"Graffiti" - Lion Magazin (2003)

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Deutsche Ausgabe Januar 2003

Graffiti Schmiererei oder Geniestreich? Bilder aus dem Distrikt 111-N

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Teil des urbanen Lebens:

GR AFFITI Provokation – aber auch Ausdruck von Lebensgefühl und Kunst. Die Arbeit von Schmierfinken – aber auch Ausdruck hoch begabter Künstler. Illegal an die Wände gesprüht – oder im Auftrag zur Belebung von Fassaden erstellt. Es gibt noch viele Ausgangspunkte, sich den Graffiti zu nähern

Kunst – oder Schmutz? Herbert Nicolaus NÖLTING (LC Hamburg) empfiehlt: Das Schöne an Graffiti fördern – und sich daran freuen.

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Graffiti – Reizwort und dennoch aus dem modernen urbanen Leben einfach weder wegzudenken, noch offensichtlich zu verbannen. Bei näherer Betrachtung ist Graffiti allerdings in der Tat eine Kunst und wie ich finde, eine der interessantesten und lebendigsten Neuentwicklung in der Kunst-Szene in den letzten 30 Jahren. Es ist eine Kunst, die genau wie andere moderne Kunst ein Spektrum umfasst, von Stümpern bis zu Könnern, von Schmierfinken bis zu großen Künstlern. Kunst kommt auch hier von Können, aber auch von Kennen. Ein vorurteilsloser Umgang mit dem Thema ist zugegebenermaßen schwierig, aber es lohnt sich, die Augen aufzumachen. Die Provokation beruht darauf, dass sich Graffiti zum großen Teil im öffentlichen Raum abspielt, vielfach illegal und das auf Untergründen, die nicht notwendigerweise anonym sind, sondern öffentlicher oder privater Besitz sind, woraus sich eine verständliche Spannung ergibt. Graffiti (aus dem italienischen: gekratztes) hat es schon seit Anbeginn der Menschheit gegeben. Immer haben Menschen sich selbst, ihre Umwelt, Träume, Fantasie oder Beschwörungen, Schönes, Witziges oder Karikaturenhaftes dargestellt. Das fängt bei den Steinzeitmenschen an, siehe die Höhlen-

malereien, die Etrusker und klassische Zeit. Bis hin zur Moderne sind geplante, intuitive oder andere Manifestationen menschlicher Fantasie in Worten oder Bildern auf Mauern, Säulen und Felsen, aber auch im Innenbereich auf Türen, in Aufzügen etc. etc. dargestellt worden. Insofern ist auch das moderne Graffiti nur eine Fortsetzung dieses offensichtlich zutiefst menschlichen Ausdrucks von Kreativität. Sie reicht von den zahlreichen hingehauenen „Tags“, also Initialen oder Kürzeln mit Filzstift oder Spraydose, die uns an unseren eigenen Hauswänden und Zäunen meistens ärgern, und die seriell in U- und S-Bahnen, auf Säulen und Hauswänden erscheinen, bis hin zu elaboraten Kunstwerken, häufig sogar Auftragswerken von angesehenen Unternehmen sowohl als Buchstabenfolge, figürlichen Darstellungen oder Szenerien. Die Auswahl an hier veröffentlichten Fotos möge das belegen. Warum ist eine Wand, die heute mühsam gereinigt ist, umgehend wieder „verschmutzt“ im gutbürgerlichen Deutsch? Weil wir es hier mit einem gesellschaftlichen Phänomen zu tun haben, das aus unserer gegenwärtigen Sozialstruktur stammt und seine Wurzeln in unserer gegenwärtigen Kultur und Lebensumständen hat.

Graffiti, wie wir es heute kennen, entstand, wenn man dieses unbedingt einkreisen will, im New York der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Die sich lockernden Familienstrukturen, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, wegfallende Autorität von Eltern und Gesellschaft und die Tatsache, dass sich ein reiches Potenzial von freien Wänden bot, zog gewissermaßen zwangsläufig die Explosion menschlicher Kreativität in diese Richtung. Junge Menschen fingen an das zu tun, was Menschen immer getan haben: sich und ihre Lebensgefühle und Kunst darzustellen. Ich meine auch, dass moderne Architektur vielfach fragwürdige Resultate gezeitigt hat. Es ist sicher nicht immer nachvollziehbar, welchen ästhetischen Wert eine nackte Sichtbetonwand oder einfarbige graue Rauputzwände haben sollen und welche Faszination ausgehen soll von großflächigen monotonen, monochromen Oberflächen. Die Natur kennt kein Vakuum, auch wenn es nur ein optisches ist. Es ist für mich völlig nachvollziehbar, dass diese Flächen umgekehrt provozieren und nach Dekoration schreien. Ich sage dieses einfach so völlig wertfrei, ohne allerdings der Illegalität das Wort reden zu wollen. Tatsache ist jedoch: ob wir es wollen oder nicht, Graffiti ist ein Teil unseres modernen städtischen Lebens, ob illegal oder legal.

JANUAR 2003


Hamburg – Lange Reihe

HH-Lohbrügge Auferstehungskirche

TASEK (Leinwand)

STOHEAD (Leinwand)

Fotos: 5 x Mirko Reisser 2 x Heiko Zahlmann Titel: Mirko Reisser für Interessierte: www.getting-up.org www.graffiti.org

Meines Erachtens wird auch keine SoKo in der Lage sein, selbst wilde Graffiti dauerhaft zu unterbinden. Ich meine daher, dass es konstruktiver wäre, diese Aktivitäten zu kanalisieren und Flächen freizugeben, dann würde sich auch die Qualität verbessern und ein dauerhafter Beitrag zu einer farbenfreudigen Gestaltung des öffentlichen Raumes ergeben. Graffiti is here to stay – warum also nicht das Schöne daran fördern und sich daran freuen? Tatsache ist auch, dass meine Freunde, mit denen ich häufig Kontakt habe und die mir als Künstler und Menschen wichtig sind, in völliger Legalität und mit kommerziellem Erfolg als Künstler ihr Leben meistern. Sie bilden mit ihren zahlreichen deutschen und ausländischen Kollegen ein internationales Netzwerk von überbordender Schaffensfreude. Wer sich die Mühe macht, in die verschiedenen Websites einzuloggen oder in die immer wieder stattfindenden Ausstellungen in Galerien und selbst großen Museen zu gehen, wird sehen, dass Graffiti inzwischen den öffentlichen Raum als einzige Bühne verlassen hat. Längst sind Leinwände, Stahlstiche, Skulpturen aus Holz, Beton etc. hinzugekommen. Installationen und andere Maltechniken schlagen die Brücke zu anderen anerkannten Erscheinungsformen moderner Kunst.

JANUAR 2003

DADDY COOL (Leinwand)

DAIM (Leinwand)

Hamburg ROCKET, THDW

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