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INTERVIEW

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IMPRESSUM

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MEISTER DER KOMIK

Bernd Gieseking gilt als der König der Jahresrückblicke und tourt seit nunmehr 30 Jahren erfolgreich mit seinen Bühnenprogrammen durch die gesamte Republik. Seiner treuen Leserschaft ist er wahlweise als taz-Kolumnist oder als Finnlandkenner oder beides bekannt. Wir haben ihn zum Interview eingeladen, um mit ihm über die Pandemie, die Veranstaltungswirtschaft und sein neustes Buch zu sprechen.

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Ein persönlicher Rückblick auf das Jahr 2021: Drei Dinge, die dich total genervt, und drei Dinge, die dich total gefreut haben?

Ach, so schnell bin ich gar nicht zu nerven. (Lacht) Aber wenn mich wirklich was nervt, dann schreibe ich sofort einen Kabaretttext darüber, dann muss ich lachen und damit ist das ja schon wieder bearbeitet, „handhabbar“ und „ausgelacht“! Also direkt zu den drei Freuden: Ich habe im September eine anspruchsvolle Alpenüberquerung geschafft. Ein tolles Naturerlebnis. Und für mich ein „später“ sportlicher Erfolg. Damit verbunden, als zweite Freude: Mir gelang im Vorfeld eine erhebliche Gewichtsreduktion durch Training. Sogar zweistellig! (Lacht) Die dritte Freude: Ich hatte schon jahrelang eine Idee für zwei Weihnachtsgeschichten. Mit denen bin ich jetzt im legendären Reclam Verlag in einer Anthologie mit wunderbaren Kollegen. Die beiden Stories werden jetzt Grundlage für ein Weihnachtsprogramm. Es heißt „Geschenkt!“ und kommt zum Winter 2022.

Wie hat die Pandemie dein Leben verändert?

Ich weigere mich zu glauben, mein Leben habe sich verändert. Es gibt lediglich eine Zäsur. Eine schmerzhafte allerdings. Zu lang ist sie auch. Ich kann kaum auftreten, verdiene also (zu) wenig Geld, das fehlt auch später mal an der Rente, an die ich vorher noch nie gedacht hatte. Darum ja auch noch ein Weihnachtsprogramm. (Lacht wieder) Aber zu Corona und den Folgen: Ich war immer schon teilzurückgezogen – um zu schreiben. Klar, ich geh aktuell – wie fast alle – zu wenig in Kneipen, Kinos und Theater. Das ist Mist! Die brauchen uns wie ich sie. Aber es gab, durch Corona, auch Zeit, meine schwer erkrankten Eltern zu unterstützen, wo ich sonst auf Tournee gewesen wäre.

Die Stadt Jena hat einen offenen Brief zu Corona-Wirtschaftshilfen versendet. Wie beurteilst du die aktuelle Situation der Veranstaltungswirtschaft?

Es ist ein Wunder, dass es uns noch gibt! Aber man braucht diesen Wahnsinn, diese innere Flamme, um Kunst und Kultur zu produzieren und zu veranstalten. Und da war die „freie Szene“ schon immer unterfinanziert. Natürlich ist es für die Branchenriesen kein Problem, sogar ein paar Jahre zu „überwintern“, aber eben nicht für den „Mittelbau“ wie mich. Bei uns ist es eng. Und für die „Kleinen“ und den Nachwuchs ist es ganz bitter. Aber allen gemeinsam ist: Wir vermissen unser Publikum, die Bühne, den Kontakt, den Auftritt. Das „Lachen machen“.

Man sagt: „Das Leben schreibt die schönsten Geschichten“. Was inspiriert dich?

Gerade in meinen Finnland-Büchern sind es tatsächlich meine Erlebnisse mit Menschen im Land, da stimmt das Sprichwort absolut. Oft werden bei mir familiäre Begebenheiten zum Thema, Episoden mit meinen Eltern in Ostwestfalen. Da stimmt es auch. Aber ich schreibe ja in ganz verschiedenen Genres. Kinderhörspiel, Kabarett, Sachbuch, Kolumnen. Die Inspiration kann auch mal ein zufälliges Wort sein, ein Satz im Gespräch oder ein Ort, ein Blick, ein Anblick. Oder ein Zeitungsartikel. Im Kabarett ist es das jeweilige Ereignis, die Stellungnahmen der Verantwortlichen. Wenn ich dann für Kinder schreibe, kann ich „dem Affen richtig Zucker“ geben. Ich kann meiner Fantasie folgen, egal was mein Kopf sich ausdenkt. Ich kann Tiere sprechen lassen oder Steine. Und kann Freundschaften stiften sogar zwischen einem Wellensittich und

einer Fledermaus. Trolle und Drachen spielen dann mit. Oder eben ganz normale Menschen von nebenan. Ich kann die Grenzen der „normalen“ Welt aufheben. Das ist fantastisch.

Im Juni 2021 hast du dein drittes FinnlandBuch veröffentlicht. Worum geht es?

Um das Glück der Finnen! Daher auch der Titel „Finne dein Glück“. Ich bin einmal senkrecht durch das Land gereist und zurück, von Helsinki nach Inari in Lappland und etwas versetzt davon westlich über Oulu, Tampere und Turku zurück. Ich habe mit jedem gesprochen, der nicht bei drei auf der Birke war. Finnland war 2018, 2019, 2020 und 2021 wieder Erster beim World Happiness Report. Warum? Die Finnen staunen selber über das Ergebnis. Ich habe mich durch das Land „treiben lassen“ und bin faszinierenden Menschen begegnet, einem ehemaligen Mitglied der Leningrad Cowboys genauso wie der ersten Bischöfin des Landes, einem Lakritz-Fabrikanten und der finnischen Vizemeisterin im Hobby Horsing in der Disziplin Dressur. Das ist Steckenpferdreiten. Und ich habe natürlich in jeder sich bietenden Sauna gesessen. (Lacht)

Vom 18. Juni bis 25. September 2022 findet die documenta fifteen statt und wird erstmalig von einem Kollektiv geleitet. Was erwartest du?

Erwarten ist für mich das falsche Wort. Erwartungen führen oft zu Enttäuschungen. Ich bin sehr gespannt, sehr neugierig auf die Arbeiten, die zu sehen sein werden. Auch, ob es wieder ein genügendes „außen“ gibt, Kunstwerke in der Öffentlichkeit, außerhalb der Gebäude, die ohne Eintrittsgeld zu erleben sind, wie es Jan Hoet mit seiner documenta IX absolut beispielhaft gezeigt hat, herausragend dabei Borofskys „Himmelsstürmer“, wie die Kasseler ihn tauften, oder 2017 mit dem „Parthenon der Bücher“. So kann man Kunst zugänglicher machen, um die Bevölkerung vor Ort in großer Breite zu begeistern und mitzunehmen. Und ich bin gespannt, ob das LeitungsKollektiv auch Künstler-Kollektive bevorzugt und wie sich deren Arbeiten dann mitteilen.

Auf welches Großereignis 2022 freust du dich am meisten?

Es sind drei – und alle in Nordhessen: tatsächlich auf die documenta, aber mindestens genauso auf die Ausstellung „Systemfehler“ oder auch „C 8“, die größte Sammelausstellung Komischer Kunst im deutschsprachigen Raum, alle fünf Jahre – und 22 wieder – von der Caricatura Kassel präsentiert. Und ich freue mich auf mein Lieblingsfestival, das Open Flair in Eschwege.

Gestatte uns noch ein paar persönliche Fragen. Welche Persönlichkeit aus der Vergangenheit würdest du gern zu einem Barbesuch einladen? Au, das ist schwer. David Bowie. Oder Jacques Tati. Nee, Herman Melville. Nein, Jacques-Yves Cousteau. Äh, ich korrigiere erneut: Eigentlich würde ich gern nochmal an einer Theke mit Harry Kramer reden, ehemaliger Prof an der Kunsthochschule Kassel. (Aus der Gegenwart wäre es übrigens Patti Smith, mit der würde ich sehr gern in einer Bar sitzen – und ich denke, wir würden – sehr finnisch – wenig reden und viel schweigen.)

Hast du Vorbilder?

Vorbild ist auch wieder das falsche Wort, einem Vorbild würde man ja nacheifern. Aber, ja klar, es gibt Künstler, die ich großartig finde. Orientierungspunkte. Mutmacher. Inspiratoren! Und die sind gleichzeitig gar nicht zu erreichen! Das sind im Kabarett zuerst Werner Fink und Matthias Beltz. Grundsätzlich auch die Autoren und Zeichner der Neuen Frankfurter Schule. Und der Schweizer Franz Hohler, bei dem ich sah, dass ein Kabarettist auch „Literatur“ und sogar für Kinder schreiben „darf“. William Kotzwinkle zählt dazu, der in fast jedem seiner Romane in einem anderen Genre arbeitet. Im Feld der Kinderbücher ist es vor allem die Finnin Tove Jansson als Weltenerfinderin mit ihren „Mumins“. Ein ganz anderes Vorbild ist Hannes Wader, auch wenn der was ganz anderes macht, aber der war und ist wichtig für mich, in der Haltung, mit großer Komik auf seiner ersten LP, dann Volkssänger und politischer Barde und mit einem fantastischen, poetischen Alterswerk. Und, auch wenn ich kein Drehbuchautor bin, als Geschichtenerzähler sind die Regisseure Aki Kaurismäki und Jim Jarmusch, auch Doris Dörrie, Vorbilder.

Was gefällt dir an deiner Arbeit am besten?

Die Unabhängigkeit! Das Arbeiten außerhalb aller Hierarchien. Ich muss niemanden entlassen und niemand bestimmt, wer im Büro mir gegenübersitzt. Und mir gefällt sehr, dass das alles, was ich mache, was ich schreibe oder aufführe, irgendwie aus mir heraus entsteht. Mein Kopf macht das – und ich weiß selber nicht, wie er das macht. (lacht) Und mir gefällt, dass ich in meinen Themen und Interessen allem nachgehen kann. Ich habe die Möglichkeit, zu jedem Thema quasi in jede sich bietende Straße abzubiegen, ich kann auf kleinste Trampelpfade abzweigen. Und selbst wenn die Wege manchmal scheinbar zu nichts führen, es sind trotzdem niemals Sackgassen.

Was bedeutet Glück für dich?

Das Glück, für mich, ist einerseits Leben in erfüllter Beziehung, mit vertrauten Freunden und Familie. Glück bedeutet für mich, als Kreativer, als Autor und Bühnenkünstler, ausreichend Publikum zu finden, um das auch weiter tun zu können. Und Glück ist für mich, auf Reisen zu gehen, im Leben, bei uns im Land und auf der Welt, aber auch in den Büchern, die ich lese, und in den Geschichten, die ich schreibe.

Ein Blick auf das Jahr 2022: Was wünschst du dir?

Mein größter Wunsch: Ich war im März 2020 zu einer Finnland-Tournee eingeladen, quer durchs Land, mit neun Lesungen zwischen Rovaniemi in Lappland, Joenssu in Karelien und Turku und Helsinki im Süden. Die Tour ist wegen Corona geplatzt. Wir haben sie zum dritten Mal verlegt, jetzt auf April 2022. Wenn die stattfände, das wäre ein Traum! Und grundsätzlich wünsche ich mir für uns alle die Rückkehr zu einer neuen Normalität, zu Begegnungen und Kultur, die vorbehaltlos wieder stattfinden können – und auch frequentiert werden – wie früher.

Wir bedanken uns für deine Zeit und wünschen dir eine grandiose Finnland-Tournee.

›› www.bernd-gieseking.de

Bernd Gieseking, geboren 1958 in Minden-Kutenhausen, ist Kabarettist und Autor von Kolumnen

für die „Wahrheit“-Seite der „taz“, Kinderbüchern, Kinderhörspielen für den WDR und den HR sowie diversen anderen Büchern. Seine im FISCHER Taschenbuch erschienen Finnland-Bücher „Finne dich selbst!“ und „Das kuriose Finnland-Buch – Was Reiseführer verschweigen“ sind Bestseller.

Für sein neustes Buch „Finne dein Glück“ war Bernd Gieseking im Land der Glücksweltmeister unterwegs. Er reiste von Süd nach Nord, von Helsinki nach Inari und über Rovaniemi, die Insel Hailuoto und Turku wieder zurück.

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