Klaus Rudolph
Die Horburger Madonna
Das fast vergessene Werk des Naumburger Meisters
Horburg anno 1500
Ein strahlend schöner Frühherbsttag. Warm. Die Luft flirrt in der Sonne. Altweibersommer. Aber nur am frühen Morgen dieses Feiertages liegt das 24-Häuser-Dorf Horburg ruhig und still da, denn schon bald herrscht geschäftiges Treiben im Ort. Tische und Bänke werden auf Marktplatz und Anger verteilt. Auf der Straße durch die Liebenau nähern sich Pferdewagen, Ochsenkarren und eine endlos lange Reihe von Pilgern. Sie kommen von Merseburg her, ebenso aus der Gegenrichtung, von Leipzig. Selbst die zahllosen Wege, die aus umliegenden Dörfern nach Horburg führen, wimmeln von Herannahenden.
Auf Marktplatz, Anger und Dorfstraße von Horburg rollen, Staub aufwirbelnd, Wagen und Karren. Dann werden Verkaufstische aufgestellt: Krämer, Handwerker, Bauern und Fischer legen ihre Waren aus. Unterdessen wächst vor dem Hauptportal der Marienkirche das Gedränge. Wer es nicht mehr hineinschafft, der bleibt draußen auf dem Gottesacker. Eine dicht an dicht gestaute Menge von Gläubigen, die erwartungsvoll auf die Kirchennordwand schaut. Zwei große geöffnete Fensterläden geben durch den hohen Wallfahrtsbogen den Blick frei ins Kircheninnere. Hier steht würdevoll der Merseburger Bischof, bereit, mit seiner Predigt die Wallfahrt zu eröffnen. Es ist der 8. September. Marias Geburtstag.
Der Tag, an dem Hunderte staunend das Tränenwunder der steinernen Madonna erwarten. Voll Ehrfurcht, voll Hoffnung und voll Fürbitte. Maria soll ihnen bei ihren Sorgen helfen. Die Madonna
Abb. 2 : Madonnenskizze Horburger Madonna –Zeichnung von C. Claussen (Ausschnitt aus einer Skizze für die Restaurierung 1931)
Die Madonna sorgt für viel Geld im Spätmittelalter
Die Marienfigur stellte also eine direkte Verbindung zur Gottesmutter her. Wie die Heiligen „verlangte“ sie Verehrung und persönliche Gaben, die der Kirche zugutekamen. Die Wallfahrer reisten aus dem Bistum Merseburg, aus sächsischen und thüringischen Umlanden nach Horburg – und hinterließen reichlich Dankesgaben. Für das im Jahr 1333 von Bischof Gerhard von Schraplau auf dem Merseburger Neumarkt gestiftete Hospital zur Hl. Barbara verwendete man unter anderem alles Geld, Silber und Wachs, welches bei der Marienkirche in Horburg eingenommen worden war.9 Die Quelle zeigt, dass die Wallfahrt – wie andernorts auch – dem Klerus gewaltige Einnahmen brachte. Somit ist wohl die Folgerung legitim, dass die in den Jahren 1450 bis 1516 neu erbaute gotische Wallfahrtskirche in Horburg zum Großteil daraus finanziert wurde.
Im Spätmittelalter nahm die Marienverehrung bis dahin nicht gekannte Ausmaße an. Maria war allgegenwärtig. Die heilige Maria war: Gottesmutter, Schmerzensmutter, Himmelskönigin, Madonna (italienisch: meine Herrin). Maria bot Zuflucht und Hilfe bei Gefahren, in Angst und Not. Sie war Fürsprecherin für alle Sünder bei Gott.10 Ungezählte bildnerische Werke illustrierten ihre Lebensgeschichte. Am eindrucksvollsten aber verdeutlichen die Schutzmantel-Madonnen-Bilder ihre Bedeutung im Spätmittelalter. Auf
ihnen schoss der zürnende Gottvater vom Himmel aus seine Pestpfeile auf die sündigen Menschen. Diese hatten sich ängstlich unter den Schutzmantel der Madonna begeben. An dem zerbrachen die Pfeile Gottes.11
Maria, Frau und Mutter, stand den Menschen der Zeit viel näher als Christus, der ferne und etwas unnahbare Gottessohn. Maria machte eine innige Beziehung möglich. Das galt auch für Persönlichkeiten wie Kurfürst Friedrich den Weisen und selbst den jungen Martin Luther. Kein Wunder, dass die Wallfahrten zu den Marienheiligtümern immer gigantischer wurden. Allerdings bekamen Christus-, Marien- und Heiligenverehrung in dieser Zeit auch paradoxe Züge. Immer neue Behälter mit dem wahren Blut Christi, immer neue Splitter vom Heiligen Kreuz oder Ampullen mit der Muttermilch Mariens tauchten auf. Immer mehr Sündenablass gegen Geld erteilte die Kirche, sogar für Sünden, die erst noch begangen werden sollten. Kirche und Klerus wurden so von Tag zu Tag reicher. Päpste und Bischöfe führten das prunkvolle Leben großer Fürsten. Die heilige Kirche verkam zusehends zu einer Institution, der es vor allem um reichlich klingende Münze und kaum noch um das Seelenheil ihrer Gläubigen ging.
Sensation im Jahre 1930
Im Jahr 1930 wurde eine Kirchenrenovierung für Horburg angeordnet. Besonders die Feuchtigkeit hatte dem Mauerwerk der Kirche stark zugesetzt. Die Leitung der Arbeiten lag in den Händen des preußischen Hochbauamtes Merseburg.
Baurat C. Claussen war verantwortlich. Den nassen Putz entfernte man von den Kirchenwänden, so dass die darunter liegenden Backsteine sichtbar wurden. So kamen auch noch drei zugemauerte Portale zum Vorschein. An der südlichen Wand entdeckten die Bauarbeiter eine eingemauerte Sakramentsnische mit dem Relief der Darstellung von Christus am Kreuz, umgeben von Maria und dem Jünger Johannes vom Ende des 15. Jh.19
Man legte das Kunstwerk frei und fügte es dann im Chorbereich in die Südwand ein. Auf dem Dachboden der Kirche hatte bis 1888 ein überlebensgroßes spätgotisches Kruzifix aus Lindenholz gelegen. Es wurde restauriert und konserviert und sollte an der Nordwand im Chorbereich seinen neuen Platz finden. Eine beeindruckend expressive Schnitzarbeit. Zudem fand man bei den Arbeiten im Jahr 1930 auf dem Dachboden noch eine ca. 80 cm hohe hölzerne Marienfigur aus der Zeit um 1480, die nach der Restaurierung etwa in der Mitte der Südwand zwischen zwei großen Fenstern positioniert wurde. Die Kirche hatte plötzlich einen recht bedeutsamen Teil ihrer mittelalterlichen Kunstwerke zurückbekommen. Doch ihr bekanntestes Werk, die legendäre weinende Madonna, fehlte noch immer.
Figurteile der zerstörten Horburger Madonna –zeitgenössische Fotografi e von 1930 (Freundeskreis Horburger Madonna –FHM)
Abb. 4: aneinandergelegte
Erneut Jahre der Stille
Leider sollte es dann doch nicht so kommen. Für seine „Volksgenossen“ setzte Nazi-Deutschland ab 1933 andere Prioritäten als stilles Gebet oder feinen Kunstsinn.
Auch in den auf den furchtbaren Krieg folgenden DDR-Zeiten standen Kirche und christliche Kunst nicht im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Geschehens. Allerdings waren Pfarrer, Kirchgemeinde, Denkmalpflege und selbst kommunistischer Ortsbürgermeister sehr wohl um die Erhaltung ihrer Dorfkirche bemüht. Gelegentlich pilgerten auch Kunstliebhaber nach Horburg. Jeweils am 08. September kamen viele Jahre lang Katholiken besonders aus Merseburg. Selbst in der Presse („Der neue Weg“, Tageszeitung der CDU in der DDR) erschienen manchmal Artikel über die wundervolle Geschichte der Horburger Madonna. Und ich möchte es hier nicht unerwähnt lassen, dass Ortspfarrer Gerhart Vollert über viele Jahre fleißig Material sammelte und zur Geschichte der Horburger Kirche und Madonna forschte.
nach Naumburg –Foto: K. Rudolph
Abb. 9 : Transport der Madonna von Horburg
Die außergewöhnliche Schönheit der Horburger Madonna
Nehmen wir uns nun Zeit für das Betrachten der Madonna. Trotz Beschädigungen fasziniert sie noch immer mit ihrer zierlichen, sich leicht dem Betrachter zuneigenden Gestalt und ihrer anmutigen Haltung. Vor allem aber zieht ihr schönes, ebenmäßiges, weiches und hoheitsvolles Gesicht den Betrachter in seinen Bann. Schon 1932 beschrieb der Kunsthistoriker Siegfried Scharfe, welche Wirkung die Horburger Himmelskönigin auf ihn ausübte: „Die Horburger Madonna ist aber von einer solchen Vornehmheit des Wuchses und der ganzen Haltung, ihrem Gesicht ist solch ein Adel der Seele eingezeichnet, dass man auch als evangelischer Christ andächtig gestimmt wird. Dem Künstler ist es gelungen, die Mutter Jesu anders zu formen wie andere Menschen. Wir merken etwas von dem Abstand zwischen der Welt, in der wir leben, und jener anderen Welt, in die uns Christus ziehen will. Besonders sind es wohl die Augen der Horburger Maria, von denen eine geheimnisvolle überirdische Kraft ausgeht, ohne dass man sagen könnte, wie es dem Bildhauer gelungen wäre, sie in Stein darzustellen.“26
Das Besondere dieses Marienantlitzes, seine außergewöhnliche Schönheit, soll im Folgenden mit Hilfe einiger Fotografien herausgestellt werden.
Die Frontalansicht des oval geformten Gesichts zeigt die Dominanz der Augenpartie. Hoch gewölbte Brauen über flach liegenden,
Vier Marienplastiken hinterließ der berühmte Naumburger Meister der Nachwelt: Maria als Fürbittende vor Christus in Mainz, Maria aus der Kreuzigungsgruppe in Naumburg, Maria die Himmelskönigin in Meißen und die Himmelskönigin in Horburg – die Horburger Madonna.
Angemessen und würdevoll die Standorte in den Domen von Mainz (heute Dommuseum), von Naumburg und Meißen.
Rätselhaft hingegen das Erscheinen der Madonna in der Dorfkirche von Horburg, einem idyllisch in der Elster-Luppe-Aue gelegenen kleinen Dorf zwischen Leipzig und Merseburg. Eine Madonna, die in der Vergangenheit einige Zeit kaum Beachtung fand und auch heute noch zu selten wahrgenommen wird.
Erstaunlich, denn sie ist ein großartiges Kunstwerk, auf das ein genauerer Blick lohnt. Zudem hat sie eine äußerst bewegte Geschichte erfahren, die erzählt sein will.