5 minute read
Territories of Waste Museum Tinguely
Museum Tinguely
Territories of Waste
Advertisement
Über die Wiederkehr des Verdrängten
14.09.2022 – 08.01.2023
Als Nicolás García Uriburu 1968 den Canal Grande in Venedig giftgrün färbte, erregte er Aufsehen. So sehr, dass der Künstler und Umweltaktivist die Aktion am Rhein 1981 wiederholte, schliesslich machte auch Joseph Beuys mit, und gemeinsam füllten sie das Wasser in Flaschen. Da war die Ökologiebewegung schon im Mainstream angekommen. Der Rhein galt damals als besonders schmutzig, ein anderes Mal färbte er sich infolge eines Chemieunfalls in Basel blutrot, Fische starben massenweise. Heute ist der Fluss so sauber, dass das Rheinschwimmen in Basel Volkssport Nummer 1 ist.
Verschmutzung, Müll und Ökologie sind bis heute für Künstlerinnen und Künstler wichtige Themen. Diesem Interesse spürt die Gruppenausstellung Territories of Waste im Museum Tinguely nach. Da zeigen sich eine verborgene Kunstgeschichte der Umweltverschmutzung und ein ständig wechselnder Blick auf Müll – vom Überfluss des 20. Jahrhunderts zum Anthropozän.
Mit Abfall jedenfalls kannte sich Jean Tinguely aus. Um 1960 begann der Schweizer Künstler, aus dem Schrott der Konsumgesellschaft kinetische Riesenskulpturen zu bauen, ganz im Geiste des Nouveau Réalisme. Zu jener Zeit lautete das Zukunftsversprechen noch: unbegrenztes Wachstum. «Um 1960 gab es viele Bilder von Abfallbergen, und es wurde auch in Europa Müll direkt in die Natur gekippt», sagt die Kuratorin Dr. Sandra Beate Reimann. Aber: «Viele der Begriffe, die für uns ganz aktuell sind, sind zum Teil schon aus den 1950ern. Zum Beispiel die geplante Obsoleszenz wurde 1960 von dem amerikanischen Essayisten Vance Packard beschrieben.»
Postkoloniale Geografien
Abfall ist in den letzten Jahrzehnten nicht weniger geworden, nur weniger sichtbar. Als Schwermetall, Feinstaub, Mikroplastik kehrt das Verdrängte wieder zurück und das Nachdenken darüber unterliegt heute einer globalen Perspektive. Welche Gefahren birgt – zum Beispiel – der Elektroschrott, der bei uns bequemerweise verschwindet und an den Küsten des globalen Südens weiterverarbeitet wird?
Von den postkolonialen Geografien erzählt Hira Nabi in ihrem Film All That Perishes at the Edge of Land, der von Frachtschiffen handelt, die an der Küste Pakistans ausgeschlachtet werden. Oder auch die Künstlerin Otobong Nkanga, die, nachdem sie versehrte Landschaften einer Kupfermine in Namibia sah, die unterhöhlte Topografie in Skulpturen übersetzte – Anfang des 20. Jahrhunderts zerstörten die deutschen Kolonialherren die Landschaft mit Dynamit. «Es wird in der Kunst nicht mehr nur reflektiert, was nach dem Konsum passiert», sagt die Kuratorin, «sondern auch, welche Verschmutzung und Vernarbung der Landschaft die Extraktion bewirkt.»
Mensch und Natur
In der Ausstellung zeigen sich viele verborgene Verbindungen von Ressourcenausbeutung und Land-Art. Agnes Denes’ Weizenfeld vor dem World Trade Center in
Agnes Denes, Wheatfield - A Confrontation: Battery Park Landfill, Downtown Manhattan - With New York Financial Center, 1982
New York zum Beispiel, das sie im Mai 1982 pflanzte, ist in den letzten Jahren in so vielen Gruppenausstellungen zum Thema Ökologie und Nachhaltigkeit aufgetaucht, dass es ganz heutig scheint. Ähnlich ist es mit der New Yorker Künstlerin Mierle Laderman Ukeles, deren Beschäftigung mit Fürsorgearbeit so gegenwärtig ist. «Sie stellt die Frage, ob wir immer etwas Neues erfinden müssen oder ob Kunst nicht auch maintenance sein kann», so Reimann. Müllabfuhr und Reinigung – Ukeles arbeitet an solchen Themen seit den späten 1960ern. In der Coronapandemie dankte sie auf grossen Bildschirmen in der Stadt den Arbeiterinnen und Arbeitern, die New York am Leben erhalten.
Alles schon da gewesen, könnte man also meinen, aber Territories of Waste ist keine historische Ausstellung – oder zumindest nur im Ansatz. Mit dem Anthropozän im Blick hat sich wieder einmal das Nachdenken über Abfall hin zu Waste und Verschwendung geändert. Eine jüngere Generation wirbelt die Kategorien von Mensch und Natur durcheinander, bis die Unterscheidung gar nicht mehr so klar ist. Eine Arbeit in der Schau befasst sich mit Schwermetallen, die am Atlantikstrand nach der Invasion der Alliierten 1944 immer noch nachzuweisen sind, eine andere spekuliert, was aus der Plastiksuppe des Ozeans für Kreaturen entstehen könnten. Menschliches Handeln und Umwelt sind nicht zu trennen, aber es bleibt doch immer etwas übrig. «Es geht nicht nur um Abfall», sagt die Kuratorin, «sondern um die Beschäftigung mit dem Übrigen.» ◀
Text von Philipp Hindahl Kuratorin der Ausstellung Dr. Sandra Beate Reimann
Begleitprogramm
Romy Rüegger, Ennui Public Haze (Stream Plays), 2022 – Performance Spaziergang mit der Künstlerin Romy Rüegger Samstag, 17. September 2022 Samstag, 24. September 2022 Sonntag, 25. September 2022 Freitag, 11. November 2022 Sonntag, 8. Januar 2023 jeweils 11 Uhr, 13.30 h und 16 h Teilnahme begrenzt (max. 5), Anmeldung erforderlich, Kosten: 12 CHF
Blasphemic Reading Soirées Gemeinsam mit Künstler:innen und Kompliz:innen lesen und diskutieren die Blasphemic Reading Soirées an ungewöhnlichen Orten Texte zur Ausstellung, freier Eintritt Donnerstag, 15. September 2022, 18.45 h; Museum Tinguely Donnerstag, 27. Oktober 2022, 18.45 h, Museum Tinguely Donnerstag, 17. November 2022, 19 h, Stadtreinigung Basel weitere Infos: blasphemicreadings.com
Roundtable with Hira Nabi and Tita Salina & Irwan Ahmett moderiert von Alice Wilke und Dr. Sandra Beate Reimann (auf Englisch) Donnerstag, 22. September 2022, 19 h Pinar Yoldaş, An Ecosystem of Excess; Metabolising Plastics, 2022 Lecture Performance (auf Englisch) Donnerstag, 20. Oktober 2022, 19 h
Art Taaalkssss at Institute Art Gender Nature, HgK FHNW: Mierle Laderman Ukeles Elise Lammer und Dr. Sandra Beate Reimann im Gespräch mit der Künstlerin Mierle Laderman Ukeles (auf Englisch) Ort: HGK FHNW, Dreispitz, Aula (D1.04) und via Zoom (dertank.ch/art-taaalkssss) Donnerstag, 3. November 2022, 17.30 h
Anca Benera & Arnold Estefán, Testimony of a Sand Grain, 2022 Lecture Performance (auf Englisch) Donnerstag, 24. November 2022, 19 h
Mikroplastik im Rhein: Erkenntnisse der Wissenschaft und offene Fragen Vortrag von Prof. Dr. Patricia Holm, Ökologin am Departement Umweltwissenschaften der Universität Basel Donnerstag, 1. Dezember 2022, 18.30 h
Zur Ausstellung erscheint eine Publikation. Neben der Printversion wird der Katalog auch als PDF-Download auf der Webseite des Museums frei zur Verfügung stehen. Weitere Infos: www.tinguely.ch
Mierle Laderman Ukeles, Washing / Tracks / Maintenance: Outside, 22. Juli 1973