Max Joseph Nr. 3 "Rausch"

Page 1

Jonas Kaufmann Albert Ostermaier Kent Nagano Martin KuĹ ej klaus theweleit Schorsch Kamerun renĂŠ pollesch Amy Winehouse


004

— Inhalt

005

— Inhalt

30   60

84   108

36

46

Standards

Auftakt

im rausch

1  Editorial

11  vorhang auf! Illustration von Friederike Groß

30  Schwärmen für Richard Verbandsarbeit — das klingt nicht gerade nach Ekstase. Doch beim Richard-Wagner-Verband in Berlin spürt man, wie Wagners Wucht waltet

50  im Ozean der Gefühle Tanzen bis zur Trance: Wie die Hirnforschung Ekstase bei Bewegung zu Musik erklärt

74  Bankgeheimnisse Alle Menschen werden Brüder: Das Oktoberfest vereint die Nationen, auch die zerstrittenen

96  DIE UNMÖGLICHE ENZYKLOPÄDIE Rückblick auf die erste Saison der neuen Veranstaltungsreihe

(Zur Premiere »Lohengrin«)

54  Befund: Liebesrausch Ein Betroffener über seine Krankheit, die Liebe

80  Evangelium der Weltenharmonie Nietzsche und ich: Phantasmen von René Pollesch über die Philosophie des Exzesses

98  Kulturtipps Ausstellungen, Filme, Wanderungen: Was die Mitarbeiter der Oper empfehlen

6  Die Künstler dieser Ausgabe Fotografen und Zeichner, die MAx JosePh gestaltet haben  7  Impressum

12  Mein Rausch Was sie berauscht: ein Gedicht von Martin Kušej, Kent Nagano über Nüchternheit, Ingvild Goetz über eine Geschmackssensation und andere Bekenntnisse

titelbild Rosemary Laing: Flight Research #2, 1999

20  Lange Tradition Eine kurze Geschichte der Drogen  24  Essay Die Gehirnbrause Klaus Theweleit über den Rausch als einen Weg zur Kunst

36  Der Gänsehaut auf der Spur Der Chill-Effekt oder warum Musik uns erschauern lässt. Ein Laborbesuch

agenda

(Zu »Raymonda«, 20 Jahre Bayerisches Staatsballett)

42  No, No, No Die Sängerin Amy Winehouse erneuert den Mythos des süchtigen Popstars. Ein InterviewVersuch im Hinterzimmer des Ruhms

60  Meisseln am Ich Der erste Rausch gehört zur Pubertät. In Heidelberg erforschen Wissenschaftler, wie Jugendliche lernen, dabei keinen Schaden zu nehmen

46  Torkeln & Taumeln Schorsch Kameruns Weg von den Goldenen Zitronen zu Leonard Bernstein

70  »Klatschen — aus!« Interview mit Tenor Jonas Kaufmann, dem Lohengrin der Münchner Opernfestspiele, über Erfolg und Narzissmus

(Zur Premiere »Trouble in Tahiti«)

(Zur Premiere »Lohengrin« & Liedermatinee)

84  Fotoessay Von Rosemary Laing

103  Spielplan 108  Der Opern-Comic »Otello — der Mohr von Venedig«. Nach Giuseppe Verdi 120  das Licht singt Ein fiktives Gespräch zwischen Bertolt Brecht und König Max I. Joseph, dem Erbauer der Oper. Von Albert Ostermaier


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30   60

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Standards

Auftakt

im rausch

1  Editorial

11  vorhang auf! Illustration von Friederike Groß

30  Schwärmen für Richard Verbandsarbeit — das klingt nicht gerade nach Ekstase. Doch beim Richard-Wagner-Verband in Berlin spürt man, wie Wagners Wucht waltet

50  im Ozean der Gefühle Tanzen bis zur Trance: Wie die Hirnforschung Ekstase bei Bewegung zu Musik erklärt

74  Bankgeheimnisse Alle Menschen werden Brüder: Das Oktoberfest vereint die Nationen, auch die zerstrittenen

96  DIE UNMÖGLICHE ENZYKLOPÄDIE Rückblick auf die erste Saison der neuen Veranstaltungsreihe

(Zur Premiere »Lohengrin«)

54  Befund: Liebesrausch Ein Betroffener über seine Krankheit, die Liebe

80  Evangelium der Weltenharmonie Nietzsche und ich: Phantasmen von René Pollesch über die Philosophie des Exzesses

98  Kulturtipps Ausstellungen, Filme, Wanderungen: Was die Mitarbeiter der Oper empfehlen

6  Die Künstler dieser Ausgabe Fotografen und Zeichner, die MAx JosePh gestaltet haben  7  Impressum

12  Mein Rausch Was sie berauscht: ein Gedicht von Martin Kušej, Kent Nagano über Nüchternheit, Ingvild Goetz über eine Geschmackssensation und andere Bekenntnisse

titelbild Rosemary Laing: Flight Research #2, 1999

20  Lange Tradition Eine kurze Geschichte der Drogen  24  Essay Die Gehirnbrause Klaus Theweleit über den Rausch als einen Weg zur Kunst

36  Der Gänsehaut auf der Spur Der Chill-Effekt oder warum Musik uns erschauern lässt. Ein Laborbesuch

agenda

(Zu »Raymonda«, 20 Jahre Bayerisches Staatsballett)

42  No, No, No Die Sängerin Amy Winehouse erneuert den Mythos des süchtigen Popstars. Ein InterviewVersuch im Hinterzimmer des Ruhms

60  Meisseln am Ich Der erste Rausch gehört zur Pubertät. In Heidelberg erforschen Wissenschaftler, wie Jugendliche lernen, dabei keinen Schaden zu nehmen

46  Torkeln & Taumeln Schorsch Kameruns Weg von den Goldenen Zitronen zu Leonard Bernstein

70  »Klatschen — aus!« Interview mit Tenor Jonas Kaufmann, dem Lohengrin der Münchner Opernfestspiele, über Erfolg und Narzissmus

(Zur Premiere »Trouble in Tahiti«)

(Zur Premiere »Lohengrin« & Liedermatinee)

84  Fotoessay Von Rosemary Laing

103  Spielplan 108  Der Opern-Comic »Otello — der Mohr von Venedig«. Nach Giuseppe Verdi 120  das Licht singt Ein fiktives Gespräch zwischen Bertolt Brecht und König Max I. Joseph, dem Erbauer der Oper. Von Albert Ostermaier


024

— Auftakt

»Das Kunstwerk erhält seine endgültige Form erst im Hirn des Auf­ nehmenden.«

025

— Auftakt

Essay

Die Gehirnbrause Hören, fühlen, schmecken, ertasten — viele Wege führen zum Rausch. Klaus Theweleit über den Eintritt in eine andere Wirklichkeit

»Nur wer halluziniert, erblickt das Reale.« Womit der Hautarzt, Lyriker und Worthalluzinator Gottfried Benn nicht etwa die sogenannten Realitäten gemeint hat, das harte Unausweich­liche des allgemeinen Arbeits- und Liebeslebens, sondern das wirklich Wirkliche der Wirklichkeiten, das unaufhörlich Anzusteuernde, die Kunst. Kein berauschender Abgang: Die Nachricht vom Ende Jürgen Klinsmanns als Trainer des FC Bayern München war zwei Tage alt, da sprach ein Mitspieler der Gruppe, in der ich jeden Mittwoch von 18:30 bis 20 Uhr in einer gemieteten Schulsporthalle zum Volleyball antrete — keine berauschenden Spiele, der Altersschnitt ist knapp über 60, in drei, vier Jahren können wir die Gruppe aufteilen in­ Ü-70- gegen U-70-Spieler —, einen Verdacht aus zur Rätselfrage, warum in aller Welt der smarte Sonnyboy Klinsmann sein sonni­ ges California verlassen und sich den Tort in München überhaupt angetan hätte — anzutreten unter Führungsdespoten wie Uli Hoeneß, Kaiser Beckenbauer, Rammzunge Rummenigge, zusätzlich beargwöhnt vom nimmermüden Mecker-Paul Breitner in der feindlichen »Bild«: Klinsmann sei Opfer eines Rausches geworden, sagte er. »Welchen Rausches denn, bitte?« »Des bis vor ein paar Monaten gängigsten Rausches; Renditerausch der amerikanischen (wie der globalen) Geldgesellschaft.« Wie viele andere, mutmaßt Mitspieler Wolf-Dieter, müsse der schwäbische US-Geschäftsmann Klinsmann sein Geld in faulen Finanzpapieren verzockt haben; sonst hätte er sich nie und nimmer an die Isar locken lassen, zum absehbaren Scheitern. Er brauchte wohl einfach die Kohle ... die 3,5 Millionen oder so ... musste wieder ins Rampenlicht ... auf den Acker ... musste wieder in einen Geldjob. Ja, wie der Sänger und Songwriter Leonard Cohen, kam das Echo aus der Runde. Cohen, der, gerade siebzig geworden, seine plötzliche Rückkehr auf die Konzertbühnen der Welt vor einem Jahr damit begründete, sein »Anlageberater habe ihn getäuscht und um sein gesamtes Vermögen gebracht«. Dies überraschende Comeback geriet allerdings zum Entzücken der 3000 Konzertbesucher

auf dem Marktplatz in Lörrach (bei Basel), wo die Samtbasskehle Cohen letztes Jahr ihre Deutschland-Tournee begann ... mit einer Band aus sechs Musikern und drei Frauenstimmen ... so gut wie nie, sagenhaft gut, berauschend. So die aktuelle Weltlage in der animierten Optik eines südbadischen Volleyball-Stammtischs, gemischt aus Lehrern im Ruhestand, ein paar Finanz-, Musik- und Rauschexperten, Fußballgurus sowieso, unterteilt in Weißbier-, Weißweinschorle- und Rotwein­ trinker. Ein Einziger hält streng zum Bitter Lemon. Zwei oder drei saugen (immer noch) an der Fluppe. Ich habe nachgedacht über diesen Befund. Frage: Soll man die wie eine Seuche zutage getretene Renditegier der Bankgesell­ schaften und Börsianer — Industriegesellschaften kann man, siehe etwa Island, ja gar nicht mehr sagen — tatsächlich unter Räuschen ab­handeln? Reicht hier nicht einfach ein Wort wie Gier; ein allerdings unbestimmtes Wort? Geldgier — gut, man kann nachvollziehen, dass gewisse Vorstellungen etwas Berauschendes haben; etwa jene, man gehe abends mit einer ganzen Million Dollar oder Euro auf dem Konto zum Speisen, wo man morgens mit nur einer halben Million ins Börsengeschäft gestiegen ist, per Broker oder online. Berauschend zumal für jene, für die die Million nur das Tütchen Peanuts ist. Den informierten Büchern entnehme ich, dass täglich 3000 Milliarden Dollar durch die Bilanzen des weltweiten Finanzkapitals laufen: der Rausch von Geldvermehrung ohne Arbeit, eine Art Paradiesversprechen, zu dessen Erfüllung nicht mehr nötig scheint oder schien, als ein wenig Glück und /oder ein fähiger gemieteter Börsenmensch. Und wonach suchen Räusche denn, wenn nicht nach Paradiesischem? Wie das (mildere) Suchtverhalten am Roulettetisch im Casino ja auch unter die Räusche zu rechnen ist. Wobei man im Casino immerhin weiß, woher das Geld kommt, das man dort gewinnt (die andern haben es verloren). Und man dort auch weiß, dass man meist eben nicht gewinnt. An der Börse aber, wo man nicht weiß, woher das Geld kommt: immer gewinnt. Muss wohl ein Rausch gewesen sein, ein ziemlich schwerer.


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— Auftakt

»Das Kunstwerk erhält seine endgültige Form erst im Hirn des Auf­ nehmenden.«

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— Auftakt

Essay

Die Gehirnbrause Hören, fühlen, schmecken, ertasten — viele Wege führen zum Rausch. Klaus Theweleit über den Eintritt in eine andere Wirklichkeit

»Nur wer halluziniert, erblickt das Reale.« Womit der Hautarzt, Lyriker und Worthalluzinator Gottfried Benn nicht etwa die sogenannten Realitäten gemeint hat, das harte Unausweich­liche des allgemeinen Arbeits- und Liebeslebens, sondern das wirklich Wirkliche der Wirklichkeiten, das unaufhörlich Anzusteuernde, die Kunst. Kein berauschender Abgang: Die Nachricht vom Ende Jürgen Klinsmanns als Trainer des FC Bayern München war zwei Tage alt, da sprach ein Mitspieler der Gruppe, in der ich jeden Mittwoch von 18:30 bis 20 Uhr in einer gemieteten Schulsporthalle zum Volleyball antrete — keine berauschenden Spiele, der Altersschnitt ist knapp über 60, in drei, vier Jahren können wir die Gruppe aufteilen in­ Ü-70- gegen U-70-Spieler —, einen Verdacht aus zur Rätselfrage, warum in aller Welt der smarte Sonnyboy Klinsmann sein sonni­ ges California verlassen und sich den Tort in München überhaupt angetan hätte — anzutreten unter Führungsdespoten wie Uli Hoeneß, Kaiser Beckenbauer, Rammzunge Rummenigge, zusätzlich beargwöhnt vom nimmermüden Mecker-Paul Breitner in der feindlichen »Bild«: Klinsmann sei Opfer eines Rausches geworden, sagte er. »Welchen Rausches denn, bitte?« »Des bis vor ein paar Monaten gängigsten Rausches; Renditerausch der amerikanischen (wie der globalen) Geldgesellschaft.« Wie viele andere, mutmaßt Mitspieler Wolf-Dieter, müsse der schwäbische US-Geschäftsmann Klinsmann sein Geld in faulen Finanzpapieren verzockt haben; sonst hätte er sich nie und nimmer an die Isar locken lassen, zum absehbaren Scheitern. Er brauchte wohl einfach die Kohle ... die 3,5 Millionen oder so ... musste wieder ins Rampenlicht ... auf den Acker ... musste wieder in einen Geldjob. Ja, wie der Sänger und Songwriter Leonard Cohen, kam das Echo aus der Runde. Cohen, der, gerade siebzig geworden, seine plötzliche Rückkehr auf die Konzertbühnen der Welt vor einem Jahr damit begründete, sein »Anlageberater habe ihn getäuscht und um sein gesamtes Vermögen gebracht«. Dies überraschende Comeback geriet allerdings zum Entzücken der 3000 Konzertbesucher

auf dem Marktplatz in Lörrach (bei Basel), wo die Samtbasskehle Cohen letztes Jahr ihre Deutschland-Tournee begann ... mit einer Band aus sechs Musikern und drei Frauenstimmen ... so gut wie nie, sagenhaft gut, berauschend. So die aktuelle Weltlage in der animierten Optik eines südbadischen Volleyball-Stammtischs, gemischt aus Lehrern im Ruhestand, ein paar Finanz-, Musik- und Rauschexperten, Fußballgurus sowieso, unterteilt in Weißbier-, Weißweinschorle- und Rotwein­ trinker. Ein Einziger hält streng zum Bitter Lemon. Zwei oder drei saugen (immer noch) an der Fluppe. Ich habe nachgedacht über diesen Befund. Frage: Soll man die wie eine Seuche zutage getretene Renditegier der Bankgesell­ schaften und Börsianer — Industriegesellschaften kann man, siehe etwa Island, ja gar nicht mehr sagen — tatsächlich unter Räuschen ab­handeln? Reicht hier nicht einfach ein Wort wie Gier; ein allerdings unbestimmtes Wort? Geldgier — gut, man kann nachvollziehen, dass gewisse Vorstellungen etwas Berauschendes haben; etwa jene, man gehe abends mit einer ganzen Million Dollar oder Euro auf dem Konto zum Speisen, wo man morgens mit nur einer halben Million ins Börsengeschäft gestiegen ist, per Broker oder online. Berauschend zumal für jene, für die die Million nur das Tütchen Peanuts ist. Den informierten Büchern entnehme ich, dass täglich 3000 Milliarden Dollar durch die Bilanzen des weltweiten Finanzkapitals laufen: der Rausch von Geldvermehrung ohne Arbeit, eine Art Paradiesversprechen, zu dessen Erfüllung nicht mehr nötig scheint oder schien, als ein wenig Glück und /oder ein fähiger gemieteter Börsenmensch. Und wonach suchen Räusche denn, wenn nicht nach Paradiesischem? Wie das (mildere) Suchtverhalten am Roulettetisch im Casino ja auch unter die Räusche zu rechnen ist. Wobei man im Casino immerhin weiß, woher das Geld kommt, das man dort gewinnt (die andern haben es verloren). Und man dort auch weiß, dass man meist eben nicht gewinnt. An der Börse aber, wo man nicht weiß, woher das Geld kommt: immer gewinnt. Muss wohl ein Rausch gewesen sein, ein ziemlich schwerer.


026

— Auftakt

Auf den ein ebenso schwerer Kater folgte bzw. noch folgt. Auch das spricht für genossene Berauschung. Der Hyper-Kater wirkt heftig nach. Wie sonst ist zu erklären, dass kaum jemand der kleineren Geldverschieber und -verlierer sich wirklich darüber beschwert, dass nun Tausende von Milliarden, wirklich Tausende, in Dollar, Euro oder Yen, in marode Banken überwiesen werden, auf die Konten eben jener Verzocker und Hasardeure, die für die sogenannte Finanzkrise verantwortlich sind — und zwar aus Staatshaushalten überwiesen! Und warum dies? Warum die Versuche der (erpressten) Politiker, jene Spezies vor dem finanziellen Untergang zu retten, die ihn selber eingeleitet und also mehr als verdient hat? Weil alle Sparer und Kleinanleger aller Länder fürchten, ihr Er­ spartes bei den Banken wäre sonst auf einen Schlag futsch, wie in einer der großen Inflationen nach den Weltkriegen. Sehr prekär. — Warum? Weil!* — Und dabei hatten wir doch gar keinen Krieg. Und schon gar keinen verlorenen. Oder? Oder? Das Reale, das man hier zu erblicken droht, ist die reale Pleite. »Staaten pleite« — ganz ohne Halluzi-Nation. (Frank Plasberg wird es — kühl aber fair — moderieren. Ungeheuer moderationswillig, die ganze kritische TV-Blase.)

— * In

den Wörtchen warum und weil feiert hier ein anderer uralter abendländi-

scher Rausch seine letzten Ausläufer: das kausale Denken, dessen wünschenswerten bzw. notwendigen Untergang Denker der klassischen Moderne wie u. a. Gottfried Benn so unentwegt wie vergeblich beschworen haben; erst in den Labyrinthismen der aktuellen Wege des internationalen Finanzkapitals ist das kausale Denken endgültig obsolet geworden. Kein Mensch kann das Warum und Weil der sog. »Krise« vernünftig herleiten. Zumindest hegt niemand der Beteiligten die ernsthafte Absicht. Die Wege Gottes und des Gelds sind unergründlich. »While money doesn’t talk it swears«, fand Bob Dylan 1965. »Geld kann nicht reden, aber es flucht.« Heute kann man hinzufügen: Es pfeift — auf jede Art Begründbarkeit. (»But it’s alright, Ma. I can make it.«)

Essay

Was mir bei alldem fehlt, um wirklich als Berauschung durchzugehen, ist der Wille zur Kunst; von Nietzsche eingefordert als Wille zur Macht: Absichtserklärung zur Bemächtigung der Welt und Weltläufte durch Räusche, Kunst-Räusche; eine klare Konkurrenz zum Programm des Kapitalismus der primären Akkumulation und dem absehbaren Imperial-Kapitalismus der Weltkriege. Seinen Satz vom Erblicken des Realen durch Halluzinieren hat Benn aus Nietzsche. Und dieser aus seinen gegen Ende des 19. Jahrhunderts qualvoll erfühlten Spätausläufern des antiken griechisch-dionysischen Kult- und Kunst-Wesens, das er zu beleben und zu verlängern suchte in den Denk- und Kunstrausch des aktuellen historischen Moments. (Von gebildeten KP-Stalinisten wie Georg Lukács denunziert als Hitlernähe.) Auf eben dieser Nietzsche-Welle schwimmt (taumelt, torkelt, werkelt, kämpft) mehr oder weniger ausgesprochen die klassische Moderne aller Kunstrichtungen, soweit sie sich als Avantgarde verstand; als Vorhut von Übertretern ins (noch) Ungekannte der menschlichen Erfahrungswelten. Transitions heißt die französische Zeitschrift der 20er-Jahre, die die meisten internationalen Autoren der Überschreitungs-Poetologien publiziert; Überschreitungen, die — von den Theater-Visionen Antonin Artauds bis zu den Underground-Comics von Robert Crumb, unter besonderem Einschluss fast aller großen Jazz- und Rockmusiker — nicht gedacht und praktiziert wurden ohne massiven Drogengebrauch. Man kommt nicht ganz leicht heraus aus den (Panzer-)Häuten der Alltäglichkeit (und man soll auch nicht so weit heraus; siehe das Weißbier der Sportler-Stammtische. Sonst funktionieren die Arbeitswelten nicht, auf die selbst die Labyrinthismen des Finanzkapitals irgendwie noch angewiesen scheinen). Am bündigsten formuliert hat dies im Gefolge von Rausch-Theoretikern wie Timothy Leary, musikalisch wie verbal, Jimi Hendrix im Titel seiner ersten eigenen LP: Are You Experienced; komplettiert im Song selber

027

— Auftakt

»Stücke von Jimi Hendrix bringen mich dazu, meine Körpergrenzen zu überschreiten.«

mit der Zeile: Or have you ever been experienced. Dieses »Bist du da gewesen«, »Hast du diese Erfahrung gemacht« bzw. »Hast du überhaupt eine Ahnung«, worum es hier geht? Bei der Überschreitung in Fremdes durch Kunst und Drogen ist der größte gemeinsame Nenner all jener, die nicht nur glauben, sondern zu wissen glauben, dass ohne die Erfahrung eines ganz bestimmten Drogengebrauchs gewisse Hirnregionen nicht richtig anspringen, wie Benn und Leary formulieren; »bestimmte Synapsenverschaltungen nicht passieren«, wie es die neue Hirnforschung ausdrückt. Synapsenverschaltungen, die notwendige Voraus­setzung sind zur Überschreitungsbewegung in andere Formen des Ich. Wobei zur geteilten Ansicht gehört, dass eine dieser Transfor­mationsdrogen die Künste sein können. Musik spielt dabei eine besondere Rolle, da das Gehör im vierten Monat der Schwangerschaft das erste voll ausgebildete Organ ist; das ungeborene Baby, wie der Psychoanalytiker und Musikforscher Sebastian Leikert formuliert, in einer »Laut­hülle« lebt /schwimmt; der ersten Frühform des »Ich«. Wo »Ich« wird, waren zuerst Töne; Töne aus der Mutter-Baby-Connection. Entscheidende Frage: Was wird überschritten, wohin geht die Transgression und wer oder was löst sie aus? Denn überschritten wird nicht nur ein bestimmter Hirnzustand (in einen anderen hinein); nein, die Überschreitung ist ein umfassenderer körperlicher Prozess. Ich habe in diesem Zusammenhang die Behauptung von einem dritten Körper entwickelt. Dritter Körper setzt voraus, dass da zwei andere sind. Das können zwei menschliche Körper sein, aber auch ein menschlicher Körper und der Körper eines »Mediums«, die Körperlichkeit eines Tonträgers oder eines Gemäldes. Mir ist das, als theoretische Einsicht, zuerst an Musik aufgegangen. Bestimmte Hendrix-Stücke, in angemessener Lautstärke (= physischer Präsenz) gehört, brachten Teile von mir nicht nur »ins Schwingen«, wie man richtig sagt, sondern tendierten dazu, meinen Körper zu verlassen, d. h. meine Körpergrenzen zu überschreiten und sich im Raum mit Teilen der Musik zu einem neuen Körper zu verbinden, mit dem wiederum »Ich« mich zu etwas Neuem verbinden konnte; eine Wahrnehmung, die ganz unmetaphorisch, rauschhaft war/ist.

Solche Metamorphosen in eine andere Körperlichkeit hinein waren und sind haltbar. Man bekommt eine andere Zellstruktur. Nicht nur für bestimmte Musikformen ist der eigene Körper ab da verloren, sondern für bestimmte Haltungen der Welt und anderen Menschen gegenüber. Liebes- und Freundschaftsmöglichkeiten schränken sich massiv ein; und weiten sich andererseits aus auf neue Möglichkeiten. Woran mir aufging, dass ich dies Gefühl des dritten Körpers ja bereits kannte: aus den Verschlingungsvorgängen der körperlichen Liebe. In der Liebesumarmung entsteht ebenfalls eine dritte Figur zwischen den Liebenden, die sie gemeinsam erzeugen und in der beide sich verändern in Überschreitungen in bis da ungekannte Gefühlswelten. Das bringt einen Punkt ins Spiel, den wichtigsten überhaupt: Die berauschende Übertretung passiert zwischen zweien; zwischen zwei Menschen oder einem Menschen und einem Kunstpol. Eine Beobachtung des britischen Analytikers D. W. Winnicott führte dann auf die Wahrnehmung, dass Ähnliches in der psycho­ analytischen Situation passieren kann. Ein Patient Winnicotts hatte das Gefühl, er rolle von der Couch, falle aber merkwürdiger­weise nicht zu Boden. Dann müsse da ein Medium sein, das ihn trüge, sagte der Analytiker. Ja, ich schwimme darin wie die Kugeln im Öl eines Kugellagers, sagte der Patient — ein Ingenieur. Sieht man sich die analytische Situation auf solche Momente an — die bei Freud Probehandeln in einem neuen Körper heißen —, kommt man auf eine Beschreibung, die der eines dritten Körpers, wie dem zwischen mir und der Hendrix-Musik, ziemlich gleicht. Von Kritikern dieser Wahrnehmung, denen die Formulierung eines dritten Körpers zu materiell, zu physisch war, vorsichtig gemacht, habe ich dann Schwingungsobjekt vorgeschlagen; in Anlehnung an Winnicotts Übergangsobjekt: der Teddybär als Objektmittler zwischen Baby­lippen und (abwesender) Mutterbrust. Um kurz darauf beim amerikanischen Analytiker Thomas Ogden den definitiven Begriff »drittes Subjekt« zu finden für genau den Vorgang in der Analyse, den ich hier beschreibe. Nach Ogden ist dies »dritte Subjekt« das eigentliche Subjekt der Analyse. Und was sich abspiele zwischen ihm und


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Auf den ein ebenso schwerer Kater folgte bzw. noch folgt. Auch das spricht für genossene Berauschung. Der Hyper-Kater wirkt heftig nach. Wie sonst ist zu erklären, dass kaum jemand der kleineren Geldverschieber und -verlierer sich wirklich darüber beschwert, dass nun Tausende von Milliarden, wirklich Tausende, in Dollar, Euro oder Yen, in marode Banken überwiesen werden, auf die Konten eben jener Verzocker und Hasardeure, die für die sogenannte Finanzkrise verantwortlich sind — und zwar aus Staatshaushalten überwiesen! Und warum dies? Warum die Versuche der (erpressten) Politiker, jene Spezies vor dem finanziellen Untergang zu retten, die ihn selber eingeleitet und also mehr als verdient hat? Weil alle Sparer und Kleinanleger aller Länder fürchten, ihr Er­ spartes bei den Banken wäre sonst auf einen Schlag futsch, wie in einer der großen Inflationen nach den Weltkriegen. Sehr prekär. — Warum? Weil!* — Und dabei hatten wir doch gar keinen Krieg. Und schon gar keinen verlorenen. Oder? Oder? Das Reale, das man hier zu erblicken droht, ist die reale Pleite. »Staaten pleite« — ganz ohne Halluzi-Nation. (Frank Plasberg wird es — kühl aber fair — moderieren. Ungeheuer moderationswillig, die ganze kritische TV-Blase.)

— * In

den Wörtchen warum und weil feiert hier ein anderer uralter abendländi-

scher Rausch seine letzten Ausläufer: das kausale Denken, dessen wünschenswerten bzw. notwendigen Untergang Denker der klassischen Moderne wie u. a. Gottfried Benn so unentwegt wie vergeblich beschworen haben; erst in den Labyrinthismen der aktuellen Wege des internationalen Finanzkapitals ist das kausale Denken endgültig obsolet geworden. Kein Mensch kann das Warum und Weil der sog. »Krise« vernünftig herleiten. Zumindest hegt niemand der Beteiligten die ernsthafte Absicht. Die Wege Gottes und des Gelds sind unergründlich. »While money doesn’t talk it swears«, fand Bob Dylan 1965. »Geld kann nicht reden, aber es flucht.« Heute kann man hinzufügen: Es pfeift — auf jede Art Begründbarkeit. (»But it’s alright, Ma. I can make it.«)

Essay

Was mir bei alldem fehlt, um wirklich als Berauschung durchzugehen, ist der Wille zur Kunst; von Nietzsche eingefordert als Wille zur Macht: Absichtserklärung zur Bemächtigung der Welt und Weltläufte durch Räusche, Kunst-Räusche; eine klare Konkurrenz zum Programm des Kapitalismus der primären Akkumulation und dem absehbaren Imperial-Kapitalismus der Weltkriege. Seinen Satz vom Erblicken des Realen durch Halluzinieren hat Benn aus Nietzsche. Und dieser aus seinen gegen Ende des 19. Jahrhunderts qualvoll erfühlten Spätausläufern des antiken griechisch-dionysischen Kult- und Kunst-Wesens, das er zu beleben und zu verlängern suchte in den Denk- und Kunstrausch des aktuellen historischen Moments. (Von gebildeten KP-Stalinisten wie Georg Lukács denunziert als Hitlernähe.) Auf eben dieser Nietzsche-Welle schwimmt (taumelt, torkelt, werkelt, kämpft) mehr oder weniger ausgesprochen die klassische Moderne aller Kunstrichtungen, soweit sie sich als Avantgarde verstand; als Vorhut von Übertretern ins (noch) Ungekannte der menschlichen Erfahrungswelten. Transitions heißt die französische Zeitschrift der 20er-Jahre, die die meisten internationalen Autoren der Überschreitungs-Poetologien publiziert; Überschreitungen, die — von den Theater-Visionen Antonin Artauds bis zu den Underground-Comics von Robert Crumb, unter besonderem Einschluss fast aller großen Jazz- und Rockmusiker — nicht gedacht und praktiziert wurden ohne massiven Drogengebrauch. Man kommt nicht ganz leicht heraus aus den (Panzer-)Häuten der Alltäglichkeit (und man soll auch nicht so weit heraus; siehe das Weißbier der Sportler-Stammtische. Sonst funktionieren die Arbeitswelten nicht, auf die selbst die Labyrinthismen des Finanzkapitals irgendwie noch angewiesen scheinen). Am bündigsten formuliert hat dies im Gefolge von Rausch-Theoretikern wie Timothy Leary, musikalisch wie verbal, Jimi Hendrix im Titel seiner ersten eigenen LP: Are You Experienced; komplettiert im Song selber

027

— Auftakt

»Stücke von Jimi Hendrix bringen mich dazu, meine Körpergrenzen zu überschreiten.«

mit der Zeile: Or have you ever been experienced. Dieses »Bist du da gewesen«, »Hast du diese Erfahrung gemacht« bzw. »Hast du überhaupt eine Ahnung«, worum es hier geht? Bei der Überschreitung in Fremdes durch Kunst und Drogen ist der größte gemeinsame Nenner all jener, die nicht nur glauben, sondern zu wissen glauben, dass ohne die Erfahrung eines ganz bestimmten Drogengebrauchs gewisse Hirnregionen nicht richtig anspringen, wie Benn und Leary formulieren; »bestimmte Synapsenverschaltungen nicht passieren«, wie es die neue Hirnforschung ausdrückt. Synapsenverschaltungen, die notwendige Voraus­setzung sind zur Überschreitungsbewegung in andere Formen des Ich. Wobei zur geteilten Ansicht gehört, dass eine dieser Transfor­mationsdrogen die Künste sein können. Musik spielt dabei eine besondere Rolle, da das Gehör im vierten Monat der Schwangerschaft das erste voll ausgebildete Organ ist; das ungeborene Baby, wie der Psychoanalytiker und Musikforscher Sebastian Leikert formuliert, in einer »Laut­hülle« lebt /schwimmt; der ersten Frühform des »Ich«. Wo »Ich« wird, waren zuerst Töne; Töne aus der Mutter-Baby-Connection. Entscheidende Frage: Was wird überschritten, wohin geht die Transgression und wer oder was löst sie aus? Denn überschritten wird nicht nur ein bestimmter Hirnzustand (in einen anderen hinein); nein, die Überschreitung ist ein umfassenderer körperlicher Prozess. Ich habe in diesem Zusammenhang die Behauptung von einem dritten Körper entwickelt. Dritter Körper setzt voraus, dass da zwei andere sind. Das können zwei menschliche Körper sein, aber auch ein menschlicher Körper und der Körper eines »Mediums«, die Körperlichkeit eines Tonträgers oder eines Gemäldes. Mir ist das, als theoretische Einsicht, zuerst an Musik aufgegangen. Bestimmte Hendrix-Stücke, in angemessener Lautstärke (= physischer Präsenz) gehört, brachten Teile von mir nicht nur »ins Schwingen«, wie man richtig sagt, sondern tendierten dazu, meinen Körper zu verlassen, d. h. meine Körpergrenzen zu überschreiten und sich im Raum mit Teilen der Musik zu einem neuen Körper zu verbinden, mit dem wiederum »Ich« mich zu etwas Neuem verbinden konnte; eine Wahrnehmung, die ganz unmetaphorisch, rauschhaft war/ist.

Solche Metamorphosen in eine andere Körperlichkeit hinein waren und sind haltbar. Man bekommt eine andere Zellstruktur. Nicht nur für bestimmte Musikformen ist der eigene Körper ab da verloren, sondern für bestimmte Haltungen der Welt und anderen Menschen gegenüber. Liebes- und Freundschaftsmöglichkeiten schränken sich massiv ein; und weiten sich andererseits aus auf neue Möglichkeiten. Woran mir aufging, dass ich dies Gefühl des dritten Körpers ja bereits kannte: aus den Verschlingungsvorgängen der körperlichen Liebe. In der Liebesumarmung entsteht ebenfalls eine dritte Figur zwischen den Liebenden, die sie gemeinsam erzeugen und in der beide sich verändern in Überschreitungen in bis da ungekannte Gefühlswelten. Das bringt einen Punkt ins Spiel, den wichtigsten überhaupt: Die berauschende Übertretung passiert zwischen zweien; zwischen zwei Menschen oder einem Menschen und einem Kunstpol. Eine Beobachtung des britischen Analytikers D. W. Winnicott führte dann auf die Wahrnehmung, dass Ähnliches in der psycho­ analytischen Situation passieren kann. Ein Patient Winnicotts hatte das Gefühl, er rolle von der Couch, falle aber merkwürdiger­weise nicht zu Boden. Dann müsse da ein Medium sein, das ihn trüge, sagte der Analytiker. Ja, ich schwimme darin wie die Kugeln im Öl eines Kugellagers, sagte der Patient — ein Ingenieur. Sieht man sich die analytische Situation auf solche Momente an — die bei Freud Probehandeln in einem neuen Körper heißen —, kommt man auf eine Beschreibung, die der eines dritten Körpers, wie dem zwischen mir und der Hendrix-Musik, ziemlich gleicht. Von Kritikern dieser Wahrnehmung, denen die Formulierung eines dritten Körpers zu materiell, zu physisch war, vorsichtig gemacht, habe ich dann Schwingungsobjekt vorgeschlagen; in Anlehnung an Winnicotts Übergangsobjekt: der Teddybär als Objektmittler zwischen Baby­lippen und (abwesender) Mutterbrust. Um kurz darauf beim amerikanischen Analytiker Thomas Ogden den definitiven Begriff »drittes Subjekt« zu finden für genau den Vorgang in der Analyse, den ich hier beschreibe. Nach Ogden ist dies »dritte Subjekt« das eigentliche Subjekt der Analyse. Und was sich abspiele zwischen ihm und


042

— Rausch

Popmusik

no, no, no

Die Sängerin Amy Winehouse lebt den Mythos der suizidalen Rockkarriere. Protokoll einer Begegnung im Hinterzimmer des Ruhms

— Anne Philippi Illustrationen — Berto Martinez Text

Oslo ist düster. Die Sonne verschwindet im Winter gegen zwei Uhr mittags. Ich war angereist, um für das Berliner Magazin »Vanity Fair« Amy Winehouse zu interviewen, den größten Star, den das Popgeschäft Ende 2007 zu bieten hatte. Die Leute pfiffen ihren Hit »Rehab« auf den Straßen: »They tried to make me go to rehab but I said no, no, no«. In der Redaktion lagen jeden Morgen neue Paparazzi-Bilder von ihr auf dem Tisch: Amy Winehouse in drecki­ gen, schwarzen Jeans und blutbespritzten Ballerinas von Repetto, McDonald’s-Tüten in der Hand. Amy Winehouse mit dreckigen, schwarzen Jeans und nur einem BH durch eine kalte Londoner Nacht irrend, mit verdrehten Augen und weißem Pulver an den Nasenflügeln, leichenblass. Amy Winehouse spielt nicht nur Musik wie aus den 60er-Jahren, sie führt sich auch auf wie jene Musiker der beginnenden Popära, deren Geschichten man nur aus den Erzählungen der älteren Kollegen kannte: Musiker, die im Rausch während eines Interviews plötzlich aus dem Fenster springen wollten oder einfach einschliefen. Diesen Kitzel hat die Sängerin wiederbelebt. Sieht das Publikum eines Winehouse-Konzertes eine bewusste Selbstinszenierung als Drogendiva oder einen öffentlichen Selbstmord auf Raten? Die Frage kann nicht beantwortet werden und gerade das weckt Interesse an einer hochtalentierten Sängerin, wie es die Aufmerksamkeitsindustrie seit der Schädelrasur von Britney Spears nicht mehr verbuchen konnte. Der Termin hatte etwa zehn Anläufe mit Zu- und Absagen benötigt, was auch dem Tourmanager Thom Stone etwas zu viel war. Nach dieser Tour würde Thom kündigen. Ein Arzt hatte ihm mitgeteilt, in seinem Blut befände sich Heroin. Ob er das wisse? Thom ahnte es, denn er fuhr täglich mit im Tourbus, in dem Heroin geraucht wurde, wenn auch nicht von ihm. Der Arzt sagte, Thom würde »passiv Heroin rauchen«. Zwischendurch saß Amy Winehouse im Gefängnis von Bergen, weil sie mit ihrem Mann Blake im Hotelzimmer Marihuana geraucht haben soll. Würde sie rechtzeitig vor dem Konzert in Oslo freikommen?

Thom, Ende zwanzig, höflich, mit Anzügen aus London, hat einen Albtraumjob: Er steht in der kalten Bruchbuden-Garderobe hinter der Bühne. Nebenan, nur getrennt durch eine dünne Holzwand, sitzt Amy Winehouse. Thom ruft hinüber, ganz nett: »Amy, kommst du bitte rüber? Das Interview.« »Ich kann dich hören   ...«, krächzt Amy Winehouse zurück und es klingt, als ob ein bisher unbekanntes Tier nebenan sitzt und seine Krallen schärft. Thom versucht sein Glück erneut. Er versucht es mindestens ein Dutzend Mal. Nichts passiert. Thom sagt: »Ich kann nichts versprechen.« Dann fliegt die Tür auf. Ein Geschöpf trippelt auf den Spitzen verdreckter Ballerinas, die ursprünglich einmal roséfarben gewesen waren, in den Raum und weiß nicht genau, wo es hin soll. Es trägt einen Fred-Perry-Pullover als Minikleid, einen weißen Baumwoll­ slip, prima zu sehen, jede Menge Ketten um den dünnen Hals. Die lange Haarmatte, pechschwarz, hängt bis in die Kniekehlen. Mitten im Raum steht also ein beschädigter kleiner Rabe, dessen Augen sich offenbar nur halb öffnen lassen. »Amy, setz dich hierhin für das Interview.« Thom schiebt ihr einen alten Sessel unter den kaum vorhandenen Hintern. »Ah ... Interview ...«, flüstert Amy und reicht ihre Hand, auf die winzige Buchstaben tätowiert sind. Welche Substanz sie eingenommen hat und wie, ist nicht ganz klar. Kokain kann man ausschließen. Sie macht alles sehr, sehr langsam, ihre Pupillen haben Stecknadelgröße, sie scheint jeden Moment einzunicken. Immerhin, sie ist erschienen, sitzt mir gegenüber, einigermaßen jedenfalls. An einem Schreibtisch, gebastelt aus Lautsprecherboxen, sitzt ihr Mann Blake Fielder-Civil. Er starrt auf seinen Computer. E-Mail-Verschickungsklingeln. Kein Blickkontakt mit seiner Frau, sein Gebiss mahlt vor sich hin. Nicht klar ist: Sind wir hier einfach nur backstage bei Amy Winehouse oder doch schon im Theaterstück »Sid und Nancy«? Klar ist: Jeden Info-Fetzen muss man mitnehmen, jede Antwort ist ein einziger Tanz um ihren Zustand, über den nicht geredet wird. Trotzdem: Versuch eines Gesprächs.


042

— Rausch

Popmusik

no, no, no

Die Sängerin Amy Winehouse lebt den Mythos der suizidalen Rockkarriere. Protokoll einer Begegnung im Hinterzimmer des Ruhms

— Anne Philippi Illustrationen — Berto Martinez Text

Oslo ist düster. Die Sonne verschwindet im Winter gegen zwei Uhr mittags. Ich war angereist, um für das Berliner Magazin »Vanity Fair« Amy Winehouse zu interviewen, den größten Star, den das Popgeschäft Ende 2007 zu bieten hatte. Die Leute pfiffen ihren Hit »Rehab« auf den Straßen: »They tried to make me go to rehab but I said no, no, no«. In der Redaktion lagen jeden Morgen neue Paparazzi-Bilder von ihr auf dem Tisch: Amy Winehouse in drecki­ gen, schwarzen Jeans und blutbespritzten Ballerinas von Repetto, McDonald’s-Tüten in der Hand. Amy Winehouse mit dreckigen, schwarzen Jeans und nur einem BH durch eine kalte Londoner Nacht irrend, mit verdrehten Augen und weißem Pulver an den Nasenflügeln, leichenblass. Amy Winehouse spielt nicht nur Musik wie aus den 60er-Jahren, sie führt sich auch auf wie jene Musiker der beginnenden Popära, deren Geschichten man nur aus den Erzählungen der älteren Kollegen kannte: Musiker, die im Rausch während eines Interviews plötzlich aus dem Fenster springen wollten oder einfach einschliefen. Diesen Kitzel hat die Sängerin wiederbelebt. Sieht das Publikum eines Winehouse-Konzertes eine bewusste Selbstinszenierung als Drogendiva oder einen öffentlichen Selbstmord auf Raten? Die Frage kann nicht beantwortet werden und gerade das weckt Interesse an einer hochtalentierten Sängerin, wie es die Aufmerksamkeitsindustrie seit der Schädelrasur von Britney Spears nicht mehr verbuchen konnte. Der Termin hatte etwa zehn Anläufe mit Zu- und Absagen benötigt, was auch dem Tourmanager Thom Stone etwas zu viel war. Nach dieser Tour würde Thom kündigen. Ein Arzt hatte ihm mitgeteilt, in seinem Blut befände sich Heroin. Ob er das wisse? Thom ahnte es, denn er fuhr täglich mit im Tourbus, in dem Heroin geraucht wurde, wenn auch nicht von ihm. Der Arzt sagte, Thom würde »passiv Heroin rauchen«. Zwischendurch saß Amy Winehouse im Gefängnis von Bergen, weil sie mit ihrem Mann Blake im Hotelzimmer Marihuana geraucht haben soll. Würde sie rechtzeitig vor dem Konzert in Oslo freikommen?

Thom, Ende zwanzig, höflich, mit Anzügen aus London, hat einen Albtraumjob: Er steht in der kalten Bruchbuden-Garderobe hinter der Bühne. Nebenan, nur getrennt durch eine dünne Holzwand, sitzt Amy Winehouse. Thom ruft hinüber, ganz nett: »Amy, kommst du bitte rüber? Das Interview.« »Ich kann dich hören   ...«, krächzt Amy Winehouse zurück und es klingt, als ob ein bisher unbekanntes Tier nebenan sitzt und seine Krallen schärft. Thom versucht sein Glück erneut. Er versucht es mindestens ein Dutzend Mal. Nichts passiert. Thom sagt: »Ich kann nichts versprechen.« Dann fliegt die Tür auf. Ein Geschöpf trippelt auf den Spitzen verdreckter Ballerinas, die ursprünglich einmal roséfarben gewesen waren, in den Raum und weiß nicht genau, wo es hin soll. Es trägt einen Fred-Perry-Pullover als Minikleid, einen weißen Baumwoll­ slip, prima zu sehen, jede Menge Ketten um den dünnen Hals. Die lange Haarmatte, pechschwarz, hängt bis in die Kniekehlen. Mitten im Raum steht also ein beschädigter kleiner Rabe, dessen Augen sich offenbar nur halb öffnen lassen. »Amy, setz dich hierhin für das Interview.« Thom schiebt ihr einen alten Sessel unter den kaum vorhandenen Hintern. »Ah ... Interview ...«, flüstert Amy und reicht ihre Hand, auf die winzige Buchstaben tätowiert sind. Welche Substanz sie eingenommen hat und wie, ist nicht ganz klar. Kokain kann man ausschließen. Sie macht alles sehr, sehr langsam, ihre Pupillen haben Stecknadelgröße, sie scheint jeden Moment einzunicken. Immerhin, sie ist erschienen, sitzt mir gegenüber, einigermaßen jedenfalls. An einem Schreibtisch, gebastelt aus Lautsprecherboxen, sitzt ihr Mann Blake Fielder-Civil. Er starrt auf seinen Computer. E-Mail-Verschickungsklingeln. Kein Blickkontakt mit seiner Frau, sein Gebiss mahlt vor sich hin. Nicht klar ist: Sind wir hier einfach nur backstage bei Amy Winehouse oder doch schon im Theaterstück »Sid und Nancy«? Klar ist: Jeden Info-Fetzen muss man mitnehmen, jede Antwort ist ein einziger Tanz um ihren Zustand, über den nicht geredet wird. Trotzdem: Versuch eines Gesprächs.


044

— Rausch

Frage: »Genießen Sie die Tour bisher?« Winehouse: »Eh ... ich weiß gar nicht so ganz genau ... sag mal Thom, das ist unsere fünfte Show ... Thom, ist es die fünfte Show? (Ihr Tonfall: scharf, ihr Akzent: so londonerisch wie nur möglich.) Thom: »Ja, Amy, es ist die fünfte Show.« (Es waren schon mehr als fünf Shows, doch Thom ist offenbar klug.) Winehouse: »Auf Tour sein ist wie ... ich weiß es nicht.« (Amys rechtes Auge saust auf Halbmast.) Frage: »Mögen Sie es, auf der Bühne zu sein?« Winehouse: »Ich liebe es.« (Beide Augen zu, es dauert eine Minute, bis das linke Auge wieder aufgeht, es klingt, als wäre Sprechen Schwerstarbeit, Reibeisenstimmlage.) Frage: »Auf Ihren Konzerten sieht man wenige Teenager, eher etablierte Jazzfans ... Winehouse: »Meine Stimme ist alt ... definitiv ... alt.« (Das rechte Auge geht auch auf, beide Augen auf, sie blickt auf ihre Unterhose.) Frage: »Betrachten Sie sich selbst als Rockstar?« Winehouse: »Ich gehe davon aus, dass ich Jazzsängerin bin. Ich fand immer schon Sarah Vaughn gut.« Frage: »Was ist mit Billie Holiday?« Winehouse: »O nein, zu düster, die Sache ... über ihr ist ein Schatten.« (Amy versucht, eine Fussel aus ihrem Haar zu ziehen, aber da ist keine Fussel.) »Hey ... hab ich bisher noch nicht gemerkt ... über Billie Holiday ist ein Schatten.« (Sie schnippt mit dem Finger: »Hey, hey Billie ...«) Frage: »Woher kommt die Inspiration für Ihren Look? Sprechen Sie mit Freundinnen?« Winehouse: »Ich tue so was nicht. Ich höre auf niemanden ... Ich sehe selbst, wie ich bin.« Frage: »Wie steht’s mit ihrer ›Vogue‹-Lektüre?« Winehouse: »Als Kind hatte ich ›Vogue‹ abonniert. Ich will einen Beautysalon haben. Wie Blakes Mutter.« Auftritt Blake. Amys Mann hat das Gesicht eines hinterhältigen Dackels. Er ist viel nervöser als sie. Die Vermutung, dass hier

045

Amphetamine im Spiel sind, liegt nahe. Blake hackt etwas in seinen Computer und lächelt unangenehm. Amy hält es keine Minute aus, ohne ihn anzusprechen. Winehouse: »Blake ... Baby ...« Blake: »Ja.« (Ein kurzes, abgehacktes Ja.) Winehouse: »Wie heißt der Salon deiner Mutter?« Blake: »Was weiß ich? Nana Banana? Good Looking Death?« (Man hört die Tastengeräusche, so sehr drischt er auf seinen Computer ein.) Frage: »Sämtliche Superstars wollen mit Ihnen einen Song aufnehmen: Mick Jagger, Prince ...« Winehouse: »Es ist ... cool.« (Ihre Augenlider sausen nach unten, die Augen bleiben erst mal zu. Amy flüstert: »Kann ich eine Zigarette haben?« Thom reicht ihr eine wahrscheinlich handelsübliche Zigarette. Sie nimmt die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, beide sind rabenschwarz. Amy reißt die Augen auf und krächzt Richtung Blake: »Ich seh dich, du kleiner Affe, ich seh dich!« Blakes Reaktion: null. Sie raucht, ascht in ihre kleine Hand. »Tut das nicht weh?« — »Was?«) Winehouse: »Ich habe mit Prince gesungen ...« Frage: »Wie war es?« Winehouse: »Surreal. Ja, surreal. Er mag meine Songs.« Frage: »Wie finden Sie es, 24 Stunden in der Klatschpresse zu sein?« Winehouse: »Sie hacken oft auf Blake herum. Und wenn es ihn betrifft, betrifft es auch mich.« Frage: »Ihre Schlagzeilen interessieren Sie nicht?« Winehouse: »Null bis eins. Eher null.« (Amys Stimme ist jetzt an Heiserkeit kaum mehr zu über­ bieten. Thom bringt dezent seine Uhr ins Spiel. Es wäre jetzt mal Zeit, auf die Bühne zu gehen.) Winehouse: »Cool. Wir können immer weiter reden.« (Kann man es wagen, nach ihrer Produktionsweise zu fragen? Ein dezenter Versuch.) Frage: »Wie fangen Sie an, wenn Sie einen Song schreiben?«

— Rausch

Winehouse: »Ich ... als ich Blake getroffen habe ... war ich so am Ende. (Pause von 40 Sekunden.) Mein Herz war weg. (Amy wechselt in einen Singsang, sie singt den Satz beinahe.) Dann traf ich Blaaaaake. Ich fühlte unsere Begegnung so heftig ... so konnte ich dieses verdammte Album schreiben. Und ich habe Musik aus den 60ern gehört. Ja, das hab ich gemacht.« Frage: »Mit dem Produzenten Marc Ronson zusammen?« Winehouse: »Wer?« (»Darling, bist du okay?« Blake verzieht seine dünnes Gesicht. »Du Affe ..., Affe ...«, krächzt Amy.) Frage: »Wollten Sie als Kind Sängerin werden?« Winehouse: »Nein. Ich war mal Journalistin. Ich will heute Hausfrau sein. Ich bin ja verheiratet.« Frage: »Was ist gut am Hausfrau-Sein?« Winehouse: »Das Saubermachen ... Ja, das ist es. Ich putze mein Haus ...« (Thom bittet, wohlerzogen: »Bitte, Amy, wir sind spät dran, du musst jetzt raus auf die Bühne.« Amy macht es sich nun richtig gemütlich auf dem alten Sessel. Sie setzt sich in den Schneidersitz, lehnt sich zurück wie jemand, der erst mal vorhat, aus diesem Sessel nicht so schnell aufzustehen.) Winehouse: »Komm, komm, komm! Wir haben noch ein paar Minütchen.« Frage: »Paul Weller sagt, Sie wären das beste Vorbild, das eine Sängerin haben könnte ...« Winehouse: »Er ist cool. Er hat eine gute Frisur. Er hat gut aus­ sehende Kinder. Blake, er hat gut aussehende Kinder, richtig?« (Amy lehnt sich gefährlich weit aus dem Sessel und wartet auf Blakes Reaktion.) Blake: »Sie sehen aus wie schwule Transvestiten aus der Hölle!« (Blake ist mit seinem Kommentar hochzufrieden.) Winehouse: »Nein, verdammter Mist, sie sind hübsch, die Kinder!« (Amy wirft einen vollen Plastikbecher nach Blake und trifft nicht. Thom stellt sich vor Amy: »Wir müssen jetzt aufhören, es ist verdammt noch mal Zeit, auf die Bühne zu gehen.« Die drei anderen

Popmusik

Entourage-Mitglieder im Raum wursteln wortlos vor sich hin. Niemand will das Biest reizen.) Winehouse: »Hör mal, Thom, hier sitzt eine nette Lady vor mir. Ich will noch eine Frage.« (Interessenkonflikt bei Thom, er bereut seinen Einsatz für das Interview.) Frage: »Wie finden Sie es, dass Ihre Eltern genauso wie Sie in den Boulevardzeitungen stehen?« Winehouse: »Oh ... ich war nicht da in den letzten Tagen. Mein Vater ist heute hier ... Fragen Sie ihn am besten ... er kommt gleich. Papa? Ich sagte Papa!« Amy tritt später auf die Bühne. In der Hand wie immer ein braunes, merkwürdiges Getränk, es sieht aus wie Hustensaft. Sie rennt ständig backstage, um Blake zu küssen. Ihre Band spielt notfalls ohne sie weiter. Ihre Background-Sänger singen notfalls ohne sie weiter. Ob Amy anwesend ist, entscheidet bis heute niemand. Nicht mal Amy.

Anne Philippi interviewt seit vielen Jahren Stars aus Film und Pop, u. a. für »Qvest«, »Vanity Fair« und den »Spiegel«.


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— Rausch

Frage: »Genießen Sie die Tour bisher?« Winehouse: »Eh ... ich weiß gar nicht so ganz genau ... sag mal Thom, das ist unsere fünfte Show ... Thom, ist es die fünfte Show? (Ihr Tonfall: scharf, ihr Akzent: so londonerisch wie nur möglich.) Thom: »Ja, Amy, es ist die fünfte Show.« (Es waren schon mehr als fünf Shows, doch Thom ist offenbar klug.) Winehouse: »Auf Tour sein ist wie ... ich weiß es nicht.« (Amys rechtes Auge saust auf Halbmast.) Frage: »Mögen Sie es, auf der Bühne zu sein?« Winehouse: »Ich liebe es.« (Beide Augen zu, es dauert eine Minute, bis das linke Auge wieder aufgeht, es klingt, als wäre Sprechen Schwerstarbeit, Reibeisenstimmlage.) Frage: »Auf Ihren Konzerten sieht man wenige Teenager, eher etablierte Jazzfans ... Winehouse: »Meine Stimme ist alt ... definitiv ... alt.« (Das rechte Auge geht auch auf, beide Augen auf, sie blickt auf ihre Unterhose.) Frage: »Betrachten Sie sich selbst als Rockstar?« Winehouse: »Ich gehe davon aus, dass ich Jazzsängerin bin. Ich fand immer schon Sarah Vaughn gut.« Frage: »Was ist mit Billie Holiday?« Winehouse: »O nein, zu düster, die Sache ... über ihr ist ein Schatten.« (Amy versucht, eine Fussel aus ihrem Haar zu ziehen, aber da ist keine Fussel.) »Hey ... hab ich bisher noch nicht gemerkt ... über Billie Holiday ist ein Schatten.« (Sie schnippt mit dem Finger: »Hey, hey Billie ...«) Frage: »Woher kommt die Inspiration für Ihren Look? Sprechen Sie mit Freundinnen?« Winehouse: »Ich tue so was nicht. Ich höre auf niemanden ... Ich sehe selbst, wie ich bin.« Frage: »Wie steht’s mit ihrer ›Vogue‹-Lektüre?« Winehouse: »Als Kind hatte ich ›Vogue‹ abonniert. Ich will einen Beautysalon haben. Wie Blakes Mutter.« Auftritt Blake. Amys Mann hat das Gesicht eines hinterhältigen Dackels. Er ist viel nervöser als sie. Die Vermutung, dass hier

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Amphetamine im Spiel sind, liegt nahe. Blake hackt etwas in seinen Computer und lächelt unangenehm. Amy hält es keine Minute aus, ohne ihn anzusprechen. Winehouse: »Blake ... Baby ...« Blake: »Ja.« (Ein kurzes, abgehacktes Ja.) Winehouse: »Wie heißt der Salon deiner Mutter?« Blake: »Was weiß ich? Nana Banana? Good Looking Death?« (Man hört die Tastengeräusche, so sehr drischt er auf seinen Computer ein.) Frage: »Sämtliche Superstars wollen mit Ihnen einen Song aufnehmen: Mick Jagger, Prince ...« Winehouse: »Es ist ... cool.« (Ihre Augenlider sausen nach unten, die Augen bleiben erst mal zu. Amy flüstert: »Kann ich eine Zigarette haben?« Thom reicht ihr eine wahrscheinlich handelsübliche Zigarette. Sie nimmt die Zigarette zwischen Zeigefinger und Daumen, beide sind rabenschwarz. Amy reißt die Augen auf und krächzt Richtung Blake: »Ich seh dich, du kleiner Affe, ich seh dich!« Blakes Reaktion: null. Sie raucht, ascht in ihre kleine Hand. »Tut das nicht weh?« — »Was?«) Winehouse: »Ich habe mit Prince gesungen ...« Frage: »Wie war es?« Winehouse: »Surreal. Ja, surreal. Er mag meine Songs.« Frage: »Wie finden Sie es, 24 Stunden in der Klatschpresse zu sein?« Winehouse: »Sie hacken oft auf Blake herum. Und wenn es ihn betrifft, betrifft es auch mich.« Frage: »Ihre Schlagzeilen interessieren Sie nicht?« Winehouse: »Null bis eins. Eher null.« (Amys Stimme ist jetzt an Heiserkeit kaum mehr zu über­ bieten. Thom bringt dezent seine Uhr ins Spiel. Es wäre jetzt mal Zeit, auf die Bühne zu gehen.) Winehouse: »Cool. Wir können immer weiter reden.« (Kann man es wagen, nach ihrer Produktionsweise zu fragen? Ein dezenter Versuch.) Frage: »Wie fangen Sie an, wenn Sie einen Song schreiben?«

— Rausch

Winehouse: »Ich ... als ich Blake getroffen habe ... war ich so am Ende. (Pause von 40 Sekunden.) Mein Herz war weg. (Amy wechselt in einen Singsang, sie singt den Satz beinahe.) Dann traf ich Blaaaaake. Ich fühlte unsere Begegnung so heftig ... so konnte ich dieses verdammte Album schreiben. Und ich habe Musik aus den 60ern gehört. Ja, das hab ich gemacht.« Frage: »Mit dem Produzenten Marc Ronson zusammen?« Winehouse: »Wer?« (»Darling, bist du okay?« Blake verzieht seine dünnes Gesicht. »Du Affe ..., Affe ...«, krächzt Amy.) Frage: »Wollten Sie als Kind Sängerin werden?« Winehouse: »Nein. Ich war mal Journalistin. Ich will heute Hausfrau sein. Ich bin ja verheiratet.« Frage: »Was ist gut am Hausfrau-Sein?« Winehouse: »Das Saubermachen ... Ja, das ist es. Ich putze mein Haus ...« (Thom bittet, wohlerzogen: »Bitte, Amy, wir sind spät dran, du musst jetzt raus auf die Bühne.« Amy macht es sich nun richtig gemütlich auf dem alten Sessel. Sie setzt sich in den Schneidersitz, lehnt sich zurück wie jemand, der erst mal vorhat, aus diesem Sessel nicht so schnell aufzustehen.) Winehouse: »Komm, komm, komm! Wir haben noch ein paar Minütchen.« Frage: »Paul Weller sagt, Sie wären das beste Vorbild, das eine Sängerin haben könnte ...« Winehouse: »Er ist cool. Er hat eine gute Frisur. Er hat gut aus­ sehende Kinder. Blake, er hat gut aussehende Kinder, richtig?« (Amy lehnt sich gefährlich weit aus dem Sessel und wartet auf Blakes Reaktion.) Blake: »Sie sehen aus wie schwule Transvestiten aus der Hölle!« (Blake ist mit seinem Kommentar hochzufrieden.) Winehouse: »Nein, verdammter Mist, sie sind hübsch, die Kinder!« (Amy wirft einen vollen Plastikbecher nach Blake und trifft nicht. Thom stellt sich vor Amy: »Wir müssen jetzt aufhören, es ist verdammt noch mal Zeit, auf die Bühne zu gehen.« Die drei anderen

Popmusik

Entourage-Mitglieder im Raum wursteln wortlos vor sich hin. Niemand will das Biest reizen.) Winehouse: »Hör mal, Thom, hier sitzt eine nette Lady vor mir. Ich will noch eine Frage.« (Interessenkonflikt bei Thom, er bereut seinen Einsatz für das Interview.) Frage: »Wie finden Sie es, dass Ihre Eltern genauso wie Sie in den Boulevardzeitungen stehen?« Winehouse: »Oh ... ich war nicht da in den letzten Tagen. Mein Vater ist heute hier ... Fragen Sie ihn am besten ... er kommt gleich. Papa? Ich sagte Papa!« Amy tritt später auf die Bühne. In der Hand wie immer ein braunes, merkwürdiges Getränk, es sieht aus wie Hustensaft. Sie rennt ständig backstage, um Blake zu küssen. Ihre Band spielt notfalls ohne sie weiter. Ihre Background-Sänger singen notfalls ohne sie weiter. Ob Amy anwesend ist, entscheidet bis heute niemand. Nicht mal Amy.

Anne Philippi interviewt seit vielen Jahren Stars aus Film und Pop, u. a. für »Qvest«, »Vanity Fair« und den »Spiegel«.


050

— Rausch

Hirnforschung

Im Ozean der Gefühle Beim Tanz können sich Wahrnehmung und Erleben ebenso verändern wie beim Genuss von Alkohol. Erst seit Kurzem beginnen Forscher zu verstehen, was dabei im Gehirn abläuft

— Stephan Matthiesen Foto — Ryan McGinley Text

Alkohol- und Drogenrausch, Meditation und tiefe Versunkenheit, mystische Visionen und schamanische Traumreisen, Ekstase und Träume haben eines gemeinsam: Das Gesamtmuster der subjektiven Erfahrungen ändert sich so, dass wir sie als außergewöhnlich, als nicht mehr im Rahmen unseres »normalen« Bewusstseins empfinden, sondern als veränderte Bewusstseinszustände. Halluzinationen sind dabei nur ein Element. Das Zeitempfinden ändert sich. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen zu verschmelzen: Beim Nacherzählen eines Traums merkt man schnell, dass die Erlebnisse nicht geordnet sind. Typisch sind auch intensive Emotionen und ein verändertes Bedeutungserleben — Unwichtiges wird bedeutungsvoll und die Lösung für schwierige, fundamentale Fragen scheint klar vor uns zu liegen, während Alltägliches rätselhaft wirkt. Das Gefühl der eigenen Identität verschwindet — in einer »oze­ anischen Selbstentgrenzung« fühlt man sich eins mit dem Universum, kann sich aber auch in einer »angstvollen Ich-Auflösung« bedroht fühlen und es kommt zu einer »visionären Umstrukturierung« der Welt, wie der Züricher Psychologe Adolf Dittrich in umfangreichen Studien seit den 80er-Jahren feststellte. Vieles kann derartige Zustände auslösen. Tagträume etwa treten spontan auf. Andere Zustände werden bewusst herbeigeführt. Im abendländischen Bereich ist der Alkohol die häufigste und wohl einzige

traditionell anerkannte Methode für einen Rausch. Dagegen beruhen die verschiedenen Meditationstechniken auf rein psychischen Techniken, bei denen vor allem eine eng fokussierte Aufmerksamkeit wichtig ist. Schamanen nutzen viele Faktoren gleichzeitig: Nach Fasten und körperlichen Strapazen wird die Trance teils durch Drogen, vor allem aber durch Tanz und Trommelmusik hervorgerufen. Trancetänze kennen auch viele andere Kulturen, etwa der Derwisch­ orden. Auch das Volk der San in Südafrika erreicht durch gemeinsames Tanzen einen Trancezustand. Eine Praxis, die jahrtausende­ alt ist, wie prähistorische Felszeichnungen von Tänzern in identischer Körperhaltung belegen.

Wie Halluzinationen entstehen Es gibt ebenso viele veränderte Bewusstseinszustände, wie es Methoden gibt, sie auszulösen. Lässt sich trotz dieser Vielfalt eine gemeinsame Basis im Gehirn finden? Die Psychobiologie der Bewusstseinsveränderung wird erst seit wenigen Jahren erforscht, in Deutschland vor allem von einer interdisziplinären Gruppe um Dieter Vaitl an der Universität Gießen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt demnach im Wechselspiel verschiedener Teile des Gehirns. Zwar scheint unser Bewusstsein eine unteilbare Einheit zu sein, auf der Ebene der Verarbeitung im Gehirn sieht das jedoch ganz anders

aus. Sinneseindrücke erreichen verschiedene Bereiche der Gehirnrinde, wo sie wiederum systematisch aufgeteilt werden. Informationen werden gefiltert, sie werden mit der Erinnerung verglichen, ihre Bedeutung wird bewertet und sie werden emotional belegt. An jedem dieser Schritte sind unterschiedliche Hirnareale beteiligt, die synchron zum Gesamtprozess beitragen. Wird das Zusammenspiel zwischen diesen Arealen schwächer — man spricht von Diskonnektivität —, so ist es schwerer, einen konsistenten Denkprozess aufrechtzuerhalten. Gedanken und Wahrnehmungen sind im Fluss. Gleichzeitig verselbstständigen sich einzelne Aspekte des Bewusstseinsprozesses. Die Signalübertragung wird schwächer und jedes Modul versucht, das übrig bleibende Rauschen sinnvoll zu interpretieren. So ergänzen Erinnerungen die Sinneseindrücke: Es kommt zu Halluzinationen. Starke Emotionen entstehen, die nicht oder nur teilweise zu den tatsächlichen Wahrnehmungen »passen«, oder man sieht große Bedeutung in Dingen, die man gewöhnlich nicht beachtet — weil die Bedeutungszuweisung nun teils unabhängig vom Inhalt geschieht. Auch das häufige Erleuchtungsgefühl wird verständlich. Denn wenn man im Wachzustand eine Aufgabe löst, so übernimmt ein Modul die eigentliche Bearbeitung der Aufgabe und ein anderes Modul produziert die emotionale Antwort: das Erfolgsgefühl. In der Meditation, Trance oder Ekstase sind diese Module entkoppelt und


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— Rausch

Hirnforschung

Im Ozean der Gefühle Beim Tanz können sich Wahrnehmung und Erleben ebenso verändern wie beim Genuss von Alkohol. Erst seit Kurzem beginnen Forscher zu verstehen, was dabei im Gehirn abläuft

— Stephan Matthiesen Foto — Ryan McGinley Text

Alkohol- und Drogenrausch, Meditation und tiefe Versunkenheit, mystische Visionen und schamanische Traumreisen, Ekstase und Träume haben eines gemeinsam: Das Gesamtmuster der subjektiven Erfahrungen ändert sich so, dass wir sie als außergewöhnlich, als nicht mehr im Rahmen unseres »normalen« Bewusstseins empfinden, sondern als veränderte Bewusstseinszustände. Halluzinationen sind dabei nur ein Element. Das Zeitempfinden ändert sich. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen zu verschmelzen: Beim Nacherzählen eines Traums merkt man schnell, dass die Erlebnisse nicht geordnet sind. Typisch sind auch intensive Emotionen und ein verändertes Bedeutungserleben — Unwichtiges wird bedeutungsvoll und die Lösung für schwierige, fundamentale Fragen scheint klar vor uns zu liegen, während Alltägliches rätselhaft wirkt. Das Gefühl der eigenen Identität verschwindet — in einer »oze­ anischen Selbstentgrenzung« fühlt man sich eins mit dem Universum, kann sich aber auch in einer »angstvollen Ich-Auflösung« bedroht fühlen und es kommt zu einer »visionären Umstrukturierung« der Welt, wie der Züricher Psychologe Adolf Dittrich in umfangreichen Studien seit den 80er-Jahren feststellte. Vieles kann derartige Zustände auslösen. Tagträume etwa treten spontan auf. Andere Zustände werden bewusst herbeigeführt. Im abendländischen Bereich ist der Alkohol die häufigste und wohl einzige

traditionell anerkannte Methode für einen Rausch. Dagegen beruhen die verschiedenen Meditationstechniken auf rein psychischen Techniken, bei denen vor allem eine eng fokussierte Aufmerksamkeit wichtig ist. Schamanen nutzen viele Faktoren gleichzeitig: Nach Fasten und körperlichen Strapazen wird die Trance teils durch Drogen, vor allem aber durch Tanz und Trommelmusik hervorgerufen. Trancetänze kennen auch viele andere Kulturen, etwa der Derwisch­ orden. Auch das Volk der San in Südafrika erreicht durch gemeinsames Tanzen einen Trancezustand. Eine Praxis, die jahrtausende­ alt ist, wie prähistorische Felszeichnungen von Tänzern in identischer Körperhaltung belegen.

Wie Halluzinationen entstehen Es gibt ebenso viele veränderte Bewusstseinszustände, wie es Methoden gibt, sie auszulösen. Lässt sich trotz dieser Vielfalt eine gemeinsame Basis im Gehirn finden? Die Psychobiologie der Bewusstseinsveränderung wird erst seit wenigen Jahren erforscht, in Deutschland vor allem von einer interdisziplinären Gruppe um Dieter Vaitl an der Universität Gießen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt demnach im Wechselspiel verschiedener Teile des Gehirns. Zwar scheint unser Bewusstsein eine unteilbare Einheit zu sein, auf der Ebene der Verarbeitung im Gehirn sieht das jedoch ganz anders

aus. Sinneseindrücke erreichen verschiedene Bereiche der Gehirnrinde, wo sie wiederum systematisch aufgeteilt werden. Informationen werden gefiltert, sie werden mit der Erinnerung verglichen, ihre Bedeutung wird bewertet und sie werden emotional belegt. An jedem dieser Schritte sind unterschiedliche Hirnareale beteiligt, die synchron zum Gesamtprozess beitragen. Wird das Zusammenspiel zwischen diesen Arealen schwächer — man spricht von Diskonnektivität —, so ist es schwerer, einen konsistenten Denkprozess aufrechtzuerhalten. Gedanken und Wahrnehmungen sind im Fluss. Gleichzeitig verselbstständigen sich einzelne Aspekte des Bewusstseinsprozesses. Die Signalübertragung wird schwächer und jedes Modul versucht, das übrig bleibende Rauschen sinnvoll zu interpretieren. So ergänzen Erinnerungen die Sinneseindrücke: Es kommt zu Halluzinationen. Starke Emotionen entstehen, die nicht oder nur teilweise zu den tatsächlichen Wahrnehmungen »passen«, oder man sieht große Bedeutung in Dingen, die man gewöhnlich nicht beachtet — weil die Bedeutungszuweisung nun teils unabhängig vom Inhalt geschieht. Auch das häufige Erleuchtungsgefühl wird verständlich. Denn wenn man im Wachzustand eine Aufgabe löst, so übernimmt ein Modul die eigentliche Bearbeitung der Aufgabe und ein anderes Modul produziert die emotionale Antwort: das Erfolgsgefühl. In der Meditation, Trance oder Ekstase sind diese Module entkoppelt und


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— Rausch

das Glücksgefühl des Verstehens kann auch ohne die sachliche Grundlage entstehen — man weiß, dass man etwas Fundamentales verstanden hat, ohne dass man festmachen kann, was es ist. Die Art der Visionen und ihre Interpretation hängen dabei von den individuellen Erinnerungen und Werten ab. Die Diskonnektivität erklärt also die wesentliche Qualität von Trance und Rausch — doch wieso wird sie außer durch Drogen oder Meditation auch durch Musik und Tanz ausgelöst?

Trance als kulturelle Leistung Drogen wirken oft auf die chemischen Botenstoffe, die Neurotransmitter, die die Kommunikation der Nervenzellen regeln. Ist die Signalübertragung zu schwach, so kommt es zu tranceähnlichen Erfahrungen, ist sie zu stark, so geht die nötige Flexibilität des Denkens verloren — ein empfindliches Gleichgewicht, das durch Drogen, aber auch bei Krankheiten wie der Schizophrenie verschoben wird. Doch ist die Diskonnektivität auch ein natürlicher und normaler Prozess, der beim Einschlafen stattfindet. Darauf beruhen Meditationstechniken, zu deren Erlernung man sich gewöhnlich intensiv auf einen einzelnen Gedanken konzentrieren muss: Die Gesamtaktivität wird verringert, sodass man sich dem Schlaf nähert, andererseits wird durch die fokussierte Aufmerksamkeit das

Hirnforschung

Einschlafen verhindert. Das Gehirn zeigt eine Aktivitätsverringerung im präfrontalen Kortex — dem vordersten Bereich des Großhirns. Dieser Bereich ist an der sogenannten exekutiven Kontrolle beteiligt, die Aufmerksamkeit, Motivation und Koordination steuert und damit auch das Zusammenspiel des gesamten Gehirns beeinflusst. Meditation und andere psychisch induzierte Trancetechniken wie die Hypnose sind damit kulturelle Leistungen, die einen natürlichen Prozess im Gehirn steuern und kontrollieren. Interessanterweise fehlt die angstvolle Ich-Auflösung, der sogenannte Horrortrip, der für Drogen typisch ist, bei der Meditation praktisch völlig — wohl weil der Zustand willentlich eingegangen wird und von der exekutiven Kontrolle gesteuert und auch wieder beendet werden kann. Musik und Tanz sind häufige Mittel zur Tranceinduktion. Sie wirken vermutlich über eine rhythmische Stimulation der verschiedenen Taktgeber im Gehirn, die unsere Denkprozesse steuern und synchronisieren.

Warum Tanzen auch beim Zuschauen berauscht Zudem wirkt Musik auch direkt auf fundamentale Weise auf das emotionale System ein. Dies wird an Menschen deutlich, bei denen durch einen Schlaganfall die Musikverarbeitung im Gehirn beeinträchtigt ist. Bei der sogenannten Amusie

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können Betroffene verschiedene Melodien nicht mehr unterscheiden oder wiedererkennen, auch wenn Intelligenz, Gedächtnis und Sprachfähigkeiten erhalten sind. Dennoch empfinden sie Musikstücke als traurig oder fröhlich. Offensichtlich geschieht die Verarbeitung des emotionalen Gehalts in anderen »Schaltkreisen« als die bewusste Interpretation der Melodie. Vermutlich half diese unbewusste, emotionale Verarbeitung von Tönen unseren Vorfahren, Stimmungen und Gefühle in der Gruppe zu synchronisieren. Tanz wirkt wie Musik als rhythmische Anregung — wohl über Drucksensoren im Körper und den Gleichgewichtssinn. Die körperliche Anstrengung kann direkt auf die Gehirnchemie wirken und die mentale Konzentration wirkt ähnlich einer Meditation. Tanz vereinigt also mehrere Faktoren, die das Bewusstsein verändern können. Nun tanzen Menschen aber nicht nur selbst, sondern empfinden auch starke Faszination beim Betrachten von Tänzen. Warum lässt uns schon das passive Zuschauen manchmal die Welt um uns vergessen? Bereits Babys beachten bevorzugt Bewegungen von Lebewesen gegenüber Bewegungen von leblosen Objekten. Module im Gehirn scheinen also die Aufmerksamkeit automatisch auf biologische Bewegungen zu richten. Zudem ist das Zuschauen nicht nur passiv, wie wir seit den 90er-Jahren durch die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen wissen: Dies sind Nervenzellen, die bei der Betrachtung einer Bewegung

— Rausch

aktiv werden und ähnliche Aktivitätsmuster zeigen, wie sie entstünden, wenn man die Bewegung selbst durchführen würde. Zwar wird ihre genaue Rolle noch diskutiert, doch klar ist, dass spezielle Schaltkreise im Gehirn beobachtete Bewegungen mental simulieren — eine evolutionär vorteilhafte Fähigkeit, um Handlungen unserer Artgenossen voraussehen zu können. So ist nachgewiesen, dass Tänzer, die andere Tänzer betrachten, deren Bewegungen automatisch mental nachvollziehen. Freilich führen trainierte professionelle Tänzer Figuren aus, die weit jenseits des für den typischen Zuschauer möglichen Bewegungsbereichs liegen, und die Choreo­ grafie ist viel komplexer als Alltagsbewegungen. Dieser ständige Kontrast zwischen den mental simulierten und den tatsächlich beobachteten Bewegungen, meint daher der niederländische Forscher Ivar Hagendoorn, führe möglicherweise zu Wirkungen im Gehirn »analog zum Wechselspiel zwischen Euphorie und Frustration beim Fangen und Verfehlen eines Balls«. Auch wenn die Erforschung der Neurobiologie der Kunst erst am Anfang steht, wird doch verständlich, dass Musik und­ Tanz in besonderer Weise auf Emotionen und fundamentale Wahrnehmungsprozesse wirken und ganz automatisch die Aufmerksamkeit fokussieren. Sie leisten damit das, was man bei Meditationstechniken erst mühsam erlernen muss — kein Wunder, dass sie weltweit unterstützend zur Erlan-

Hirnforschung

gung von Trancezuständen genutzt werden. Dabei gibt es ein Kontinuum zwischen Wachheit und ekstatischer Trance. Die erste Stufe hat fast jeder schon erlebt: Musik- oder Tanzvorführungen ziehen selbst Kulturmuffel in ihren Bann, Alltagsgedanken verschwinden und die Musik scheint zeitweise das einzig in der Welt Existente zu sein, das die Gefühle völlig bestimmt. Am anderen Ende des Spektrums stehen komplexe Rituale wie die Theyyam-Zeremonie im indischen Nordkerala. Durch Schlafentzug und langes Fasten bereitet sich der Haupttänzer vor. Der schwere Kopfschmuck erfordert Kraft und höchste Konzentration, der Blick ist eingeengt. Stundenlange Gesänge fokussieren die Gedanken vollkommen auf den Inhalt des Rituals und rhythmische Trommelschläge und Tanzbewegungen führen zur Trance, zur Metamorphose des Tänzers, der so zur Gottheit des jeweiligen Schreins wird — nicht nur symbolisch, sondern zweifellos auch im eigenen Erleben. Wir Menschen sind wohl die einzigen Lebewesen, die sich nicht nur am Tanz er­ freuen, sondern auch veränderte Bewusstseinszustände schätzen und Kulturtechniken entwickelt haben, die sie gezielt herbei­ führen. Durch die Erfahrung von Trance und Rausch wird uns unmittelbar bewusst, dass Logik und Kreativität, Selbstwahrnehmung und soziales Verständnis — all die komplexen Fähigkeiten, die unsere Persönlichkeit bestimmen — nicht unveränderlich aus einem Guss sind, sondern ein Zu-

sammenspiel vieler Elemente darstellen, die unser Gehirn selbst verändern und sogar abschalten kann. Bringt diese Fähigkeit zur Bewusstseinsveränderung aber evolutionäre Vorteile oder ist sie einfach nur eine automatische Nebenwirkung eines im Tierreich einmalig hochkomplexen Gehirns, wenn es in einen Ruhezustand eintritt? Eine Frage, die noch offen bleiben muss.

Dr. Stephan Matthiesen arbeitet als Physiker an der School of GeoSciences an der Universität von Edinburgh. Er untersucht u. a. den Kohlenstoffhaushalt der Arktis im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung.


052

— Rausch

das Glücksgefühl des Verstehens kann auch ohne die sachliche Grundlage entstehen — man weiß, dass man etwas Fundamentales verstanden hat, ohne dass man festmachen kann, was es ist. Die Art der Visionen und ihre Interpretation hängen dabei von den individuellen Erinnerungen und Werten ab. Die Diskonnektivität erklärt also die wesentliche Qualität von Trance und Rausch — doch wieso wird sie außer durch Drogen oder Meditation auch durch Musik und Tanz ausgelöst?

Trance als kulturelle Leistung Drogen wirken oft auf die chemischen Botenstoffe, die Neurotransmitter, die die Kommunikation der Nervenzellen regeln. Ist die Signalübertragung zu schwach, so kommt es zu tranceähnlichen Erfahrungen, ist sie zu stark, so geht die nötige Flexibilität des Denkens verloren — ein empfindliches Gleichgewicht, das durch Drogen, aber auch bei Krankheiten wie der Schizophrenie verschoben wird. Doch ist die Diskonnektivität auch ein natürlicher und normaler Prozess, der beim Einschlafen stattfindet. Darauf beruhen Meditationstechniken, zu deren Erlernung man sich gewöhnlich intensiv auf einen einzelnen Gedanken konzentrieren muss: Die Gesamtaktivität wird verringert, sodass man sich dem Schlaf nähert, andererseits wird durch die fokussierte Aufmerksamkeit das

Hirnforschung

Einschlafen verhindert. Das Gehirn zeigt eine Aktivitätsverringerung im präfrontalen Kortex — dem vordersten Bereich des Großhirns. Dieser Bereich ist an der sogenannten exekutiven Kontrolle beteiligt, die Aufmerksamkeit, Motivation und Koordination steuert und damit auch das Zusammenspiel des gesamten Gehirns beeinflusst. Meditation und andere psychisch induzierte Trancetechniken wie die Hypnose sind damit kulturelle Leistungen, die einen natürlichen Prozess im Gehirn steuern und kontrollieren. Interessanterweise fehlt die angstvolle Ich-Auflösung, der sogenannte Horrortrip, der für Drogen typisch ist, bei der Meditation praktisch völlig — wohl weil der Zustand willentlich eingegangen wird und von der exekutiven Kontrolle gesteuert und auch wieder beendet werden kann. Musik und Tanz sind häufige Mittel zur Tranceinduktion. Sie wirken vermutlich über eine rhythmische Stimulation der verschiedenen Taktgeber im Gehirn, die unsere Denkprozesse steuern und synchronisieren.

Warum Tanzen auch beim Zuschauen berauscht Zudem wirkt Musik auch direkt auf fundamentale Weise auf das emotionale System ein. Dies wird an Menschen deutlich, bei denen durch einen Schlaganfall die Musikverarbeitung im Gehirn beeinträchtigt ist. Bei der sogenannten Amusie

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können Betroffene verschiedene Melodien nicht mehr unterscheiden oder wiedererkennen, auch wenn Intelligenz, Gedächtnis und Sprachfähigkeiten erhalten sind. Dennoch empfinden sie Musikstücke als traurig oder fröhlich. Offensichtlich geschieht die Verarbeitung des emotionalen Gehalts in anderen »Schaltkreisen« als die bewusste Interpretation der Melodie. Vermutlich half diese unbewusste, emotionale Verarbeitung von Tönen unseren Vorfahren, Stimmungen und Gefühle in der Gruppe zu synchronisieren. Tanz wirkt wie Musik als rhythmische Anregung — wohl über Drucksensoren im Körper und den Gleichgewichtssinn. Die körperliche Anstrengung kann direkt auf die Gehirnchemie wirken und die mentale Konzentration wirkt ähnlich einer Meditation. Tanz vereinigt also mehrere Faktoren, die das Bewusstsein verändern können. Nun tanzen Menschen aber nicht nur selbst, sondern empfinden auch starke Faszination beim Betrachten von Tänzen. Warum lässt uns schon das passive Zuschauen manchmal die Welt um uns vergessen? Bereits Babys beachten bevorzugt Bewegungen von Lebewesen gegenüber Bewegungen von leblosen Objekten. Module im Gehirn scheinen also die Aufmerksamkeit automatisch auf biologische Bewegungen zu richten. Zudem ist das Zuschauen nicht nur passiv, wie wir seit den 90er-Jahren durch die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen wissen: Dies sind Nervenzellen, die bei der Betrachtung einer Bewegung

— Rausch

aktiv werden und ähnliche Aktivitätsmuster zeigen, wie sie entstünden, wenn man die Bewegung selbst durchführen würde. Zwar wird ihre genaue Rolle noch diskutiert, doch klar ist, dass spezielle Schaltkreise im Gehirn beobachtete Bewegungen mental simulieren — eine evolutionär vorteilhafte Fähigkeit, um Handlungen unserer Artgenossen voraussehen zu können. So ist nachgewiesen, dass Tänzer, die andere Tänzer betrachten, deren Bewegungen automatisch mental nachvollziehen. Freilich führen trainierte professionelle Tänzer Figuren aus, die weit jenseits des für den typischen Zuschauer möglichen Bewegungsbereichs liegen, und die Choreo­ grafie ist viel komplexer als Alltagsbewegungen. Dieser ständige Kontrast zwischen den mental simulierten und den tatsächlich beobachteten Bewegungen, meint daher der niederländische Forscher Ivar Hagendoorn, führe möglicherweise zu Wirkungen im Gehirn »analog zum Wechselspiel zwischen Euphorie und Frustration beim Fangen und Verfehlen eines Balls«. Auch wenn die Erforschung der Neurobiologie der Kunst erst am Anfang steht, wird doch verständlich, dass Musik und­ Tanz in besonderer Weise auf Emotionen und fundamentale Wahrnehmungsprozesse wirken und ganz automatisch die Aufmerksamkeit fokussieren. Sie leisten damit das, was man bei Meditationstechniken erst mühsam erlernen muss — kein Wunder, dass sie weltweit unterstützend zur Erlan-

Hirnforschung

gung von Trancezuständen genutzt werden. Dabei gibt es ein Kontinuum zwischen Wachheit und ekstatischer Trance. Die erste Stufe hat fast jeder schon erlebt: Musik- oder Tanzvorführungen ziehen selbst Kulturmuffel in ihren Bann, Alltagsgedanken verschwinden und die Musik scheint zeitweise das einzig in der Welt Existente zu sein, das die Gefühle völlig bestimmt. Am anderen Ende des Spektrums stehen komplexe Rituale wie die Theyyam-Zeremonie im indischen Nordkerala. Durch Schlafentzug und langes Fasten bereitet sich der Haupttänzer vor. Der schwere Kopfschmuck erfordert Kraft und höchste Konzentration, der Blick ist eingeengt. Stundenlange Gesänge fokussieren die Gedanken vollkommen auf den Inhalt des Rituals und rhythmische Trommelschläge und Tanzbewegungen führen zur Trance, zur Metamorphose des Tänzers, der so zur Gottheit des jeweiligen Schreins wird — nicht nur symbolisch, sondern zweifellos auch im eigenen Erleben. Wir Menschen sind wohl die einzigen Lebewesen, die sich nicht nur am Tanz er­ freuen, sondern auch veränderte Bewusstseinszustände schätzen und Kulturtechniken entwickelt haben, die sie gezielt herbei­ führen. Durch die Erfahrung von Trance und Rausch wird uns unmittelbar bewusst, dass Logik und Kreativität, Selbstwahrnehmung und soziales Verständnis — all die komplexen Fähigkeiten, die unsere Persönlichkeit bestimmen — nicht unveränderlich aus einem Guss sind, sondern ein Zu-

sammenspiel vieler Elemente darstellen, die unser Gehirn selbst verändern und sogar abschalten kann. Bringt diese Fähigkeit zur Bewusstseinsveränderung aber evolutionäre Vorteile oder ist sie einfach nur eine automatische Nebenwirkung eines im Tierreich einmalig hochkomplexen Gehirns, wenn es in einen Ruhezustand eintritt? Eine Frage, die noch offen bleiben muss.

Dr. Stephan Matthiesen arbeitet als Physiker an der School of GeoSciences an der Universität von Edinburgh. Er untersucht u. a. den Kohlenstoffhaushalt der Arktis im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung.


070

— Rausch

Jonas Kaufmann

»klatschen — aus!« — Anne Urbauer Illustration — Lisa Schweizer Text

Bekannt wurde er mit den Helden Verdis, jetzt singt er in München den Lohengrin. Ein Gespräch mit dem Startenor Jonas Kaufmann über Risiken und Nebenwirkungen seines rauschenden Erfolgs Frage: Wir möchten mit Ihnen über Narzissmus und Erfolg reden. Kaufmann: Das klingt nach durchaus unangenehmen Fragen. In den vergangenen ein, zwei Jahren sind phänomenale Dinge in Ihrer Karriere passiert: die erste CD bei dem renommierten Klassik­label Decca, die erste Tournee, Vergleiche mit Fritz Wunderlich. Ich habe nicht mehr gearbeitet als vorher, aber die Resonanz hat sich sehr verändert. Das ist natürlich gut. Dann kamen die richtigen Produktionen, Häuser, Kollegen hinzu, sodass jetzt das richtige Gesamtbild entstanden ist. »Der Spiegel« hat Anfang 2008 über Sie als »kommenden Jahrhunderttenor« geschrieben. Was macht es mit einem, wenn man das über sich liest? Man versucht, der Gleiche zu bleiben. Aber natürlich verändert es einen. Inwiefern sind Sie heute ein anderer? Es desillusioniert. Man wird reservierter, weil man hinter die Kulissen des Geschäftes schaut und auch negative Seiten kennenlernt. Je mehr Artikel über mein Privatleben und über Äußerlichkeiten erschienen sind, desto reservierter bin ich geworden. Das sind Erfahrungen, die man macht. Heute versuche ich, das Ganze in andere Bahnen zu lenken. Ich bin weniger spontan. Viele Leute würden sterben vor Angst, wenn sie auf eine Bühne gehen und in einer Premiere den Lohengrin singen müssten. Wie viel Narzissmus ist lebensnotwendig in Ihrem Beruf? Jeder Sänger muss etwas selbstverliebt sein. Wenn ich nicht felsenfest von mir überzeugt wäre und davon, dass die andern das gut finden werden, was ich mache, könnte ich es nicht. Waren Sie immer so überzeugt von sich? Nicht immer. Am Anfang meiner Karriere war ich unsicher

und habe technische Fehler gemacht. Deswegen hatte ich immer wieder Probleme, bis dahin, dass die Stimme auf der Bühne ganz wegblieb. Beim Singen hängt ja alles zusammen: Wenn man seine Stimme schlecht behandelt, wird der ganze Apparat anfällig für jedes Bakterium und Virus in der Gegend. Haben Sie an sich gezweifelt? Nicht so, dass eine Welt zusammengebrochen wäre. Aber irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem ich dachte: Wenn ich jeden Abend wieder so existenziell auf die Probe gestellt werde — reicht es heute, schaffe ich das heute? —, dann ist das nicht meine Sache. Sind Sie heute entspannt auf der Bühne? Ich bin nicht aufgeregter als jeder andere, der in seinen Job geht. Und ich habe in meinem Job vermutlich etwas mehr Spaß als jemand, der den ganzen Tag am Computer sitzt. Genießen Sie den Ruhm? Natürlich freue ich mich, dass so ein Hype gemacht wird. Man darf eigentlich gar nicht sagen, wie wenig Anstrengung das kostet. Ja, ich bin nicht nervös, ich habe kein Lampenfieber. Ich hätte nicht gedacht, dass das einmal so sein könnte. Es gibt keinen Artikel aus dem vergangenen »Kaufmann-Jahr«, der nicht Ihr Aussehen thematisiert hätte. Hat Sie jemals der Gedanke beschlichen: Die würden mich alle nicht ganz so gut finden, wenn ich glatzköpfig und dick wäre? Ich habe es belächelt, ich habe es anfangs auch als schmeichelnd empfunden, aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich dachte, das ist jetzt wirklich auch mal gut. Ich gebe zu, dass man mir anfangs bereitwilliger zuhört, weil ich so aussehe. Jemand anderer hat vielleicht ein Handicap, überhaupt gehört zu werden. Ich liebe diesen Beruf, und das bedeutet, dass ich ihn möglichst lange ausüben will. Wäre ich überzeugt, dass das Aussehen ein wesentlicher Bestandteil meines Erfolgs ist, dann würde ich Gefahr laufen, das Wesentliche zu vernachlässigen: das Singen. Aber ich bin überzeugt, dass sich Qualität durchsetzt. Wenn es anders wäre, müsste ich nicht nur an mir zweifeln, sondern an dem ganzen System.

_ Jonas Kaufmann, 40, gilt als neuer deutscher Wundertenor. Kritiker vergleichen ihn mit dem legendären Fritz Wunderlich. 2007 schloss er einen Exklusivvertrag mit Universal Music, wo in diesem Jahr seine neue CD »Sehnsucht« erschienen ist


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— Rausch

Jonas Kaufmann

»klatschen — aus!« — Anne Urbauer Illustration — Lisa Schweizer Text

Bekannt wurde er mit den Helden Verdis, jetzt singt er in München den Lohengrin. Ein Gespräch mit dem Startenor Jonas Kaufmann über Risiken und Nebenwirkungen seines rauschenden Erfolgs Frage: Wir möchten mit Ihnen über Narzissmus und Erfolg reden. Kaufmann: Das klingt nach durchaus unangenehmen Fragen. In den vergangenen ein, zwei Jahren sind phänomenale Dinge in Ihrer Karriere passiert: die erste CD bei dem renommierten Klassik­label Decca, die erste Tournee, Vergleiche mit Fritz Wunderlich. Ich habe nicht mehr gearbeitet als vorher, aber die Resonanz hat sich sehr verändert. Das ist natürlich gut. Dann kamen die richtigen Produktionen, Häuser, Kollegen hinzu, sodass jetzt das richtige Gesamtbild entstanden ist. »Der Spiegel« hat Anfang 2008 über Sie als »kommenden Jahrhunderttenor« geschrieben. Was macht es mit einem, wenn man das über sich liest? Man versucht, der Gleiche zu bleiben. Aber natürlich verändert es einen. Inwiefern sind Sie heute ein anderer? Es desillusioniert. Man wird reservierter, weil man hinter die Kulissen des Geschäftes schaut und auch negative Seiten kennenlernt. Je mehr Artikel über mein Privatleben und über Äußerlichkeiten erschienen sind, desto reservierter bin ich geworden. Das sind Erfahrungen, die man macht. Heute versuche ich, das Ganze in andere Bahnen zu lenken. Ich bin weniger spontan. Viele Leute würden sterben vor Angst, wenn sie auf eine Bühne gehen und in einer Premiere den Lohengrin singen müssten. Wie viel Narzissmus ist lebensnotwendig in Ihrem Beruf? Jeder Sänger muss etwas selbstverliebt sein. Wenn ich nicht felsenfest von mir überzeugt wäre und davon, dass die andern das gut finden werden, was ich mache, könnte ich es nicht. Waren Sie immer so überzeugt von sich? Nicht immer. Am Anfang meiner Karriere war ich unsicher

und habe technische Fehler gemacht. Deswegen hatte ich immer wieder Probleme, bis dahin, dass die Stimme auf der Bühne ganz wegblieb. Beim Singen hängt ja alles zusammen: Wenn man seine Stimme schlecht behandelt, wird der ganze Apparat anfällig für jedes Bakterium und Virus in der Gegend. Haben Sie an sich gezweifelt? Nicht so, dass eine Welt zusammengebrochen wäre. Aber irgendwann war ein Punkt erreicht, an dem ich dachte: Wenn ich jeden Abend wieder so existenziell auf die Probe gestellt werde — reicht es heute, schaffe ich das heute? —, dann ist das nicht meine Sache. Sind Sie heute entspannt auf der Bühne? Ich bin nicht aufgeregter als jeder andere, der in seinen Job geht. Und ich habe in meinem Job vermutlich etwas mehr Spaß als jemand, der den ganzen Tag am Computer sitzt. Genießen Sie den Ruhm? Natürlich freue ich mich, dass so ein Hype gemacht wird. Man darf eigentlich gar nicht sagen, wie wenig Anstrengung das kostet. Ja, ich bin nicht nervös, ich habe kein Lampenfieber. Ich hätte nicht gedacht, dass das einmal so sein könnte. Es gibt keinen Artikel aus dem vergangenen »Kaufmann-Jahr«, der nicht Ihr Aussehen thematisiert hätte. Hat Sie jemals der Gedanke beschlichen: Die würden mich alle nicht ganz so gut finden, wenn ich glatzköpfig und dick wäre? Ich habe es belächelt, ich habe es anfangs auch als schmeichelnd empfunden, aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich dachte, das ist jetzt wirklich auch mal gut. Ich gebe zu, dass man mir anfangs bereitwilliger zuhört, weil ich so aussehe. Jemand anderer hat vielleicht ein Handicap, überhaupt gehört zu werden. Ich liebe diesen Beruf, und das bedeutet, dass ich ihn möglichst lange ausüben will. Wäre ich überzeugt, dass das Aussehen ein wesentlicher Bestandteil meines Erfolgs ist, dann würde ich Gefahr laufen, das Wesentliche zu vernachlässigen: das Singen. Aber ich bin überzeugt, dass sich Qualität durchsetzt. Wenn es anders wäre, müsste ich nicht nur an mir zweifeln, sondern an dem ganzen System.

_ Jonas Kaufmann, 40, gilt als neuer deutscher Wundertenor. Kritiker vergleichen ihn mit dem legendären Fritz Wunderlich. 2007 schloss er einen Exklusivvertrag mit Universal Music, wo in diesem Jahr seine neue CD »Sehnsucht« erschienen ist


072

— Rausch

Gibt es zu viel Schönheit in der Oper — oder wie entscheidend ist heute gutes Aussehen für die Karriere eines Opernsängers? Ich gehöre auch zu denen, die sagen, dass die Oper reformiert werden musste, weg vom Stehtheater, dass sie mehr Ernsthaftigkeit, Glaubwürdigkeit, Realität und richtiges Schauspiel braucht. Auch dass es Protagonisten geben muss, die ein neues Publikum anziehen. Das führt zu mehr Akzeptanz. Aber heute können wir uns den Zauber zwischen zwei Menschen eben kaum noch vorstellen, wenn nicht zwei gut aussehende Sänger singen. Das bedeutet auch einen Verlust an Fantasie. Haben Sie schon mal befürchtet, Sie könnten sich zu sehr an sich selbst berauschen? Ich glaube nicht an ein Rezept, wie man einem Übermaß an Narzissmus entgeht, außer das eigene Verhalten zu reflektieren, sich zu fragen, welche Reaktionen man hervorruft, was das für Dinge sind, die plötzlich so wichtig geworden sind. Letztlich ist die Antwort fast immer die Familie. Sie hält mich immer auf dem Boden. Die Kinder behandeln mich wie einen ganz normalen Vater und nicht als Halbgott. Gerade in den Karriereschüben der letzten Jahre habe ich mich sehr bemüht, die Balance zu bewahren. Je mehr man haben kann, desto mehr muss man sich fragen, ob man das haben muss. Das gilt ja nicht nur für den Ruhm. Als der Erfolg kam, waren Sie alt genug, um ihn zu verkraften? Ich bin jedenfalls heilfroh, dass es mich erst relativ spät er­ wischt hat! Nach all den Erfolgen im Ausland — sind der Lohengrin in München und die Liedermatinee bei den Opernfestspielen eine Heimkehr oder eine Eroberung? Eine Heimkehr. Ich habe mich immer bemüht, möglichst breit gefächert zu sein, was sehr mühsam war und lange gedauert hat. Es war schwierig, Akzeptanz im italienischen oder französischen Fach zu erreichen, weil offensichtlich auch Deutsche einem Landsmann diese Gefühlswallungen nicht zutrauen. Zu Deutschland habe ich vielleicht nicht stimmlich, aber sicher seelisch eine ganz besondere Affinität.

Jonas Kaufmann

Können Sie diese Affinität genauer beschreiben? Mozarts »Zauberflöte« war bei mir, wie bei vielen, eine der ersten Opern. Mein Großvater war ein großer Wagnerianer, saß immer zu Hause am Klavier und spielte Klavierauszüge. Eine Eroberung ist das höchstens in dem Sinne, dass ich sage: Ich will mir als Sänger diesen Bereich auch nach oben hin erschließen, es ist ein erster Versuch, die Vielseitigkeit dessen, was Oper in Deutschland bedeutet, darzustellen. Worin liegt für Sie beim Lohengrin die Herausforderung? Ich habe so viel im französischen und italienischen Bereich gemacht, da könnten einige ja sagen: Was wird er denn jetzt mit unserem Wagner anstellen? Aber gerade bei Lohengrin profitiere ich von der Erfahrung im italienischen Fach, weil »Lohengrin« so anders ist als andere Wagner-Opern: eine ganz andere Linienführung, die Tessitur viel größer, italienischer. Ein typischer Wagner-Tenor hat seine Schwierigkeiten mit dieser Partie. Dietrich Fischer-Dieskau hat damit geliebäugelt, die Partie zu singen. Da sieht man, wie tief sie liegt. Ihre neue CD heißt »Sehnsucht«. Muss man Sehnsucht haben, um Sänger sein zu können? Ja, Sehnsucht heißt, dass man sich in andere Welten versetzen kann, dorthin, wo man gerade nicht ist. Zur Sehnsucht gehört auch Schmerz. Als Sänger muss man große emotionale Kontraste aushalten können. Auf der Bühne steht man im Mittelpunkt, vor Tausenden von Menschen sehr exponiert, und kehrt fast exhibitionistisch das Innerste nach außen, was verwundbar macht. Eine Viertelstunde später geht man durch die Tür ins Hotel und in kürzester Zeit findet man sich in völliger Einsamkeit wieder. Sie können nicht zu Hause anrufen, denn wegen der Zeitverschiebung schlafen dort alle tief und fest. Sie brauchen Stunden, um den Adrenalinspiegel abklingen zu lassen. Ich lese dann meistens, andere fangen an, die Minibar auszuräubern. Natürlich habe auch ich sehr triste Momente erlebt. Sie kommen mir heute bei meiner Rollengestaltung zugute, weil ich das im Spiel reproduzieren kann.

073

— Rausch

Wie können Sie diese einmal erlebten Gefühle als Sänger nutzen? Ich kann nur Gefühle spielen, die ich zuvor erlebt habe. Man konstruiert in sich eine virtuelle Welt, in die man so tief eintaucht, wie es nur irgend geht. Mit der Zeit entwickelt man eine gewisse Routine darin und, was viel wichtiger ist: Man hat dadurch ein Instrument, mit dem man auf der Stimme spielen kann. Wie spielt man dieses Instrument? Die Stimme ist ja nicht nur im Sprichwort ein Spiegel der Seele. Man kann diesen Zusammenhang im Spiel nutzen, wenn man Gefühle in sich wachruft, die man früher einmal erlebt hat. Diese Gefühle lassen sich über das Zwerchfell an die Stimmbänder weitergeben und machen sich auch beim Zuhörer wieder bemerkbar. Das geht direkt hier (deutet auf seinen Oberbauch) hinein, da ist der Sitz der Seele. Ein tolles Erlebnis, das nichts mit Vorkenntnissen oder einem Bildungsniveau zu tun hat. Wer ein Stück schon sehr gut kennt, erlebt auch etwas anderes, als wenn man es zum ersten Mal hört. Spielen Sie Gefühle wie Euphorie oder erleben Sie sie auf der Bühne auch? Ja, denn es gibt Tage, an denen alles stimmt: Man selbst ist gut drauf, die Kollegen auch und der Dirigent und das Orchester. Das ist phänomenal, in dieser Emphase werden ganz andere Kräfte freigesetzt, weil man nicht bewusst wahrnimmt, was man da eigentlich gerade tut. Klingt nach so etwas Ähnlichem wie Rausch. Voraussetzung dafür ist Technik. Wenn es nicht hundert­ prozentig stimmt, wenn ich den Mund aufmache, und wenn ich nicht mit der gleichen Spontaneität das, was ich jetzt sage, auch singen könnte, dann wird man das hören. Das hat mit Selbstüberzeugung und mit Selbstsicherheit zu tun, denn wenn man das e­igene Können hinterfragt, dann kann es nicht frei und natürlich und spontan kommen. Und wenn man auf der Bühne auch noch Partner mit großen Energien hat, dann schwingt es immer weiter und immer weiter auf und kommt in Bereiche hinein, in denen die Realität verschwimmt.

Jonas Kaufmann

Zu guter Letzt: Was raten Sie all denen, die zum ersten Mal in die Oper gehen? Ich versuche immer wieder, Leute in die Oper zu locken. Es ist für mich ein Rätsel, dass man glaubt, man könne etwas falsch oder sich lächerlich machen. Es gibt nur zwei Regeln: sich ruhig verhalten, und wenn einem was gefällt, klatschen — aus!

— Liedermatinee Jonas Kaufmann singt Lieder von Schubert. Am Klavier begleitet ihn Helmut Deutsch. Am 26. Juli, 11 Uhr, Nationaltheater. — Lohengrin Brabant steht vor dynastischen Querelen, kriegerische Auseinandersetzungen drohen. Die Sehnsucht nach dem mächtigen Retter im Volk ist groß. In dieser Zeit der Verunsicherungen erscheint wie aus einer anderen Welt ein Held: Wer ist der Schwanenritter, der sich zum Retter aufschwingt? In einer Zeit großer revolutionärer Veränderungen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, schreibt Wagner seine Oper »Lohengrin«, in der erstmals der Klang des Orchesters zum Geheimnis und Motor des gesamten Dramas wird. Festspiel-Premiere mit Jonas Kaufmann am 5. Juli, 17 Uhr, Nationaltheater. Weitere Termine im Spielplan ab Seite 103.


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— Rausch

Gibt es zu viel Schönheit in der Oper — oder wie entscheidend ist heute gutes Aussehen für die Karriere eines Opernsängers? Ich gehöre auch zu denen, die sagen, dass die Oper reformiert werden musste, weg vom Stehtheater, dass sie mehr Ernsthaftigkeit, Glaubwürdigkeit, Realität und richtiges Schauspiel braucht. Auch dass es Protagonisten geben muss, die ein neues Publikum anziehen. Das führt zu mehr Akzeptanz. Aber heute können wir uns den Zauber zwischen zwei Menschen eben kaum noch vorstellen, wenn nicht zwei gut aussehende Sänger singen. Das bedeutet auch einen Verlust an Fantasie. Haben Sie schon mal befürchtet, Sie könnten sich zu sehr an sich selbst berauschen? Ich glaube nicht an ein Rezept, wie man einem Übermaß an Narzissmus entgeht, außer das eigene Verhalten zu reflektieren, sich zu fragen, welche Reaktionen man hervorruft, was das für Dinge sind, die plötzlich so wichtig geworden sind. Letztlich ist die Antwort fast immer die Familie. Sie hält mich immer auf dem Boden. Die Kinder behandeln mich wie einen ganz normalen Vater und nicht als Halbgott. Gerade in den Karriereschüben der letzten Jahre habe ich mich sehr bemüht, die Balance zu bewahren. Je mehr man haben kann, desto mehr muss man sich fragen, ob man das haben muss. Das gilt ja nicht nur für den Ruhm. Als der Erfolg kam, waren Sie alt genug, um ihn zu verkraften? Ich bin jedenfalls heilfroh, dass es mich erst relativ spät er­ wischt hat! Nach all den Erfolgen im Ausland — sind der Lohengrin in München und die Liedermatinee bei den Opernfestspielen eine Heimkehr oder eine Eroberung? Eine Heimkehr. Ich habe mich immer bemüht, möglichst breit gefächert zu sein, was sehr mühsam war und lange gedauert hat. Es war schwierig, Akzeptanz im italienischen oder französischen Fach zu erreichen, weil offensichtlich auch Deutsche einem Landsmann diese Gefühlswallungen nicht zutrauen. Zu Deutschland habe ich vielleicht nicht stimmlich, aber sicher seelisch eine ganz besondere Affinität.

Jonas Kaufmann

Können Sie diese Affinität genauer beschreiben? Mozarts »Zauberflöte« war bei mir, wie bei vielen, eine der ersten Opern. Mein Großvater war ein großer Wagnerianer, saß immer zu Hause am Klavier und spielte Klavierauszüge. Eine Eroberung ist das höchstens in dem Sinne, dass ich sage: Ich will mir als Sänger diesen Bereich auch nach oben hin erschließen, es ist ein erster Versuch, die Vielseitigkeit dessen, was Oper in Deutschland bedeutet, darzustellen. Worin liegt für Sie beim Lohengrin die Herausforderung? Ich habe so viel im französischen und italienischen Bereich gemacht, da könnten einige ja sagen: Was wird er denn jetzt mit unserem Wagner anstellen? Aber gerade bei Lohengrin profitiere ich von der Erfahrung im italienischen Fach, weil »Lohengrin« so anders ist als andere Wagner-Opern: eine ganz andere Linienführung, die Tessitur viel größer, italienischer. Ein typischer Wagner-Tenor hat seine Schwierigkeiten mit dieser Partie. Dietrich Fischer-Dieskau hat damit geliebäugelt, die Partie zu singen. Da sieht man, wie tief sie liegt. Ihre neue CD heißt »Sehnsucht«. Muss man Sehnsucht haben, um Sänger sein zu können? Ja, Sehnsucht heißt, dass man sich in andere Welten versetzen kann, dorthin, wo man gerade nicht ist. Zur Sehnsucht gehört auch Schmerz. Als Sänger muss man große emotionale Kontraste aushalten können. Auf der Bühne steht man im Mittelpunkt, vor Tausenden von Menschen sehr exponiert, und kehrt fast exhibitionistisch das Innerste nach außen, was verwundbar macht. Eine Viertelstunde später geht man durch die Tür ins Hotel und in kürzester Zeit findet man sich in völliger Einsamkeit wieder. Sie können nicht zu Hause anrufen, denn wegen der Zeitverschiebung schlafen dort alle tief und fest. Sie brauchen Stunden, um den Adrenalinspiegel abklingen zu lassen. Ich lese dann meistens, andere fangen an, die Minibar auszuräubern. Natürlich habe auch ich sehr triste Momente erlebt. Sie kommen mir heute bei meiner Rollengestaltung zugute, weil ich das im Spiel reproduzieren kann.

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— Rausch

Wie können Sie diese einmal erlebten Gefühle als Sänger nutzen? Ich kann nur Gefühle spielen, die ich zuvor erlebt habe. Man konstruiert in sich eine virtuelle Welt, in die man so tief eintaucht, wie es nur irgend geht. Mit der Zeit entwickelt man eine gewisse Routine darin und, was viel wichtiger ist: Man hat dadurch ein Instrument, mit dem man auf der Stimme spielen kann. Wie spielt man dieses Instrument? Die Stimme ist ja nicht nur im Sprichwort ein Spiegel der Seele. Man kann diesen Zusammenhang im Spiel nutzen, wenn man Gefühle in sich wachruft, die man früher einmal erlebt hat. Diese Gefühle lassen sich über das Zwerchfell an die Stimmbänder weitergeben und machen sich auch beim Zuhörer wieder bemerkbar. Das geht direkt hier (deutet auf seinen Oberbauch) hinein, da ist der Sitz der Seele. Ein tolles Erlebnis, das nichts mit Vorkenntnissen oder einem Bildungsniveau zu tun hat. Wer ein Stück schon sehr gut kennt, erlebt auch etwas anderes, als wenn man es zum ersten Mal hört. Spielen Sie Gefühle wie Euphorie oder erleben Sie sie auf der Bühne auch? Ja, denn es gibt Tage, an denen alles stimmt: Man selbst ist gut drauf, die Kollegen auch und der Dirigent und das Orchester. Das ist phänomenal, in dieser Emphase werden ganz andere Kräfte freigesetzt, weil man nicht bewusst wahrnimmt, was man da eigentlich gerade tut. Klingt nach so etwas Ähnlichem wie Rausch. Voraussetzung dafür ist Technik. Wenn es nicht hundert­ prozentig stimmt, wenn ich den Mund aufmache, und wenn ich nicht mit der gleichen Spontaneität das, was ich jetzt sage, auch singen könnte, dann wird man das hören. Das hat mit Selbstüberzeugung und mit Selbstsicherheit zu tun, denn wenn man das e­igene Können hinterfragt, dann kann es nicht frei und natürlich und spontan kommen. Und wenn man auf der Bühne auch noch Partner mit großen Energien hat, dann schwingt es immer weiter und immer weiter auf und kommt in Bereiche hinein, in denen die Realität verschwimmt.

Jonas Kaufmann

Zu guter Letzt: Was raten Sie all denen, die zum ersten Mal in die Oper gehen? Ich versuche immer wieder, Leute in die Oper zu locken. Es ist für mich ein Rätsel, dass man glaubt, man könne etwas falsch oder sich lächerlich machen. Es gibt nur zwei Regeln: sich ruhig verhalten, und wenn einem was gefällt, klatschen — aus!

— Liedermatinee Jonas Kaufmann singt Lieder von Schubert. Am Klavier begleitet ihn Helmut Deutsch. Am 26. Juli, 11 Uhr, Nationaltheater. — Lohengrin Brabant steht vor dynastischen Querelen, kriegerische Auseinandersetzungen drohen. Die Sehnsucht nach dem mächtigen Retter im Volk ist groß. In dieser Zeit der Verunsicherungen erscheint wie aus einer anderen Welt ein Held: Wer ist der Schwanenritter, der sich zum Retter aufschwingt? In einer Zeit großer revolutionärer Veränderungen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts, schreibt Wagner seine Oper »Lohengrin«, in der erstmals der Klang des Orchesters zum Geheimnis und Motor des gesamten Dramas wird. Festspiel-Premiere mit Jonas Kaufmann am 5. Juli, 17 Uhr, Nationaltheater. Weitere Termine im Spielplan ab Seite 103.


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— Rausch

Oktoberfest

Bankgeheimnisse — Holger Gertz bilder — Florian Süssmayr Text

Was auch passiert — auf den Bänken des Bierzelts vereinen sich die Gegensätze der Welt in einem glasigen Zustand. Erkundungen eines Phänomens, das so nur in Bayern möglich ist Das vergangene Oktoberfest war ein besonderes, weil man selten zuvor so deutlich erkennen konnte, wie sehr sich die Innenwelt des Oktoberfests von der Welt da draußen unterscheidet. Da draußen passierte während des Oktoberfests unter anderem Folgendes: Die CSU verlor ihre Mehrheit, die Börse crashte, die Menschen holten ihr Erspartes von der Bank. Die Welt da draußen geriet ins Wanken, während die Welt da drinnen, im Bauch der Bierzelte auf der Wiesn, so blieb, wie sie war. Man tat, was man dort immer tut: am Biertisch sitzen, vor sich ein riesiges, goldenes Bier. Und dann abwarten, wen das Schicksal des Tages so vorbeispült. »Wie heißt du?«, fragt man. »What’s your name?«, wird man gefragt. Das ist der Schlüssel. Im Bierzelt braucht man nur den Vornamen seines Nebenmannes oder der Nachbarin am Tisch, dann kommt man sich näher. Wer nicht reden will, geht nicht aufs Oktoberfest. Wer nicht reden kann, trinkt eine Mass. Danach geht es leichter. Der Mensch, nicht nur der bayerische, mag Konstanten lieber als bedrohliche Veränderungen, deshalb war das Oktoberfest für ihn ein Schutzraum, in dem er sich Schutzräuschen hingeben konnte. Ein Rausch kann schützen, vor der Wahrheit, man konnte das gut erkennen am allerersten Tag der Wiesn des Jahres 2008. Die Menschen — überwiegend Bayern — saßen auf Bierbänken, vor sich hatten sie je eine Mass und ein Handy. Auf dem Handy empfingen sie SMS-Botschaften derjenigen, die in der Außenwelt verloren waren, und die Außenwelt war in diesem Fall sehr genau zu ver­ orten. Die Außenwelt war die Allianz Arena in Fröttmaning, wo der FC Bayern gegen Werder Bremen spielte. 0:1 blinkte auf den Handys der Wiesn-Besucher, 0:2. Beim 0:3 versuchten einige, telefonisch Kontakt aufzunehmen zur Außenwelt, um herauszufinden, was da los war, aber es klappte nicht. Man konnte am Handy nichts

verstehen, es war zu laut im Stadion, zu laut auch auf der Wiesn. Die Biergläser wurden jetzt zügiger geleert, weitere SMS gingen ein. 0:4. 0:5. Die Welt da draußen war aus den Fugen, aber drinnen sah man jede Menge Gestalten, die, schon am Nachmittag berauscht, ihr Kinn auf dem Rand ihres Glases abstützten und Trost suchend nach der Bedienung winkten, die verlässlich weiteres Bier heranschleppte. Kann man sich ein Ergebnis schöntrinken? Dumme Frage. Der Rausch schlug die Realität an diesem Tag. Und als am Abend auch die Bremer Fans — berauscht vom Triumph ihres Teams — aus dem Stadion aufs Oktoberfest kamen, wurden sie dort von den Münchnern — berauscht vom Bier — geradezu liebevoll empfangen. Es kam zu Szenen der Verbrüderung. Nordmenschen in Trikots von Frings und Pizarro waren Teil der Masse, zum Beispiel im Hackerzelt, unter dem Himmel der Bayern wurde alles eins. Der gemeinsam erlebte Rausch verwischte alle Differenzen. Vielleicht abgesehen davon, dass auch im Laufe des Abends die Bremer weiterhin eine »Maas« bestellten, wenn sie neues Bier wollten. Denn wo der Bayer ein kurzes a spricht, wie in Mass, spricht der Bremer ein langes — und wo der Bayer ein langes spricht, wie in Rad, spricht der Bremer grundsätzlich ein kurzes: Ratt. Vor Kurzem haben sie im Fernsehen eine dieser gerade sehr beliebten Slapstick-Umfragen gemacht, bei der ein Reporter mit einem buschigen Mikrofon sich umschaut, welcher der Passanten so aussieht, als würde er die dümmste und damit die lustigste Antwort auf eine scheinbar ernst gemeinte Frage geben. Es ging nicht um Ost und West, es ging um Nord und Süd. Es war in Hamburg und der Reporter fragte ein paar dieser verlotterten Jugendlichen, die immer an den Bahnhöfen der großen Städte herumhängen, ob sie sich vorstellen könnten, jemals nach Bayern zu reisen. Und die verlotterten Jugendlichen antworteten sinngemäß: Auf keinen Fall, weil — die in Bayern sprechen immer so komisch. Und die haben so einen merkwürdigen Glauben. (Man weiß nicht, wie die im Fernsehen arbeiten, vielleicht loben sie, bevor die Kamera eingeschaltet wird, eine Flasche Bier


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— Rausch

Oktoberfest

Bankgeheimnisse — Holger Gertz bilder — Florian Süssmayr Text

Was auch passiert — auf den Bänken des Bierzelts vereinen sich die Gegensätze der Welt in einem glasigen Zustand. Erkundungen eines Phänomens, das so nur in Bayern möglich ist Das vergangene Oktoberfest war ein besonderes, weil man selten zuvor so deutlich erkennen konnte, wie sehr sich die Innenwelt des Oktoberfests von der Welt da draußen unterscheidet. Da draußen passierte während des Oktoberfests unter anderem Folgendes: Die CSU verlor ihre Mehrheit, die Börse crashte, die Menschen holten ihr Erspartes von der Bank. Die Welt da draußen geriet ins Wanken, während die Welt da drinnen, im Bauch der Bierzelte auf der Wiesn, so blieb, wie sie war. Man tat, was man dort immer tut: am Biertisch sitzen, vor sich ein riesiges, goldenes Bier. Und dann abwarten, wen das Schicksal des Tages so vorbeispült. »Wie heißt du?«, fragt man. »What’s your name?«, wird man gefragt. Das ist der Schlüssel. Im Bierzelt braucht man nur den Vornamen seines Nebenmannes oder der Nachbarin am Tisch, dann kommt man sich näher. Wer nicht reden will, geht nicht aufs Oktoberfest. Wer nicht reden kann, trinkt eine Mass. Danach geht es leichter. Der Mensch, nicht nur der bayerische, mag Konstanten lieber als bedrohliche Veränderungen, deshalb war das Oktoberfest für ihn ein Schutzraum, in dem er sich Schutzräuschen hingeben konnte. Ein Rausch kann schützen, vor der Wahrheit, man konnte das gut erkennen am allerersten Tag der Wiesn des Jahres 2008. Die Menschen — überwiegend Bayern — saßen auf Bierbänken, vor sich hatten sie je eine Mass und ein Handy. Auf dem Handy empfingen sie SMS-Botschaften derjenigen, die in der Außenwelt verloren waren, und die Außenwelt war in diesem Fall sehr genau zu ver­ orten. Die Außenwelt war die Allianz Arena in Fröttmaning, wo der FC Bayern gegen Werder Bremen spielte. 0:1 blinkte auf den Handys der Wiesn-Besucher, 0:2. Beim 0:3 versuchten einige, telefonisch Kontakt aufzunehmen zur Außenwelt, um herauszufinden, was da los war, aber es klappte nicht. Man konnte am Handy nichts

verstehen, es war zu laut im Stadion, zu laut auch auf der Wiesn. Die Biergläser wurden jetzt zügiger geleert, weitere SMS gingen ein. 0:4. 0:5. Die Welt da draußen war aus den Fugen, aber drinnen sah man jede Menge Gestalten, die, schon am Nachmittag berauscht, ihr Kinn auf dem Rand ihres Glases abstützten und Trost suchend nach der Bedienung winkten, die verlässlich weiteres Bier heranschleppte. Kann man sich ein Ergebnis schöntrinken? Dumme Frage. Der Rausch schlug die Realität an diesem Tag. Und als am Abend auch die Bremer Fans — berauscht vom Triumph ihres Teams — aus dem Stadion aufs Oktoberfest kamen, wurden sie dort von den Münchnern — berauscht vom Bier — geradezu liebevoll empfangen. Es kam zu Szenen der Verbrüderung. Nordmenschen in Trikots von Frings und Pizarro waren Teil der Masse, zum Beispiel im Hackerzelt, unter dem Himmel der Bayern wurde alles eins. Der gemeinsam erlebte Rausch verwischte alle Differenzen. Vielleicht abgesehen davon, dass auch im Laufe des Abends die Bremer weiterhin eine »Maas« bestellten, wenn sie neues Bier wollten. Denn wo der Bayer ein kurzes a spricht, wie in Mass, spricht der Bremer ein langes — und wo der Bayer ein langes spricht, wie in Rad, spricht der Bremer grundsätzlich ein kurzes: Ratt. Vor Kurzem haben sie im Fernsehen eine dieser gerade sehr beliebten Slapstick-Umfragen gemacht, bei der ein Reporter mit einem buschigen Mikrofon sich umschaut, welcher der Passanten so aussieht, als würde er die dümmste und damit die lustigste Antwort auf eine scheinbar ernst gemeinte Frage geben. Es ging nicht um Ost und West, es ging um Nord und Süd. Es war in Hamburg und der Reporter fragte ein paar dieser verlotterten Jugendlichen, die immer an den Bahnhöfen der großen Städte herumhängen, ob sie sich vorstellen könnten, jemals nach Bayern zu reisen. Und die verlotterten Jugendlichen antworteten sinngemäß: Auf keinen Fall, weil — die in Bayern sprechen immer so komisch. Und die haben so einen merkwürdigen Glauben. (Man weiß nicht, wie die im Fernsehen arbeiten, vielleicht loben sie, bevor die Kamera eingeschaltet wird, eine Flasche Bier


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— Rausch

aus für denjenigen, der bereit ist, die dämlichste Antwort zu geben. Vielleicht stecken sie ihnen auch einen Zettel zu, auf dem die dämlichste Antwort schon draufsteht, und wenn die Jugendlichen lesen können, sagen sie am Ende das, was sie sagen sollen.) Jedenfalls begegnet der Gast, wenn er in Bayern ist, dem Eingeborenen mit einer gewissen Distanz, er erlebt ihn tagsüber als eher überheblich. Zwischen Süd und Nord herrscht eine, wie Soziologen das nennen, »erhebliche wechselseitige Fremdheit«. Momente der Annäherung ergeben sich gegen Abend, auf dem Oktoberfest genauso wie im Wirtshaus oder unter Kastanienbäumen im Biergarten. Nicht zufällig sind das alles Orte, wo der Rausch gesucht und meistens auch gefunden wird. Weil der bayerische Mensch an gutes Bier von Kindheit an gewöhnt ist, berauscht er sich nicht fahrlässig und verwegen, er gleitet allmählich in einen Zustand hinein, der weniger mit Aggressivität zu tun hat als mit Entspannung. Seine Euphorie teilt sich mit in einer um sich greifenden Gutmütigkeit. Der bayerische Mensch, der im nüchternen Zustand unangenehm spitzgliedrig sein kann wie Edmund Stoiber, bedrohlich grummelig wie Josef Bierbichler, penetrant kraftprotzig wie Uli Hoeneß oder gschaftlhubrig-besserwisserisch wie der Fernsehkoch Schuhbeck, vollzieht eine Wandlung, wenn er sich berauscht. Aus glasigen Augen schaut er gelassen in die Welt und es scheint ihm nicht länger von Bedeutung, der Beste zu sein — im stocknüchternen Zustand dagegen sind ihm Rankings aller Art ziemlich wichtig. Spätabends, wenn es dunkel ist, verlässt er den Biergarten und trägt schwankend vielleicht das schöne Blatt einer Rosskastanie unbemerkt am Mantel mit sich fort. Oder er verlässt die Wiesn mit albernen Luftballons am Arm und sieht in beiden Fällen ein bisschen lächerlich aus und damit ausgesprochen sympathisch. Der Rausch — jedenfalls der kultivierte Erwachsenenrausch, nicht das auf Wettbewerb angelegte Komasaufen der 15-Jährigen — schützt und verbindet, er zeichnet weich und macht eins, der Rausch ist ein Kulturgut in Bayern, das Verhältnis zum Rausch kann Wahlen entscheiden. Als Günther Beckstein, der ehemalige Minister-

Oktoberfest

präsident, vor den vergangenen Landtagswahlen seine Bier-Rede von Erding hielt, hatte er nicht daran gedacht, dass in der modernen Mediengesellschaft alles konserviert wird, sogar das, was man in der halboffiziellen Atmosphäre eines Bierzelts verkündet. Nach zwei Mass und damit maßvoll berauscht könne man durchaus noch Auto fahren, sagte Beckstein, und gleich wurde der Satz historisch eingeordnet. Beckstein wurde die B-Frage (Wie viel Bier in welcher Zeit?) nicht mehr los. Googelt man die Schlagworte »Beckstein« und »Bier«, findet man deutlich mehr Einträge als bei der Kombination »Beckstein« und »Pendlerpauschale«, seinem ehemaligen Wahlkampfschlager. Wenn der ganze Beckstein vergessen sein wird, seine preiswerten Anzüge, sein entschlossener Umgang mit Banditen — die Sache mit dem Rausch wird bleiben. So wie am Morgen nach dem Rausch vieles versunken ist; aber die Erinnerung an Menschen im Rausch, Gestalten vom Abend zuvor, sie bleibt. Das Oktoberfest 2008 hatte legendäre Augenblicke, aber der schönste war, als eine Einzelhandelsverkäuferin aus Schkopau den bei ihr sitzenden Bayern den Unterschied zwischen den ostdeutschen Städten Schkopau und Zschopau klarzumachen versuchte. Es erwies sich als nahezu unmöglich, bereits nach der ersten Mass den Namen der Stadt Schkopau auszusprechen, selbst der Einzelhandelsverkäuferin, ungefähr 20 Jahre alt, rot geschminkter Mund, schwarz lackierte Fingernägel, gelang das von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr. Auch die wenigen Wassertrinker auf der Wiesn scheiterten an Schkopau wie an Zschopau, und wenn in einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe alle gemeinsam scheitern, ist das eine sehr verbindende Erfahrung.

Holger Gertz ist Reporter bei der »Süddeutschen Zeitung«. Für seine Texte ist er u. a. mit dem Axel-Springer-Preis und Georg-SchreiberPreis ausgezeichnet worden.


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— Rausch

aus für denjenigen, der bereit ist, die dämlichste Antwort zu geben. Vielleicht stecken sie ihnen auch einen Zettel zu, auf dem die dämlichste Antwort schon draufsteht, und wenn die Jugendlichen lesen können, sagen sie am Ende das, was sie sagen sollen.) Jedenfalls begegnet der Gast, wenn er in Bayern ist, dem Eingeborenen mit einer gewissen Distanz, er erlebt ihn tagsüber als eher überheblich. Zwischen Süd und Nord herrscht eine, wie Soziologen das nennen, »erhebliche wechselseitige Fremdheit«. Momente der Annäherung ergeben sich gegen Abend, auf dem Oktoberfest genauso wie im Wirtshaus oder unter Kastanienbäumen im Biergarten. Nicht zufällig sind das alles Orte, wo der Rausch gesucht und meistens auch gefunden wird. Weil der bayerische Mensch an gutes Bier von Kindheit an gewöhnt ist, berauscht er sich nicht fahrlässig und verwegen, er gleitet allmählich in einen Zustand hinein, der weniger mit Aggressivität zu tun hat als mit Entspannung. Seine Euphorie teilt sich mit in einer um sich greifenden Gutmütigkeit. Der bayerische Mensch, der im nüchternen Zustand unangenehm spitzgliedrig sein kann wie Edmund Stoiber, bedrohlich grummelig wie Josef Bierbichler, penetrant kraftprotzig wie Uli Hoeneß oder gschaftlhubrig-besserwisserisch wie der Fernsehkoch Schuhbeck, vollzieht eine Wandlung, wenn er sich berauscht. Aus glasigen Augen schaut er gelassen in die Welt und es scheint ihm nicht länger von Bedeutung, der Beste zu sein — im stocknüchternen Zustand dagegen sind ihm Rankings aller Art ziemlich wichtig. Spätabends, wenn es dunkel ist, verlässt er den Biergarten und trägt schwankend vielleicht das schöne Blatt einer Rosskastanie unbemerkt am Mantel mit sich fort. Oder er verlässt die Wiesn mit albernen Luftballons am Arm und sieht in beiden Fällen ein bisschen lächerlich aus und damit ausgesprochen sympathisch. Der Rausch — jedenfalls der kultivierte Erwachsenenrausch, nicht das auf Wettbewerb angelegte Komasaufen der 15-Jährigen — schützt und verbindet, er zeichnet weich und macht eins, der Rausch ist ein Kulturgut in Bayern, das Verhältnis zum Rausch kann Wahlen entscheiden. Als Günther Beckstein, der ehemalige Minister-

Oktoberfest

präsident, vor den vergangenen Landtagswahlen seine Bier-Rede von Erding hielt, hatte er nicht daran gedacht, dass in der modernen Mediengesellschaft alles konserviert wird, sogar das, was man in der halboffiziellen Atmosphäre eines Bierzelts verkündet. Nach zwei Mass und damit maßvoll berauscht könne man durchaus noch Auto fahren, sagte Beckstein, und gleich wurde der Satz historisch eingeordnet. Beckstein wurde die B-Frage (Wie viel Bier in welcher Zeit?) nicht mehr los. Googelt man die Schlagworte »Beckstein« und »Bier«, findet man deutlich mehr Einträge als bei der Kombination »Beckstein« und »Pendlerpauschale«, seinem ehemaligen Wahlkampfschlager. Wenn der ganze Beckstein vergessen sein wird, seine preiswerten Anzüge, sein entschlossener Umgang mit Banditen — die Sache mit dem Rausch wird bleiben. So wie am Morgen nach dem Rausch vieles versunken ist; aber die Erinnerung an Menschen im Rausch, Gestalten vom Abend zuvor, sie bleibt. Das Oktoberfest 2008 hatte legendäre Augenblicke, aber der schönste war, als eine Einzelhandelsverkäuferin aus Schkopau den bei ihr sitzenden Bayern den Unterschied zwischen den ostdeutschen Städten Schkopau und Zschopau klarzumachen versuchte. Es erwies sich als nahezu unmöglich, bereits nach der ersten Mass den Namen der Stadt Schkopau auszusprechen, selbst der Einzelhandelsverkäuferin, ungefähr 20 Jahre alt, rot geschminkter Mund, schwarz lackierte Fingernägel, gelang das von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr. Auch die wenigen Wassertrinker auf der Wiesn scheiterten an Schkopau wie an Zschopau, und wenn in einer zufällig zusammengewürfelten Gruppe alle gemeinsam scheitern, ist das eine sehr verbindende Erfahrung.

Holger Gertz ist Reporter bei der »Süddeutschen Zeitung«. Für seine Texte ist er u. a. mit dem Axel-Springer-Preis und Georg-SchreiberPreis ausgezeichnet worden.


— Weather (Paradise Falls) #14, 2006—2007


— Weather (Paradise Falls) #14, 2006—2007










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