Trödler 03/2021

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Europas Sammlermagazin

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• € 4,90

Schweiz CHF 8,50 | Österreich € 5,50

Conradt-Keramik Georg Grasegger


Gietl Münzen 1 (1120).qxp_Lempertz 1.qxd 12.02.21 12:14 Seite 1

www.battenberg-gietl.de


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LESERFORUM 4 Diese Kuriosität lässt sich wohl der religiösen Volkskunst zuordnen. Die Hand aus Gipsguss wurde offenbar per Silikonform hergestellt und basiert auf einer männlichen Hand. Das gefärbte Hühnerei wird von einer Metallkonstruktion aus spiralig verdrehtem Draht und vermutlich Lötzinn gehalten. Das applizierte Monogramm Iota Eta Sigma ist das Nomen sacrum für JESUS (ΙΗΣΟΥΣ). Der plausibelste Künstlername ist vermutlich „R. Binsteiner“. Die Signatur scheint mit Filzstift ausgeführt zu sein, der Handschrift nach zu urteilen, vermutlich im späten 20. Jahrhundert. Der Name Binsteiner hat eine relativ häufige Verbreitung in der Region zwischen München und Salzburg. Das Werk eines unbekannten Kunsthandwerkers würde ich heute mit unter 50 Euro bewerten. Klaus-Dieter Müller,

EXPERTISEN

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n Keramikhand Anbei schicken wir ein paar Fotos zu einem Sammlerstück: Diese Hand haben wir mit Begeisterung auf dem Flohmarkt erstanden und sie gehört für uns zur Kategorie „Kuriositäten”. Sie ist aus Masse, das Ei ist hohl und die Halterung ist aus Silber. Die Länge der Hand beträgt circa 11 cm, die Gesamthöhe beläuft sich auf rund 17,5 cm. Wir hätten nun folgende Fragen dazu:

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Kunstsachverständiger Jagdschloss Göhrde

n Vorlegebesteck Ich bestize ein antikes Vorlegebesteck, das mir Rätsel aufgibt. Kann ich vielleicht von Ihnen Näheres dazu erfahren? In erster Linie würde mich interessieren, von welchem Hersteller diese Teile stammen, wann das ungefähre Herstellungsjahr war und um welche Punzen es sich auf der Rückseite handelt.

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Rudi Klabouch, Bad Kissingen

Die beiden Spatenmuster Vorlegeteile zeichnen sich durch eine schöne Gravur im Stil des Neo-Rokoko aus. Die Namenspunze liest sich „Krumstroh“ und verweist auf Heinrich Friedrich Krumstroh (18131876), der 1842, im Jahr des Großen Brandes, Meister in Hamburg wurde. Laut Erich Schliemanns Nachschlagewerk „Die Goldschmiede Hamburgs“ wurde der Buchstabe D im Zeitraum von 1853 bis 1865 vom Altermann Johann Jacob Probst verwendet. Möglicherweise handelt es

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Ist das Objekt dem bayerischen Raum zuzuordnen? Können Sie den Künstler ermitteln und einen etwaigen Wert festsetzen? Ferdi Both, Leverkusen

n In dieser Rubrik beantworten unsere Experten Ihre Fragen zu dem ein oder anderen guten Stück. Doch leider sehen wir uns außerstande, ganze Nachlässe oder sämtliche sich in Ihrem Haushalt befindlichen Trouvaillen bewerten und schätzen zu lassen. Auch bitten wir um Verständnis, wenn es mit der Bearbeitung länger dauert. Senden Sie uns also Ihre Anfrage nur zu einem zu bestimmenden Objekt – mit detaillierter Beschreibung und gutem Foto, auf dem das Objekt ganz abgebildet ist. Noch ein Hinweis zu den Preisen, die von Fall zu Fall von unseren Experten genannt werden: Hierbei handelt es sich um Richtwerte, die anhand von Fotos allein getroffen werden und je nach Zustand des Objekts nach oben oder unten korrigiert werden können. Ihre Anfrage schicken Sie bitte an: Gemi Verlags GmbH Redaktion Leserforum Pfaffenhofener Str. 3 85293 Reichertshausen oder per E-Mail an info@gemiverlag.de

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LESERFORUM 5 sich hier um Fabrikware (z. B. von Bruckmann), die von der Werkstatt Krumstroh mit einer Gravur versehen und dann dem Namen der Werkstatt gepunzt und schließlich den Aelterleuten zur Prüfung vorgelegt wurde. Aktuelll würde ich die beiden Teile mit zusammen 100 bis 150 Euro bewerten. Klaus-Dieter Müller, Kunstsachverständiger Jagdschloss Göhrde

n Drei Aquarelle Ich habe eine Anfrage zu drei Aquarellen, die ich vor ein paar Jahren auf einem Flohmarkt erstanden habe. Zwei dieser Aquarelle sind signiert, leider kann ich die Signaturen nicht entziffern. Eines stellt für mich einen Torero mit Stier dar, auf den weiteren Bildern sind Pferde dargestellt. Die Blätter sind gerahmt und hinter Glas, rückseitig befindet sich auf zweien noch der Aufkleber der Galerie, auf dem dritten Werk ist noch der Abdruck des Aufklebers sichtbar. Die Blattgröße ist circa 30 x 20,5 cm. Können Sie mir bitte bezüglich Künstler, Entstehungszeit und Wert weiterhelfen? Christian Heinzlmeier, o. O.

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Die drei aquarellierten Federzeichungen lassen sich in die Kategorie „Arte Taurino” einordnen. Auf den Stierkampf bezogene Kunst ist in Spanien weit verbreitet. Künstler wie Antonio Casero Sanz und andere bevorzugten die Federzeichnung, weil sie eine schnelle Notiz der Bewegung ermöglicht. Die vibrierenden Strichlagen korrespondieren mit der spannungsgeladenen Situation der Corrida. Stilistisch sind in den Federzeichnungen ein paar

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Anklänge an Marino Marini oder Picasso erkennbar. Die Signatur lässt sich leider nicht deuten. Versuchsweise lese ich „Juan 78”. In den letzten Jahren sind zumindest keine aquarellierten Federzeichnungen mit dieser Thematik und dieser Signatur nachweisbar. Als Werk eines sehr begabten Zeichners der Zeit um 1978 würde ich die Spanien-Souvenirs mit jeweils 200 bis 300 Euro bewerten. Klaus-Dieter Müller, Kunstsachverständiger Jagdschloss Göhrde

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AUSSTELLUNGEN n Blick in die Kugel Am Ende eines Jahres blicken viele erwartungsvoll in die Zukunft: Was wird das neue Jahr bringen – für die Gesellschaft, in politischer Hinsicht, aber auch ganz persönlich für einen selbst? Das Bedürfnis, vor allem in Zeiten des Umbruchs, das Kommende zu kennen und sich darauf einstellen zu können, existiert seit Jahrtausenden in allen Kulturen der Welt. Seitdem ersinnen Menschen immer neue Wege, um Wissen über die Zukunft zu erlangen. Erkenntnis erhofft man sich von höheren Mächten, die in irgendeiner Form befragt werden müssen. Zahlreich sind die Methoden und Dinge, auf die man dafür zurückgriff. Eine Sonderausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg thematisiert bis 30. Mai anhand von 130 Exponaten aus Ostasien und Europa die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Wahrsagung in Ost und West. Zu sehen sind mehr als 1.000 Jahre alte Orakelknochen, Horoskope und Tarotkarten, Bauern- und astrologische Kalender sowie Glaskugeln und Talismane, aber auch Anleitungen zum Handlesen, dem Durchführen einer Séance und der Interpretation von Kaffeesatz und Teeblättern. Neben „Werkzeugen“ der Zukunftsdeutung stellt die Ausstellung einzelne Akteure vor – wie Madame Buchela, die sich als sogenannte „Wahrsagerin von Bonn“ oder

Glaskugel, Mitte 19. Jahrhundert, Glas/Sockel: Buchenholz, Laubholz, Bein, Kugel: 7,9 cm Durchmesser/insg. 12,1 cm hoch; Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg (-30.05.) 03 / 21

Nordlicht über Nürnberg, Nürnberg, 1531, Flugblatt, gedruckt von Wolf Drechsel Holzschnitt, koloriert, 30,3 x 34,3 cm; Germanisches Nationalmuseum Nürnberg „Pythia vom Rhein“ in der Politikberatung einen Namen machte. Gerüchte ranken sich um prominente und einflussreiche Perönlichkeiten, die sie angeblich in ihrem Haus in Remagen besuchten und Rat erbaten. Telefon: 0911 1331103 Webseite: www.gnm.de

n Filigranes für Kenner Rund 50 fragile Kostbarkeiten aus Frankenthaler Porzellan bereichern seit Kurzem die Bestände der Reiss-EngelhornMuseen. Es handelt sich um Plastiken, die durch ihren Detailreichtum und ihre kunstvolle Bemalung bestechen. Umgesetzt werden unter anderem Alltagsszenen wie Knaben bei der Apfelernte oder ein Kind auf seinem Steckenpferd. Auch die Begeisterung des 18. Jahrhunderts für den Fernen Osten spiegeln die Kleinodien wider. Eine Auswahl ist im Foyer im Museum Zeughaus in Mannheim zu bewundern. Die Stücke stammen großteils aus der Frühzeit der Frankenthaler Manufaktur, die 1755 unter Kurfürst Carl Theodor gegründet wurde. Sie erzählen von einer Zeit, als Porzellan so kostbar war, dass es auch „weißes Gold“ genannt wurde. Die filigranen Figurinen wurden über mehrere Jahrzehnte und mit großer Kennerschaft von dem bekannten Sammler Dr. Paul Wilhelm Enders zusammengetragen. Eine enge Verwandte, Dr. Ursula Barber, die zuletzt in Feudenheim lebte, vermachte sie 2018 dem Deutschen Krebsforschungszentrum. Dank dessen Unterstützung und dem großzügigen Engagement der Gesellschaft der Keramikfreunde, der Dr. Rolf M. Schwiete Stiftung, der Karin und CarlHeinrich Esser Stiftung sowie des Mannheimer Altertumsvereins konnte diese erlesene Sammlung angekauft werden. Sie findet ein neues Zuhause in den Reiss-Engelhorn-Museen. Dort trifft sie auch auf Geschirre aus der Sammlung Enders/Bar-

ber, die bereits als Erbschaft ans Haus kamen. Die Freude des zuständigen Direktors Dr. Christoph Lind ist groß: „Die Reiss-Engelhorn-Museen beherbergen die weltweit größte und bedeutendste Sammlung an Frankenthaler Porzellan. Der Neuzugang ergänzt unsere bisherigen Bestände auf das Vortrefflichste. Wir können Lücken schließen und auf diese Weise die große Könnerschaft der Frankenthaler Manufaktur in ihrer ganzen Breite abbilden. Wir danken unseren Förderern für ihre Großzügigkeit. Gemeinsam ist es gelungen, die Sammlung Enders/Barber als Ganzes zu

Schuhputzer, Fayence, Straßburg, aus der Serie der Berufe darstellenden Kinder von Paul Hannong, Straßburg 1750-1754; Museum Zeughaus Mannheim © rem, Foto: Maria Schumann


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MAGAZIN 7 ternkeller am Jungfernstieg mit seinen themenbezogenen Separées trugen seine Handschrift. Als Malergeselle kam Dorén über Kopenhagen nach Hamburg und baute sich ein Unternehmen auf, das in einem repräsentativen Geschäftsgebäude am Hamburger Pulverteich zu besten Zeiten über 200 Mitarbeiter beschäftigte. Das Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (MK&G) zeigt erstmals sein Schaffen mit rund 200 Objekten aus Privatbesitz. Farbmusterkarten, detailgetreue Entwurfsskizzen und eindrucksvolle Fotografien der fertiggestellten Räume geben einen Eindruck davon, wie die Arbeiten von der Akquise über die ersten Anmutungen bis zur Ausführung geplant und vollendet wurden. (Bis 30. Mai) Telefon: 040 428134800 Webseite: www.mkg-hamburg.de

Dessertmesser, Deutschland um 1800; Deutsches Klingenmuseum Solingen erhalten und vor der Zerstückelung zu bewahren. Bei uns sind die exquisiten Stücke in den besten Händen.“ Telefon: 0621 2933150 Webseite: www.rem-mannheim.de

n Werkzeug für Genießer „Es fing ganz harmlos an. Ich suchte Tafelsilber für den alltäglichen Gebrauch. Von altem Essbesteck verstand ich so gut wie gar nichts.“ So beschrieb der Hamburger Rechtsanwalt Jochen Amme (1935-

2016) einmal den Beginn seiner Leidenschaft für das Sammeln von historischem Besteck. Über Jahrzehnte erwuchs eine hochkarätige, Jahrhunderte umspannende Sammlung, die zu den größten und spannendsten in Deutschlands zählt. Von der Steinklinge bis zum zeitgenössischen Messerentwurf umfasst sie die Kulturgeschichte des Essgeräts. Jochen Ammes Bücher über das Besteck und seine Entwicklung gelten als Standardwerke, als gefragter Gutachter beriet er Museen im In- und Ausland. Nach seinem Tod stehen seine Stücke nun vor der Veräußerung, zuvor werden sie aber von seiner Familie für eine letzte Ausstellung im Klingenmuseum zur Verfügung gestellt. Dabei wird nicht nur eine der schönsten Bestecksammlungen gezeigt, sondern auch der Person Jochen Amme und der Faszination des Sammelns nachgespürt. (Bis 18. April) Telefon: 0212 258360 Webseite: www.klingenmuseum.de

Atelier Gust. Dorén, Hamburg, Bemalung Hausflur mit Treppenaufgang, um 1900/1906, Gouache, Privatbesitz; Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg Foto: © Peter Nils Dorén

n Raumkunst um 1900

Salatbesteck, Italien Ende 19. Jahrhundert; Deutsches Klingenmuseum Solingen

Moosgrün, Taubengrau, Reseda, Dottergelb und Pflaumenblau – was wie die Farbpalette des neuesten Einrichtungstrends anmutet, war das Erfolgsrezept des Schweden Peter Gustaf Dorén (18571942). Der Hamburger Bauboom um die Wende zum 20. Jahrhundert eröffnete ganz neue Möglichkeiten für das Bauen, aber auch für die Innenraumgestaltung im Privaten und bei öffentlichen Aufträgen. Peter Gustaf Dorén besaß ein sicheres Gespür für Qualität und Ästhetik. Er besuchte Messen und Ausstellungen, war als Mitglied im Deutschen Werkbund gut vernetzt, so auch mit MK&G-Gründungsdirektor Justus Brinckmann. Dorén stattete die Villen gut betuchter Hamburgerinnen und Hamburger aus. Auch das Hotel Vier Jahreszeiten und Schümanns Aus-

Peter Gustaf Dorén (1857-1942), Entwürfe für einen Hausflur, 1900/1906, Aus: Das farbige Malerbuch, Neue Folge, Tafel 40, E.A. Seemann Verlag, Leipzig; Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg 03 / 21


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„Art ABOut SHOeS” HeIDruN tH. GrIGOLeIt

Schuhe sind Bekleidungsstücke, die die Menschen immer bewegt haben und das im wahrsten Sinne des Wortes. Sie sind nicht nur ein probates Mittel gegen Kälte und Hitze, Verletzung und Schmutz, Schuhe sind auch eine beliebte Projektionsfläche für gesellschaftliche Stellung, das „durch die Welt gehen“, aber auch für so manch erotische Fantasie. Noch bis zum 24. Mai sind Schuhe unter dem Motto „Art about Shoes – von Schnabelschuh bis Sneaker“ thema einer Ausstellung im Kleinen Schloss der Ludwiggalerie Oberhausen mit dem untertitel „Deutsche Pop Art im Stiletto-Format“. Damit wird auf die „enthüllung“ der Heiner Meyer-Stahlskulptur „red Heels“ am Samstag, 20. März, vor dem Haupthaus von Schloss Oberhausen hingewiesen.

Made for walking Es ist die erste Ausstellung, die künstlerische Positionen vom legendären Fußabdruck Buddhas bis zu den Schuhkreationen Andy Warhols zusammen- und gegenüberstellt. Schuhe und Kult sowie kultige Schuhe bilden eine Klammer, wenn die Hl. Hedwig, deren Attribut die Schuhe sind, den Adidas All Stars an den Füßen von Freddie Mercury begegnet. Neue Sichtweisen auf zum Teil bekannte Bilder öffnen sich. Denn ein Blick auf den Fuß bietet interessante Entdeckungen und ganz

neue Einsichten. Ein Sound-Walk begleitet die Darstellungen in der Schau, denn nicht nur Nancy Sinatra weiß: „These Boots are made for walking…“

Geschichte der Schuhe Die Geschichte der Schuhe ist untrennbar mit der Menschheitsgeschichte verbunden. In den Magdalénien-Höhlen Ostspaniens, die um 15.000 bis 12.000 v. Chr. entstanden sind, gibt es Zeichnungen mit Männern und einer Frau, die Fellstiefel

tragen. Aber höchstwahrscheinlich haben Menschen ihre Füße schon viel länger vor Kälte und Hitze, vor Dornen und Steinen, vor Schlangen und Getier mit Schuhwerk geschützt. So sind die ältesten bekannten Schuhmacher-Werkzeuge an die 35.000 Links: Iris Schieferstein, Chinese Lyric, 2014 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Oben: Anonym (Schlesien), Hl. Hedwig, um 14701500 © Foto: Anne Gold, Aachen 03 / 21


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Jahre alt. Auch der Fund des „Ötzi“ in Österreich hat Erkenntnisse über Schuhe gebracht. Der damit älteste in Europa erhaltene Schuh ist etwa 5.300 Jahre alt. Er hatte drei Isolierschichten – eine Sohle aus Bärenleder mit nach innen gewendeter Fellseite, ein mit Rindsleder überzogenes Geflecht aus Lindenbast-Schnüren und eine Heu-Polsterung als Zwischenlage. Diese Schuhe wurden nachgebaut und ausprobiert – mit überraschend gutem Ergebnis, wasserdicht waren sie allerdings nicht.

Kunst im Stiletto-Format Von der Antike bis zu aktuellen Arbeiten, vom Mittelalter bis zu Mel Ramos reicht die Palette der oft ungewöhnlichen KunstdarOben von links nach rechts: Anonym (Bayern oder Schwaben), Hl. König (Baltasar), um 1500 © Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, Foto: Anne Gold Johanna roderburg, Die Wahrheit, 2007 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 eckart Hahn, XIV, 2010 © eckart Hahn unten: Charles F. Mayer, Fuß in Sandale einer antiken Statue, 1821 © LuDWIGGALerIe Schloss Oberhausen

stellung der Fußbekleidungen in dieser Ausstellung. Das Fehlen des Schuhs, der Abdruck des Schuhs und die symbolische Bedeutung des Schuhs werden ebenso in künstlerischen Äußerungen vorgestellt, wie dem roten Schuh ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Viele renommierte Künstlerinnen und Künstler beschäftigen sich über die Jahrhunderte mit dem Thema. In der Antike stand das Bänderwerk der Sandale für die gesellschaftliche Position. Im frühen Mittelalter kamen für die höheren Stände spitz zulaufende Schuhe auf, die bald auch von der bürgerlichen Gesellschaft getragen wurden. Daraus entwickelte sich der ausgeprägte Schnabelschuh, der bis ins 16. Jahrhundert die vorherrschende Fußbekleidung in Europa war.

Kuhmaulschuh Das frühbürgerliche wohlhabende Patriziertum kreierte Ende des 15. Jahrhunderts mit ihrem neu erwachten Selbstbewusstsein dann einen ganz neuen Trend im Schuhdesign: Der Schnabelschuh wurde vom Kuhmaulschuh abgelöst. Dieser wurde auch Entenschnabel, Bärentatze oder Kalbsmüler genannt mit einer sich vorne stark verbreiternden Form. Von nun an wurde „alles über einen Leisten geschlagen“ – was auch gleich zum Sprichwort avancierte. Eine symmetrische Form beider Schuhe blieb jedoch bis ins 19. Jahrhundert üblich. Die radikale modische Neuerung vom höfisch geprägten Schnabelschuh zum bürgerlichen Kuhmaul wurde auch von großen historischen Verän-

Schnabelschuh Der Schnabelschuh ist in erster Linie als ein Statussymbol zu verstehen, wobei die Länge des Schnabels ausschlaggebend war. Die Verlängerung erschwerte zwar den Gang, gestattete aber ein gravitätisches, langsames Schreiten. Gerade das war erwünscht, da es dem Träger das Gefühl der Distinktion und Vornehmheit verlieh. Der lange Schnabel war zudem ein Zeichen für Müßiggang, da es der Träger anscheinend nicht nötig hatte, zu arbeiten. Diese weit ausufernde Schuhmode wurde in den Kleiderordnungen immer wieder reguliert. Religiöse Aspekte spielten dabei eine zentrale Rolle: Auch eine heftige Moraldebatte entfachte sich am Schnabelschuh, denn die Geistlichkeit nahm Anstoß „am obszönen Symbol des männlichen Gliedes“. Wegen des Phallus-Aspektes wurde 1468 sogar eine päpstliche Bulle erlassen, die „pikes“, mit einer Länge von mehr als elf Inches (etwa 30 cm) verbot. 03 / 21


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MODe / KuNSt 10 derungen begleitet – der Entdeckung der „neuen Welt“ mit neuen Territorien und dem Humanismus mit einem neuen Men-

schenbild. Auch die Reformation warf bereits ihre Schatten voraus. Im 17. Jahrhundert transportierte der Pantoffel dann in Gemälden von Künstlern wie dem Niederländer Jacob Ochtervelt symbolische – und erotische – Botschaften. Um einen bequemen und passenden Schuh zu bekommen, fertigte der berühmte Nürnberger Albrecht Dürer (1471-1528) dann seine Musterzeichnung eines Kuhmaulschuhs an und versah sie gleich noch mit entsprechenden Anweisungen für den Schuhmacher.

Absätze Eine der bedeutendsten Neuerungen im Bereich der Schuhherstellung war die Ausstattung der Schuhe mit Absatz. Wird dieser Bereich des Schuhs heute vor allem mit Frauenschuhen und High Heels in Verbindung gebracht, hatte sein damaliger Siegeszug in erster Linie mit der dadurch erreichten Körperstreckung zu tun, was Würde und Persönlichkeit betonte. Denn Absätze machen den Träger größer und lassen ihn selbstbewusster und damit auch bedrohlicher erscheinen. Hochhackige Schuhe wurden zudem als modische Accessoires eingesetzt und mit Schleifen und Spangen geschmückt. Am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. (16381715) gab es dafür eigens einen „Absatzmacher“. Der Spötter am Hofe Marigny soll dazu bemerkt haben: „Ich trage spitze Schuhe mit einem Kissen unter der Ferse, so hoch, daß ich den Titel Hoheit beanspruchen könnte“. Die Höhe der Absätze wurde zu dieser Zeit auch als Zeichen weltlicher Eitelkeit interpretiert. Parallel zum Absatz beim Herrenschuh nahm die Damenwelt sofort die mögliche Figur-Veränderung wahr und hohe Absätze in die Mode auf. Denn selbst wenn unter langen Röcken die Schuhe gar nicht sichtbar sind, verändern Absätze doch Größe, Körperhaltung und Gang. Aber während ein Absatz beim Mann dessen Männlichkeit und Stärke betonen sollten, waren es bei den Damen vor allem Erotik und Sexappeal, die Ziel der Übung waren – und das bis zum heutigen Tage.

schmückte Schuhe jedoch zum Negativsymbol und Ausdruck des dekadenten Adels.

erotische Schuhe In der Malerei des 17. Jahrhunderts wurden Schuhe dann häufig als Zeichen von Liebe und Erotik und als Kommunikation zwischen den Geschlechtern eingesetzt. Wenn die Liebeskranke den Fuß auf ein kleines Höckerchen stellte und die Spitze des goldenen Schuhs sichtbar war, deutete sich ein Blick „unter die Röcke“ an. Bei van Brekelenkams Mennonitin weist der Pantoffel auf den bevorstehenden Antrag hin. Aber während der Kavalier mit Rosetten und hohen Absätzen ausstaffierte Schuhe trug, war der Pantoffel von größter Links von oben nach unten: Neal Preston, Freddie Mercury, London, 1986 © Neal Preston

Schnallen und Bänder Herausragendes Element der Schuhe des Barock waren kostbar verzierte, oft mit Edelsteinen besetzten Schnallen, die in erlesenen Etuis aufbewahrt wurden. Auch Schleifen, Bänder und Rosetten aus Seide und Goldstoff spielten eine große Rolle. Es war wichtig, möglichst viele Schuhe zu besitzen und sie abwechselnd zu tragen. An kostbaren Schuhschnallen und Tabatièren erkannte man den wahren eleganten Kavalier, „mehr noch als an Perücke und Konversation“. In der Französischen Revolution wurden derartig aufwändig ge03 / 21

Barbara Klemm, Joschka Fischer. Vereidigung zum umweltminister Hessens im Hessischen Landtag, Wiesbaden, 1985 © Barbara Klemm Johannes Grützke, Meine turnschuhe, 2002 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Oben: Andy Warhol, Schuh und Bein (to Greyhound Grace), um 1955 © the Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc./ArS New York, Foto: Anne Gold, Aachen


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MODe / KuNSt 11 Schlichtheit. Dennoch konnte er auch als ein Symbol des weiblichen Geschlechts gelesen werden. Und so galt es lange als anzüglich, den Fuß in der Öffentlichkeit zu entblößen. Noch im 18. Jahrhundert wurde es als Aufforderung zum Geschlechtsverkehr verstanden, wenn Frauen Pantoletten mit blanker Ferse außerhalb des Privaten trugen. Bis ins 18. Jahrhundert wurden Schuhe übrigens immer noch symmetrisch hergestellt. Daher mussten Diener häufig die Schuhe ihrer Herrschaft einlaufen, um unangenehmen Druckstellen zu mindern. Bei Johann Heinrich Wilhelm Tischbeins (1751-1829) berühmten Gemälde von Goethe in der römischen Campagna von 1787 ist lange gerätselt worden, warum Tischbein Goethe zwei linke Füße gemalt habe. Die Antwort ist einfach – weil man damals Schuhe nicht nach rechts und links unterscheiden konnte.

Schuhe nach Anlass Es sind Ärzte, die sich dafür einsetzen, dass Schuhe bessere Passformen erhalten. Zudem kommen Spaziergang und Wanderung mit einer veränderten Einstellung zur Natur im 18. Jahrhundert auf. Doch dauert es noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, bis der Frankfurter Anatom Georg Hermann von Meyer (18151892) durch seine Forschungen zum Gehen die Konstruktionsfehler der damaligen Schuhe aufdeckt. Er stößt eine Schuhreform an, die zur Basis für die moderne Fußbekleidung wird. Damals bewirkte die Unterscheidung der Kleidung nach ihrer Funktion im Gesellschaftsleben, dass sich auch ganz unterschiedliche Schuh-Typen ausprägen. Eine Vielzahl verschiedener Formen und Ausführungen wird nun zur Regel: Zu jeder Gelegenheit trägt man das passende Schuhwerk – ob zierlichen Ballschuh oder derben Bergstiefel.

de Kunstinstitution der Stadt und setzt damit ein prägnantes Signal in Oberhausen. Die „Enthüllung“ der Heiner Meyer-Skulptur „Red Heels“ soll am Samstag, 20. März, stattfinden.

Ausstellung und Katalog

tig. Johannes Grützke nutzt seine gemalten Sneaker als eine Art Selbstporträt und Konrad Klapheck deutet Schuhe metaphorisch.

„Art about Shoes – von Schnabelschuh bis Sneaker“, Kleines Schloss Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-AdenauerAllee 46, 46049 Oberhausen, www.ludwiggalerie.de, noch bis 24. Mai. Katalog im Verlag Kettler, Hrsg. Christine Vogt, 272 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Preis 39,80 Euro, ISBN 978-3-86206868-5. Fotos: wie angegeben

red Heels Die Beschäftigung mit dem Schuh in der Ludwiggalerie geschieht anlässlich der Aufstellung der Stahlskulptur des bekannten deutschen Pop Art-Künstlers Heiner Meyer vor dem Haupthaus von Schloss Oberhausen. Denn die glamourösen Dinge, die das schillernde Werk dieses vielschichtigen Künstlers ausmachen, zeigen eine starke Position zum Schuh. Eben Pop Art im „Stiletto-Format!“. Die spektakuläre Skulptur, mit der Heiner Meyer den legendären Stöckelschuh in Szene setzt, akzentuiert die Ludwiggalerie als herausragen-

Moderne Schuhe Die wohl größte Neuerung im 20. Jahrhundert ist die Erfindung des Turnschuhs. Der Siegeszug dieses neuen Schuhtyps ist bis heute ungebremst. Im 20. Jahrhundert ist aber nicht nur Allen Jones mit fetischhaft beschuhten Frauenbeinen allgegenwärOben: Konrad Klapheck, Die zärtlichen Schwestern, 1968 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 rechts oben: Heiner Meyer, Same Size, 2016 © Heiner Meyer rechts unten: Heiner Meyer, targa and Honey, 2020 © Heiner Meyer 03 / 21


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