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Kino vor dem Kino Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier
Die Familie Lavanchy-Clarke, Cannes 1906
Museum Tinguely
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19.10.2022 – 29.01.2023
Heute fürchten manche um die Zukunft des Kinos. Andere fragen sich, was die tägliche Flut an Bewegtbildern, die uns aus Handys, Laptops und Monitorplakaten entgegenschwappt, noch mit dem guten alten «Film»-Streifen zu tun hat. Unsere Ausstellung Kino vor dem Kino: Lavanchy-Clarke, Schweizer Filmpionier nähert sich diesem Thema in einer grossen Rückblende von 125 Jahren an: Seit wann gibt es überhaupt «Film», seit wann das «Kino» – und gibt es neben den prominenten Pionier-Namen Edison und Lumière, die uns da einfallen, auch einen Schweizer Beitrag zur Geschichte des frühesten Films?
Neuste Archivfunde haben die Nachlässe und das filmische Werk eines grandiosen Medienmannes der Belle Époque ans Licht gebracht, der heute unbegreiflicherweise fast völlig in Vergessenheit geraten ist: François-Henri Lavanchy-Clarke (1848–1922), Seifenindustrieller, Missionar, Organisator des internationalen Blindenwesens – und der vielseitigste Pionier des internationalen Early Cinema. Wie die Fotografie, in der Chemie und Optik zusammenkommen, hat auch «Film» viele Eltern: Die Kinematografie ist ein industrielles Verbundprodukt mit einem Automaten-Herzstück. Lavanchy-Clarke war in all diesen Gebieten genügend versiert, um einen eigenen Beitrag zur Entwicklung der Serienfotografie zu leisten. Dies sollte ihn schliesslich in Kontakt mit den Lyoner Industriellen Auguste und Louis Lumière bringen. Was ihn aber von allen Kollegen und Konkurrenten abhob, ist das Gespür des Entertainers für sein Publikum und für kühnstes Marketing mit allen gebotenen Mitteln der damaligen neusten Medientechnik.
Im neuen Veranstaltungsort Kino konnten sich die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Potenziale des neuen Mediums Film erst richtig entfalten. Um das Massenpublikum dauerhaft für Film zu begeistern, musste sich dieser von der kurzlebigen Sensation der «lebenden Fotografien» emanzipieren und lernen, für ein wiederkehrendes Publikum immer bessere und längere Geschichten zu erzählen. Erst um 1905 setzte der Siegeszug der Lichtspieltheater ein – mit festen, jedoch periodisch wechselnden Programmen.
Lavanchy-Clarke ist nicht nur ein Pionier des Films, sonders auch des Kinos. Er blieb zwar in den knapp zehn Jahren seiner Filmproduktion dem schnell veraltenden Cinématographe der Frères Lumière treu und führte in der ganzen Schweiz seine maximal einstündigen Programme vor. Er stellte sie aus hunderten von minutenkurzen Streifen zusammen. Dennoch betrieb er von Mai bis Oktober 1896 das mutmasslich erste Kino überhaupt: An der zweiten Schweizer Landesausstellung in Genf führte er in seinem Pavillon Palais des fées seine Filme vor – in einem extra dafür eingerichteten Saal.
Der Lumière-Cinématographe liess sich zugleich als Kamera, Kopier- und Projektionsgerät einsetzen. So konnte Lavanchy-Clarke die Aufnahmen, die er an der Landesausstellung inszenierte, dort umgehend auch vorführen. Dabei entstand eine Perle der Schweizer Filmgeschichte: Am 16. Mai 1896 filmte er die Crème de la crème der Schweizer Künstlerschaft bei ihrem Besuch im «Schweizerdorf» – unter ihnen Ferdinand Hodler, Albert Welti und Cuno Amiet.
Nach 1904 erlahmte das Interesse des quirligen Unternehmers für die Filmerei. Familiäre Schicksalsschläge und Misserfolge als Fabrikant liessen ihn nach Cannes übersiedeln. Dort wandte er sich wieder vermehrt seinen unternehmerischen und philanthropischen Aktivitäten zu – aber auch seinem Interesse für fotografische Innovation: Die Brüder Lumière liessen ihn noch vor dessen Lancierung ihr spektakuläres Farbdia-Verfahren Autochrome testen, was Lavanchy-Clarke zum ersten Farbfotografen der Schweiz macht.
Die Ausstellung ist eine multimediale Hommage an diesen einmaligen Bildproduzenten und sein erstaunliches Werk, das nun zum ersten Mal in einer Ausstellung und im heutigen Kinoprogramm gezeigt wird. Sie bietet auch einen frischen Blick auf die oftmals verklärte Belle Époque, eine Zeit, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihr jähes Ende fand. Begleitet wird die Ausstellung von dem KinoDokumentarfilm Lichtspieler – wie Lavanchy-Clarke die Schweiz ins Kino holte. ◀
Text von Hansmartin Siegrist, Co-Kurator der Ausstellung
Der Film läuft ab 20. Oktober in den Schweizer Kinos, auch in den Basler kult.kinos