5 minute read
Wiener Wirtschaft
Nur du allein?
Wien erarbeitet ein Viertel der Wirtschaftsleistung ganz Österreichs und wird regelmäßig zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Was will man mehr? Zum Beispiel eine effizientere Bürokratie und zusätzliche Infrastukturinvestments.
Advertisement
HARALD KOLERUS
„Die Wiener Stadtregierung hat in den letzten Jahren im Rahmen der Smart City-Ziele wichtige Impulse Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 gesetzt.“ Andreas Lehner, Geschäftsführer Österreichisches Wirtschaftsmuseum
2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019* 2020* WIEN ÖSTERREICH Veränderung gegenüber dem Vorjahr + 1,2% + 1,6% - 2,9% - 4,3% + 0,7% + 2,0% + 1,3% + 3,0% - 0,8% + 0,8% + 1,1% + 0,5% + 0,0% + 0,3% + 0,5% + 0,8% + 2,4% + 2,0% + 1,4% + 2,6% + 2,2% + 2,6% + 1,5% + 1,6% - 4,1% - 6,7% In einer Disziplin soll der Wiener unangefochtener Weltmarktführer sein: im „Raunzen“. Ob dieses Klischee stimmt, sei an dieser Stelle dahingestellt. Objektiv gesehen, gibt es an der Bundeshauptstadt viel zu loben, aber auch einiges zu kritisieren. Und es geht sicher noch „ein bisserl mehr“, wie man so schön sagt.
Kampf der Krise
Die Bundeshauptstadt investiert jährlich im Schnitt mehr als zwei Milliarden Euro. 2020 wurde das Gesamtvolumen der Investitionen noch vor Beginn der Covid-Pandemie um weitere 400 Millionen auf rund 2,5 Milliarden Euro erhöht. Als Unterstützung für die Wiener Wirtschaft, der Arbeitnehmer sowie für das Wiener Gesundheits- und Sozialsystem hat die Stadt zudem ein über 400 Millionen schweres Corona-Hilfspaket bereitgestellt. Zusätzlich zu den genannten Maßnahmen hat die Bundeshauptstadt ein Konjunkturpaket in der Höhe von rund 600 Millionen Euro für kommunale Daseinsvorsorge und die städtische Infrastruktur geschnürt. 360,5 Millionen stellt die Stadt selbst zur Verfügung, 239,5 Milionen Euro kommen aus dem Gemeindepaket des Bundes. Das Geld fließt in Bildungsinfrastruktur und Kindergärten, Sportstätten und Bäder, in Straßen- und Brückeninfrastruktur, den öffentlichen Verkehr und in die Wiener Pensionisten-Wohnhäuser. „Wir nehmen Geld in die Hand und investieren bewusst in die Bereiche Daseinsvorsorge, soziale Versorgung, Infrastruktur und Sport“, so Bürgermeister Michael Ludwig. Dass es sich hier um keine „Hauruck-Aktion“ handelt und bereits in der Vergangenheit viel getan wurde, steht außer Zweifel. Denn nicht umsonst wird Wien in schöner Regelmäßigkeit vom internationalen Beratungsunternehmen Mercer zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt.
Warten auf Godot
Solche Auszeichnungen wärmen das „goldene Wiener Herz“, sich auf den Lorbeeren auszuruhen, gilt aber nicht. Wo der Schuh drückt, weiß Alexander Biach (siehe Interview rechts), Standortanwalt für Wien. Diese Funktion wurde im letzten Jahr bundesgesetzlich verankert und in der Wirtschaftskammer angesiedelt. Ihre Aufgabe ist es unter anderem, bei Genehmigungsverfahren von Bauvorhaben volkswirtschaftliche Effekte als Argumente zur Entscheidungsfindung einzubringen. Biach meint etwa zu Klagen von KMUs über zu viel Bürokratie in Wien: „Wir brauchen eine schlanke Verwaltung, die sich als Serviceeinrichtung versteht. Dort sind wir sicher noch nicht, daher kann ich die kritischen Stimmen durchaus verstehen. Ein Auswuchs der Bürokratie sind auch die überlangen Genehmigungsverfahren. Aktuell wurde die letzte Genehmigungshürde für die 380kV-Leitung erteilt. 55 Jahre hat die Behörde dafür gebraucht. So lange wartet man nicht mal auf Godot. Klar ist, dass es hier mehr Tempo und Mut zu Entscheidungen braucht.“ Lob und Kritik kommen auch von Andreas Lehner, Geschäftsführer „Verein Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum“. (Das Wirtschaftsmuseum ist eine seit 1925 bestehende Institution, die sich stark der Volksbildung verpflichtet hat.) Lehner: „Mit gerade einmal 0,5 Prozent der Fläche, aber rund 20 Prozent der Bevölkerung Österreichs, erwirtschaftet Wien im Jahr 2018
über 96 Milliarden Euro, also ein Viertel des österreichischen BIPs. Beim Bruttoregionalprodukt je Einwohner liegt Wien deutlich über dem Österreichschnitt. Einzig die Regionen Linz-Wels und Salzburg und Umgebung können hier mithalten.“ Weiteres Lob des Experten: „Die Wiener Stadtregierung hat in den letzten Jahren im Rahmen der Smart City-Ziele wichtige Impulse Richtung Digitalisierung und Industrie 4.0 gesetzt. Beeindruckend ist etwa die Innovationsoffensive in der Seestadt Aspern im 22. Bezirk mit dem Technologiezentrum Seestadt oder der ersten Pilotfabrik Österreichs, wo Experten der TU Wien gemeinsam mit nationalen und internationalen Unternehmen an Lösungen für die Industrie 4.0 arbeiten. Stadtregierung, kommunale sowie private Unternehmen und die Wiener Wirtschaftskammer arbeiten meiner Einschätzung nach also schon seit Jahren erfolgreich zusammen, um das Erfolgsmodell Wien auch in die Zukunft zu tragen.“
Noch mehr Bildung
Allerdings sieht Lehner im schulischen Bildungsbereich die Notwendigkeit von Veränderung: „Das ist jedoch ein österreichweites Problem. Projekt- und praxisorientiertes interdisziplinäres Lernen müsste gefördert, die 50 Minuten Lehr/Lern-Einheiten an den Schulen aufgebrochen werden. Kreativität müsste vermehrt in den Unterricht eingehen, so dass die junge Generation befähigt wird, Antworten und Lösungen auf zukünftige Fragen und Herausforderungen zu finden – Fragen, die wir heute noch gar nicht kennen.“ Übrigens: Lediglich 1,5 Prozent der 25- bis 64-Jährigen haben heute im Bereich „Naturwissenschaften, Mathematik und Statistik“ die höchste abgeschlossene Ausbildung. Im Bereich „Informatik und Kommunikationstechnologie“ sind es gerade einmal 1,3 Prozent. Lehner: „Ein höherer Anteil wäre für die Wiener Wirtschaft von Vorteil und könnte durch spezielle Anreize in den Schulen, etwa einem eigens zugeschnittenen Digital Literacy-Programm, auch erreicht werden.“ In diesem Sinne darf es ruhig auf gut Wienerisch noch „ein bisserl mehr“ sein.
LEBENSQUALITÄT: GOLDENES WIEN
PLATZIERUNG 2019 STADT 1 Wien 2 Zürich 3 Vancouver 3 München 3 Auckland 6 Düsseldorf 7 Frankfurt 8 Kopenhagen 9 Genf 10 Basel
Quelle: Ranking Quality of Living, Mercer
Vergleich Bruttoregionalprodukt in Mio. Euro
Quelle: WKO Wien Oberösterreich Niederösterreich Steiermark Tirol Salzburg Kärnten Vorarlberg Burgenland
0 9.006 34.673 29.045
20.882 19.077
20.000 40.000 49.604 65.850 61.020
60.000 80.000 96.417
100.000
Wien ist sozusagen das „produktivste Bundesland Österreichs,“ wobei es natürlich auch die bei weitem meisten Einwohner zählt, nämlich knapp 1,9 Millionen. Als Wasserkopf betrachten die Wiener ihre Stadt dennoch nur ungern. INTERVIEW
Alexander Biach, Standortanwalt für Wien
Wien gilt als eine der lebenswertesten Städte der Welt, wie sieht der wirtschaftliche Vergleich mit anderen Metropolen aus?
In Wien lebt es sich gut, das stimmt. Es gibt aber auch Aufholbedarf. Der internationale Standortwettbewerb wird jetzt noch härter werden. Daher gilt es, in Stärkefelder zu investieren – zum Beispiel in die Gesundheitswirtschaft. Hier ist Wien schon gut aufgestellt und könnte international eine führende Rolle einnehmen. Dafür sind aber Investitionen in die Infrastruktur und Bemühungen um die Top-Forscher notwendig. Bei der Frage, wie es um die Infrastruktur am Standort Wien bestellt ist, schnitt Wien in internationalen Studien nur mittelmäßig ab. Hier müssen wir aufholen. Das betrifft das Gesamtverkehrsnetz, den Ausbau der digitalen Infrastruktur, die Energieversorgung und die Modernisierung des öffentlichen Raums.
Welche Maßnahmen stehen konkret auf der Agenda?
Für Wien haben wir Projekte der öffentlichen Hand im Umfang von sechs Milliarden Euro identifiziert. Diese würden alleine in der Bauphase rund 50.000 Jobs bringen. Dazu zählen beispielsweise der Ausbau des öffentlichen Verkehrs mit Straßenbahnen und Schnellbahn, der Bau des Lobautunnels oder die Revitalisierung von heruntergekommenen „Grätzeln“ und Straßen in Wien. Manche Projekte wurden bereits beschlossen, andere hängen noch in der Genehmigungsschleife und einige sollten vorgezogen werden.