweckten Bedürfnissen. Ein bizarrer Spagat. Im heutigen Ägypten stoßen Werte und Lebensentwürfe zusammen, als wäre es eine Inszenierung von Christoph Schlingensief. Szenenwechsel. Auf der Talaat-HarbStraße in Downtown Kairo, vor dem »Metro«-Kino. Ägyptens berühmte Bauchtänzerin Dina gibt eine Spontanvorstellung auf dem Gehweg, Anlass ist die Premiere ihres jüngsten Films. Keine ihrer Kolleginnen
im Land tanzt so sexy und gewagt wie sie. 2003 geriet sie in die Skandalpresse, als ein Video auftauchte, das sie nackt beim Sex mit ihrem Liebhaber zeigte. Der hatte es heimlich aufgenommen. Fachleute schätzen, dass damals mehrere Hunderttausend CD-ROMs mit dem Clip illegal verkauft wurden. Dinas spontane Tanzeinlage putscht die Massen vor dem Kino auf. Es ist Feiertag, Eid ul-Fitr, Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan 2006. Auf einmal beginnen Dutzende junger Männer, Frauen beim Schaufensterbummel zu belästigen. Viele werden begrapscht, einigen werden die Kleidungsstücke vom Leib gerissen. Panisch flüchten die Frauen in umliegende Geschäfte. Das Ereignis löste im ganzen Land Schockwellen aus und ging als die »Eid-Übergriffe« in den öffentlichen Diskurs ein. Das ist die Realität Nummer drei — und sie entsteht, wenn die ersten beiden kollidieren. Zwei Drittel aller Ägypter sind jünger als 25. Millionen junger Männer, randvoll mit Testosteron, die nicht heiraten können, weil sie das dazu nötige Geld nicht besitzen. Was bedeutet, dass sie auch keinen Sex haben können. Das durchschnittliche Heiratsalter liegt mittlerweile bei knapp unter 30. Anfang Oktober vergangenen Jahres, erneut an einem Feiertag, kam es zu einer ähnlichen Hetzjagd von rund 150 Männern auf Frauen. Nun allerdings schritt die Poli zei ein und verhaftete 38 von ihnen. Ein
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— Aida
065
— Aida
Doppelmoral
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Hind Al Hinnawy, die junge, moderne Ägypterin mit offenem Haar und schicker Sonnenbrille, lässig nach oben geschoben, entstammt der Realität Nummer zwei. Hier hatte sie Ahmed Al Fishawy kennengelernt, den jungen, erfolgreichen Schauspieler, Linas Vater. Ahmed war für viele junge Ägypter ein Idol. Der heute 28-Jährige war nicht nur Star einer TV-Seifenoper, er moderierte auch die religiöse Erbauungsshow »Yalla Ya Shabab« im Fernsehen. Darin erklärte er den Shabab, also den Jugendlichen, wie sie gleichzeitig modern und dennoch fromm sein können. Natürlich war Ahmeds uneheliches Kind ein gefundenes Fressen für die Medien. Die ägyptische Realität Nummer zwei ist ein Paralleluniversum. Und es wird von Bildschirmen beherrscht. Auf arabischen Satellitenkanälen dudeln Musikvideos so freizügig und erotisch, dass immer mal wieder eines zum Gegenstand von hitzigen Parlamentsdebatten wird. Auf Sendern wie Al-Dschasira kommen neben HardlinerImamen auch Menschenrechtler und Feministinnen zu Wort. Auf Spielfilmkanälen laufen Hollywood-Blockbuster, reich an Affären und Liebschaften, sowie amerika nische Talkshows mit arabischen Unter titeln, in denen die Partnerschaftsprobleme des Westens diskutiert werden. Junge, urbane Ägypter wie Hind und Ahmed wachsen mit dieser Realität auf. Sie steht in direktem Widerspruch zur konservativen Tradition des Landes, zur Realität Nummer eins.
Aber über Internet und TV-Satelliten dringt nicht nur die westliche Moderne mit ihren Menschen- und Frauenrechten in die ägyptischen Haushalte, sondern auch ihre postmoderne Variante, bei der Sex und Partnerschaft zu indifferenten Vehikeln hedonistischer Lust geworden sind. »Ich kann den Leuten doch nicht vorschreiben, was sie sich im Internet angucken sollen«, sagte der ägyptische Postminister, als er aufgefordert wurde, den Konsum von Pornoseiten zu unterbinden. Zu jeder Tages- und Nachtzeit rekeln sich nackte Frauen vor den Fernsehkameras. Dabei zoomt das Objektiv gerne einmal so dicht an sie heran, dass ihre Vagina schon mal den kompletten Bildschirm füllt. Rechts oben, neben der grünen Fahne SaudiArabiens, ist dann häufig eine Nummer eingeblendet für Telefonsex. Zwischen diesen Realitäten hin und her gerissen, versucht die ägyptische Turnschuhgeneration, beide miteinander in Einklang zu bringen: die Welt der Traditionen und ihrer Eltern mit ihren eigenen, durch die Medien geweckten Bedürfnissen. Ein bizarrer Spagat. Im heutigen Ägypten stoßen Werte und Lebensentwürfe zusammen, als wäre es eine Inszenierung von Christoph Schlingensief. Szenenwechsel. Auf der Talaat-HarbStraße in Downtown Kairo, vor dem »Metro«-Kino. Ägyptens berühmte Bauchtänzerin Dina gibt eine Spontanvorstellung auf dem Gehweg, Anlass ist die Premiere ihres jüngsten Films. Keine ihrer Kolleginnen
im Land tanzt so sexy und gewagt wie sie. 2003 geriet sie in die Skandalpresse, als ein Video auftauchte, das sie nackt beim Sex mit ihrem Liebhaber zeigte. Der hatte es heimlich aufgenommen. Fachleute schätzen, dass damals mehrere Hunderttausend CD-ROMs mit dem Clip illegal verkauft wurden. Dinas spontane Tanzeinlage putscht die Massen vor dem Kino auf. Es ist Feiertag, Eid ul-Fitr, Fest des Fastenbrechens am Ende des Ramadan 2006. Auf einmal beginnen Dutzende junger Männer, Frauen beim Schaufensterbummel zu belästigen. Viele werden begrapscht, einigen werden die Kleidungsstücke vom Leib gerissen. Panisch flüchten die Frauen in umliegende Geschäfte. Das Ereignis löste im ganzen Land Schockwellen aus und ging als die »Eid-Übergriffe« in den öffentlichen Diskurs ein. Das ist die Realität Nummer drei — und sie entsteht, wenn die ersten beiden kollidieren. Zwei Drittel aller Ägypter sind jünger als 25. Millionen junger Männer, randvoll mit Testosteron, die nicht heiraten können, weil sie das dazu nötige Geld nicht besitzen. Was bedeutet, dass sie auch keinen Sex haben können. Das durchschnittliche Heiratsalter liegt mittlerweile bei knapp unter 30. Anfang Oktober vergangenen Jahres, erneut an einem Feiertag, kam es zu einer ähnlichen Hetzjagd von rund 150 Männern auf Frauen. Nun allerdings schritt die Poli zei ein und verhaftete 38 von ihnen. Ein
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Moderne Sklaverei
ware mensch
Aida würde heute vielleicht als Kindersoldatin oder Zwangsprostituierte ihr Leben fristen. Mit Sicherheit wäre sie genauso chancenlos wie Millionen andere ausgebeutete Menschen auch. Denn Versklavung gibt es noch immer
4 _
— Judka Strittmatter Fotos — Santiago Sierra / Prometeogallery Text
Teenager wurde daraufhin mit einem Jahr Gefängnis bestraft. Einen Lebensentwurf, der es jungen Menschen möglich macht, Tradition und Bedürfnis, Ideal und Wirklichkeit in Einklang zu bringen, hat niemand parat. In Realität Nummer drei herrscht pure Orientierungslosigkeit. Einer Untersuchung des unabhängigen Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte (ECWR) zufolge haben sexuelle Übergriffe auf Frauen enorm zugenommen. 83 Prozent aller Ägypterinnen, egal ob mit oder ohne Kopftuch, werden mehr oder weniger regelmäßig sexuell belästigt. Mit einer Kampagne kämpft das ECWR inzwischen dagegen. Sie wird von vielen Menschen unterstützt. »Die Hälfte aller Freiwilligen, die bei unseren Aktionen mitmachen, sind Männer«, sagt Rebecca Chiao vom ECWR. Unterdessen gilt in Realität Nummer drei: Doppelt hält besser. Oder: Eine Moral kommt selten allein. Viele Ägypter pflegen eine Doppelmoral, für die man, so zynisch es klingt, fast dankbar sein müsste — denn sie sorgt dafür, dass Hetzjagden auf Frauen die Ausnahme bleiben. Nicht wenige Männer sind tagsüber fromm, haben aber abends eine Affäre. Ärzte, die Jungfernhäutchen flicken, sind gut im Geschäft. Ein britisches Fachblatt für Medizin schätzt, dass dieser inzwischen populäre chirurgische Eingriff die Zahl der Ehrenmorde in Ägypten in den vergangenen zehn Jahren um 80 Prozent senken konnte.
Hinzu kommt: In der Hauptstadt des Landes floriert die Prostitution. Auf der Uferpromenade am Nil kann es passieren, dass einem leise flüsternd »woman, man, girl or boy« angeboten werden, fünf Stunden für umgerechnet 100 US-Dollar. Besonders bei jungen Leuten werden die im islamischen Recht möglichen OrfiEhen immer beliebter. Dabei heiraten die Paare heimlich, nur ein Anwalt und zwei Zeugen müssen dabei sein. Als Ehevertrag reicht ein formloses Schriftstück. Erst wenn diese Eheschließung staatlich registriert ist, hat sie rechtlich Bestand. Doch da das im Islam nicht zwingend vorgesehen ist, bleibt es oft aus. Effekt: Eine Orfi-Ehe erleichtert einem Liebespaar das Gewissen. Es kann Sex haben, ohne wirklich zu sündigen. Auch Hind und Ahmed waren diese Ehe auf Zeit eingegangen. Vor Gericht half das der Kostümbildnerin allerdings nichts. Sie konnte das Ehepapier nicht vorlegen, da es in der Regel im Besitz des Mannes bleibt. Im Reigen der simultanen Wirklichkeiten Ägyptens, die einander durchdringen und sich aneinander reiben, gibt die Realität Nummer vier Anlass zu verhaltenem Optimismus. Während die schweigende Mehrheit ihre traditionellen Werte von angeblicher Verwestlichung bedroht sieht, wird die Zahl derer größer, die individuelle Rechte, auch die von Frauen, als universell verstehen. Ebenfalls im Oktober vergangenen Jahres überschritt Noha Roushdy, 27, alle Schamgrenzen und zeigte einen Mann an,
der sie sexuell belästigt hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens verurteilte ein Gericht daraufhin einen Belästiger zu drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe. Auch Hind Al Hinnawys Erfolg vor Gericht war nicht nur der Alleingang einer einzelnen mutigen Frau. Über 700 Anwälte hatten gebeten, ihren Vaterschaftsprozess übernehmen zu dürfen. Nur wenige Tage nach Hinds Sieg, sagt Rebecca Chiao vom ECWR, reichten Tausende Frauen ähnliche Vaterschaftsklagen ein. »Ich möchte, dass die Frauen für ihre Rechte kämpfen«, sagt Hind Al Hinnawy. »Ich weiß nicht, ob sie das tun werden, aber ich möchte ihnen mit meinem Beispiel Mut machen.«
1 Wo westlicher Lifestyle auf antike Größe trifft: der Golfplatz des »Oberoi Mena House« zu Füßen der Pyramiden 2 Verwechselbare Architektur: Rund um den 16-Millionen-Einwohner-Moloch Kairo wachsen immer mehr gesichtslose Neubausiedlungen 3 Am Rande des Souq al-Goma'a, des Freitagsmarkts, der an dieser Stelle fast unmerklich in ein Armenviertel übergeht 4 Fünfmal am Tag ruft der Imam zum Gebet. Dann ruhen natürlich auch die Arbeiten an einer Moschee, wie hier in Neu-Maadi _
Sie werden nicht mehr den Löwen zum Fraß vorgeworfen, sitzen nicht mehr angekettet in Galeeren oder werden als baumwollpflückende Kreaturen geknechtet. Ihr Leben mag heute nicht mehr vom Tode bedroht sein, aber in vielen Fällen ist es nur um Haaresbreite davon entfernt. Die Menschenrechtsorganisation Terre des Hommes schätzt, dass weltweit rund zwölf Millionen Menschen immer noch versklavt sind, andere gehen von der doppelten Menge aus. Obwohl offiziell abgeschafft, schuften Sklaven in Steinbrüchen, roden Wälder, bleichen Stoffe, werden als Haushalts- und Sexbedienstete gehalten. Die Liste der Erniedrigungen ist lang. Oft sind es Kinder, die betroffen sind. In den Ländern der Dritten Welt schuften sie auf Plantagen, werden in Bordelle verkauft oder als Kindersoldaten zum Töten und Hassen abgerichtet. Moderne Sklaverei hat viele Gesichter. Und es werden immer mehr, je fruchtbarer der Nährboden für die Unterjochung der Schwächsten ist — denn die Armut wächst. Die Geschichten, die heutzutage den Begriff Sklaverei mit Leben füllen, sind dabei noch immer so erschütternd wie einst die von Onkel Tom, dem schwarzen Leibeigenen aus Kentucky, dem Harriet Beecher-Stowe 1851 in ihrem Roman »Onkel Toms Hütte« ein Denkmal setzte. Doch das Problem ist längst nicht mehr eines der Dritten Welt, in der ein Menschenleben wenig wert ist — wie beispielsweise in Indien oder Pakistan, Nord- oder Westafrika. Auch mitten in Europa werden heute Menschen unterjocht, kujoniert und oft unter Androhung des Todes zum Schlimmsten gezwungen. Wie Tamara G., 24. Das Schicksal der jungen Rumänin ist das vieler Frauen. Sie heißen Natascha, Olga oder Ljuba und kommen aus der Ukraine, Moldawien oder Bulgarien. Im Heimat-
land ohne Perspektive, verspricht ihnen ein Bekannter gutes Geld für eine Arbeit im Westen, vermeintlich als Kellnerin oder Au-pair. So beginnt sie meistens, die Geschichte, und so begann sie auch bei Tamara. Im vergangenen Jahr bringt ihr Schleuser sie ins badische Kehl, direkt an die französische Grenze. Tamara gibt ihm ihre Papiere, sie wird sie nie wiedersehen. Das Hotel ist in Wahrheit ein Bordell, Tamara wird gezwungen, mit Freiern zu schlafen, sie wird zur Ware. Tagsüber hält man sie in einer Wohnung in Kehl fest, abends wird sie fünf Kilometer ins französische Straßburg ins Bordell gebracht. Keine Sekunde ist sie ohne Bewacher. An einem Montagvormittag überwindet sie Angst und Scham und springt aus dem Auto ihrer Peiniger: Sie hat Polizisten gesehen. Sie läuft zu den Beamten, fleht um Hilfe, wird gerettet. Inzwischen lebt Tamara G. wieder in Rumänien. Über ihre Zeit als Sexsklavin schweigt sie. Vor diesem Schweigen stehen nicht nur die Initiatorinnen des Beratungsprojektes »FreiJa« des Diakonischen Werks Baden immer wieder, die sich um Frauen wie Tamara kümmern. »Aus Scham, aus Angst«, sagt Projektkoordinatorin Beate Huschka, würden die Mädchen niemanden anzeigen. »Sie beherrschen die deutsche Sprache nicht, fürchten die Rache des Zuhälters und denken eher: Wenn ich nichts sage, passiert mir nichts.« Dabei, so Huschka, sei ihnen doch gerade durch die Zwangsprostitution bereits das Schlimmste passiert. Viele dächten zudem, das Leben, das sie doch lieber im Westen weiterführen wollen, wäre nach einer Anzeige nicht mehr möglich. Weil sie nicht sozial-, nicht krankenversichert sind, weil sie wieder nach Hause müssten. Und weil »besondere Einschränkungen der Freizügigkeit für Arbeitnehmer neuer EU-Mitgliedstaaten« bestehen, also gerade für Rumänen. Soll heißen: In Deutschland ständig zu bleiben und zu arbeiten, ist noch nicht erlaubt. Das wird sich erst in fünf Jahren ändern. Auch Tamara G. hat bei der Polizei keine Angaben über ihren Peiniger gemacht. So bleibt es für Helfer und für Ermittler schwierig, die Drahtzieher hinter der Frauenversklavung dingfest zu machen.
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Moderne Sklaverei
ware mensch
Aida würde heute vielleicht als Kindersoldatin oder Zwangsprostituierte ihr Leben fristen. Mit Sicherheit wäre sie genauso chancenlos wie Millionen andere ausgebeutete Menschen auch. Denn Versklavung gibt es noch immer
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— Judka Strittmatter Fotos — Santiago Sierra / Prometeogallery Text
Teenager wurde daraufhin mit einem Jahr Gefängnis bestraft. Einen Lebensentwurf, der es jungen Menschen möglich macht, Tradition und Bedürfnis, Ideal und Wirklichkeit in Einklang zu bringen, hat niemand parat. In Realität Nummer drei herrscht pure Orientierungslosigkeit. Einer Untersuchung des unabhängigen Ägyptischen Zentrums für Frauenrechte (ECWR) zufolge haben sexuelle Übergriffe auf Frauen enorm zugenommen. 83 Prozent aller Ägypterinnen, egal ob mit oder ohne Kopftuch, werden mehr oder weniger regelmäßig sexuell belästigt. Mit einer Kampagne kämpft das ECWR inzwischen dagegen. Sie wird von vielen Menschen unterstützt. »Die Hälfte aller Freiwilligen, die bei unseren Aktionen mitmachen, sind Männer«, sagt Rebecca Chiao vom ECWR. Unterdessen gilt in Realität Nummer drei: Doppelt hält besser. Oder: Eine Moral kommt selten allein. Viele Ägypter pflegen eine Doppelmoral, für die man, so zynisch es klingt, fast dankbar sein müsste — denn sie sorgt dafür, dass Hetzjagden auf Frauen die Ausnahme bleiben. Nicht wenige Männer sind tagsüber fromm, haben aber abends eine Affäre. Ärzte, die Jungfernhäutchen flicken, sind gut im Geschäft. Ein britisches Fachblatt für Medizin schätzt, dass dieser inzwischen populäre chirurgische Eingriff die Zahl der Ehrenmorde in Ägypten in den vergangenen zehn Jahren um 80 Prozent senken konnte.
Hinzu kommt: In der Hauptstadt des Landes floriert die Prostitution. Auf der Uferpromenade am Nil kann es passieren, dass einem leise flüsternd »woman, man, girl or boy« angeboten werden, fünf Stunden für umgerechnet 100 US-Dollar. Besonders bei jungen Leuten werden die im islamischen Recht möglichen OrfiEhen immer beliebter. Dabei heiraten die Paare heimlich, nur ein Anwalt und zwei Zeugen müssen dabei sein. Als Ehevertrag reicht ein formloses Schriftstück. Erst wenn diese Eheschließung staatlich registriert ist, hat sie rechtlich Bestand. Doch da das im Islam nicht zwingend vorgesehen ist, bleibt es oft aus. Effekt: Eine Orfi-Ehe erleichtert einem Liebespaar das Gewissen. Es kann Sex haben, ohne wirklich zu sündigen. Auch Hind und Ahmed waren diese Ehe auf Zeit eingegangen. Vor Gericht half das der Kostümbildnerin allerdings nichts. Sie konnte das Ehepapier nicht vorlegen, da es in der Regel im Besitz des Mannes bleibt. Im Reigen der simultanen Wirklichkeiten Ägyptens, die einander durchdringen und sich aneinander reiben, gibt die Realität Nummer vier Anlass zu verhaltenem Optimismus. Während die schweigende Mehrheit ihre traditionellen Werte von angeblicher Verwestlichung bedroht sieht, wird die Zahl derer größer, die individuelle Rechte, auch die von Frauen, als universell verstehen. Ebenfalls im Oktober vergangenen Jahres überschritt Noha Roushdy, 27, alle Schamgrenzen und zeigte einen Mann an,
der sie sexuell belästigt hatte. Zum ersten Mal in der Geschichte Ägyptens verurteilte ein Gericht daraufhin einen Belästiger zu drei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe. Auch Hind Al Hinnawys Erfolg vor Gericht war nicht nur der Alleingang einer einzelnen mutigen Frau. Über 700 Anwälte hatten gebeten, ihren Vaterschaftsprozess übernehmen zu dürfen. Nur wenige Tage nach Hinds Sieg, sagt Rebecca Chiao vom ECWR, reichten Tausende Frauen ähnliche Vaterschaftsklagen ein. »Ich möchte, dass die Frauen für ihre Rechte kämpfen«, sagt Hind Al Hinnawy. »Ich weiß nicht, ob sie das tun werden, aber ich möchte ihnen mit meinem Beispiel Mut machen.«
1 Wo westlicher Lifestyle auf antike Größe trifft: der Golfplatz des »Oberoi Mena House« zu Füßen der Pyramiden 2 Verwechselbare Architektur: Rund um den 16-Millionen-Einwohner-Moloch Kairo wachsen immer mehr gesichtslose Neubausiedlungen 3 Am Rande des Souq al-Goma'a, des Freitagsmarkts, der an dieser Stelle fast unmerklich in ein Armenviertel übergeht 4 Fünfmal am Tag ruft der Imam zum Gebet. Dann ruhen natürlich auch die Arbeiten an einer Moschee, wie hier in Neu-Maadi _
Sie werden nicht mehr den Löwen zum Fraß vorgeworfen, sitzen nicht mehr angekettet in Galeeren oder werden als baumwollpflückende Kreaturen geknechtet. Ihr Leben mag heute nicht mehr vom Tode bedroht sein, aber in vielen Fällen ist es nur um Haaresbreite davon entfernt. Die Menschenrechtsorganisation Terre des Hommes schätzt, dass weltweit rund zwölf Millionen Menschen immer noch versklavt sind, andere gehen von der doppelten Menge aus. Obwohl offiziell abgeschafft, schuften Sklaven in Steinbrüchen, roden Wälder, bleichen Stoffe, werden als Haushalts- und Sexbedienstete gehalten. Die Liste der Erniedrigungen ist lang. Oft sind es Kinder, die betroffen sind. In den Ländern der Dritten Welt schuften sie auf Plantagen, werden in Bordelle verkauft oder als Kindersoldaten zum Töten und Hassen abgerichtet. Moderne Sklaverei hat viele Gesichter. Und es werden immer mehr, je fruchtbarer der Nährboden für die Unterjochung der Schwächsten ist — denn die Armut wächst. Die Geschichten, die heutzutage den Begriff Sklaverei mit Leben füllen, sind dabei noch immer so erschütternd wie einst die von Onkel Tom, dem schwarzen Leibeigenen aus Kentucky, dem Harriet Beecher-Stowe 1851 in ihrem Roman »Onkel Toms Hütte« ein Denkmal setzte. Doch das Problem ist längst nicht mehr eines der Dritten Welt, in der ein Menschenleben wenig wert ist — wie beispielsweise in Indien oder Pakistan, Nord- oder Westafrika. Auch mitten in Europa werden heute Menschen unterjocht, kujoniert und oft unter Androhung des Todes zum Schlimmsten gezwungen. Wie Tamara G., 24. Das Schicksal der jungen Rumänin ist das vieler Frauen. Sie heißen Natascha, Olga oder Ljuba und kommen aus der Ukraine, Moldawien oder Bulgarien. Im Heimat-
land ohne Perspektive, verspricht ihnen ein Bekannter gutes Geld für eine Arbeit im Westen, vermeintlich als Kellnerin oder Au-pair. So beginnt sie meistens, die Geschichte, und so begann sie auch bei Tamara. Im vergangenen Jahr bringt ihr Schleuser sie ins badische Kehl, direkt an die französische Grenze. Tamara gibt ihm ihre Papiere, sie wird sie nie wiedersehen. Das Hotel ist in Wahrheit ein Bordell, Tamara wird gezwungen, mit Freiern zu schlafen, sie wird zur Ware. Tagsüber hält man sie in einer Wohnung in Kehl fest, abends wird sie fünf Kilometer ins französische Straßburg ins Bordell gebracht. Keine Sekunde ist sie ohne Bewacher. An einem Montagvormittag überwindet sie Angst und Scham und springt aus dem Auto ihrer Peiniger: Sie hat Polizisten gesehen. Sie läuft zu den Beamten, fleht um Hilfe, wird gerettet. Inzwischen lebt Tamara G. wieder in Rumänien. Über ihre Zeit als Sexsklavin schweigt sie. Vor diesem Schweigen stehen nicht nur die Initiatorinnen des Beratungsprojektes »FreiJa« des Diakonischen Werks Baden immer wieder, die sich um Frauen wie Tamara kümmern. »Aus Scham, aus Angst«, sagt Projektkoordinatorin Beate Huschka, würden die Mädchen niemanden anzeigen. »Sie beherrschen die deutsche Sprache nicht, fürchten die Rache des Zuhälters und denken eher: Wenn ich nichts sage, passiert mir nichts.« Dabei, so Huschka, sei ihnen doch gerade durch die Zwangsprostitution bereits das Schlimmste passiert. Viele dächten zudem, das Leben, das sie doch lieber im Westen weiterführen wollen, wäre nach einer Anzeige nicht mehr möglich. Weil sie nicht sozial-, nicht krankenversichert sind, weil sie wieder nach Hause müssten. Und weil »besondere Einschränkungen der Freizügigkeit für Arbeitnehmer neuer EU-Mitgliedstaaten« bestehen, also gerade für Rumänen. Soll heißen: In Deutschland ständig zu bleiben und zu arbeiten, ist noch nicht erlaubt. Das wird sich erst in fünf Jahren ändern. Auch Tamara G. hat bei der Polizei keine Angaben über ihren Peiniger gemacht. So bleibt es für Helfer und für Ermittler schwierig, die Drahtzieher hinter der Frauenversklavung dingfest zu machen.
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— Aida
Werden sogenannte Terminwohnungen, in denen die Zwangspros tituierten auf die Freier warten, spontan gefilzt, findet die Polizei meist Frauen ohne Pässe vor, deren Münder versiegelt sind. Doch wenn schon die Hintermänner schwer zu fassen sind, sollen wenigstens die Freier zur Rechenschaft gezogen werden, beschloss Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im vergangenen Jahr und drohte mit Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren für Männer, die bei einer Zwangsprostituierten erwischt werden. Der Gedanke dahinter: Vermiest man den Kunden das Geschäft, vermiest man es auch Zuhältern und Schleusern. In den Fokus der Öffentlichkeit geriet das Thema 2003 mit dem Fall Michel Friedman. Der Frankfurter Rechtsanwalt und frühere CDU-Politiker hatte unter dem Decknamen Paolo Pinkas »naturgeile Ukrainerinnen« in sein Hotel bestellt, die sich als illegal nach Deutschland gebrachte ukrainische Zwangsprostituierte entpuppten. Die Polizei brachte Tamara G. zu »FreiJa«, wo man sich ihrer annahm und sie mit Unterstützung einer weiteren Hilfsorganisation nach Hause zurückbrachte. Rund 45 Frauen hat »FreiJa« seit ihrer Gründung im Jahr 2006 beraten, darunter auch solche, die beim deutschen Ableger der Hells Angels, einer weltweit agierenden und gewaltbereiten Rockergang mit Verbindung zum organisierten Verbrechen, als Zwangsprostituierte gehalten wurden. »FreiJa« hilft erst einmal, die Frauen nach ihrem Albtraum, dem sie entronnen sind, zu stabilisieren. Mit einer sicheren Unterkunft, mit etwas Geld aus den Töpfen der Kirche, mit Ärzten, die auch ohne Krankenschein behandeln, mit Übersetzerinnen, die auch für wenig Geld arbeiten. »Erst nach ein paar Tagen«, sagt Beate Huschka, »stellen wir die Frage: Wie soll es nun weitergehen?« Manche Frauen nehmen die Hilfe erst an, hauen dann aber doch ab, tauchen unter, weil sie lieber in der Illegalität weitermachen wollen. Denn Zwangsprostitution sei ein weites Feld, fügt Beate Huschka an: »Nicht alle Frauen wollen da wirklich raus. Sie haben sich irgendwie daran gewöhnt, sich mit ihrem Zuhälter geeinigt und sehen keine andere Chance, an Geld zu kommen.«
Moderne Sklaverei
Dass die moderne Sklaverei nicht immer eindeutig definiert werden kann, hat auch der US-Soziologieprofessor und weltweit führende Sklaverei-Experte Kevin Bales festgestellt: »Viele Sklaven haben sich selbst in die Sklaverei begeben, indem sie einem Pfad voller Lügen gefolgt sind«, schreibt er in seinem brandneuen Buch »Moderne Sklaverei« (Gerstenberg Verlag, 143 Seiten, 9,90 Euro). »Doch was sie dann darin festhält, ist Gewalt.« Einmal versklavt, gebe es viele Mittel und Wege, Menschen in Unfreiheit zu halten: »Manchmal gibt der Sklave einfach auf und fügt sich in sein Schicksal; manchmal ergibt sich sogar ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Sklaven und seinem Herrn — doch wenn ein Sklave versucht zu fliehen oder Widerstand zu leisten, wird man ihn schmerzhaft dafür bestrafen.« Es sei ein Irrtum zu denken, so Bales, Sklaverei bedeute, »einen Menschen zu besitzen«. Ausschlaggebend sei vielmehr die Art und Weise, »wie Menschen beherrscht werden«. Amnesty International Deutschland hält die Übergänge »oft für schleichend«, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, zieht den Begriff der »Zwangsarbeit« dem der Sklaverei vor, sieht allerdings in »besonders schlimmen Abhängigkeitsverhältnissen« den Tatbestand der Sklaverei als erfüllt an. Die sogenannte Schuldknechtschaft ist so ein Abhängigkeitsverhältnis. Noch immer weit verbreitet, besonders in Indien, wo sie als bonded labour firmiert, betrifft sie vor allem Kinder bettela rmer Eltern, die für ein Darlehen verkauft wurden. Bis die Schuld getilgt ist, müssen sie schuften. Durch das Anrechnen der Verpflegung und Unterkunft und anderer drangsalierender Wucherzinsen wird diese Ausbeutung allerdings zudem sogar noch bewusst in die Länge gezogen — oft über Jahre und Generationen hinweg. Schuldk nechtKinder finden sich auf brasilianischen Müllkippen und in kolumbianischen Kohlebergwerken, in indischen Teppichwebereien und nepalesischen Steinbrüchen. Berühmt wurde Mitte der Neunziger der Fall des kleinen Iqbal Masih aus Pakistan, der im Alter von vier Jahren für zwölf Dollar in eine Teppichfabrik verkauft wurde, sechs Jahre dort schuftete,
069
— Aida
Moderne Sklaverei
Jenseits der Schmerzgrenze: Der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra hat einen Ruf wie Donnerhall. Seine hoch provokativen Aktionen entsetzen und entrüsten viele. So rasierte der 42-Jährige im Oktober 2000 beispielsweise zwei Drogensüchtigen in San Juan, Puerto Rico, eine je 24,5 cm lange Haarschneise über den Hinterkopf und entlohnte seine Modelle mit einem Schuss Heroin pro Person (o.). Zehn Monate zuvor, im Dezember 1999, hatte er sechs arbeitslosen Kubanern jeweils 30 US-Dollar bezahlt, damit er ihnen eine insgesamt 2,5 Meter lange Linie auf die Rücken tätowieren konnte (u.) _
068
— Aida
Werden sogenannte Terminwohnungen, in denen die Zwangspros tituierten auf die Freier warten, spontan gefilzt, findet die Polizei meist Frauen ohne Pässe vor, deren Münder versiegelt sind. Doch wenn schon die Hintermänner schwer zu fassen sind, sollen wenigstens die Freier zur Rechenschaft gezogen werden, beschloss Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im vergangenen Jahr und drohte mit Gefängnisstrafen bis zu zehn Jahren für Männer, die bei einer Zwangsprostituierten erwischt werden. Der Gedanke dahinter: Vermiest man den Kunden das Geschäft, vermiest man es auch Zuhältern und Schleusern. In den Fokus der Öffentlichkeit geriet das Thema 2003 mit dem Fall Michel Friedman. Der Frankfurter Rechtsanwalt und frühere CDU-Politiker hatte unter dem Decknamen Paolo Pinkas »naturgeile Ukrainerinnen« in sein Hotel bestellt, die sich als illegal nach Deutschland gebrachte ukrainische Zwangsprostituierte entpuppten. Die Polizei brachte Tamara G. zu »FreiJa«, wo man sich ihrer annahm und sie mit Unterstützung einer weiteren Hilfsorganisation nach Hause zurückbrachte. Rund 45 Frauen hat »FreiJa« seit ihrer Gründung im Jahr 2006 beraten, darunter auch solche, die beim deutschen Ableger der Hells Angels, einer weltweit agierenden und gewaltbereiten Rockergang mit Verbindung zum organisierten Verbrechen, als Zwangsprostituierte gehalten wurden. »FreiJa« hilft erst einmal, die Frauen nach ihrem Albtraum, dem sie entronnen sind, zu stabilisieren. Mit einer sicheren Unterkunft, mit etwas Geld aus den Töpfen der Kirche, mit Ärzten, die auch ohne Krankenschein behandeln, mit Übersetzerinnen, die auch für wenig Geld arbeiten. »Erst nach ein paar Tagen«, sagt Beate Huschka, »stellen wir die Frage: Wie soll es nun weitergehen?« Manche Frauen nehmen die Hilfe erst an, hauen dann aber doch ab, tauchen unter, weil sie lieber in der Illegalität weitermachen wollen. Denn Zwangsprostitution sei ein weites Feld, fügt Beate Huschka an: »Nicht alle Frauen wollen da wirklich raus. Sie haben sich irgendwie daran gewöhnt, sich mit ihrem Zuhälter geeinigt und sehen keine andere Chance, an Geld zu kommen.«
Moderne Sklaverei
Dass die moderne Sklaverei nicht immer eindeutig definiert werden kann, hat auch der US-Soziologieprofessor und weltweit führende Sklaverei-Experte Kevin Bales festgestellt: »Viele Sklaven haben sich selbst in die Sklaverei begeben, indem sie einem Pfad voller Lügen gefolgt sind«, schreibt er in seinem brandneuen Buch »Moderne Sklaverei« (Gerstenberg Verlag, 143 Seiten, 9,90 Euro). »Doch was sie dann darin festhält, ist Gewalt.« Einmal versklavt, gebe es viele Mittel und Wege, Menschen in Unfreiheit zu halten: »Manchmal gibt der Sklave einfach auf und fügt sich in sein Schicksal; manchmal ergibt sich sogar ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Sklaven und seinem Herrn — doch wenn ein Sklave versucht zu fliehen oder Widerstand zu leisten, wird man ihn schmerzhaft dafür bestrafen.« Es sei ein Irrtum zu denken, so Bales, Sklaverei bedeute, »einen Menschen zu besitzen«. Ausschlaggebend sei vielmehr die Art und Weise, »wie Menschen beherrscht werden«. Amnesty International Deutschland hält die Übergänge »oft für schleichend«, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, zieht den Begriff der »Zwangsarbeit« dem der Sklaverei vor, sieht allerdings in »besonders schlimmen Abhängigkeitsverhältnissen« den Tatbestand der Sklaverei als erfüllt an. Die sogenannte Schuldknechtschaft ist so ein Abhängigkeitsverhältnis. Noch immer weit verbreitet, besonders in Indien, wo sie als bonded labour firmiert, betrifft sie vor allem Kinder bettela rmer Eltern, die für ein Darlehen verkauft wurden. Bis die Schuld getilgt ist, müssen sie schuften. Durch das Anrechnen der Verpflegung und Unterkunft und anderer drangsalierender Wucherzinsen wird diese Ausbeutung allerdings zudem sogar noch bewusst in die Länge gezogen — oft über Jahre und Generationen hinweg. Schuldk nechtKinder finden sich auf brasilianischen Müllkippen und in kolumbianischen Kohlebergwerken, in indischen Teppichwebereien und nepalesischen Steinbrüchen. Berühmt wurde Mitte der Neunziger der Fall des kleinen Iqbal Masih aus Pakistan, der im Alter von vier Jahren für zwölf Dollar in eine Teppichfabrik verkauft wurde, sechs Jahre dort schuftete,
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Moderne Sklaverei
Jenseits der Schmerzgrenze: Der spanische Konzeptkünstler Santiago Sierra hat einen Ruf wie Donnerhall. Seine hoch provokativen Aktionen entsetzen und entrüsten viele. So rasierte der 42-Jährige im Oktober 2000 beispielsweise zwei Drogensüchtigen in San Juan, Puerto Rico, eine je 24,5 cm lange Haarschneise über den Hinterkopf und entlohnte seine Modelle mit einem Schuss Heroin pro Person (o.). Zehn Monate zuvor, im Dezember 1999, hatte er sechs arbeitslosen Kubanern jeweils 30 US-Dollar bezahlt, damit er ihnen eine insgesamt 2,5 Meter lange Linie auf die Rücken tätowieren konnte (u.) _
071
Die Welt, denkt Sierra, ist so verkommen und menschenverachtend, dass die Kunst nur noch durch Überbietung der Verkommenheit überhaupt etwas bewirken kann. Im März 2000 heuerte er in Mexiko einen Mann an, der Besuchern der ACE Galerie die Schuhe zu putzen hatte — auch ohne deren Einwilligung (o.). Und im September des gleichen Jahres bezahlte er einem Mann zehn US-Dollar pro Stunde, damit der sich für zwei Wochen hinter die eigens dafür gemauerte Wand einer New Yorker Galerie legte. Nur ein kleines Loch blieb offen, durch das er sein Essen hineingereicht bekam (u.) _
— Aida
16 Stunden am Tag, meist angekettet. Mehrfach versuchte Iqbal auszubrechen, 1992 schließlich wurde er von einer pakistanischen Hilfsorganisation befreit, der Bonded Labour Liberation Front, die ihn später auch in eine ihrer Schulen aufnahm. Weil er sich fortan selbst für Kinderrechte einsetzte, wurde Iqbal Masih eine kleine Berühmtheit. 1995 reiste er in die USA, hielt dort Vorträge und erhielt den Menschenrechtspreis der Firma Reebok. Im selben Jahr wurde Iqbal von einem pakistanischen Landsmann erschossen. Ob es sich dabei um die Verquickung unglücklicher Umstände oder einen Racheakt der pakistanischen Teppichindus trie handelte, konnte nie bewiesen werden. Erst vor Kurzem, am 2. Dezember 2008, dem internationalen »Slavery Day«, gab es von der UNO erneut eindeutige Statements zum Status quo der »modernen Sklaverei«. Obwohl man 2007 den 200. Jahrestag der offiziellen Abschaffung des Sklavenhandels begangen habe, so die UN-Berichterstatterin Gulnara Shahinian, sei dieser noch immer nicht Geschichte — und viele Maßnahmen dagegen unzureichend. Auch die amerikanischen Abolitionisten — eine der ältesten Menschenrechtsorganisationen, die seit 1839 gegen die Sklaverei kämpft — üben immer wieder Druck auf Regierungen, Firmen und Parteien aus, indem sie brutale Fälle von Menschenverachtung dokumentieren. So machten sie 2007 im sozialistischen Nordkorea Formen von Zwangsarbeit aus: als Strafmaßnahme der Regierung für die eigenen Landsleute. Diese waren als Wirtschaftsflüchtlinge von China wieder abgeschoben worden und mussten, zurück in der alten Heimat, direkt in Zwangsarbeitslager einfahren. Wo Armut wächst, wächst Ausbeutung — und umgekehrt. Deshalb stehen schikanöse Arbeits- und Lebensbedingungen und der Begriff »moderne Sklaverei« auch stets mit im Raum, wenn es um Leih- und Wanderarbeit in Deutschland geht. Oft für die gleiche Arbeit angeheuert wie ein fest angestellter Facharbeiter, bekommen Leiharbeiter in Industriebetrieben meist weniger als die Hälfte des Lohnes und werden zudem durch eine besondere Kleidung markiert und ausgegrenzt. So mancher Erdbeerpflücker auf einem deutschen
Moderne Sklaverei
Bauernhof weiß davon zu berichten. Für 30 Euro Tageslohn beugt er sich 13 Stunden ins Feld, bei sengender Hitze, ohne Pause, ohne Verpflegung. Oftmals stellt der Arbeitgeber erst ein Dixi-Klo auf, wenn die Presse ihr Erscheinen androht. Ansonsten muss das freie Feld reichen. Trotz deprimierender Zahlen und Entwicklungen bemüht der Sklaverei-Forscher Kevin Bales optimistische Visionen: »Noch erscheint Sklaverei wie ein unverrückbarer Fels, aber in Wirklichkeit steht sie kurz vor dem Zusammenbruch.« Als günstige Bedingungen dafür zitiert er den international bereits vorhandenen Konsens, dass Sklaverei ein Verbrechen ist. Niemand müsse mehr davon überzeugt werden, »keine Regierung oder organisierte Interessengemeinschaft«, auch gebe es eine Antisklaverei-Gesetzgebung. Entscheidend sei vielmehr, den Ländern, die noch immer eine hohe Sklavereiquote haben, Belohnungen in Aussicht zu stellen oder ihnen mit Strafen zu drohen. Kevin Bales: »Wir wissen, dass große Veränderungen stattfinden können, wenn Staaten ernsthaft am selben Strang ziehen.« Als Beispiel zitiert der Soziologe die weltweit erfolgreiche Bekämpfung der Kinderlähmung — natürlich nicht, ohne zu erwähnen, dass der Polio-Virus nie ganz ausgerottet werden konnte. »Aber so kann auch die Sklaverei von einem globalen, schrecklichen, weit verbreiteten Verbrechen zu einer seltenen Ausnahme werden«.
071
Die Welt, denkt Sierra, ist so verkommen und menschenverachtend, dass die Kunst nur noch durch Überbietung der Verkommenheit überhaupt etwas bewirken kann. Im März 2000 heuerte er in Mexiko einen Mann an, der Besuchern der ACE Galerie die Schuhe zu putzen hatte — auch ohne deren Einwilligung (o.). Und im September des gleichen Jahres bezahlte er einem Mann zehn US-Dollar pro Stunde, damit der sich für zwei Wochen hinter die eigens dafür gemauerte Wand einer New Yorker Galerie legte. Nur ein kleines Loch blieb offen, durch das er sein Essen hineingereicht bekam (u.) _
— Aida
16 Stunden am Tag, meist angekettet. Mehrfach versuchte Iqbal auszubrechen, 1992 schließlich wurde er von einer pakistanischen Hilfsorganisation befreit, der Bonded Labour Liberation Front, die ihn später auch in eine ihrer Schulen aufnahm. Weil er sich fortan selbst für Kinderrechte einsetzte, wurde Iqbal Masih eine kleine Berühmtheit. 1995 reiste er in die USA, hielt dort Vorträge und erhielt den Menschenrechtspreis der Firma Reebok. Im selben Jahr wurde Iqbal von einem pakistanischen Landsmann erschossen. Ob es sich dabei um die Verquickung unglücklicher Umstände oder einen Racheakt der pakistanischen Teppichindus trie handelte, konnte nie bewiesen werden. Erst vor Kurzem, am 2. Dezember 2008, dem internationalen »Slavery Day«, gab es von der UNO erneut eindeutige Statements zum Status quo der »modernen Sklaverei«. Obwohl man 2007 den 200. Jahrestag der offiziellen Abschaffung des Sklavenhandels begangen habe, so die UN-Berichterstatterin Gulnara Shahinian, sei dieser noch immer nicht Geschichte — und viele Maßnahmen dagegen unzureichend. Auch die amerikanischen Abolitionisten — eine der ältesten Menschenrechtsorganisationen, die seit 1839 gegen die Sklaverei kämpft — üben immer wieder Druck auf Regierungen, Firmen und Parteien aus, indem sie brutale Fälle von Menschenverachtung dokumentieren. So machten sie 2007 im sozialistischen Nordkorea Formen von Zwangsarbeit aus: als Strafmaßnahme der Regierung für die eigenen Landsleute. Diese waren als Wirtschaftsflüchtlinge von China wieder abgeschoben worden und mussten, zurück in der alten Heimat, direkt in Zwangsarbeitslager einfahren. Wo Armut wächst, wächst Ausbeutung — und umgekehrt. Deshalb stehen schikanöse Arbeits- und Lebensbedingungen und der Begriff »moderne Sklaverei« auch stets mit im Raum, wenn es um Leih- und Wanderarbeit in Deutschland geht. Oft für die gleiche Arbeit angeheuert wie ein fest angestellter Facharbeiter, bekommen Leiharbeiter in Industriebetrieben meist weniger als die Hälfte des Lohnes und werden zudem durch eine besondere Kleidung markiert und ausgegrenzt. So mancher Erdbeerpflücker auf einem deutschen
Moderne Sklaverei
Bauernhof weiß davon zu berichten. Für 30 Euro Tageslohn beugt er sich 13 Stunden ins Feld, bei sengender Hitze, ohne Pause, ohne Verpflegung. Oftmals stellt der Arbeitgeber erst ein Dixi-Klo auf, wenn die Presse ihr Erscheinen androht. Ansonsten muss das freie Feld reichen. Trotz deprimierender Zahlen und Entwicklungen bemüht der Sklaverei-Forscher Kevin Bales optimistische Visionen: »Noch erscheint Sklaverei wie ein unverrückbarer Fels, aber in Wirklichkeit steht sie kurz vor dem Zusammenbruch.« Als günstige Bedingungen dafür zitiert er den international bereits vorhandenen Konsens, dass Sklaverei ein Verbrechen ist. Niemand müsse mehr davon überzeugt werden, »keine Regierung oder organisierte Interessengemeinschaft«, auch gebe es eine Antisklaverei-Gesetzgebung. Entscheidend sei vielmehr, den Ländern, die noch immer eine hohe Sklavereiquote haben, Belohnungen in Aussicht zu stellen oder ihnen mit Strafen zu drohen. Kevin Bales: »Wir wissen, dass große Veränderungen stattfinden können, wenn Staaten ernsthaft am selben Strang ziehen.« Als Beispiel zitiert der Soziologe die weltweit erfolgreiche Bekämpfung der Kinderlähmung — natürlich nicht, ohne zu erwähnen, dass der Polio-Virus nie ganz ausgerottet werden konnte. »Aber so kann auch die Sklaverei von einem globalen, schrecklichen, weit verbreiteten Verbrechen zu einer seltenen Ausnahme werden«.
082
— Ballett
Dass Pionierleistungen heftige Abwehr hervorrufen, bekamen beide zu spüren, der Choreograf wie der Wiener Nervenarzt. Nijinskys Befreiungsschlag jedenfalls entkleidete die Liebes geschichten, die das Ballett bis dato in märchenhaften Masken präsentiert hatte, ihres Dekors. Er zeigte die nackte Urgewalt des Begehrens. Der kreatürliche »Blitz der Lust«, den Stéphane Mallarmés Ekloge »L’après-midi d’un faune« 1876 beschworen und Debussys lyrische Komposition von 1894 ins Musikalische transponiert hatte, schlug mit Nijinskys Inszenierung krachend in jene Gefilde des guten Geschmacks, die Calmette und seine Leute besetzt hielten. Jenseits inhaltlicher Fragen entpuppte sich auch die Choreografie als Ärgernis erster Ordnung. Ida Rubinstein hatte völlig recht: Nijinsky zertrümmerte die Konventionen der danse d’ école, und zwar gleich mehrfach. Zum einen verriegelte er gleichsam den Guckkasten und errichtete eine unsichtbare vierte Wand. Die Darsteller tanzten nicht mehr fürs Parkett, sondern gingen vollkommen im atmosphärischen Flirren der Geschichte auf. Zum anderen hatte Nijinsky in monate langer Arbeit eine elementare Bewegungssprache geschliffen, die das Vorbild attischer Vasenmalereien zitierte und alles Geschehen in einer flächigen, reliefartigen Struktur verdichtete. Nichts blieb übrig von der gewohnten, gefeierten Plastizität tänzerischer Posen, der Bravura hoher Beine und weiter Sprünge. Stattdessen blickte das Publikum auf ein Panoptikum verdrehter Körper, deren Köpfe, Arme, Torsi und Füße jeweils in andere Richtungen wiesen und Dynamik nur insofern entfalteten, als extrem stilisierte Haltungen einander ablösten. Harter Tobak für alle Liebhaber des klassischen Stils, entsprechend wütend fiel das Echo aus. Die Polizei, vom Tugendwächter Calmette alarmiert, winkte allerdings ab, ebenso die Zensurbehörde. Davon profitierten wiederum die liberalen Meinungsführer, die Profaunistes, die den konservativen »Figaro«-Herausgeber bald übertönten. Als Diaghilews Truppe im November 1912 in Berlin auftrat, kabelte der Impresario begeistert nach Paris: »Faun wiederholt. Zehn Vorhänge. Keine Buhs.« Nijinskys Triumph war besiegelt.
Zeitenwende
Seine künstlerischen Visionen blieben dennoch umstritten. Im Mai 1913 übertraf der Tumult, den die Pariser Uraufführung von »Le sacre du printemps« entfesselte, den »Faun«-Eklat noch um etliche Dezibel. Dieses Mal harrte der Choreograf in der Kulisse aus und dirigierte, Taktschläge zählend, seine Tänzer, während die Zuschauer akustisch Amok liefen. Igor Strawinskys rhythmischer Furor und der kollektive Rausch des Rituals, das Nijinsky mit expressiv verknappten Gebärden aufgeladen hatte, attackierten die Sinne. »Ein Massaker«, »eine große Katastrophe«, von der Hand eines »rasenden Anfängers« gesteuert — die Gazetten überboten sich anderntags im schrillen Tenor ihrer Verrisse. Gleichwohl, auch das »Frühlingsopfer« setzte sich durch. Heute gehört es, wie der »Faun«, zu jenen kanonischen Werken der Tanzkunst, die fortlaufend in neue Fassungen gegossen und mit wechselnden Instrumentarien durchleuchtet werden. Für eine Provokation taugen sie noch immer, wie kürzlich Olivier Dubois’ vierteiliges »Faune(s)«-Projekt bewiesen hat. Der Elsässer hat Nijinsky-Motive gesampelt — den Faun natürlich, das Tennisspiel (aus »Jeux«, ebenfalls 1913) und das fiebrige Jagdgebrüll des »Sacre« — und führt sein Bäuchlein durch vier mit unverkennbar homophiler Note imprägnierte Bilder spazieren. Wie weiland 1912 reagiert die Tanzgemeinde gespalten: ironische Performance oder Sakrileg? Im Zeitalter des anything goes weiten sich solche Scharmützel freilich nicht mehr zu Feuilletonkriegen aus. Wer beim Bayerischen Staatsballett die Originalversion des »Fauns« bestaunt, wird das Skandalon der Uraufführung kaum mehr ermessen können. Dem Schöpfer selbst blieben indes nur noch wenige Jahre, ehe der Wahnsinn ihn gefangen nahm. Manchmal, wenn ein Ausnahmetänzer wie Serge Lifar seine Wege kreuzte, kehrte für einen Augenblick stürmischer Glanz in Nijinskys Augen zurück. Doch keine der medizinischen Koryphäen, die seine Frau Romola um Rat fragte, vermochte ihm dauerhaft zu helfen. Nicht Eugen Bleuler, nicht Carl Gustav Jung. Und auch nicht Sigmund Freud, dessen seelenkundliche Entdeckungen im Prisma des »Fauns« bis heute hell erstrahlen.
083
— Ballett
»Schwanensee« — illustriert von Paul Davis
082
— Ballett
Dass Pionierleistungen heftige Abwehr hervorrufen, bekamen beide zu spüren, der Choreograf wie der Wiener Nervenarzt. Nijinskys Befreiungsschlag jedenfalls entkleidete die Liebes geschichten, die das Ballett bis dato in märchenhaften Masken präsentiert hatte, ihres Dekors. Er zeigte die nackte Urgewalt des Begehrens. Der kreatürliche »Blitz der Lust«, den Stéphane Mallarmés Ekloge »L’après-midi d’un faune« 1876 beschworen und Debussys lyrische Komposition von 1894 ins Musikalische transponiert hatte, schlug mit Nijinskys Inszenierung krachend in jene Gefilde des guten Geschmacks, die Calmette und seine Leute besetzt hielten. Jenseits inhaltlicher Fragen entpuppte sich auch die Choreografie als Ärgernis erster Ordnung. Ida Rubinstein hatte völlig recht: Nijinsky zertrümmerte die Konventionen der danse d’ école, und zwar gleich mehrfach. Zum einen verriegelte er gleichsam den Guckkasten und errichtete eine unsichtbare vierte Wand. Die Darsteller tanzten nicht mehr fürs Parkett, sondern gingen vollkommen im atmosphärischen Flirren der Geschichte auf. Zum anderen hatte Nijinsky in monate langer Arbeit eine elementare Bewegungssprache geschliffen, die das Vorbild attischer Vasenmalereien zitierte und alles Geschehen in einer flächigen, reliefartigen Struktur verdichtete. Nichts blieb übrig von der gewohnten, gefeierten Plastizität tänzerischer Posen, der Bravura hoher Beine und weiter Sprünge. Stattdessen blickte das Publikum auf ein Panoptikum verdrehter Körper, deren Köpfe, Arme, Torsi und Füße jeweils in andere Richtungen wiesen und Dynamik nur insofern entfalteten, als extrem stilisierte Haltungen einander ablösten. Harter Tobak für alle Liebhaber des klassischen Stils, entsprechend wütend fiel das Echo aus. Die Polizei, vom Tugendwächter Calmette alarmiert, winkte allerdings ab, ebenso die Zensurbehörde. Davon profitierten wiederum die liberalen Meinungsführer, die Profaunistes, die den konservativen »Figaro«-Herausgeber bald übertönten. Als Diaghilews Truppe im November 1912 in Berlin auftrat, kabelte der Impresario begeistert nach Paris: »Faun wiederholt. Zehn Vorhänge. Keine Buhs.« Nijinskys Triumph war besiegelt.
Zeitenwende
Seine künstlerischen Visionen blieben dennoch umstritten. Im Mai 1913 übertraf der Tumult, den die Pariser Uraufführung von »Le sacre du printemps« entfesselte, den »Faun«-Eklat noch um etliche Dezibel. Dieses Mal harrte der Choreograf in der Kulisse aus und dirigierte, Taktschläge zählend, seine Tänzer, während die Zuschauer akustisch Amok liefen. Igor Strawinskys rhythmischer Furor und der kollektive Rausch des Rituals, das Nijinsky mit expressiv verknappten Gebärden aufgeladen hatte, attackierten die Sinne. »Ein Massaker«, »eine große Katastrophe«, von der Hand eines »rasenden Anfängers« gesteuert — die Gazetten überboten sich anderntags im schrillen Tenor ihrer Verrisse. Gleichwohl, auch das »Frühlingsopfer« setzte sich durch. Heute gehört es, wie der »Faun«, zu jenen kanonischen Werken der Tanzkunst, die fortlaufend in neue Fassungen gegossen und mit wechselnden Instrumentarien durchleuchtet werden. Für eine Provokation taugen sie noch immer, wie kürzlich Olivier Dubois’ vierteiliges »Faune(s)«-Projekt bewiesen hat. Der Elsässer hat Nijinsky-Motive gesampelt — den Faun natürlich, das Tennisspiel (aus »Jeux«, ebenfalls 1913) und das fiebrige Jagdgebrüll des »Sacre« — und führt sein Bäuchlein durch vier mit unverkennbar homophiler Note imprägnierte Bilder spazieren. Wie weiland 1912 reagiert die Tanzgemeinde gespalten: ironische Performance oder Sakrileg? Im Zeitalter des anything goes weiten sich solche Scharmützel freilich nicht mehr zu Feuilletonkriegen aus. Wer beim Bayerischen Staatsballett die Originalversion des »Fauns« bestaunt, wird das Skandalon der Uraufführung kaum mehr ermessen können. Dem Schöpfer selbst blieben indes nur noch wenige Jahre, ehe der Wahnsinn ihn gefangen nahm. Manchmal, wenn ein Ausnahmetänzer wie Serge Lifar seine Wege kreuzte, kehrte für einen Augenblick stürmischer Glanz in Nijinskys Augen zurück. Doch keine der medizinischen Koryphäen, die seine Frau Romola um Rat fragte, vermochte ihm dauerhaft zu helfen. Nicht Eugen Bleuler, nicht Carl Gustav Jung. Und auch nicht Sigmund Freud, dessen seelenkundliche Entdeckungen im Prisma des »Fauns« bis heute hell erstrahlen.
083
— Ballett
»Schwanensee« — illustriert von Paul Davis
085
— Ballett
Idealvorstellungen
die würde des körpers Seit 20 Jahren entwickelt Raimund Hoghe, Ex-Journalist & Buchautor, eigene Theaterarbeiten, mit denen er europaweit gastiert. 2001 erhielt er den Deutschen Produzentenpreis für Choreografie. Hoghe leidet an Kyphose, einer Wirbelsäulenverkrümmung
— Raimund Hoghe fotos — Rosa Frank zitate
—
»›Den Körper in den Kampf werfen‹, schreibt Pier Paolo Pasolini. Dieser Satz: für mich auch ein Anstoß, auf die Bühne zu gehen. Andere Anstöße: die mich umgebende Realität, die Zeit, in der ich lebe, die Erinnerung von Geschichte, Menschen, Bilder, Gefühle und die Kraft der Musik, ihre Schönheit und die Konfrontation mit einem Körper, der herkömmlichen Vorstellungen von Schönheit nicht entspricht.«
2 _
—
1 _
»›Man geht ins Theater, um zu schauen, und nicht, um wegzugucken‹, erklärte mir der behinderte Schauspieler und Autor Peter Radtke, der im Rollstuhl sitzt und die sogenannte Glasknochenkrankheit hat. Menschen wie er haben mir durch ihre Arbeit Mut gemacht, auf die Bühne zu gehen und meinen Körper zu zeigen.«
085
— Ballett
Idealvorstellungen
die würde des körpers Seit 20 Jahren entwickelt Raimund Hoghe, Ex-Journalist & Buchautor, eigene Theaterarbeiten, mit denen er europaweit gastiert. 2001 erhielt er den Deutschen Produzentenpreis für Choreografie. Hoghe leidet an Kyphose, einer Wirbelsäulenverkrümmung
— Raimund Hoghe fotos — Rosa Frank zitate
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»›Den Körper in den Kampf werfen‹, schreibt Pier Paolo Pasolini. Dieser Satz: für mich auch ein Anstoß, auf die Bühne zu gehen. Andere Anstöße: die mich umgebende Realität, die Zeit, in der ich lebe, die Erinnerung von Geschichte, Menschen, Bilder, Gefühle und die Kraft der Musik, ihre Schönheit und die Konfrontation mit einem Körper, der herkömmlichen Vorstellungen von Schönheit nicht entspricht.«
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1 _
»›Man geht ins Theater, um zu schauen, und nicht, um wegzugucken‹, erklärte mir der behinderte Schauspieler und Autor Peter Radtke, der im Rollstuhl sitzt und die sogenannte Glasknochenkrankheit hat. Menschen wie er haben mir durch ihre Arbeit Mut gemacht, auf die Bühne zu gehen und meinen Körper zu zeigen.«
086
— Ballett
087
— Ballett
Idealvorstellungen
—
»Mein erstes Solo ›Meinwärts‹ zitiert im Titel ein Gedicht von Else Lasker-Schüler. Ich habe ihn gewählt, weil es darum geht, zu sich zu gehen für mich, aber auch für den Zuschauer. Eine norwegische Autorin hat einmal geschrieben, dass die Zuschauer meiner Stücke auf sich selbst zurückgeworfen werden — zum einen durch den Faktor Zeit, zum andern aufgrund meines Körpers. Ihre These: Häufig gehen Menschen in Tanzvorstellungen, um einen schönen Körper zu sehen und sich mit ihm zu identifizieren. Was mehr oder weniger gelingt, weil die meisten Tänzer bestimmten Idealvorstellungen entsprechen. In meinen Vorstellungen fällt diese Identifikation mit dem Körper weg — wer will schon eine Behinderung haben? Da der Zuschauer nicht die Möglichkeit sieht, sich zu identifizieren, ist er auf sich selbst zurückgeworfen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den eigenen Körper zu spüren — oder das Theater zu verlassen.«
4 _
5 _
3 _
1
»36, Avenue Georges Mandel«,
Chapelle des Pénitents Blancs / Festival d’Avignon, Juli 2007
2
»Sacre — The Rite of Spring«,
Kaaitheater, Brüssel, Januar 2004
3
»Swan Lake, 4 Acts«,
Théâtre de Grammont / Festival Montpellier Danse, Juli 2005
4
»36, Avenue Georges Mandel«,
Chapelle des Pénitents Blancs / Festival d’Avignon, Juli 2007
5-6 »Boléro Variations«, _
Centre Pompidou / Festival d’Automne, Paris, November 2007
—
»Ein anderer: der Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, der noch mit über achtzig Jahren aufgetreten ist und auf der Bühne Kind sein konnte und Greis, Mann und Frau. Ohno leidet seit einigen Jahren an Alzheimer, aber die Erinnerung an den Tanz war noch in seinem Körper. Als eine Platte von Maria Callas gespielt wurde, kamen die Erinnerungen zurück und Kazuo Ohno machte mit seinen Händen die gleichen Bewegungen wie Jahre zuvor auf der Bühne. Ihm war bewusst, dass er sich an vieles nicht mehr erinnern kann und dass er krank ist, aber mit dem Körper konnte er sich erinnern an das, was einmal wichtig war in seinem Leben. Und als er mit seinen Händen tanzte, war wie auf der Bühne wieder diese besondere Kraft zu spüren — die eines gelebten Lebens und eines Körpers, der alt ist und Würde hat und eine Schönheit, die sich gängigen Normvorstellungen entzieht.« 6 _
086
— Ballett
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— Ballett
Idealvorstellungen
—
»Mein erstes Solo ›Meinwärts‹ zitiert im Titel ein Gedicht von Else Lasker-Schüler. Ich habe ihn gewählt, weil es darum geht, zu sich zu gehen für mich, aber auch für den Zuschauer. Eine norwegische Autorin hat einmal geschrieben, dass die Zuschauer meiner Stücke auf sich selbst zurückgeworfen werden — zum einen durch den Faktor Zeit, zum andern aufgrund meines Körpers. Ihre These: Häufig gehen Menschen in Tanzvorstellungen, um einen schönen Körper zu sehen und sich mit ihm zu identifizieren. Was mehr oder weniger gelingt, weil die meisten Tänzer bestimmten Idealvorstellungen entsprechen. In meinen Vorstellungen fällt diese Identifikation mit dem Körper weg — wer will schon eine Behinderung haben? Da der Zuschauer nicht die Möglichkeit sieht, sich zu identifizieren, ist er auf sich selbst zurückgeworfen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als den eigenen Körper zu spüren — oder das Theater zu verlassen.«
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»36, Avenue Georges Mandel«,
Chapelle des Pénitents Blancs / Festival d’Avignon, Juli 2007
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»Sacre — The Rite of Spring«,
Kaaitheater, Brüssel, Januar 2004
3
»Swan Lake, 4 Acts«,
Théâtre de Grammont / Festival Montpellier Danse, Juli 2005
4
»36, Avenue Georges Mandel«,
Chapelle des Pénitents Blancs / Festival d’Avignon, Juli 2007
5-6 »Boléro Variations«, _
Centre Pompidou / Festival d’Automne, Paris, November 2007
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»Ein anderer: der Butoh-Tänzer Kazuo Ohno, der noch mit über achtzig Jahren aufgetreten ist und auf der Bühne Kind sein konnte und Greis, Mann und Frau. Ohno leidet seit einigen Jahren an Alzheimer, aber die Erinnerung an den Tanz war noch in seinem Körper. Als eine Platte von Maria Callas gespielt wurde, kamen die Erinnerungen zurück und Kazuo Ohno machte mit seinen Händen die gleichen Bewegungen wie Jahre zuvor auf der Bühne. Ihm war bewusst, dass er sich an vieles nicht mehr erinnern kann und dass er krank ist, aber mit dem Körper konnte er sich erinnern an das, was einmal wichtig war in seinem Leben. Und als er mit seinen Händen tanzte, war wie auf der Bühne wieder diese besondere Kraft zu spüren — die eines gelebten Lebens und eines Körpers, der alt ist und Würde hat und eine Schönheit, die sich gängigen Normvorstellungen entzieht.« 6 _
094
— Magazin
Sexuelle Gewalt
095
— Magazin
im verlassenen
Jahrzehntelang werden in Eschenau immer wieder Kinder vergewaltigt. Nach 46 Jahren schafft es ein Opfer, sein Schweigen zu brechen. Andere ziehen nach. Seitdem gelten sie als Nestbeschmutzer. Zu Besuch in einem Dorf, das noch immer am liebsten wegsehen will
— Jörg Böckem Fotos — Alle Abbildungen aus »ANONYMOUS« von KesselsKramer Publishing Text
Ein wenig erinnert die Szenerie an einen tschechischen Märchenfilm: Eine schmale Landstraße schlängelt sich durch malerisch verschneite Hügel, auf den Ästen der Bäume glitzert der Frost. Kurz vor dem Ortseingang eine pittoreske, gelbe Zwiebelkirche, daneben ein gepflegter, alter Friedhof. Im Dorf selbst liebevoll instand gehaltene Fachwerkhäuser und Bauernhöfe, hier ein steinernes Eingangsportal, dort ein renovierter Dorfbrunnen. Die Gehwege sind akkurat vom Schnee befreit, es gibt weitläufige Gärten und Innenhöfe, in einer Astgabel thront ein hölzernes Baumhaus. Hinter Häusern, Höfen und Gärten beginnt der Wald. »Idyllisch, oder?«, fragt Irmgard M. Ihr Haus ist das erste im Ort, eine steile Treppe führt hinauf zur Eingangstür. Es ist an einen Hügel gebaut, die oberen Zimmer überblicken große Teile des Dorfes. In diesem Haus hat Irmgard M. ihre Kindheit verbracht, seit mehr als zwei Jahrzehnten haben sie und ihr Mann es aus- und umgebaut: große, helle Räume, Dachfirst und Deckenbalken liegen frei, an einem hängt ein hölzernes Schaukelpferd. Hinter dem Haus eine Wiese mit Gänsen, ein Kräutergarten, Bäume. Für Irmgard M. Zuflucht und Schutzraum — die Straßen des Dorfes betritt die 49-Jährige nicht mehr. Der fränkische 200-Seelen-Ort Eschenau, am Nord rand des Naturparks Steigerwald gelegen, galt in der Gemeinde Knetzgau jahrzehntelang als Vorzeigedorf. Es gab ein reges Vereinsleben und jedes Jahr ein Dorffest, das schönste und beliebteste der Umgebung. Vor rund zwei Jahren bröckelte die malerische Fassade, ein spektakulärer Missbrauchsprozess brachte den Ort in die Schlagzeilen. Heute gilt das Dorf vielen als Syno nym für Missbrauch und Vergewaltigung, Hetze und Hass. Ein Zustand, den niemand gewollt hat und unter dem alle leiden.
In diesen Wintertagen sind die Straßen und Wege meist leer. Es scheint, als ob sich die Bewohner hinter den Mauern ihrer Häuser und Höfe, hinter ihren Feindbildern, ihrem Schmerz und ihrer Wut verschanzen. Andere treibt die Angst und die Enttäuschung von der Straße. Ein Dorf im Ausnahmezustand. Für Irmgard M. ist Eschenau schon lange kein Idyll mehr, nicht seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, als sie, noch Jungfrau, während eines Festes der Landjugend brutal von einem Burschen aus der Nachbarschaft vergewaltigt wurde. Noch heute sieht sie das Gesicht des Täters vor sich. Es ist eine traumatische Erfahrung, die ihr gesamtes Leben überschattet hat. Es geschieht, erzählt sie, in der Waschküche des Pfarrhauses. Siegfried W. ist damals 19. Er ist brutal, sein Opfer verliert kurze Zeit das Bewusstsein. Am Ende, so Irmgard M. weiter, droht er ihr: »Wehe, du sagst was! Ihr werdet aus dem Dorf vertrieben, dir glaubt eh keiner, ihr seid keine Bauern.« Er stammt aus einer angesehenen Landwirtsfamilie, sein Opfer gehört zu den Zugezogenen, sie gelten nicht viel im Ort. Irmgards Vater starb, als sie sieben war, ihre Mutter muss die sieben Kinder alleine großziehen. Das Ansehen bedeutet der Mutter viel. Mit ihr kann Irmgard nicht reden. Viele Jahre schweigt sie. Wird krank. Irgendwann sind die Schmerzen so stark, dass sie kaum noch gehen kann. Ein Leben, beherrscht von Schmerz und Angst: Ihr Peiniger bedrängt sie auch in den folgenden Jahren immer wieder. Sie erstarrt, wenn sie ihn auf der Straße sieht. Trotzdem versucht sie, sich in das Dorfleben zu integrieren, verstellt sich, versucht, mit dem Trauma zurechtzu kommen, irgendwie. Eine verängstigte, kranke Frau. Auch als Erwachsene kommt sie nicht zur Ruhe: Ihr Patenkind wird als Siebenjährige ebenfalls sexuell missbraucht, von einem zweiten Täter. Die Angst bekommt neue Nahrung, Irmgard M. leidet unter Panikattacken. Sie offenbart sich ihrer Familie, will endlich zur Polizei gehen, all das muss ein Ende finden. Aber ihre Mutter drängt darauf, kein Aufhebens zu machen, das könne man doch untereinander regeln. Sie werde mit der Frau des zweiten Täters sprechen, die werde ihren Mann schon im Zaum halten.
Verfremdungseffekt
Es sind alltägliche Bilder, die Ewoudt Boonstra, Art-Direktor der Agentur KesselsKramer (www.kesselskramerpublishing.com), gesammelt hat: Fotos von Menschen, deren Gesichter auf unterschiedliche Art und Weise unkenntlich gemacht wurden — durch Kratzen, Schwärzen, Ritzen oder Ausschneiden. Das Ergebnis ist frappierend, sind die einzelnen Personen nun ihrer unver w echselbaren Identität beraubt. Eine Identifizierung ist unmöglich geworden — die Bilder haben eine eigenartige Allgemeingültigkeit gewonnen. Der Mensch, um es mit Bertolt Brecht zu sagen, ist durch diese Form der Verfremdung nun nicht mehr nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders _
094
— Magazin
Sexuelle Gewalt
095
— Magazin
im verlassenen
Jahrzehntelang werden in Eschenau immer wieder Kinder vergewaltigt. Nach 46 Jahren schafft es ein Opfer, sein Schweigen zu brechen. Andere ziehen nach. Seitdem gelten sie als Nestbeschmutzer. Zu Besuch in einem Dorf, das noch immer am liebsten wegsehen will
— Jörg Böckem Fotos — Alle Abbildungen aus »ANONYMOUS« von KesselsKramer Publishing Text
Ein wenig erinnert die Szenerie an einen tschechischen Märchenfilm: Eine schmale Landstraße schlängelt sich durch malerisch verschneite Hügel, auf den Ästen der Bäume glitzert der Frost. Kurz vor dem Ortseingang eine pittoreske, gelbe Zwiebelkirche, daneben ein gepflegter, alter Friedhof. Im Dorf selbst liebevoll instand gehaltene Fachwerkhäuser und Bauernhöfe, hier ein steinernes Eingangsportal, dort ein renovierter Dorfbrunnen. Die Gehwege sind akkurat vom Schnee befreit, es gibt weitläufige Gärten und Innenhöfe, in einer Astgabel thront ein hölzernes Baumhaus. Hinter Häusern, Höfen und Gärten beginnt der Wald. »Idyllisch, oder?«, fragt Irmgard M. Ihr Haus ist das erste im Ort, eine steile Treppe führt hinauf zur Eingangstür. Es ist an einen Hügel gebaut, die oberen Zimmer überblicken große Teile des Dorfes. In diesem Haus hat Irmgard M. ihre Kindheit verbracht, seit mehr als zwei Jahrzehnten haben sie und ihr Mann es aus- und umgebaut: große, helle Räume, Dachfirst und Deckenbalken liegen frei, an einem hängt ein hölzernes Schaukelpferd. Hinter dem Haus eine Wiese mit Gänsen, ein Kräutergarten, Bäume. Für Irmgard M. Zuflucht und Schutzraum — die Straßen des Dorfes betritt die 49-Jährige nicht mehr. Der fränkische 200-Seelen-Ort Eschenau, am Nord rand des Naturparks Steigerwald gelegen, galt in der Gemeinde Knetzgau jahrzehntelang als Vorzeigedorf. Es gab ein reges Vereinsleben und jedes Jahr ein Dorffest, das schönste und beliebteste der Umgebung. Vor rund zwei Jahren bröckelte die malerische Fassade, ein spektakulärer Missbrauchsprozess brachte den Ort in die Schlagzeilen. Heute gilt das Dorf vielen als Syno nym für Missbrauch und Vergewaltigung, Hetze und Hass. Ein Zustand, den niemand gewollt hat und unter dem alle leiden.
In diesen Wintertagen sind die Straßen und Wege meist leer. Es scheint, als ob sich die Bewohner hinter den Mauern ihrer Häuser und Höfe, hinter ihren Feindbildern, ihrem Schmerz und ihrer Wut verschanzen. Andere treibt die Angst und die Enttäuschung von der Straße. Ein Dorf im Ausnahmezustand. Für Irmgard M. ist Eschenau schon lange kein Idyll mehr, nicht seit ihrem vierzehnten Lebensjahr, als sie, noch Jungfrau, während eines Festes der Landjugend brutal von einem Burschen aus der Nachbarschaft vergewaltigt wurde. Noch heute sieht sie das Gesicht des Täters vor sich. Es ist eine traumatische Erfahrung, die ihr gesamtes Leben überschattet hat. Es geschieht, erzählt sie, in der Waschküche des Pfarrhauses. Siegfried W. ist damals 19. Er ist brutal, sein Opfer verliert kurze Zeit das Bewusstsein. Am Ende, so Irmgard M. weiter, droht er ihr: »Wehe, du sagst was! Ihr werdet aus dem Dorf vertrieben, dir glaubt eh keiner, ihr seid keine Bauern.« Er stammt aus einer angesehenen Landwirtsfamilie, sein Opfer gehört zu den Zugezogenen, sie gelten nicht viel im Ort. Irmgards Vater starb, als sie sieben war, ihre Mutter muss die sieben Kinder alleine großziehen. Das Ansehen bedeutet der Mutter viel. Mit ihr kann Irmgard nicht reden. Viele Jahre schweigt sie. Wird krank. Irgendwann sind die Schmerzen so stark, dass sie kaum noch gehen kann. Ein Leben, beherrscht von Schmerz und Angst: Ihr Peiniger bedrängt sie auch in den folgenden Jahren immer wieder. Sie erstarrt, wenn sie ihn auf der Straße sieht. Trotzdem versucht sie, sich in das Dorfleben zu integrieren, verstellt sich, versucht, mit dem Trauma zurechtzu kommen, irgendwie. Eine verängstigte, kranke Frau. Auch als Erwachsene kommt sie nicht zur Ruhe: Ihr Patenkind wird als Siebenjährige ebenfalls sexuell missbraucht, von einem zweiten Täter. Die Angst bekommt neue Nahrung, Irmgard M. leidet unter Panikattacken. Sie offenbart sich ihrer Familie, will endlich zur Polizei gehen, all das muss ein Ende finden. Aber ihre Mutter drängt darauf, kein Aufhebens zu machen, das könne man doch untereinander regeln. Sie werde mit der Frau des zweiten Täters sprechen, die werde ihren Mann schon im Zaum halten.
Verfremdungseffekt
Es sind alltägliche Bilder, die Ewoudt Boonstra, Art-Direktor der Agentur KesselsKramer (www.kesselskramerpublishing.com), gesammelt hat: Fotos von Menschen, deren Gesichter auf unterschiedliche Art und Weise unkenntlich gemacht wurden — durch Kratzen, Schwärzen, Ritzen oder Ausschneiden. Das Ergebnis ist frappierend, sind die einzelnen Personen nun ihrer unver w echselbaren Identität beraubt. Eine Identifizierung ist unmöglich geworden — die Bilder haben eine eigenartige Allgemeingültigkeit gewonnen. Der Mensch, um es mit Bertolt Brecht zu sagen, ist durch diese Form der Verfremdung nun nicht mehr nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders _
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Irmgard M. fühlt sich im Stich gelassen. Sie zieht sich mehr und mehr aus der Dorfgemeinschaft zurück. Um sie herum geht das Leben weiter wie bisher. Auch der Missbrauch geht weiter: Siegfried W. belästigt Irmgard M.s älteste Tochter, wie die Mutter erzählt. Doch die Achtjährige will ihn nicht anzeigen, er ist der Vater ihrer besten Freundin. Erst 2006 geht Irmgard M. zur Polizei. Aber da ist ihr Fall bereits verjährt, Konsequenzen bleiben aus. Im Frühjahr 2007 kehrt Heidi Marks zurück in ihr Heimatdorf, um mit der Familie ihren fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Sie lebt seit Jahrzehnten in den USA. Als sie von den Missbrauchsfällen im Ort erfährt, bricht sie zusammen. Zum ersten Mal spricht sie mit ihrer Freundin und ihrer Familie über ihre eigenen Erlebnisse. Heidi Marks ist seit ihrem vierten Lebensjahr missbraucht worden, von zwei Tätern aus dem Dorf, wieder und wieder, Jahr für Jahr. Es waren dieselben, die sich auch an den anderen Frauen und Mädchen vergangen haben. Ihre Taten haben Heidi Marks in die Isolation getrieben, in die Depression, einen Selbstmordversuch und schließlich so weit weg wie möglich, in die USA. Heilung hat sie auch dort nicht gefunden. Jahrzehnte schweigt Heidi Marks. Aus Angst, aus Scham. Sie sei ein böses Mädchen, schärft Alfred G., der erste Täter, dem kleinen Mädchen ein, wieder und wieder. Sie habe all das so gewollt. Ihre Eltern würden kein böses Mädchen mögen, würden sie in ein Heim stecken, wenn sie je davon erführen. Sollten die anderen Dorfbewohner davon erfahren, die Familie würde mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt. Sie schweigt auch, sagt Heidi Marks, als sich Siegfried W. an ihr vergeht, da ist sie gerade zehn. Auch er droht dem Mädchen. Sie muss diese Drohungen ernst nehmen, im Dorf ist es wichtig, was die anderen denken. Nicht auffallen, sich anpassen, die Fassade aufrechterhalten. W.s Familie hat Macht und Einfluss. Zudem sind beide Täter hoch angesehen, im Dorf und bei den Eltern. Also muss sie selbst wohl böse sein. Irgendwann glaubt Heidi Marks, dass sie selber schuld ist an dem Leid, das ihr zugefügt wird, an der Erniedrigung.
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Von frühester Kindheit an führt sie ein Doppelleben, ist gezwungen, zu lügen und zu betrügen. Sie muss ihr Geheimnis bewahren, den vermeintlichen Makel verbergen. Ihre Eltern und Geschwister wissen mit dem verhaltensauffälligen, oft abwesenden oder widerborstigen Kind nicht umzugehen. Seit dieser Zeit, sagt Heidi Marks, sei ihr Selbstbild bestimmt gewesen von Schuld, Schande und Scham. »Die Scham hat mich mein ganzes Leben begleitet«, sagt die 51-Jährige. »Obwohl ich nichts Falsches getan habe. Ich war doch Opfer!« Die Scham und die Angst vor den Reaktionen der anderen hinderten sie daran, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Ein Verhaltensmuster, das bei Missbrauchsopfern und auch deren Familien häufig anzutreffen ist — Schweigen, um der Scham und der Schande zu entgehen. Als Heidi Marks ihrem Mann von den Missbrauchserfahrungen erzählt, vage und nur in Andeutungen, ist sie auf Vorwürfe und Schuldzuweisung gefasst und beinahe schockiert, als sie ausbleiben. Verständnis und Anteilnahme hat sie jahrzehntelang weder erfahren noch erwartet, im Gegenteil. »Mein Mann und ich wollten immer Kinder«, erinnert sie sich. »Jahr für Jahr haben wir es erfolglos versucht. Ich dachte, das sei die Strafe für meine Sünden.« 46 Jahre nachdem ihr Martyrium begann, gelingt es ihr endlich, die Spirale von Schuld, Scham und Schweigen zu durch brechen. Als sie hört, dass sie nicht das einzige Opfer der beiden Männer ist. Wieder macht sie sich Vorwürfe: »Hätte ich nur nicht all die Jahre geschwiegen«, denkt sie. »Vielleicht wäre den anderen ihr Leid erspart geblieben.« Sie entscheidet sich, zur Polizei zu gehen. Auch wenn die Taten mittlerweile verjährt sind, hofft sie, so andere Mädchen schützen zu können. Im März 2007 zeigt sie, gemeinsam mit Irmgard M., die Männer an. Sechs weitere Frauen und Mädchen des Dorfes machen bei den folgenden Ermittlungen gleichlautende Aussagen. Anfang Mai findet eine Dorfversammlung im Gemeindesaal statt, das alljährliche Dorffest soll geplant werden. Der Erlös ist für Reparaturarbeiten am evangelischen Gemeindehaus vorgesehen. Irmgard M.s Mann Reinhold, ihr Bruder und der Schwager von
— Magazin
Heidi Marks, allesamt bisher eng ins Dorfleben eingebunden, erklären, dass sie wegen der Missbrauchsfälle im Dorf und der laufenden polizeilichen Ermittlungen nicht in der Lage seien, mitzuwirken. Das Fest wird abgesagt, die Verwerfungen im Ort beginnen. Die drei Männer werden aus Dorfvereinen ausgeschlossen, die Opfer und deren Angehörige als Nestbeschmutzer und Störenfriede beschimpft. »Für einige im Dorf schien der Ausfall des Dorffestes schlimmer zu sein als das Leid der missbrauchten Mädchen und Frauen«, sagt Irmgard M. »Vor allem für die Pfarrerin.« Die evangelische Geistliche Elfi Trautvetter-Ferg soll in ihrem Bemühen, die Sache schnell vom Tisch zu bekommen, um mit den Festvorbereitungen weitermachen zu können, die Fronten verschärft haben. In einem Nachbardorf sei so etwas auch passiert, da habe auch kein Hahn danach gekräht, wird sie zitiert. Später wird sie die Äußerung bestreiten. Doch auch andere Dorfbewohner denken so. Die Mädchen seinen doch nur »betatscht« worden, heißt es. Oder: Es sei schon schlimm, was da passiert wäre. Aber man müsse doch nicht gleich zur Polizei gehen und so ein Aufhebens darum machen. So etwas könne man doch auch untereinander regeln, ohne gleich den ganzen Ort in Verruf zu bringen. Als sich Siegfried W., wohlhabender und hoch angesehener Großbauer, am 17. Mai 2007 in einer Scheune erhängt und in seinem Abschiedsbrief von böswilligen Lügen schreibt, eskaliert die Situation. Für mache Dörfler sind die Opfer zu Tätern geworden. Sie hätten einen unschuldigen Mann in den Selbstmord getrieben, heißt es vonseiten der Angehörigen des Toten. Die Frauen werden bespuckt, bedroht. Heidi Marks’ Vater, ehemaliger Bürgermeister und zeit seines Lebens in der Dorfgemeinschaft engagiert, wird von Nachbarshöfen gejagt. Auch die Verurteilung des zweiten Täters zu viereinhalb Jahren Haft weicht die Fronten nicht auf. Alfred G. wird des wiederholten sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Mädchen für schuldig befunden. Acht Frauen haben übereinstimmende Aussagen gemacht, einige Fälle sind verjährt, der letzte liegt erst wenige Jahre zurück.
Sexuelle Gewalt
Die Ermittlungen gegen Siegfried W. werden nach seinem Freitod eingestellt, eine endgültige Aufklärung findet nicht statt. Seine Angehörigen leugnen die Taten. Ihre Trauer und der Verlust schüren die Wut auf die Opfer. Eine Kluft trennt die Dorfbewohner. Wer sich öffentlich zu den Opfern bekennt, wird ausgegrenzt. Heidi Marks’ Schwager und Mutter werden die Autoreifen mit Nägeln perforiert. Weder die Angehörigen des Toten noch die Opfer und ihre Familien finden Ruhe und Heilung. Im Oktober 2007 erleben die Auseinandersetzungen im Dorf ihren Höhepunkt: Auf einer Bürgerversammlung im evangelischen Gemeindehaus, initiiert von der Familie des Toten, wird versucht, die Opfer an den Pranger zu stellen. Die Frauen werden verhöhnt, die Taten geleugnet. Die Missbrauchsopfer und ihre Familien müssen von der Polizei geschützt werden. Mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen. Heute herrscht im Ort eine Art unversöhnlicher Waffenstillstand. Man geht sich aus dem Weg. Ausgegrenzt werden die Opfer, die jetzt Unruhestifter sind, noch immer. Nachbarn grüßen nicht, die Feindseligkeit ist spürbar. Einer der Betroffenen beschreibt die Situation als Kalten Krieg. Irmgard M. hat Kameras und Bewegungsmelder an ihrem Haus angebracht, nur zu ihren Verwandten hat sie im Dorf noch Kontakt. Der Postbote bringt ihr die Briefe hinauf an die Tür, obwohl unten am Haus ein Briefkasten hängt. Sie soll nicht hinunter müssen auf die Straße, ins Freie, Ungeschützte. Das Grab ihres Vaters auf dem nur einige Hundert Meter entfernten Friedhof besucht sie nicht mehr. Hier liegt auch ihr Peiniger begraben, sie fürchtet die Begegnung mit dessen Angehörigen. Sie hat ein Auto, ihr Leben findet im Inneren des Hauses statt oder außerhalb des Ortes. Trotz alledem, sagt sie, fühle sie sich befreit. Seit der Gerichtsverhandlung, seit sie sich mit dem Trauma ihrer Jugend auseinander setzt und Verständnis und Unterstützung in ihrer Familie findet. »Angst hatte ich doch vorher auch«, sagt sie. Angst vor dem Täter, Angst um ihre Töchter und die anderen Mädchen im Dorf. Die Anzeige sei eine Art Ausbruch gewesen. »Wenn meine Aussage dazu beigetragen hat, dass keine weitere Mädchen im Dorf leiden müssen,
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Irmgard M. fühlt sich im Stich gelassen. Sie zieht sich mehr und mehr aus der Dorfgemeinschaft zurück. Um sie herum geht das Leben weiter wie bisher. Auch der Missbrauch geht weiter: Siegfried W. belästigt Irmgard M.s älteste Tochter, wie die Mutter erzählt. Doch die Achtjährige will ihn nicht anzeigen, er ist der Vater ihrer besten Freundin. Erst 2006 geht Irmgard M. zur Polizei. Aber da ist ihr Fall bereits verjährt, Konsequenzen bleiben aus. Im Frühjahr 2007 kehrt Heidi Marks zurück in ihr Heimatdorf, um mit der Familie ihren fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Sie lebt seit Jahrzehnten in den USA. Als sie von den Missbrauchsfällen im Ort erfährt, bricht sie zusammen. Zum ersten Mal spricht sie mit ihrer Freundin und ihrer Familie über ihre eigenen Erlebnisse. Heidi Marks ist seit ihrem vierten Lebensjahr missbraucht worden, von zwei Tätern aus dem Dorf, wieder und wieder, Jahr für Jahr. Es waren dieselben, die sich auch an den anderen Frauen und Mädchen vergangen haben. Ihre Taten haben Heidi Marks in die Isolation getrieben, in die Depression, einen Selbstmordversuch und schließlich so weit weg wie möglich, in die USA. Heilung hat sie auch dort nicht gefunden. Jahrzehnte schweigt Heidi Marks. Aus Angst, aus Scham. Sie sei ein böses Mädchen, schärft Alfred G., der erste Täter, dem kleinen Mädchen ein, wieder und wieder. Sie habe all das so gewollt. Ihre Eltern würden kein böses Mädchen mögen, würden sie in ein Heim stecken, wenn sie je davon erführen. Sollten die anderen Dorfbewohner davon erfahren, die Familie würde mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt. Sie schweigt auch, sagt Heidi Marks, als sich Siegfried W. an ihr vergeht, da ist sie gerade zehn. Auch er droht dem Mädchen. Sie muss diese Drohungen ernst nehmen, im Dorf ist es wichtig, was die anderen denken. Nicht auffallen, sich anpassen, die Fassade aufrechterhalten. W.s Familie hat Macht und Einfluss. Zudem sind beide Täter hoch angesehen, im Dorf und bei den Eltern. Also muss sie selbst wohl böse sein. Irgendwann glaubt Heidi Marks, dass sie selber schuld ist an dem Leid, das ihr zugefügt wird, an der Erniedrigung.
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Von frühester Kindheit an führt sie ein Doppelleben, ist gezwungen, zu lügen und zu betrügen. Sie muss ihr Geheimnis bewahren, den vermeintlichen Makel verbergen. Ihre Eltern und Geschwister wissen mit dem verhaltensauffälligen, oft abwesenden oder widerborstigen Kind nicht umzugehen. Seit dieser Zeit, sagt Heidi Marks, sei ihr Selbstbild bestimmt gewesen von Schuld, Schande und Scham. »Die Scham hat mich mein ganzes Leben begleitet«, sagt die 51-Jährige. »Obwohl ich nichts Falsches getan habe. Ich war doch Opfer!« Die Scham und die Angst vor den Reaktionen der anderen hinderten sie daran, sich ihrer Familie anzuvertrauen. Ein Verhaltensmuster, das bei Missbrauchsopfern und auch deren Familien häufig anzutreffen ist — Schweigen, um der Scham und der Schande zu entgehen. Als Heidi Marks ihrem Mann von den Missbrauchserfahrungen erzählt, vage und nur in Andeutungen, ist sie auf Vorwürfe und Schuldzuweisung gefasst und beinahe schockiert, als sie ausbleiben. Verständnis und Anteilnahme hat sie jahrzehntelang weder erfahren noch erwartet, im Gegenteil. »Mein Mann und ich wollten immer Kinder«, erinnert sie sich. »Jahr für Jahr haben wir es erfolglos versucht. Ich dachte, das sei die Strafe für meine Sünden.« 46 Jahre nachdem ihr Martyrium begann, gelingt es ihr endlich, die Spirale von Schuld, Scham und Schweigen zu durch brechen. Als sie hört, dass sie nicht das einzige Opfer der beiden Männer ist. Wieder macht sie sich Vorwürfe: »Hätte ich nur nicht all die Jahre geschwiegen«, denkt sie. »Vielleicht wäre den anderen ihr Leid erspart geblieben.« Sie entscheidet sich, zur Polizei zu gehen. Auch wenn die Taten mittlerweile verjährt sind, hofft sie, so andere Mädchen schützen zu können. Im März 2007 zeigt sie, gemeinsam mit Irmgard M., die Männer an. Sechs weitere Frauen und Mädchen des Dorfes machen bei den folgenden Ermittlungen gleichlautende Aussagen. Anfang Mai findet eine Dorfversammlung im Gemeindesaal statt, das alljährliche Dorffest soll geplant werden. Der Erlös ist für Reparaturarbeiten am evangelischen Gemeindehaus vorgesehen. Irmgard M.s Mann Reinhold, ihr Bruder und der Schwager von
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Heidi Marks, allesamt bisher eng ins Dorfleben eingebunden, erklären, dass sie wegen der Missbrauchsfälle im Dorf und der laufenden polizeilichen Ermittlungen nicht in der Lage seien, mitzuwirken. Das Fest wird abgesagt, die Verwerfungen im Ort beginnen. Die drei Männer werden aus Dorfvereinen ausgeschlossen, die Opfer und deren Angehörige als Nestbeschmutzer und Störenfriede beschimpft. »Für einige im Dorf schien der Ausfall des Dorffestes schlimmer zu sein als das Leid der missbrauchten Mädchen und Frauen«, sagt Irmgard M. »Vor allem für die Pfarrerin.« Die evangelische Geistliche Elfi Trautvetter-Ferg soll in ihrem Bemühen, die Sache schnell vom Tisch zu bekommen, um mit den Festvorbereitungen weitermachen zu können, die Fronten verschärft haben. In einem Nachbardorf sei so etwas auch passiert, da habe auch kein Hahn danach gekräht, wird sie zitiert. Später wird sie die Äußerung bestreiten. Doch auch andere Dorfbewohner denken so. Die Mädchen seinen doch nur »betatscht« worden, heißt es. Oder: Es sei schon schlimm, was da passiert wäre. Aber man müsse doch nicht gleich zur Polizei gehen und so ein Aufhebens darum machen. So etwas könne man doch auch untereinander regeln, ohne gleich den ganzen Ort in Verruf zu bringen. Als sich Siegfried W., wohlhabender und hoch angesehener Großbauer, am 17. Mai 2007 in einer Scheune erhängt und in seinem Abschiedsbrief von böswilligen Lügen schreibt, eskaliert die Situation. Für mache Dörfler sind die Opfer zu Tätern geworden. Sie hätten einen unschuldigen Mann in den Selbstmord getrieben, heißt es vonseiten der Angehörigen des Toten. Die Frauen werden bespuckt, bedroht. Heidi Marks’ Vater, ehemaliger Bürgermeister und zeit seines Lebens in der Dorfgemeinschaft engagiert, wird von Nachbarshöfen gejagt. Auch die Verurteilung des zweiten Täters zu viereinhalb Jahren Haft weicht die Fronten nicht auf. Alfred G. wird des wiederholten sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Mädchen für schuldig befunden. Acht Frauen haben übereinstimmende Aussagen gemacht, einige Fälle sind verjährt, der letzte liegt erst wenige Jahre zurück.
Sexuelle Gewalt
Die Ermittlungen gegen Siegfried W. werden nach seinem Freitod eingestellt, eine endgültige Aufklärung findet nicht statt. Seine Angehörigen leugnen die Taten. Ihre Trauer und der Verlust schüren die Wut auf die Opfer. Eine Kluft trennt die Dorfbewohner. Wer sich öffentlich zu den Opfern bekennt, wird ausgegrenzt. Heidi Marks’ Schwager und Mutter werden die Autoreifen mit Nägeln perforiert. Weder die Angehörigen des Toten noch die Opfer und ihre Familien finden Ruhe und Heilung. Im Oktober 2007 erleben die Auseinandersetzungen im Dorf ihren Höhepunkt: Auf einer Bürgerversammlung im evangelischen Gemeindehaus, initiiert von der Familie des Toten, wird versucht, die Opfer an den Pranger zu stellen. Die Frauen werden verhöhnt, die Taten geleugnet. Die Missbrauchsopfer und ihre Familien müssen von der Polizei geschützt werden. Mehr als ein Jahr ist seitdem vergangen. Heute herrscht im Ort eine Art unversöhnlicher Waffenstillstand. Man geht sich aus dem Weg. Ausgegrenzt werden die Opfer, die jetzt Unruhestifter sind, noch immer. Nachbarn grüßen nicht, die Feindseligkeit ist spürbar. Einer der Betroffenen beschreibt die Situation als Kalten Krieg. Irmgard M. hat Kameras und Bewegungsmelder an ihrem Haus angebracht, nur zu ihren Verwandten hat sie im Dorf noch Kontakt. Der Postbote bringt ihr die Briefe hinauf an die Tür, obwohl unten am Haus ein Briefkasten hängt. Sie soll nicht hinunter müssen auf die Straße, ins Freie, Ungeschützte. Das Grab ihres Vaters auf dem nur einige Hundert Meter entfernten Friedhof besucht sie nicht mehr. Hier liegt auch ihr Peiniger begraben, sie fürchtet die Begegnung mit dessen Angehörigen. Sie hat ein Auto, ihr Leben findet im Inneren des Hauses statt oder außerhalb des Ortes. Trotz alledem, sagt sie, fühle sie sich befreit. Seit der Gerichtsverhandlung, seit sie sich mit dem Trauma ihrer Jugend auseinander setzt und Verständnis und Unterstützung in ihrer Familie findet. »Angst hatte ich doch vorher auch«, sagt sie. Angst vor dem Täter, Angst um ihre Töchter und die anderen Mädchen im Dorf. Die Anzeige sei eine Art Ausbruch gewesen. »Wenn meine Aussage dazu beigetragen hat, dass keine weitere Mädchen im Dorf leiden müssen,
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Sexuelle Gewalt
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ist es all das wert«, sagt sie. Mit der Ausgrenzung und Anfeindung habe sie umzugehen gelernt. Ihr Mann leidet sehr unter der Stimmung im Dorf. Er möchte weg, so schnell wie möglich. Der Fernsehtechniker kann es nicht ertragen, geschnitten, ausgegrenzt und beschimpft zu werden von Menschen, mit denen er gelacht und gefeiert hat. Er kann sich nicht vorstellen, dass es je wieder anders sein wird. Er sucht nach Antworten, versucht, das Verhalten der Dörfler zu begreifen. Manche, denkt er, leugnen die Missbrauchsfälle, weil sie sich für ihre jahrzehntelange Untätigkeit schämen. »Viele haben etwas gewusst und nichts getan«, sagt er. »Das galt lange auch für mich.« Andere, die den Opfern anfangs glaubten und sich von den Tätern abwandten, vermutet er, fühlten sich mitschuldig am Freitod des Großbauern. »Eschenau ist ein kleines Dorf«, sagt Reinhold M. »Viele sind miteinander verwandt, die sozialen Strukturen sind seit Jahrzehnten gewachsen. Wenn einer ausbricht, bricht das System auseinander und alle müssen sich neu orientieren. Veränderung macht Angst.« Heidi Marks hat ihre Missbrauchserfahrungen in einem Buch verarbeitet (»Als der Mann kam und mich mitnahm«, Fackelträger Verlag, 260 Seiten, 16,95 Euro). Auf Lesungen und in zahlreichen Briefen hat sie viel Zuspruch erhalten. »Zu erfahren, dass aus meinen schrecklichen Erlebnissen etwas Gutes resultieren kann, hat mir sehr geholfen«, sagt sie. »Ich wollte zeigen, wie tief Missbrauch ein Kind traumatisiert, dass Opfer und deren Familien so ein Trauma nicht schamhaft verbergen dürfen.« Auch bei ihr habe ein Heilungsprozess eingesetzt. Sie befindet sich in therapeutischer Behandlung. Die Beziehung zu ihrer Familie sei verständnisvoller und herzlicher als je zuvor, trotz der Anfeindungen, denen sich ihre Angehörigen ausgesetzt sehen. Ihre jüngste Schwester ist mit Mann und Kindern in eine nahe gelegene Kleinstadt gezogen, seit einem Jahr steht ihr Haus zum Verkauf. Einen Käufer zu finden, ist schwierig. Ihre Mutter lebt noch dort. Ist das Haus verkauft, zieht sie zu ihnen. Heidi Marks’ Vater starb im Frühjahr vergangenen Jahres an einem Herzinfarkt.
Sexuelle Gewalt
Der ehemalige Bürgermeister erlebte die letzten Monate seines Lebens isoliert von seinen früheren Freunden und Nachbarn, missachtet und gedemütigt. Auch für Christel S., Heidi Marks’ mittlere Schwester, ist ihre Welt zusammengebrochen. »Ich habe meine Kindheit und Jugend als wunderbar idyllisch erlebt, bin immer wieder gerne in mein Heimatdorf zurückgekehrt«, sagt sie. »Das alles ist mir genommen worden. Menschen, die immer lieb und nett zu mir waren, müssen von den Taten gewusst und nichts unternommen haben. Ich fühle mich um meine Vergangenheit und meine Heimat betrogen.« Möglich, dass die Angehörigen der Täter Ähnliches empfinden. Und die Taten leugnen oder bagatellisieren, weil sie an ihrer Erinnerung, ihrem Bild von der Welt, den Menschen und sich selbst um jeden Preis festhalten wollen. Doch dafür zahlen die Opfer und ihre Familien einen hohen Preis. »Die Scham«, heißt es bei Jean-Jacques Rousseau, »erwächst mit der Kenntnis des Bösen.« In Eschenau ist das Böse in die Häuser und Familien eingebrochen. Es ist den Menschen dort nahegekommen, wo sie sich sicher fühlten. Die Erkenntnis, dass eine heile Welt nicht existiert, nie existiert hat, macht Angst. »Ich fürchte, der Ort kommt erst dann zur Ruhe, wenn alle Opferfamilien weggezogen oder vertrieben sind«, hat Stefan Paulus, seit knapp einem Jahr Bürgermeister von Eschenau, resigniert erklärt. Vermutlich hat er recht.
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ist es all das wert«, sagt sie. Mit der Ausgrenzung und Anfeindung habe sie umzugehen gelernt. Ihr Mann leidet sehr unter der Stimmung im Dorf. Er möchte weg, so schnell wie möglich. Der Fernsehtechniker kann es nicht ertragen, geschnitten, ausgegrenzt und beschimpft zu werden von Menschen, mit denen er gelacht und gefeiert hat. Er kann sich nicht vorstellen, dass es je wieder anders sein wird. Er sucht nach Antworten, versucht, das Verhalten der Dörfler zu begreifen. Manche, denkt er, leugnen die Missbrauchsfälle, weil sie sich für ihre jahrzehntelange Untätigkeit schämen. »Viele haben etwas gewusst und nichts getan«, sagt er. »Das galt lange auch für mich.« Andere, die den Opfern anfangs glaubten und sich von den Tätern abwandten, vermutet er, fühlten sich mitschuldig am Freitod des Großbauern. »Eschenau ist ein kleines Dorf«, sagt Reinhold M. »Viele sind miteinander verwandt, die sozialen Strukturen sind seit Jahrzehnten gewachsen. Wenn einer ausbricht, bricht das System auseinander und alle müssen sich neu orientieren. Veränderung macht Angst.« Heidi Marks hat ihre Missbrauchserfahrungen in einem Buch verarbeitet (»Als der Mann kam und mich mitnahm«, Fackelträger Verlag, 260 Seiten, 16,95 Euro). Auf Lesungen und in zahlreichen Briefen hat sie viel Zuspruch erhalten. »Zu erfahren, dass aus meinen schrecklichen Erlebnissen etwas Gutes resultieren kann, hat mir sehr geholfen«, sagt sie. »Ich wollte zeigen, wie tief Missbrauch ein Kind traumatisiert, dass Opfer und deren Familien so ein Trauma nicht schamhaft verbergen dürfen.« Auch bei ihr habe ein Heilungsprozess eingesetzt. Sie befindet sich in therapeutischer Behandlung. Die Beziehung zu ihrer Familie sei verständnisvoller und herzlicher als je zuvor, trotz der Anfeindungen, denen sich ihre Angehörigen ausgesetzt sehen. Ihre jüngste Schwester ist mit Mann und Kindern in eine nahe gelegene Kleinstadt gezogen, seit einem Jahr steht ihr Haus zum Verkauf. Einen Käufer zu finden, ist schwierig. Ihre Mutter lebt noch dort. Ist das Haus verkauft, zieht sie zu ihnen. Heidi Marks’ Vater starb im Frühjahr vergangenen Jahres an einem Herzinfarkt.
Sexuelle Gewalt
Der ehemalige Bürgermeister erlebte die letzten Monate seines Lebens isoliert von seinen früheren Freunden und Nachbarn, missachtet und gedemütigt. Auch für Christel S., Heidi Marks’ mittlere Schwester, ist ihre Welt zusammengebrochen. »Ich habe meine Kindheit und Jugend als wunderbar idyllisch erlebt, bin immer wieder gerne in mein Heimatdorf zurückgekehrt«, sagt sie. »Das alles ist mir genommen worden. Menschen, die immer lieb und nett zu mir waren, müssen von den Taten gewusst und nichts unternommen haben. Ich fühle mich um meine Vergangenheit und meine Heimat betrogen.« Möglich, dass die Angehörigen der Täter Ähnliches empfinden. Und die Taten leugnen oder bagatellisieren, weil sie an ihrer Erinnerung, ihrem Bild von der Welt, den Menschen und sich selbst um jeden Preis festhalten wollen. Doch dafür zahlen die Opfer und ihre Familien einen hohen Preis. »Die Scham«, heißt es bei Jean-Jacques Rousseau, »erwächst mit der Kenntnis des Bösen.« In Eschenau ist das Böse in die Häuser und Familien eingebrochen. Es ist den Menschen dort nahegekommen, wo sie sich sicher fühlten. Die Erkenntnis, dass eine heile Welt nicht existiert, nie existiert hat, macht Angst. »Ich fürchte, der Ort kommt erst dann zur Ruhe, wenn alle Opferfamilien weggezogen oder vertrieben sind«, hat Stefan Paulus, seit knapp einem Jahr Bürgermeister von Eschenau, resigniert erklärt. Vermutlich hat er recht.
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— Magazin
Prosa
zuletzt
Erwachsen geworden, Peinlichkeiten überlebt — und an allem gescheitert. Die Scham ist Peters ständiger Begleiter. Eine Kurzgeschichte
Text
— Fränk Heller
Das Haus der zugezogenen Vorhänge war auch das Haus des Feldstechers Marke Zeiss, mit dem der Vater unbemerkt kont rollierte, was der portugiesische Nachbar sonntags auf dem Komposthaufen verbrannte. So trug der Vater, der dem Portugiesen nicht traute, mit dem Fernglas Sorge, dass da nicht Reifen in Flammen aufgingen oder sonstige Abscheulichkeiten. Das Haus der zugezogenen Vorhänge, in dem erst Licht gemacht wurde, wenn die Rollläden heruntergelassen waren: dort war Peter aufgewachsen, mit dreizehn hatte er dort verräte rische Taschentücher im Ofen verbrannt, hatte unter Herzklopfen Anrufe bei wildfremden Frauen getätigt; von dort war er geflohen in die Städte ohne Vorhänge, auf der Suche nach einem Ort, an dem er einmal so tun könnte, als sei er ernst zu nehmen. Die Scham, dieser spät einfahrende Zug. Ein Missgeschick, die frühen Jahre ein Stolpern von Katastrophe zu Katastrophe, und alle verband ein roter Faden mit der jetzigen Havarie: heimzukehren mit nichts als seiner Scham, da zuletzt als Schriftsteller gescheitert. Er steht in dem schummrigen Zimmer und schämt sich für den Geruch, den der Vater, dort aufgebahrt, stündlich unkontrollierter verströmt. Steht da, die Hände in den Taschen, und redet und redet — würde er aufhören zu reden, käme es der Mutter vielleicht in den Sinn, ihn zu umarmen. Er ist bemüht, möglichst viele Begegnungen zu verhin dern. Er zählt die verhinderten Begegnungen wie geglückte Wendungen in einem Text. Er ahnt, dass im Dorf bald jeder ihm unbeholfen sein Beileid ausdrücken wird. Neben dem eigenen Versagen ist ihm nichts peinlicher als das anderer Leute. Der Lawine an Peinlichkeiten, die ein Begräbnis lostritt, ist er nicht gewachsen. Und der Erinnerung nicht.
Die Scham, diese undisziplinierte Putzkraft, die hier und dort den Staub von längst wertlos gewordenem Hausrat wischt. Sie geht nicht systematisch vor, man vermutet nicht, welche stumpfe Fläche sie als nächste zum Spiegeln bringt. Ein nicht verstandener Witz vor Jahren, und erst heute dämmert uns, wie lächerlich man sich gemacht hat. Da steht er gequält und möchte allen die Nase zuhalten. Der Vater hat, wie Peter verwundert feststellt, vom Balkon aus den Komposthaufen gar nicht sehen können. Wie ein Hund, den allein die Gewohnheit abgerichtet hat, schwenkt das Fernglas, sobald man es von seinem Haken an der Balkontür nimmt, immer noch ganz von selbst auf das Badezimmer fenster der Nachbarin. Am Ende sind wir immer unvorbereitet und geben die Legende vom Respektverdienen preis. Der Tod ist die eigentliche Peinlichkeit. Er steckt uns neckisch zwei Finger in die Nase, damit wir uns selbst nicht riechen müssen. Die Verblüffung auf unserem Schlussgesicht bleibt unkommentiert. Nun hat sich der Vater selbst auf die Laken gekippt wie einen muffigen Wäschesack, die kurzen Hosen eines schmutzigen Jungen vor uns ausbreitend und den Anzug des Sonntagspredigers, damit ein Geruch nach Mensch sich entfalte. Und war unbekümmert, dass ein Gerät, das nur einen Handgriff gewöhnt ist und sich den für immer gemerkt hat, seinen Meister verrät. Die Scham überlebt uns nicht. Ob ihn dennoch reute, kurz vorm Verlöschen jeglicher Reue: der jungen Portugiesin nie ein nettes, anzügliches Kompliment gemacht zu haben? Darüber sinniert Peter insgeheim und hat aufgehört zu reden. Wie erwartet, streckt die Mutter die schweren Arme nach ihm aus. Er flieht zum Fenster und zieht nach Jahren der Düsternis die Vorhänge auf. Es stinke, sagt er laut, aber ohne Bosheit und öffnet das Fenster. Als er sich umdreht, sieht er errötende Gesichter und ausweichende, schnell sich senkende Blicke. Und er weiß nicht recht, ob ihn das befriedigt.
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— Magazin
Wolfgang Amadeus Mozart, »Così fan tutte« — illustriert von Frank Höhne
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Prosa
zuletzt
Erwachsen geworden, Peinlichkeiten überlebt — und an allem gescheitert. Die Scham ist Peters ständiger Begleiter. Eine Kurzgeschichte
Text
— Fränk Heller
Das Haus der zugezogenen Vorhänge war auch das Haus des Feldstechers Marke Zeiss, mit dem der Vater unbemerkt kont rollierte, was der portugiesische Nachbar sonntags auf dem Komposthaufen verbrannte. So trug der Vater, der dem Portugiesen nicht traute, mit dem Fernglas Sorge, dass da nicht Reifen in Flammen aufgingen oder sonstige Abscheulichkeiten. Das Haus der zugezogenen Vorhänge, in dem erst Licht gemacht wurde, wenn die Rollläden heruntergelassen waren: dort war Peter aufgewachsen, mit dreizehn hatte er dort verräte rische Taschentücher im Ofen verbrannt, hatte unter Herzklopfen Anrufe bei wildfremden Frauen getätigt; von dort war er geflohen in die Städte ohne Vorhänge, auf der Suche nach einem Ort, an dem er einmal so tun könnte, als sei er ernst zu nehmen. Die Scham, dieser spät einfahrende Zug. Ein Missgeschick, die frühen Jahre ein Stolpern von Katastrophe zu Katastrophe, und alle verband ein roter Faden mit der jetzigen Havarie: heimzukehren mit nichts als seiner Scham, da zuletzt als Schriftsteller gescheitert. Er steht in dem schummrigen Zimmer und schämt sich für den Geruch, den der Vater, dort aufgebahrt, stündlich unkontrollierter verströmt. Steht da, die Hände in den Taschen, und redet und redet — würde er aufhören zu reden, käme es der Mutter vielleicht in den Sinn, ihn zu umarmen. Er ist bemüht, möglichst viele Begegnungen zu verhin dern. Er zählt die verhinderten Begegnungen wie geglückte Wendungen in einem Text. Er ahnt, dass im Dorf bald jeder ihm unbeholfen sein Beileid ausdrücken wird. Neben dem eigenen Versagen ist ihm nichts peinlicher als das anderer Leute. Der Lawine an Peinlichkeiten, die ein Begräbnis lostritt, ist er nicht gewachsen. Und der Erinnerung nicht.
Die Scham, diese undisziplinierte Putzkraft, die hier und dort den Staub von längst wertlos gewordenem Hausrat wischt. Sie geht nicht systematisch vor, man vermutet nicht, welche stumpfe Fläche sie als nächste zum Spiegeln bringt. Ein nicht verstandener Witz vor Jahren, und erst heute dämmert uns, wie lächerlich man sich gemacht hat. Da steht er gequält und möchte allen die Nase zuhalten. Der Vater hat, wie Peter verwundert feststellt, vom Balkon aus den Komposthaufen gar nicht sehen können. Wie ein Hund, den allein die Gewohnheit abgerichtet hat, schwenkt das Fernglas, sobald man es von seinem Haken an der Balkontür nimmt, immer noch ganz von selbst auf das Badezimmer fenster der Nachbarin. Am Ende sind wir immer unvorbereitet und geben die Legende vom Respektverdienen preis. Der Tod ist die eigentliche Peinlichkeit. Er steckt uns neckisch zwei Finger in die Nase, damit wir uns selbst nicht riechen müssen. Die Verblüffung auf unserem Schlussgesicht bleibt unkommentiert. Nun hat sich der Vater selbst auf die Laken gekippt wie einen muffigen Wäschesack, die kurzen Hosen eines schmutzigen Jungen vor uns ausbreitend und den Anzug des Sonntagspredigers, damit ein Geruch nach Mensch sich entfalte. Und war unbekümmert, dass ein Gerät, das nur einen Handgriff gewöhnt ist und sich den für immer gemerkt hat, seinen Meister verrät. Die Scham überlebt uns nicht. Ob ihn dennoch reute, kurz vorm Verlöschen jeglicher Reue: der jungen Portugiesin nie ein nettes, anzügliches Kompliment gemacht zu haben? Darüber sinniert Peter insgeheim und hat aufgehört zu reden. Wie erwartet, streckt die Mutter die schweren Arme nach ihm aus. Er flieht zum Fenster und zieht nach Jahren der Düsternis die Vorhänge auf. Es stinke, sagt er laut, aber ohne Bosheit und öffnet das Fenster. Als er sich umdreht, sieht er errötende Gesichter und ausweichende, schnell sich senkende Blicke. Und er weiß nicht recht, ob ihn das befriedigt.
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— Magazin
Wolfgang Amadeus Mozart, »Così fan tutte« — illustriert von Frank Höhne