Forschungsreihe 06/2015
thick data
big data
digitale transformation
Trendthema Thick Data Es wird Zeit, am Rad der Daten zu drehen
DER FREMDE KUNDE
Für die meisten Unternehmen ist Big Data ein wesentlicher Bestandteil der «Digitalen Transformation»: Sie analysieren grosse Mengen von Daten über ihre Zielgruppe. Doch das gibt nur bedingt Aufschluss über die Motive, die hinter dem Handeln von Kunden und Interessenten stecken. Dieses Manko beseitigt «Thick Data». Dieser Ansatz ermittelt die wahren Handlungsmotive von Kunden und erlaubt es Unternehmen, in Verbindung mit quantitativen BigData-Analysen, massgeschneiderte digitale Angebote zu entwickeln.
«Der Kunde steht im Zentrum unseres Handelns!» Viele Unternehmen rufen diese Art des Handelns aus. Dank der digitalen Transformation von Gesellschaft und Wirtschaft stehen Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen deutlich leistungsfähigere Mittel zur Verfügung, um diese Maxime umzusetzen. Dazu zählen Big-Data-Analysen. Mit ihnen können sie ermitteln, wer ihre Kunde sind und wie eine optimale «Customer Experience» aussieht. Big Data setzt sich zum Ziel, alle Arten von kundenbezogenen Daten zu erfassen und zu analysieren: Vom Alter und den Vorlieben der Kunden über deren Kaufverhalten bis hin zu Informationen darüber, mit welchen Anzeigen in einem Online- oder PrintMedium sie in Kontakt kommen. Die meisten Unternehmen setzen auch deshalb auf klassische Instrumente, weil sie diese von der Betriebswirtschaft und der traditionellen Marktforschung her kennen. Die Kernfrage lautet dabei: «Wer ist der Kunde?». Der Big-Data-Ansatz konzentriert sich somit auf die Fragen «Was» und «Wie viel». Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass Big Data als eine Schlüsseltechnik des digitalen Zeitalters gilt. So ist nach Angaben des Markforschungsinstituts Bitkom Research Big Data in Deutschland eines der wichtigsten Hightech-Themen des Jahres 2015, nach Cloud Computing und IT-Sicherheit. Quantitative Analysen reichen nicht aus Big Data, so die Verfechter dieser Technologie, ist der Schlüssel zu fast allem: einem besseren Verständnis des Kunden, einem profunden Wissen über technologische Trends und validen Erkenntnissen über die künftige Entwicklung von Märkten. Richtig ist, dass Big Data sowohl Unternehmen als auch öffentliche Einrichtungen neue technische Möglichkeiten an die Hand gibt, um quantitative Analysen durchzuführen. Diese lassen sich als Grundlage für Entscheidungen und zukunftsorientiertes Handeln heranziehen.
Wichtig sind auch das «Warum» und «Wie» Wer seine Kunden nur statistisch analysiert, wird keine Antwort auf zentrale Fragen erhalten wie «Warum Kunden in einer bestimmten Weise agieren» und «Wie sie sich in bestimmten Situationen verhalten.» Das heisst also: Nur Daten auswerten führt nicht zu neuen Erkenntnissen. Sie entstehen durch das Verständnis für Motivationen zu einem gewissen Verhalten – und nicht über die Auswertung des Verhaltens. Nur wer versteht, was Menschen motiviert und warum sie etwas tun, kann passende Angebote entwickeln, eine Kundenbeziehung aufbauen und sicherstellen, dass zufriedene Kunden zu «Markenbotschaftern» werden. Erforderlich ist also ein neuer Denkansatz, der, ergänzend zu Big Data, die Motive von Menschen und deren Handeln ermittelt. Das leistet der Ansatz «Thick Data», der in den USA bereits erfolgreich umgesetzt wird. Etliche Unternehmen haben dort begonnen, dieses Konzept in ihre digitale Strategie einzubinden. Thick Data hilft Unternehmen dabei, ihre Denkweise zu ändern und ihre digitalen Angebote noch besser auf Kunden, deren Wünsche und ihre Kaufmotivation auszurichten. Thick Data und Big Data im Vergleich Ein Merkmal von Big Data ist, dass es auf die quantitative Analyse von bestimmten Datenpunkten ausgelegt ist. Dank der Digitalisierung unserer Lebenswelt lassen sich Terabyte oder gar Exabyte solcher Datenpunkte analysieren. Thick Data ermittelt dagegen den sozialen Kontext solcher Datenpunkte und deren Verbindungen untereinander. Das Ergebnis von Big-Data-Analysen sind dementsprechend Zahlen, das von Thick-DataUntersuchungen «Geschichten» (Stories). Bei diesen Stories handelt es sich nicht um Anekdoten. Geschichten werden vielmehr zielgerichtet und systematisch erfasst, kategorisiert und ausgewertet. Das erfolgt beispielsweise im Rahmen von Kundenbefragungen durch Fachleute und die Auswertung von Ton- sowie Video-Aufnahmen.
THICK DATA = MEHR WISSEN
Thick Data stellt Informationen zur Verfügung, die über blosse Zahlen hinausgehen, etwa welche Rolle menschliche Gefühle wie Vertrauen, Angst oder Tradition bei Kaufentscheidungen oder der Affinität zu einer Marke spielen. Das heisst, Thick-Data-Analysen berücksichtigen Aspekte, die eine auf Algorithmen und quantitativen Metriken basierende Big-DataUntersuchung aussen vor lässt. Im Rahmen einer Thick-Data-Erhebung können beispielsweise folgende Fragen gestellt werden: «Was erleben Menschen unterschiedlicher Nationen in der Zeit zwischen dem Aufstehen und dem Weg in die Arbeit?» oder «Welche Motivation haben Kinder beim Spielen?».
LEGO: Mit «Thick Data» zurück zum Erfolg Ein konkretes Beispiel für den Einsatz von Thick Data bietet der Spielwarenhersteller LEGO. Er ging den Weg, die Welt seiner Kunden ergebnis offen und ohne zugrundeliegende Hypothese zu untersuchen. Das Unternehmen fand damit den Weg aus einer wirtschaftlichen Krise, in die es Anfang der 2000er Jahre geraten war. Damals war LEGO «out». Kinder und Jugendliche griffen lieber zu Spielekonsolen, PCs und Mobiltelefonen als zu den Bausteinen. Statt zu hinterfragen, warum und wie sich die neue Generation von Heranwachsenden so verhielt, entwickelte LEGO Produkte auf Basis des erwähnten Schachteldenken: pinke Zahnbürsten für Mädchen, blaue für Jungs. Das Resultat waren weitere Umsatzeinbrüche.
gross angelegten Studie ging LEGO dieser Frage nach. Dieser Aufwand lohnte sich: LEGO konnte die Motivation und Lust der Kinder am Spielen besser verstehen. Diese Erkenntnisse führten zur Entwicklung zielgruppenrelevanter Produktreihen und zu einem neuen wirtschaftlichen Wachstum. Ein Beispiel für eine neue Produktserie sind die sogenannten Lego Mindstorms. Dahinter verbergen sich steuerbare Roboter mit Berührungs-, Farb- und Infrarotsensoren, die von den Kindern selbst «erschaffen» werden. Damit kombiniert der Hersteller die Vielseitigkeit seines Bausystems mit neuer Technologie.
Erst eine radikal geänderte Sichtweise brachte die Wende. Statt «Wie kann ich mehr Spielsachen verkaufen?» wollte das Unternehmen nun wissen: «Warum spielen Kinder?». In einer
Bausteine stat t Spielekonsole? Dieses Bild war Anfang 2000 eher selten. (Quelle Lego)
Wie andere Unternehmen diesen Ansatz umsetzen können Nicht nur LEGO kann von einer ganzheitlichen Sicht auf den Menschen und sein Tun profitieren, sondern jedes Unternehmen. Wichtig sind dabei zwei Faktoren: • Ein empathischer und offener Blick auf Menschen und deren Motivation: Er versetzt den Beobachter in die Lage, das Selbstverständliche zu entdecken. Erst dadurch werden Muster und Handlungen erkennbar, die Menschen anwenden, um Alltagsprobleme zu bewältigen.
• Das Sammeln von «Thick Data», die beschreiben, was das Leben ausmacht. Dazu werden Beobachtungen in Wort und Bild dokumentiert, Erfahrungsberichte in Gesprächen mit dem Kunden festgehalten und Artefakte, also Gegenstände, gesammelt, die Kunden verwenden.
empathie
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Von Thick Data über die Synthese bis zum Design Zu den Unternehmen, die auf Thick Data zurückgreifen, zählt auch das schwedische Möbelhaus IKEA. Auf einer eigenen Web-Seite «Life at Home» beschäftigt sich das Unternehmen mit Fragen rund um das Leben zu Hause, etwa wie Menschen morgens aufstehen oder welche Bedeutung das Essen zu Hause hat. Anhand von Arte-
Ar tefakt in Form eines Bildes aus der Life at Home-Kampagne von Ikea. (Quelle Ikea)
fakten wie Bildern und Illustrationen wird gezeigt, was Menschen in acht Metropolen in der Zeitspanne zwischen dem Aufstehen und dem Verlassen der Wohnung tun. Zum Beispiel duschen, schminken oder Sport. Mit den Daten allein ist es jedoch nicht getan. Der wichtigste Schritt liegt in der richtigen Interpretation dieser Informationen, also der Synthese. Dabei spielen folgende Fragen eine wichtige Rolle: Welche Muster im Verhalten der Menschen zu erkennen sind, welche Verknüpfungen hergestellt werden können oder welcher Sinn sich aus dem Beobachteten ergibt.
MICRO MOMENTS
Ein Beispiel für eine Synthese sind die «MicroMoments» von Google. Das Unternehmen erkannte, dass Mobilgeräte wie Smartphones und Tablet-Rechner das Konsumverhalten der Menschen nachhaltig verändern. Die Lebenswelt der Menschen wird durch Mobilgeräte in kleine Momente fragmentiert. Innerhalb dieser Zeitspannen haben User eine bestimmte Motivation, die zu wichtigen Entscheidungen führen kann.
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Der Betrachter identifiziert die Muster Ein wesentlicher Punkt bei der Arbeit mit Thick Data ist, dass die Interpretation der Daten, das Erkennen von Mustern dem Betrachter überlassen bleibt. Gefragt ist abduktives Denken – ein hypothetischer Schluss von einer Regel auf eine Regelmässigkeit. Dieses Denken erfordert Mut, denn der Schluss beruht auf der Einschätzung des Beobachters.
Einbindung von Designern in die Nutzerforschung sinnvoll. Denn sie bringen zwei wichtige Eigenschaften mit: • Kreativität, mit deren Hilfe sie Lösungen für Probleme erarbeiten. Werden solche Herausforderungen bereits in der Phase der Nutzerforschung aufgedeckt, lassen sich bereits in diesem Stadium Lösungsansätze finden.
Damit stellt dieses Erkennen von Mustern einen heiklen Schritt im Prozessverlauf dar. Denn die Interpretation und Beschreibung der Muster ist im Gegensatz zu den Ergebnissen einer quantitativen Studie nur wenig belastbar. Die Ergebnisse lassen sich daher leicht anzweifeln.
• Gestaltungsdrang, durch den Designer ihre Entwürfe sofort greifbar oder erlebbar machen wollen. Noch während der Nutzerforschung können sie Skizzen in Prototypen umsetzen.
kreat ivität
Um den Ergebnissen einer Thick-Data-Analyse mehr Überzeugungskraft zu verleihen, ist die
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gestaltungsdrang
Kreatives Wechselspiel Die dabei entstehenden Entwürfe und Konzepte sind allgemein verständlich und lassen sich als belastbare Argumente in unternehmensinternen Diskussionen nutzen. Das bedingt allerdings eine vernetzte Zusammenarbeit von Nutzerforschern und Designern. Nur durch dieses kreative Wechselspiel kann am Ende ein fundiertes Ergebnis präsentiert werden.
dann eine neue Packung Waschmittel zu bestellen, wenn er an der Waschmaschine bemerkt, dass der Vorrat aufgebraucht ist.
Zeit-für-ein-neues-moment In einem nächsten Schritt ist der enge Dialog zwischen Nutzerforschern und Produktentwicklern gefragt. Im Zuge dessen entstehen neue Produkte und Services, die dem Verhalten der Nutzer gerecht werden. Ein gelungenes Beispiel dafür ist der «Amazon Dash Button». Im Sinne eines «Zeit-für-ein-Neues-Moment» ermöglicht der Button dem Kunden, exakt
Der Dash-But ton von Amazon. (Quelle: Amazon)
Fazit: Big Data und Thick Data sind zentrale Elemente der digitalen Transformation Wer seine Kunden richtig verstehen möchte, muss mehr tun, als riesige Datenbestände zu erfassen und auszuwerten. Notwendig ist ergänzend dazu eine auf den Menschen bezogene Analyse. Sie berücksichtigt dessen Handlungsmotive und macht nachvollziehbar, warum Kunden Dinge in der bestimmten Weise tun. Das können klassische Big-Data-Ansätze nicht leisten. Hier ist eine Nutzerforschung auf Basis von Thick Data gefordert, die Big-Data-Analysen ergänzt. Mindestens ebenso wichtig: Unternehmen müssen lernen, «digital» zu denken und zu handeln. Ein Ansatzpunkt sind Kunden, die dank Internet oder Mobilsystemen auf eine völlig andere, autonome Weise mit Unternehmen und deren Marken kommunizieren. Diese Kunden gilt es möglichst frühzeitig in Business-DevelopmentInitiativen und die Produktentwicklung einzubinden. Das erfordert jedoch hoch flexible, agile Prozesse, die ohne Digitale Transformation eines Unternehmens nicht implementiert werden können. Zugegeben, dieser Weg ist für viele Unternehmen nicht einfach zu beschreiten; er kostet Zeit, Geld und viel Überzeugungsarbeit. Letztlich ist aber ein solcher Transformationsprozess unvermeidbar. Denn nur er bietet einem Unternehmen die Chance, sich in einem immer anspruchsvolleren Konkurrenzumfeld zu behaupten.
Den Kunden in Schachteln stecken Viele Unternehmen neigen dazu, ihre Kunden auf Basis von quantitativen Analysen («Big Data») grob gefassten Kategorien zuzuordnen. Diese «Schachteln» berücksichtigen jedoch nicht qualitative Merkmale wie Gefühle und Wertvorstellungen, die Kaufentscheidungen und die Loyalität zu einer Marke massgeblich mitbestimmen. Beispiele für solche Grobkategorien sind: Das gutgl äubig L amm Der Kunde wird als naiver, gutgläubiger Konsument abqualifiziert, der brav alle Informationen aufnimmt, die ihm das Unternehmen vorsetzt. Ein gefährlicher Irrglaube, gerade in Zeiten, in denen der Mitbewerber nur einen Mausklick entfernt ist. Dies gilt auch für Preisvergleichsportale, Communities, Facebook-Gruppen et cetera. Der Homo Oeconomicus Er zählt zu den schwierigsten Arten von Kunden. Denn er trifft seine Kaufentscheidungen auf Basis rationaler Überlegungen und ausführlicher Recherchen. Sein Bestreben: Das optimale Resultat erzielen, also das Produkt mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis zu finden.
Die «Persona Unser» Dieser Typus ist das Produkt von oft aufwändigen, unternehmensinternen Workshops mit dem Ziel, den «idealen» Kunden zu definieren. Ob diese Zielgruppe in der definierten Form überhaupt existiert, bleibt oft unklar.
Über die Autoren Jürg Stuker ist Chief E xecutive Of ficer und Par tner bei Namics. Kontakt: Juerg.Stuker@namics.com Gregor Erismann ist Head of Marketing & Communications der Namics. Kontakt: Gregor.Erismann@namics.com
Über Namics Namics gehör t zu den führenden Full-Ser vice-Webdienstleistern für E-Commerce, Digitale Kommunikation, Content Management, Web Applikationen und Mobile Business Solutions im deutschsprachigen Raum. Der in der Schweiz führende E-BusinessSpezialist versorgt international tätige Unternehmen mit strategischer Beratung, kreativer Konzeption und technischer Umsetzung aus einer Hand. Das inhabergeführ te Unternehmen wurde 1995 gegründet. An den Standor ten in Frankfur t, Hamburg, München, St. Gallen und Zürich betreuen rund 500 Mitarbeitende u.a. folgende Kunden aus den unterschiedlichsten Branchen: A BB, AMAG, BASF, BAUH AUS, Bausparkasse Schwäbisch Hall, Daimler AG, Medela, Migros, Panalpina, Swiss Life, UBS, Viessmann, Webasto.
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In Zusammenarbeit mit Experten aus der Wissenschaft und der Praxis nimmt die GfM eine führende Rolle in der Forschung im Bereich marktorientierte Unternehmensführung in der Schweiz ein. Die GfMMitglieder erhalten die wichtigsten Ergebnisse der von der GfM unterstützten Forschungsprojekte in der Publikation «GfM-Forschungsreihe» zugestellt. 01/2015 Globalview 02 /2015 Marketing Transformation 03/2015 D-Time 04/2015 Mit «4-Gewinnt» zur starken Marke 05/2015 Sharing Economy: Teile und verdiene! 01/2014 02 /2014 03/2014 04/2014 05/2014 06/2014
Trend Repor t 2014 Branchen-Revolution durch neue Geschäf tsmodelle Der Herausforderung begegnen Hidden Champions Switzerland Er folgreiche Marktbearbeitung in der digitalen Welt Fueling Grow th through Word of Mouth
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