| 19. März 2015
Special
Marketing
Transformation Digitalorientierte Unternehmensführung Seite 7 Euro-Mindestkurs Gespräch mit Ulrich H. Moser, Präsident der Gesellschaft für Marketing (GfM). Seite 4
Zehn neue Trends Leitartikel von Marian Salzman, Trendspotterin und Vorsitzende von Havas PR Global. Seite 8
SPECIAL MARKETING
Imagewerbung ist kein Muss mehr
W
IMPRESSUM Der Special «Marketing» im Magazin-Format ist eine redaktionelle Beilage der «Handelszeitung».
TITELBILD: SWISS POSTER AWARD 2014 – KATEGORIE «POSTER OF THE YEAR» (PLAKATSUJET: «TOTAL WASCHMITTEL», AUFTRAGGEBER: MIGROS-GENOSSENSCHAFTS-BUND, ZÜRICH, WERBEAGENTUR: Y&R GROUP, ZÜRICH)
Gesamtverantwortung Norman C. Bandi Redaktionelle Mitarbeit Marc Blume, John-Oliver Breckoff, Sandro Graf, Cyrill Hauser, Mélanie Knüsel-Rietmann, Gérard Moinat, Kirsten Mrkwicka, Sibylle Müller, Patrick Pfäffli, Simon Rehsche, Holger Rust, Marian Salzman, Marcus Schögel, Isabel Steinhoff, Patrick Warnking Chefredaktor Stefan Barmettler Stv. Chefredaktor Pascal Ihle Ressortleitung Markus Köchli Stv. Ressortleitung Norman C.Bandi Layout Roger Cavalli Titelbild ZVG Korrektorat Urs Bochsler, Renate Brunner, Beat Koch, Florian Vogler Adresse Redaktion «Handelszeitung» Förrlibuckstrasse 70 8021 Zürich Telefon: 043 444 59 00 Fax: 043 444 59 30 Mail: redaktion@handelszeitung.ch Website: www.handelszeitung.ch Verlag Thomas Garms (Leitung), Maike Juchler (Stv. Leitung), Musti Asaf (Sales Director) Anzeigenverkauf Renato Oliva (Leitung), Adi Frei, Verena Tschopp, Karin Urech, Eveline Fenner (Kunst), Servais Y.F. Micolot (Westschweiz), Brigitte Lopez-y-Martin (Westschweiz) Marketing Patrizia Serra (Leitung), Nicola Eberhard (Product Manager), Sabine Carrieu Adresse Verlag/Verkauf «Handelszeitung» Förrlibuckstrasse 70 8021 Zürich Telefon: 043 444 59 00 Fax: 043 444 59 32 Mail: verlag@handelszeitung.ch Mail: inserate@handelszeitung.ch Druck Ringier Print Adligenswil AG Herausgeberin Axel Springer Schweiz AG Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen im Sinne von Art. 322 StGB: Amiado Group AG
as wären die rund 55 000 Plakatwände von APG und Clear Channel hierzulande ohne Autohersteller, bundesnahe Betriebe, Detailhändler, Telekomdienstleister? Halb leer – subjektiv beobachtet. Die andere Hälfte scheinen derzeit Zürcher und Luzerner Kantonsratswahlen sowie eidgenössische Parlamentswahlen zu füllen. Aber in der Woche vom 9. bis 15. März 2015 gab es in den Grossstädten einen anderen Dominator. Gefühlt jede vierte bis dritte Affiche zierte eine Kampagne mit einem geschwungenen M darauf. Mal gelb auf grünem Hintergrund für Deluxe-Burger. Mal weiss auf rotem Hintergrund für Signature-Burger. Mal schwarz auf gelbem Hintergrund für die Ronald-McDonald’s-Kinderstiftung. An der Förrlibuckstrasse 10 bis 70 zwischen Basler Versicherung und Axel Springer Schweiz in Zürich-West waren diese drei Sujets auf knapp 200 Metern zu entdecken. Doch warum ist nationale Imagewerbung für die Imbisskette noch ein Muss? Eigentlich sollte man das nicht nötig haben, indes sei es nützlich, so Marketingleiter Thomas Truttmann. «Ich glaube erst an Reklame, seit ich für McDonald’s arbeite.» Alle sechs bis acht Wochen lanciere man eine Kampagne und danach steige der Absatz jeweils nachweislich. Erstaunlich daran ist, dass der Big Mac nach wie vor das am meisten ver-
Norman C. Bandi (vor einem McDonald’s-Plakat in Zürich-West) Stv. Ressortleiter «Handelszeitung»
kaufte Produkt ist, obwohl es dafür in den vergangenen zehn Jahren bloss zwei Promotionen gab. Laut Truttmann ist es schwer, einen Selbstläufer zu bewerben, der dermassen bekannt ist. Wohl ein Grund, weshalb McDonald’s die Plakatsujets immer wieder mal mit einem Augenzwinkern versieht. 2014 war es die ursprünglich französische Icon-Kampagne, für die sechs unverkennbare Fast-Food-Ikonen ausgehängt wurden – als Grafik, ohne Text. Nur der letzte Mut fehlte: Das Logo wurde nicht weggelassen, sondern reduziert trotzdem dazugestellt.
INHALT Ulrich H. Moser Der GfMPräsident sagt, weshalb Schweizer Firmen gerade jetzt werben müssen. 4 Lead-Listen-Engage Der neue gemeinsame Ansatz der Universität St. Gallen mit Google Schweiz. 7 Der Übertrend Die USTrendspotterin Marian Salzman erklärt «selbst-» zum Wort des Jahres. 8 Erich Joachimsthaler Der Chef von Vivaldi Partners erklärt digitale Werbung zum Nebenschauplatz. 10
FOTO-PORTFOLIO Holger Rust Der Professor für Wirtschaftssoziologie zeigt, wie man den Homo algorithmicus decodiert. 13 Price Excellence Patrick Pfäffli und John-Oliver Breckoff sagen in ihrem neuen Buch, wies geht. 16 Markenbotschafter Sind Testimonials «state of the art»? «Und wie», heisst es etwa bei TBWA Zürich. 19 Content Marketing Laut Jung von Matt/Limmat steckt die Schweiz noch in den Kinderschuhen. 22
Migros: Poster of the Year 2014.
Die Bilder zeigen das Plakat des Jahres (Cover) und alle 18 Gewinner in den sechs Kategorien des Swiss Poster Award 2014, der am 12. März 2015 von APG in Gold, Silber und Bronze verliehen wurde. Fotos: ZVG HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
3
SPECIAL MARKETING
«Ich wünsche mir mehr Leadership» Ulrich H. Moser Der Präsident der Gesellschaft für Marketing (GfM) über den Frankenschock, die Heilmittel und den neuen Trend Simplicity. DER MARKTORIENTIERTE INTERVIEW: NORMAN C. BANDI
Die Nachricht schlug in der Schweizer Wirtschaft ein wie eine Bombe: Unsere Nationalbank hebt den Mindestkurs des Frankens zum Euro auf. Wie schwarz war der 15. Januar 2015 für Marketeers? Ulrich H. Moser: Zuerst kam die grosse Hektik wie nach jedem einschneidenden und überraschenden Ereignis. Der Preis ist das zentral diskutierte Thema. Die Marketingverantwortlichen in der Schweiz sind nun sicher noch mehr gefordert. Kosten senken, Werbeetats verteidigen. Langfristig wird das Thema der «Marketing-driven Innovation» wichtig.
«Die Währungsthematik ist nur ein Faktor der Transformation. Zentral für die Unternehmen ist indes der Technologiesprung.» Welche Unternehmensarten respektive Wirtschaftszweige sind von der Frankenstärke am meisten betroffen? Je höher der Exportanteil ist und je höher die Wertschöpfung in der Schweiz, desto grösser ist die Herausforderung. Höhere Preise können nur durch stetige Innovation und hohe Qualität gerechtfertigt werden. Durchschnittliche Qualität und Waren mit dem Absender Schweiz haben es schwer auf dem globalen Markt. Und welche Unternehmensarten respektive Wirtschaftszweige lässt die Sache praktisch kalt? Alle Wirtschaftszweige sind betroffen. Der grösste Profiteur ist wohl der Konsument. Aber dies nur kurzfristig – sollte es nicht
4
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
gelingen, das Schiff Schweizer Wirtschaft auf Kurs zu halten. Indirekt sind auch rein auf den Schweizer Markt ausgerichtete Firmen in den Sog geraten. Was passiert, wenn es politisch und wirtschaftlich motiviert einen neuen Euro-Mindestkurs gibt – ist dann subito wieder alles Friede, Freude, Eierkuchen? Dieses Szenario halte ich für sehr unwahrscheinlich. Wir müssen uns langfristig von stabilen Kursen verabschieden, mit Volatilitäten rechnen und immer zwei «What if»Pläne zur Hand haben. Die GfM steht hierzulande als Synonym für die marktorientierte Unternehmensführung. Trotzdem schreien alle exportabhängigen Firmen nach einer Euro-Untergrenze, also Planwirtschaft. Ist das nicht grotesk? Die Euro-Untergrenze hatte zum Zeitpunkt der Einführung ihre Ziele erreicht. Viele Firmen sind nun vom Entscheid der SNB überrascht worden. Mich beunruhigt das nicht so, weil ich um die Flexibilität und die Innovationskraft der Schweizer KMU weiss. Wir haben hierzulande in der Vergangenheit die schnelle Anpassung an neue Realitäten x-fach bewiesen und werden dies auch in diesem Fall tun. Anpassung heisst aber auch Veränderung. Einige Betriebe oder Branchen haben bereits reagiert und beim Personal und/oder bei der Produktion die Kostenbremse gezogen. Befürchten Sie, dass jetzt ebenfalls die Werbebudgets unter Druck kommen? Kurzfristig werden alle Bereiche auf ihre Kosten, deren Effizienz und Einsparmöglichkeit geprüft. Davon sind auch die Werbeetats betroffen. Wer aber zu den langfristigen Gewinnern zählen möchte, wird gerade in dieser schwierigen Zeit mutig auftreten und die Werbung nicht zurückfahren.
Name: Ulrich H. Moser Funktion: Präsident der GfM (seit 2007); diverse Verwaltungsratsmandate, unter anderem Alfred Müller AG, Biomed AG, Hug AG und Rivella AG Alter: 59 Wohnort: Zug Ausbildung: Ökonom HWV (FH), AMP Harvard Business School Der Verband Die 1941 gegründete Gesellschaft für Marketing (GfM) ist die Plattform für marktorientierte Unternehmensführung. Sie hat nach eigenen Angaben in den vergangenen 74 Jahren deren Entwicklung hierzulande massgeblich beeinflusst. Der GfM gehören gegenwärtig über 700 Firmen aller Branchen sowie öffentlich-rechtliche, marktwirtschaftlich ausgerichtete Institutionen als Mitglieder an. Der nationale Verband unterstützt mit seinen vier Tätigkeitsfeldern Forschung, Aus- und Weiterbildung, Veranstaltungen sowie Publikationen das Marketing nachhaltig. Die Mission lautet: «Die GfM fördert Marketing als Denkhaltung der marktorientierten Unternehmensführung. Als Vision will man dafür die Referenz im Land sein.
Weshalb ist es gerade jetzt falsch, beim Marketing Abstriche zu machen? Gutes Marketing ist vor allem in schwierigen Zeiten ein wesentlicher Treiber des langfristigen Unternehmenserfolgs. Wer jetzt die richtigen Botschaften sendet, wird zu den Gewinnern gehören.
SPECIAL MARKETING
«Marketing-Transformation» – das Jahresmotto der GfM könnte aktueller nicht sein? Richtig. Die Währungsthematik ist aber nur ein Faktor der Transformation. Ganz zentral für die Unternehmen sind indes der Technologiesprung, sprich die Digitalisierung, und die damit verbundenen langfristigen Chancen und Risiken.
«Bei der Vermarktung unserer Innovationen sind wir noch stark verbesserungsfähig.»
Worauf muss der Fokus der Marketingaktivitäten aller Firmen in der Schweiz im Jahr 2015 liegen? Die Nähe zum – individualisierten – Kunden verbunden mit hoher Emotionalität bleibt die erste Priorität.
Anfang Juni in Interlaken hat ebenfalls Simplicity als Thema gewählt.
Welche neuen Themen und Trends orten Sie, die auch hierzulande wegweisend sein werden? Simplicity ist ein gutes Stichwort. Das neuste Buch von Benedikt Weibel ist diesem Trend gewidmet, und das Swiss Economic Forum
ANZEIGE
Big Data revolutioniert das Marketing. Das behaupten zumindest Zukunftsforscher und Trendscouts. Wird das Thema überschätzt? Big Data ist ein wichtiges Thema im Marketing, aber ganz sicher nicht das einzige. Welche Trends bestimmen die Marketingagenda 2015 denn sonst noch? Das Zusammenspiel zwischen Innovation und Technik ist aus Sicht der GfM dabei
ganz zentral. Bei der Vermarktung unserer Innovationen sind wir noch stark verbesserungsfähig. Welche Chancen gilt es dabei zu nutzen? Wir sind weltweit ganz vorne bei den technischen Innovationen. Bezüglich Patenten sind wir die Nummer eins. Der Erfolg im Markt tritt aber erst dann ein, wenn die Kunden die neuen Produkte und Dienstleistungen auch wirklich kaufen möchten. Das Marketing muss in diesem Prozess eine noch viel wichtigere Führungsrolle übernehmen. Ich wünsche mir da mehr Leadership der Marketeers. Wo lauern die Gefahren? Man kann nicht immer auf Nummer sicher gehen. Flops gehören zum Geschäft. Die Unternehmen sind aufgefordert, mehr Mut zu zeigen und sich auch auf ihre Intuition zu verlassen.
SPECIAL MARKETING
Swiss Poster Award 2014 Kategorie «Commercial National»
Gold Plakatsujet: «Royal’s» Auftraggeber: McDonald’s, Crissier Werbeagentur: TBWA, Zürich
Unsere Firma verdient Millionen in den Sand gesetzt. Silber Plakatsujet: «You are what you wear» Auftraggeber: Karl Vögele für Max Shoes, Uznach Werbeagentur: Jung von Matt/Limmat, Zürich
6
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
Das Leben ist voller Wendungen. Unsere Vorsorge passt sich an.
Bronze Plakatsujet: «Wendesätze» Auftraggeber: Swiss Life, Zürich Werbeagentur: Leo Burnett, Zürich
SPECIAL MARKETING
Leiten, zuhören und engagieren Transformation Mit ihrem Ansatz plädieren die Universität St. Gallen und Google Schweiz für eine digitalere Ausrichtung des Marketings.
KIRSTEN MRKWICKA, MARCUS SCHÖGEL UND PATRICK WARNKING
E
xponentielle Trends in Technologie und Konsumentenverhalten sind für viele Unternehmen sowohl Chance als auch Herausforderung. Gerade in der Schweiz boomt die Nutzung mobiler Endgeräte und digitaler Plattformen, sodass der Handlungsbedarf im Marketing gross ist. Die hohe Dynamik und Komplexität bei Themen wie Search, Social, Mobile, Video, Analytics und Programmatic erfordern nicht nur neue Tools und Know-how. Firmen müssen in eine neue Lern- und Innovationskultur investieren, was oft Anpassungen beim Geschäftsmodell und in der Organisation voraussetzt. Als Orientierungshilfe für das Marketing haben das Institut für Marketing der Universität St. Gallen (IfMHSG) und Google Schweiz gemeinsam den «Lead-Listen-Engage»-Ansatz entwickelt. Die grundlegenden Auswirkungen der digitalen Transformation auf das Marketing sind offensichtlich: Digitale Medien bieten eine Vielzahl neuer Zugänge zum Kunden, erleichtern umgekehrt aber auch Kunden die Teilnahme am öffentlichen Dialog. Mit den neuen Interaktionsmöglichkeiten haben sich die Rollen von Unternehmen und von Konsumenten nachhaltig verändert. Über digitale Medien können Firmen ihre aktuellen und potenziellen Kunden im Prinzip jederzeit und überall in Echtzeit erreichen. Für ihre Aufmerksamkeit erwarten diese allerdings einen klaren Mehrwert.
` Lead: Mit der neuen Rollenverteilung in digitalen Medien muss der Kundennutzen in den Mittelpunkt rücken, und zwar in allen Unternehmensaktivitäten. Ausgangspunkt sollten immer Customer Insights sein. Zum Beispiel orientiert sich BMW mit dem Slogan «Freude am Fahren» klar am Bedürfnis nach individueller Mobilität. Diese kundenzentrierte Positionierung bietet auch unternehmensintern Orientierung und schafft als strategische Leitlinie («Lead») Raum für Flexibilität. Gerade die
für Social, Mobile und Video sowie Community Management auf Augenhöhe können Firmen an den einzelnen Kontaktpunkten einmalige Kundenerlebnisse schaffen («Engage»), die sich auch nachhaltig auf den Unternehmenserfolg auswirken und im Idealfall sogar virale Effekte auslösen. Einheitliche Kundenerlebnisse lassen sich angesichts der zunehmenden Kanal` Listen: Als Grundlage für die schnelleren vielfalt allerdings nur durch integriertes strategischen Entscheidungen eignen sich Denken und vernetzte Strukturen realisiedie leicht zugänglichen Echtzeit-Infor- ren. Insbesondere Marketing, Sales und IT mationen in digitalen Medien. Kommentare müssen heutzutage aus einer Hand komin Online Communities oder men. Für diese SchnittstelReviews auf Bewertungslenaufgabe müssen in der portalen enthalten reichhalti- Die Transformation Regel neue Funktionen geges Wissen, das Forschung muss weit über die schaffen werden. Neben eiund Entwicklung vorantreianderen Firmen hat Abteilungsgrenzen nigen ben kann. Häufig finden sich Starbucks sogar einen Chief des Marketings Trends und Kritik hier sogar Digital Officer ernannt, der zuerst, sodass die meisten die Atmosphäre des «Third hinausreichen. Firmen mittlerweile stanPlace» systematisch in Social dardmässig Monitoring-Tools Media und Mobile Media als Frühwarnsysteme einsetzen. Neben dem umsetzt. Bereits seit 2008 können Kunden direkten Feedback sagt aber genauso das unter mystarbucksidea.com das eigene ErOnline-Nutzungsverhalten in Form von lebnis aktiv mitgestalten. Klick-Streams auf den eigenen Websites Die drei Ebenen stehen jeweils in einem schon viel über die Reaktion von Konsu- engen Zusammenhang. So sollte die stratementen aus. gische Leitlinie («Lead») natürlich den FoMit dem Feedback lässt sich das Marke- kus aller «Listen»- und «Engage»-Aktivitäting für Kunden relevanter und für Unter- ten definieren. Das generierte Kundenfeednehmen effizienter gestalten. Allerdings back («Listen») wiederum muss die strategischöpfen nur wenige Firmen das digitale sche Positionierung und Ausgestaltung der Wissenspotenzial voll aus. Relevante Infor- vielfältigen Kundenkontakte beeinflussen. mationen bleiben entweder unentdeckt Und das eigentliche Kundenerlebnis («Enoder versickern später. Hauptbarriere ist gage») ist im Idealfall zugleich Ausgangsvielfach Silodenken. Für erfolgreiches «Lis- punkt für weitere Optimierungen. tening» brauchen Unternehmen nicht nur Damit zeigt der «Lead-Listen-Engage»die richtigen Analyse-Tools, sondern auch Ansatz nicht nur die Eckpunkte, sondern das richtige Know-how sowie schnellere, auch die notwendigen Verknüpfungen für übergreifende Informations- und Aus- zeitgemässes Marketing. Die Dynamik und tauschprozesse. So hat Nestlé ein Digital Flexibilität im Unternehmen schafft nur Acceleration Team aufgebaut, das interne eine Marketingtransformation, die weit Beratung und Trainings anbietet sowie die über die eigentlichen Abteilungsgrenzen Informationsflüsse koordiniert. des Marketings hinaus reicht. erhöhte Entwicklungsgeschwindigkeit in digitalen Medien erfordert kürzere Planungszyklen und Mut zum Voranschreiten. Erst wenn es gelingt, Inhalte und Initiativen im Netz aktiv zu gestalten, dann ist eine aktive Positionierung möglich. Sie wirkt darüber hinaus im Netz als Orientierungspunkt für Konsumenten und Konkurrenten.
` Engage: Im Kundenkontakt zeichnen sich digitale Medien vor allem durch die vielfältigen Interaktionsmöglichkeiten aus. Mit einer Nutzen-basierten Content-Strategie
Kirsten Mrkwicka, Doktorandin, sowie Marcus Schögel, Direktor und Titularprofessor, Institut für Marketing der Universität St. Gallen (IfM-HSG), St. Gallen; Patrick Warnking, Country Director, Google Schweiz, Zürich.
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
7
SPECIAL MARKETING
KOMMENTAR
Der Übertrend
P
ünktlich zum Jahresanfang legen Trendspotter wie ich den Schnellgang ein. Wir halten unsere Ohren an den Boden, um zu hören, was es Neues gibt und was als Nächstes dran ist. Um die kulturellen Vibrationen wahrzunehmen, die sich rund um die Erde bewegen. Ich nenne sie gerne «Zukunftsschlagzeilen», während Marketing-Guru Seth Godin von «Ideenviren» spricht. Tatsächlich erinnern sie ein wenig an Epidemien. Sie manifestieren sich nur, wenn eine Vielzahl von Menschen miteinander in Kontakt stehen und sich die Dinge rasch verändern.
Marian Salzman Vorsitzende, Havas PR Global Collective, Havas Worldwide, New York
bereich: Gesundheit, Beziehungen, Technologie, Haushaltprodukte, Gebrauchswaren, Medien und der Rest. In einer immer unsicher werdenden Welt signalisiert «selbst-» die eine Person, auf die wir uns verlassen können und die sich mehr als jede andere um uns kümmert. Für Marketeers und Kommunikatoren heisst die steigende Bedeutung von «selbst-», dass die Menschen selbst-zentrierter werden – und nicht zwingend selbst-süchtiger.
In anderen Worten: Heute, das ist jeden Tag. Marketeers und Kommunikatoren müssen mehr denn je «up to date» sein. Raten Sie mal? In ihrem Geschäft ist das keine einfache Aufgabe. Es gibt so viel aufzunehmen und zu verdauen, und unsere digital erweiterten, Twitter-gefütterten Gewohnheiten lernen uns, in Bruchstücken zu denken. Deshalb destilliert meine Agentur Havas «Uns stehen alles, was an nahen und fernen noch nie Horizonten sichtbar wird, in ihrem jährlichen «Trends Report». Nachda gewesene stehend eines der zehn Highlights Veränderungen unserer globalen Prognose für bevor.» dieses Jahr (siehe nächste Seite), nämlich der Übertrend. 2014 erklärte Oxford Dictionaries den Ausdruck Selfie zum internationalen Wort des Jahres. Wie wär es also mit «selbst-» als Wort der Epoche? Nicht «selbst» alleinstehend, sondern «selbst-», also als Präfix. Wie in Selbst-porträt, Selbst-parodie, selbst-referenziell und vielleicht ein wenig selbst-obsessiv. Es widerspiegelt den Zeitgeist. Es führt wie ein roter Faden durch Worte, die überall geschrieben, gesprochen und gelesen werden. Von selbst-inszenierten Ikonen der Popkultur über selbst-ernannte Blogger bis hin zu selbstgerechten Wächtern der Hochkultur. Das Phänomen ist nicht neu, doch das Vehikel, das den Selbst-Fokus des 20. Jahrhunderts in die Selbst-Obsession des 21. Jahrhunderts befördert hat, ist die «personal technology». Diese katapultiert jeden und jede ins Zentrum seines oder ihres eigenen globalen Kommunikations- und Publikationsnetzwerks. Gleichzeitig bietet sie wachsende Möglichkeiten zur Selbst-Überwachung und zum Sammeln persönlicher Daten, sprich der Selbst-Verfolgung. Die Ausbreitung und Verankerung dieses Self-Tracking ist eine meiner stärksten Trendvoraussagen für 2015. Was kommt als Nächstes? «Selbst-» und seine Äquivalente in anderen Sprachen werden zur fundamentalen Wortidee in jedem Lebens-
8
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
Wenn wir uns der chinesischen Symbolik bedienen, besteht das Ying aus dem «selbst-» als fixem Referenzpunkt im Leben und als Ziel für das Marketing («Du bist es dir wert» oder «Mach es auf deine Art») sowie aus der Technologie. Das Yang ist das Bedürfnis der Menschen, miteinander in Kontakt zu treten und anderen etwas zu bedeuten. Marken haben in diesem Kontext die Aufgabe, den Konsumenten mit diesem Yang zu helfen und sie darin zu unterstützen, die Entwicklung ihres Selbst in einer digitalen Welt zu verstehen. Um es zusammenzufassen: Während unser «Trends Report» vor zwei Jahren auf das Aufkommen von «Co»-Wörtern hinwies (Co-Kreator, Co-Unternehmer, Co-Erzieher), stellt Havas für 2015 die Bedeutung von «selbst-» als übergeordnete Idee fest. Wir ertragen nicht noch mehr Turbulenzen, weshalb wir wahrscheinlich alle unser individuelles Selbst retten möchten, obschon wir uns nach dem «Co» sehnen. In einer Welt, in der sich alles mit Warp-Geschwindigkeit bewegt, in der Individuen sich schnell einmal überfordert und verloren fühlen können, ist das Fokussieren auf das Kleine und Lokale eine tolle Strategie, um das eigene Selbst-verständnis zu finden.
Bezüglich dessen, was als Nächstes kommen wird – abgesehen vom Tod und von den Steuern –, gibt es kaum Zweifel. Uns stehen noch nie da gewesene Veränderungen bevor. Diejenigen, die mit ihnen gehen, auf ihnen surfen und sie einer grossen Gruppe kommunizieren können, werden die Gewinner sein – sowohl auf die eigene Industrie als auch auf die gesamte Wirtschaft bezogen.
HAVAS WORLDWIDE
316 Agenturen in 75 Ländern Global Mit 316 Agenturen in 75 Ländern und über 10 000 Angestellten gehört Havas Worldwide mit Hauptsitz im französischen Suresnes zu den Top-Five-Netzwerken der Welt. Mit Vincent Bolloré hat man einen Grossaktionär, der die Geschicke des inhabergeführten Unternehmens persönlich und langfristig leitet. Die an der Pariser Börse kotierte Havas Holding besteht aus Havas Worldwide, Havas Media sowie Havas PR und ist Teil der Bolloré Group und wird auch dort bilanziert. National Im März 2012 wurden die Schweizer Niederlassungen der Werbeagentur Euro RSCG in Havas Worldwide Zürich beziehungsweise Havas Worldwide Genève umbenannt. Sie stehen unter der Leitung von Frank Bodin, «Werber des Jahres 2009».
SPECIAL MARKETING
` DIE 10 MARKETING-TRENDS FÜR 2015 VON MARIAN SALZMAN 1. Selbst-Alles: Der Übertrend. Das Präfix «selbst-» drückt den Zeitgeist aus. Nicht zuletzt, weil die Kreation eines positiven Selbstbilds als essenziell für jedermann gilt. Eingebettet in diesen Trend sind das Self-Tracking unserer Gesundheit, die Selbst-Verbesserung durch NonstopBildung und das (digitale) Überwachen des Fehlverhaltens anderer. Schliesslich können wir uns nicht darauf verlassen, dass dies jemand anders für uns übernimmt. 2. Die neu definierte Mittelklasse. In entwickelten Nationen verschwindet sie zusehends, während sie überall sonst auf der Welt zu einem ernst zu nehmenden Käufersegment wird und das Denken der Marketeers und Kommunikatoren herausfordert. 3. Internet erhöht Schau-mich-an-Einsatz. Menschen, die ein Bedürfnis haben, online wahrgenommen und erkannt zu werden, werden versucht sein, zu immer weiteren (und grafischeren) Extremen zu gehen.
4. Nicht immun gegen Viren. Biologische Viren sind eine Bedrohung in den aufkommenden Ländern – während CyberAttacken mit absichtlich kreierten, digitalen Viren die entwickelten Staaten beunruhigen werden. 5. Sicheres Essen: Gibt es das noch? Zucker, Sojabohnen, Gluten, Salz ... Viele Nahrungsmittel werden ihren sogenannten Tabakmoment erleben, mit stärkeren Regulierungen und höheren Steuern auf ungesunde Nahrungsmittel und Getränke. 6. Freund-Feind-Verwirrung. Wer sind Ihre Freunde, Feinde und/oder «Freinde»? Antworten in Politik, Technologie und anderen Bereichen werden komplizierter. 7. Frauen setzen sich durch. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist global im Vormarsch. Zudem wird unser Sensor für Sexismus grösser, denn die in den Sozialen Medien erzählten Geschichten von
Geschlechtsrelevanz haben eine universelle Gültigkeit und werden so überall lokal. 8. Der Ruf der Wildnis. Die steigende Urbanisation hat unseren Durst nach allem Wilden geweckt – von Buchthemen über Ferien in unberührten Gegenden bis hin zur Wiederansiedlung von Raubtieren in ihrem natürlichen Lebensraum. Schuldenbelastete Millennials können solche Impulse aber auch mit «mobile devices» (und der Protestbewegung Occupy?) ausleben. 9. Kleine sind die neuen Grossen. Technologie, Kultur und eine neue Einstellung – plus die Sicherheit, sein eigener Chef zu sein – machen kleine Firmen zu einem globalen Trend. Sprich: «Small (business) is the new big». 10. Zu Hause ist, wo alles ist. Die essenziellen Dinge des Lebens werden immer tragbarer, weshalb «lokal» überall, irgendwo und nirgendwo gleichzeitig bedeutet.
ANZEIGE
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
9
SPECIAL MARKETING
Es ist höchste Zeit für Fehler Digitaler Darwinismus Traditionelles Marketing hat ausgedient. Der Konsument will nicht nur reagieren. Er will teilhaben und mitmischen. Das fordert Firmen. SIBYLLE MÜLLER
D
ie digitale Transformation hat das Zeitalter des Konsumenten eingeläutet. Im Internet bestimmen Nutzer, welche Produkte Unternehmen entwickeln. Je näher an den Bedürfnissen der Kunden, desto besser. «Imagewerbung ist total überholt», erklärt Erich Joachimsthaler. Er ist Gründer und Chef von Vivaldi Partners Group, einem der weltweit führenden Dienstleister in der Strategie- und Marketingberatung mit Sitz in New York. Am diesjährigen Worldwebforum in Zürich referierte er kürzlich zum Thema digitaler Darwinismus. Dieser umfasst die These, dass nur jene Unternehmen den digitalen Wandel überleben, die sich schnell genug anpassen. Die Zukunft sieht Joachimsthaler in der Sensorik. «Weg von den Bildschirmen, hin zu den Sensoren», lautet sein Credo. Die neue Apple Watch lasse grüssen. Was das alles für die Firmen und ihre Chief Marketing Officers (CMO) bedeutet, hält die Vivaldi Partners Group in einer aktuellen Studie zur neuen Rolle des CMO fest. Es braucht einen Alleskönner. Analytisch sattelfest, datenversiert, allzeit flexibel und nicht zuletzt fähig, ein multidisziplinäres Team zu führen. Wo solche Personen zu fin-
den sind, lassen die Autoren offen. Ohnehin klingt alles einfach. «Es gilt eine alte Weisheit: Man muss den Kunden besser verstehen und seine Bedürfnisse kennen, bevor er sie selbst kennt», sagt Joachimsthaler. Begeistert erwähnt er als Beispiele BMW und Burberry, denen es gelungen ist, sich auf innovative Weise mit ihren Kunden zu vernetzen. Der Autohersteller BMW geht weit über sein eigentliches Produkt hinaus, indem er das Fahrzeug mit einer Reihe anderer Dienstleistungen verknüpft. Mit den von BMW initiierten Angeboten DriveNow und JustPark lässt sich jederzeit und überall ein Auto mieten oder parken. Der Kleiderhersteller Burberry veröffentlicht Videos der Proben seiner Modeschauen bereits eine Stunde vor der offiziellen Veranstaltung online. Die Kunden können die gewünschten Produkte direkt kaufen. Keine Lagerkosten, kein Planungsaufwand. Produziert wird, was bestellt und bezahlt wurde.
Joachimsthaler lächelt Bedenken weg Doch nicht jeder vermarktet Luxusprodukte. Joachimsthaler sieht darin kein Problem. Ihm sei noch nie ein Unternehmen untergekommen, bei dem keine Möglichkeiten zur Nutzung neuer Technologien bestünden. Selbst Zahnpasta kann seiner Meinung nach damit attraktiv vermarktet
VIVALDI PARTNERS
Von American Express über Rivella bis UBS Global In einer zunehmend vernetzten Welt entwickelt die Vivaldi Partners Group starke Marken, entfacht Innovationen und transformiert Geschäftsmodelle. Gegründet wurde das global führende Unternehmen in der Strategieund Marketingberatung mit Sitz in New York im Jahre 1999 vom Deutschen Erich Joachimsthaler, renommierter Marketingexperte und Vordenker. Die Schwerpunkte im Leistungsangebot liegen bei Customer Insights, Marketing, Brandstrategie im digitalen Kontext und Strategieimplementierung, stets mit einem Fokus auf greifbare Resultate.
10
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
National Die Schweizer Niederlassung in Zürich wird von Roland Bernhard geleitet, der als Senior Partner auch im weltweiten Führungsteam ist. Er hat Dutzende von Projekten in unterschiedlichsten Branchen im In- und Ausland geleitet. Vor seiner Beraterkarriere war er unter anderem globaler CMO von Red Bull. Kunden Zu den Kunden des Dienstleisters Vivaldi Partners zählen namhafte und zukunftsgerichtete Unternehmen wie American Express, BMW, Colgate, Lego, Lonza, Migros, Rivella, SAP, Small Luxury Hotels of the World oder UBS.
«Das Tolle an der neuen Welt ist, dass man mehr experimentieren kann.» Erich Joachimsthaler Chef, Vivaldi Partners, New York
werden. Colgate ist sein Kunde. Was anderes zu behaupten, wäre geschäftsschädigend. Von den Gefahren und Risiken der digitalen Welt spricht er nicht. Sie sind trotzdem real. Nicht umsonst wittern Versicherer neue Geschäftsmodelle in der Absicherung von Firmen gegen Entrüstungsstürme in sozialen Medien (Shitstorm) und deren Folgen für die Reputation. Joachimsthaler lächelt solche Bedenken weg. Er ist schon lange im Marketing, das merkt man. In Fehlern sieht er eine Chance. Diese verhindern zu wollen, ist für ihn Negativdenken. «Wir müssen Fehler machen. Das Tolle an dieser neuen Welt ist, dass man sehr viel mehr experimentieren kann als früher», ergänzt er. Experimente sind potenziell teuer. Die Ressourcen für solches Marketing sind aber insbesondere bei kleineren und mittleren Unternehmen (KMU) beschränkt. Darauf angesprochen hat Joachimsthaler einmal mehr eine passende Antwort parat. «Viele dieser neuen Technologien sind zutiefst demokratisierend.» Damit eröffneten sich gerade für Mittelständler Wachstumschancen. Als Beispiel nennt er Netflix. Die Firma ist zwischenzeitlich im Streaming von Videos zu einer namhaften Grösse herangewachsen. Mit sehr wenig Geld und bescheidener Technologie habe es Netflix geschafft, Konkurrent Blockbuster in den Ruin zu treiben. Blockbuster war die ehemals grösste Videothekenkette der USA und musste im Jahr 2010 Insolvenz anmelden. Genau das bringt den digitalen Darwinismus gemäss Joachimsthaler auf den Punkt. Er birgt das Potenzial für neue, innovative Unternehmen, sich zu etablieren. Gleichzeitig sind konventionelle Marken gefährdet, in der Versenkung zu verschwinden, weil sie sich angesichts des Wandels
SPECIAL MARKETING
nicht behaupten können. Dienstleister wie die Vivaldi Partners Group braucht es laut deren Vordenker, weil sich deren Kunden in einem Chaos von neuen Technologien zurechtfinden müssen. Oft würden diese Technologien jedoch gar nicht zusammenpassen. «Somit braucht es jemanden, der die Spreu vom Weizen trennt und hilft, die gröbsten Fehler zu vermeiden.»
Hierzulande Verbesserungspotenzial Auch in der Schweiz ist die Thematik der digitalen Transformation angekommen, wie eine 2014 veröffentlichte Studie des Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG zeigt. Umso überraschender ist jedoch, dass die 30 anlässlich der Erhebung befragten Firmen aus verschiedenen Branchen weder eine einheitliche Digitalstrategie haben noch künftig planen, eine solche
ANZEIGE
zu implementieren. Vielmehr werden digitale Initiativen in bestehende Geschäfts-, Informatik- und Marketingstrategien integriert. Über 50 Prozent der Befragten geben zudem an, eine grosse Herausforderung im digitalen Kulturwandel sei ein fehlendes angemessenes Budget. Dazu ins Bild passt die Tendenz in der Schweiz, auf die Schaffung der Position eines Chief Data Officer (CDO) zu verzichten. Stattdessen soll es eine verstärkte Kooperation von Informatik- und Marketingabteilung richten. Gekonnt in den Dialog mit ihren Kunden getreten ist die Migros – auch Joachimsthalers Kunde – mit ihrer Online-Konsumenten-Plattform Migipedia. Darauf können Kunden Meinungen austauschen und sich aktiv in die Produktinnovation einbringen. Bisher scheint die landesweit einzigartige Plattform ein voller Erfolg zu sein. Bereits
mehr als 50 Produkte sind über die Migipedia-Community entwickelt worden. Joachimsthaler hält drei Faktoren für entscheidend, um sich gekonnt an die digitale Transformation anzupassen: Daten, Technologien und Analysen. Unternehmen müssen Daten sammeln, analysieren und zum eigenen Vorteil nutzen. Das Marketing der Zukunft stellt den Menschen in den Fokus. Denn letztlich sind es Menschen, die Märkte schaffen. Ihren Puls zu fühlen, ist also zentral. Das Ende der traditionellen Werbung ist eingeleitet. Oder wie es Joachimsthaler formuliert: «Werbung ist heutzutage ein Nebenschauplatz.» Sibylle Müller absolviert während des Lehrprogramms Wirtschaftsjournalismus am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen ein Praktikum auf der Redaktion der «Handelszeitung».
SPECIAL MARKETING
Swiss Poster Award 2014 Kategorie «Commercial Local and Regional»
Gold Plakatsujet: «Otrivin-Blumen» Auftraggeber: Novartis, Rotkreuz Werbeagentur: Y&R Group, Zürich
Silber Plakatsujet: «Badi-Lancierung» Auftraggeber: Haus Hiltl, Zürich Werbeagentur: Ruf Lanz, Zürich
12
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
Bronze Plakatsujet: «Maximal reduziert» Auftraggeber: OBI, Schaffhausen Werbeagentur: Jung von Matt/Limmat, Zürich
SPECIAL MARKETING
«Je ne cherche pas, je trouve» Big Data Noch geht es um die Decodierung des Homo algorithmicus. Doch ohne neue Impulse droht der Wirtschaft die Spirale des Stillstands. trotz der ebenso aufgeregten wie anregenden Diskussion nicht einmal klar ist, womit man es da zu tun hat, auch und vor allem nicht nach Durchsicht von Hunderten aktueller Stellungnahmen, Analysen, Angebote, Kritiken und Projekte zum Thema. Was also charakterisiert Big Data?
HOLGER RUST
ANZEIGE
FOTOLIA
N
ach anderthalb Jahrzehnten Managementforschung, Beratung und publizistischer Recherche, nach Hunderten von Gesprächen mit Führungspersönlichkeiten, Nachwuchskräften und Ehemaligen gab es eine relativ einfache Antwort auf die Frage nach den Urgründen des Erfolgs. Erfolgreich sind in der Regel die, die zwei auf den ersten Blick widerstreitende Aufgaben zu verknüpfen wissen. Erstens: Die Sicherung von Routine und Planbarkeit im Unternehmen und die Entwicklung angemessener Kennzahlen für die Beziehungen zu Wettbewerbern und Kunden mithilfe von kreativ angewendeten Modellen, Performance-Measurement-Systemen, Programmen und aktuellen Kombinationen von Hardware und Software. Zweitens: Die Förderung ungezügelter Flexibilität für die Fälle, in denen alle Sicherheiten und Planungen obsolet werden, um schnell mit der gesamten intellektuellen Potenz des Unternehmens auf unerwartete Herausforderungen reagieren und exklusive Chancen erkennen zu können. Die herrschende Tendenz im Management ist aber nun, die zweite Aufgabe mit den formalen Ideen der ersten Aufgabe anzugehen. Dies umso mehr, als gegenwärtig
Das Problem ist nur, dass trotz der ebenso aufgeregten wie anregenden Diskussion noch nicht klar ist, was Big Data ist. (wieder einmal) ein einschlägiges Heilsversprechen kursiert, das mit einer ultimativen Kombination aus Hardware und Software einen geradezu mystischen Automatismus beim Blick in die Zukunft ermöglichen soll – Big Data und die Decodierung des Homo algorithmicus. Das Problem ist nur, dass
Da ist noch viel Raum für Weiteres Schon bevor die Diskussion irgendwie virulent wurde, beschäftigten sich viele Unternehmensberatungen mit Data Mining als Rückgrat der Business Intelligence. Bei dieser Suche stösst man auf einen Ansatz, der durch drei Worte charakterisiert war, die alle mit V beginnen. Sie stammen aus einer Studie der Meta Group und lauten: Volume, Velocity und Variety. Solche Wortfolgen, die alle mit derselben Initiale beginnen, sind in der Management-Ratgeberliteratur beliebt. Deshalb folgten geradezu zwanghaft in den nächsten anderthalb Jahrzehnten in unsystematischer Reihenfolge Veracity, Viability, Value, Visibility, Visualization, Volatility und ein reanimierter Begriff aus der klassischen Sozial- und Marktforschung namens Validity, sprich der Nachweis, dass das, was man zu messen vorgibt, auch gemessen wird. Nun ist das Problem aber, dass sich diese definitorischen Fingerübungen nicht mit dem Prinzip selber auseinandersetzten, sondern nur eine Beschreibung liefer- `
SPECIAL MARKETING
` ten. Dabei geriet aus dem Blickfeld, dass die Dinge des Lebens ebenfalls in zwei Gruppen eingeordnet werden müssen: In die, die berechenbar sind (sich also in Daten offenbaren), und in die, die es nicht sind. Das Muster wiederholt sich. Mittlerweile ist wohl klar, dass Big Data ein geniales und tiefschürfendes Konzept für die Decodierung verborgener Routinen ist, die sich in unstrukturierten Daten äussern und auf derart charakterisierten Gebieten zu unglaublichen Erkenntnissen führen können – in der Geophysik, den Life Sciences, der Meteorologie, den Earth Data, bei der Vorhersage von Epidemien und Naturkatastrophen, ja auch sogar in den Handlungs-
In jeder Sekunde kann irgendjemand online eine Kaskade mit globalen Auswirkungen lostreten. feldern, in denen Menschen Routinen folgen wie etwa in der Mobilität oder bei ökologischen Verhaltensweisen. Kritisch wird es nun aber bei den volatilen Ausdrucksaktivitäten in Mode, Stil, Ästhetik, Essen oder Interieurs und der unaufhörlichen Kommunikation über all das. Wenn man schon von Big Data spricht – hier findet man ein Beispiel: Hunderte Millionen Blogs mit Postings und Repostings, Modifikationen und Transformationen, auf denen sich Abermillionen Individuen austauschen, meist mit Bildern und Filmen, stets in Bewegung, jedem Algorithmus vorauseilend. YouTube, Twitter, Tumblr, Pinterest, Instagram, Google+, Flickr und ungezählte andere Blogs und Plattformen. In jeder Sekunde kann irgendjemand eine Kaskade mit globalen Auswirkungen lostreten. Ob es sich nun um den amüsanten Unsinn der Mode handelt, sich mit Pulverfarben zu bewerfen, oder ein Musikstück, das völlig unerwartet zum Millionenseller avanciert.
Immer ein Echo der analogen Welt Doch die Versuchung ist gross, auch das alles ins masslose IT-System einzufüttern: Die Bilder und Filme und Facebook-Einträge, die Dates in Freundes-Netzwerken, zu verknüpfen mit RFID, Meldungen der Sensortechnik aus dem Internet der Dinge, um es dann mit Hadoop und HDFS und MapReduce und anderen Zauberwerken in den Datenfarmen durchzukämmen, um ungeahnte Korrelationen zu entdecken, schliesslich auf dieser Grundlage Produkte und Dienstleistungen vor allem im Hinblick auf eine Funktion zu entwickeln: Daten zu generieren, mit deren Hilfe die Produkte und Dienstleistungen noch geschmeidiger auf die durch diese Daten identifizierten Bedürfnisse zugeschnitten werden können. Und immer so weiter. Datafication.
14
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
HOLGER RUST
Ein Kritiker der Trendforschung Person Der Deutsche Holger Rust (68) ist Professor für Wirtschaftssoziologie. Er war und ist an verschiedenen Universitäten des In- und Auslandes tätig, bekleidete eine Reihe von verantwortlichen Positionen in Unternehmen, ist Wissenschaftlicher Berater von mittelständischen Unternehmen und Grosskonzernen. Rust gilt als Kritiker der Trendforschung und der Managementforscher. Einer breiten Öffentlichkeit ist er als Autor für renommierte Tageszeitungen und Magazine bekannt, darunter das deutsche «Manager Magazin», wo Rust mehrere Jahre exklusiv als Publizist tätig war, und der «Harvard Business Manager», in dem seit 2008 seine monatliche Wirtschaftskolumne erscheint. Inhalt Die diesem Beitrag zugrunde liegende Forschung untersuchte die Dynamik der Entwicklung von Geschmackskulturen im Internet. In fünf Research Units aus jungen Nachwuchssoziologen (Digital Natives) wurden die Welt der Blogs und die Methoden ihrer Analyse durchforstet. Die Daten, Gespräche, Bildsequenzen und Iterationen von Motiven befinden sich gegenwärtig im Prozess der Auswertung.
Und dann? Dann könnte ein kleines Problem entstehen. Die Wirtschaft geriete in eine Spirale des rasenden Stillstands, weil sie keine unerwarteten Impulse mehr zu verarbeiten hätte. Man vernachlässigt jene zweite Aufgabe – den produktiven Zweifel daran, ob (Validity!) die digitalisierten Daten als Indikatoren für Handlungsoptionen in der analogen Welt taugen. Man erläge der Verführung, jeder algorithmisch plausiblen Konstellation zu folgen, statt etwas zu finden, das man gar nicht gesucht hat. So, wie es Picasso auf eine Frage nach den Ursprüngen seiner Ideen einmal formulierte: «Je ne cherche pas, je trouve.» Man kann nun nicht gerade sagen, dass sein Geschäftsmodell wenig Erfolg hatte. Früher nannte man die Einfälle, die sich so ergaben, Serendipität. Geboren aus Berechnung und Phantasie. Von Menschen mit Begabung für beides. Plötzlich finden wir wieder den Verweis auf eine Qualifikationskultur, die nur noch an wenigen Bildungsstätten gepflegt wird, vom Physiker und Romancier Charles Percy Snow im Mai 1959 in einer hellsichtigen Rede an der University of Cambridge «Third Culture» genannt. Er beklagte damals die wechselseitige Arroganz der Natur- und Geisteswissenschafter, die aus fachegoistischen Gründen die grossen Möglichkeiten
Früher nannte man Einfälle, die sich zufällig ergaben, Serendipität. Geboren aus Berechnung und Phantasie. gemeinsamer Problemlösungen torpedierten. Dass der Hinweis auf diese alte Rede keineswegs nur ein zufälliges, opportunes Fundstück darstellt, belegt ein Beitrag der «Financial Times» im Mai 2009 zum 50. Jahrestag von Snows Vortrag. Der zähle zu den wichtigsten des 20. Jahrhunderts. Dennoch liegt in diesem intellektuellen Konzept ein Impuls – für den Moment nämlich, in dem die wolkigen Daten nun irgendwie systematisiert auf dem Bildschirm erscheinen und sich die Frage aufdrängt, was sie bedeuten. Dann wird schnell klar, dass die Mathematik ihre wahre Eleganz erst entfaltet, wenn ihre Potenziale für die erste Aufgabe im Unternehmen ausgeschöpft sind: Die Grenzen der Berechenbarkeit zu offenbaren, den Punkt sichtbar zu machen, an dem die zweite Aufgabe beginnt. Dem Management erwächst an dieser Stelle eine personalpolitische Herausforderung. Drauf zu achten, dass die dringend gesuchten MINT-Absolventen kultursoziologisch geerdet sind und begreifen, dass alles Digitale immer nur ein Echo der analogen Welt darstellt. Ihr verborgenes kulturelles Betriebssystem zu verstehen, ist die Voraussetzung dafür, Daten – wie «big» sie auch immer sein mögen – richtig zu interpretieren.
SPECIAL MARKETING
NEWS ` GfM BRUSH UP
` HAVAS BRAND PREDICTOR
«Hot Mobile Marketing» mit Raj Venkatesan
Diesen Marken gehört in der Schweiz die Zukunft
Vorlesung Am Freitag, 5. Juni 2015, präsentiert die Gesellschaft für Marketing (GfM) Raj Venkatesan, Marketingprofessor und Inhaber des Lehrstuhls als Bank of America Research Professor of Business Administration der Darden School of Business an der University of Virginia in Charlottesville (USA). Am GfM Brush Up von 8 bis 9 Uhr im Auditorium der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ) referiert er auf Englisch zum Thema «Hot Topics in Mobile Marketing». Die
Teilnahme für GfM-Mitglieder ist kostenlos, Nichtmitglieder bezahlen 100 Franken. Anmelden kann man sich online via Website der GfM.
` MARKETINGPREIS
Firmen nominieren, Benedikt Weibel hören Verleihung Seit 1984 würdigt die Gesellschaft für Marketing (GfM) mit ihrem «Jahrespreis der Stiftung für Marketing in der Unternehmensführung» jeweils ein schweizerisches Unternehmen, das sich fortwährend durch herausragendes Wirken ausgezeichnet hat. Ab sofort können bis zu drei Firmen als Kandidaten vorgeschlagen werden. Das Formular findet sich online unter der Landingpagemarketingpreis.ch/nominie-
rung. Danach kürt eine Fachjury unter Leitung von IMD-Professor Stefan Michel den Gewinner – vergangenes Jahr war es Swisscom. Der Marketingpreis wird zum 31. Mal am Dienstag, 27. Oktober 2015, im Luxushotel The Dolder Grand in Zürich verliehen. Vor der Gala findet die 74. Generalversammlung der GfM statt, an der der ehemalige SBB-Konzernchef Benedikt Weibel das Gastreferat halten wird. Teilnahme auf Einladung.
Ranking Die Top-Marke der Schweiz in diesem Jahr ist Migros vor M-Budget und Nespresso. 2014 lautete das Ranking M-Budget vor Migros und Google. Die TopMarke der Schweiz in zwei Jahren wird Migros vor Ikea und Google sein. 2014 war Nespresso vor Google und iPad positioniert. Zu diesem Schluss kommt die vierte Brand-Predictor-Studie der Werbeagentur Havas Worldwide Switzerland, deren Resultate der «Handelszeitung» exklusiv vorliegen. Unterschieden wird nach den Kriterien Vertrauen und Dynamik – in Kombination beider Kategorien ergeben sich die Top-Marken. Eine Besonderheit des Rankings ist, dass Trendsetter als sogenannte Brand Predictors die Top-Marken von morgen schon heute eruieren. Laut ihrer Wertung ist 2017 Migros die vertrauenswürdigste Marke vor Toblerone und Chocolat Frey. Die dynamischste ist Ikea, vor Migros und WhatsApp. Was die Gegenwart betrifft, ist Migros die vertrauenswürdigste Marke, gefolgt von Toblerone und Chocolat Frey. Punkto Dynamik schwingt dieses Jahr M-Budget obenaus, gefolgt von YouTube und Zalando. Für die aktuelle Ausgabe der Brand-Predictor-Studie wurden im Auftrag von Havas in der Schweiz 4145 Personen zu 560 in- und ausländischen Marken befragt. www.brandpredictor.ch
ANZEIGE
HWZ. Exzellente Weiterbildung. Karrierebegleitend weiterbilden. Direkt beim HB Zürich. Bis zu 100 % Arbeitstätigkeit möglich. Marketing: n Executive MBA – Marketing n CAS Brand Leadership n CAS Customer Intelligence n CAS Luxury Management fh-hwz.ch
Kommunikation: n MAS/DAS Business Communications n CAS Corporate Communications n CAS Marketing Communications
SPECIAL MARKETING
Innovative Preismodelle Price Excellence Strategien zur Steigerung der Profitabilität – trotz Frankenstärke. JOHN-OLIVER BRECKOFF UND PATRICK PFÄFFLI
D
er seit der Aufhebung der Euro-Bindung noch stärker aufgewertete Franken und seine Auswirkungen auf die Exporte von Schweizer Unternehmen in das Euro-Gebiet ist zurzeit in aller Munde. Doch auch Anbieter von aus dem Euro-Gebiet in die Schweiz importierten Produkten sind hiervon betroffen. Was für einen Einfluss hat die Frankenstärke zum Beispiel auf das Pricing (Preisgestaltung)? Hierzu die damals aktuelle Kommunikation einer sehr hochpreisigen Boutique aus Zürich für Mode von internationalen TopDesignern: «Aufgrund des starken Frankens
Nicht einzelne gute Ideen führen zur Price Excellence, sondern die richtigen Entscheidungen in allen preisrelevanten Themen. und des damit verbilligten Einkaufs werden wir unsere Preise entsprechend reduzieren. Da wir bereits im vergangenen Dezember unsere georderte Ware mit einem prozentualen Anteil angezahlt haben, können wir leider nicht über die gesamten Kosten von dem neuen Wechselkurs profitieren, den verbleibenden Anteil geben wir jedoch zu 100 Prozent an unsere Kunden weiter.» Das Unternehmen, das starken Wert auf Kundenorientierung und Kundenbindung legt, verfolgt offensichtlich den Grundsatz der Preisfairness und Preistransparenz. Eine sinnvolle und mit der Kundenorientierung konsistente Win-Win-Strategie, die ohnehin schon hohen Margen nicht noch weiter auszureizen, sondern unterstützt durch eine vorbildliche Preiskommunikation lieber in eine vertiefte Kundenbindung zu investieren, um das hohe Preispremium ebenfalls in Zukunft abzuschöpfen.
Übergreifendes Framework Doch es sind nicht einzelne gute Ideen, wie hier im Bereich der Preisfestlegung oder Preiskommunikation, die ein Unternehmen zur Price Excellence führen. Es sind die richtigen Entscheidungen in allen preisrelevanten Themen wie Preisstrategien, -modellen und -management. Sie – das liegt auf der Hand – können nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern sie bedingen
16
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
sich vielmehr gegenseitig. Dementsprechend ist es hilfreich, wenn den für Preisentscheidungen verantwortlichen Managern ein übergreifendes Framework zur Verfügung steht, also ein Gesamtsystem, das die Wirkungszusammenhänge der miteinander verzahnten Preisthemen berücksichtigt und dem Management somit einen roten Faden bietet für die erforderlichen Analysen, Konzeptionen und darauf beruhenden strategischen und operativen Preisentscheidungen (siehe QR-Code 1 auf Seite 17).
Preispsychologie in der Praxis Ein Experiment an einem Theater zeigte, dass die No-Show-Rate bei einer Aufführung bei Kreditkartenzahlungen zehnmal höher ist als bei Cash-Zahlungen. Dieses Ergebnis ist sowohl grundsätzlich als auch vom Ausmass her überraschend. Der Mensch – und das zeigt eine Vielzahl weiterer Erfahrungen und empirischer Erkenntnisse – entscheidet sich, so erscheint es auf den ersten Blick, oftmals sehr unlogisch. Zumindest ist sein Verhalten sicherlich nicht alleine aufgrund einer Angebots-und-Nachfrage-Analyse und der gängigen mikroökonomischen Theorien erklärbar; vielmehr müssen psychologische Aspekte beigezogen werden, um scheinbar irrationale Verhaltensweisen von Menschen zu erklären. Entsprechende Preisexperimente, die im Rahmen des sogenannten Behavioral Pricing (Preispsychologie), ein relativ junges und hochinteressantes Forschungsgebiet, durch-
geführt werden, sind nicht nur für Wissenschafter, sondern auch für Manager von hoher Relevanz, da daraus direkt Preisstrategien abgleitet werden können. Hierzu ein reales Praxisbeispiel: Die Einführung einer dritten, deutlich teureren Preislage des Menüsortiments eines Schweizer Systemgastronomie-Anbieters erhöhte den Absatz der bestehenden zweiten Preislage um 30 Prozent. Die dritte Preislage fungierte hier als sogenannter Anker, der die subjektive Preiswahrnehmung des Kunden für die zweite Preislage in Richtung «günstig» verschoben hat. Hier liegt es auf der Hand, diesen Effekt für eine Framing-Strategie auszunutzen, indem man Leistungsangebote ohne eigentliche Verkaufsabsicht anbietet, sondern bewusst lediglich als Frame (Anker) einsetzt, um dann den Absatz für ein ganz anderes Leistungsangebot, nämlich dasjenige mit der besten Marge, zu steigern.
Klare Preispositionierung Eine weitere grundlegende strategische Entscheidung ist die der Preispositionierung. Interessant, aber auch anspruchsvoll ist die Tiefpreispositionierung. Diese ist jedoch nicht mit schlichten Preissenkungen zu verwechseln, wobei ein Unternehmen, bei dem die Voraussetzungen für eine durchhaltbare Tiefpreisstrategie gar nicht vorliegen, in einem Markt mit einem seit langem etablierten Preisgefüge plötzlich die Preise senkt, was häufig zu abwärtsdrehenden Preisspiralen und letztlich zu gefürchteten
BUCHTIPP
Praxistauglich für operatives Tagesgeschäft Kommentar «Mit dem Buch ‹Price Excellence› ist es Pfäffli, Breckoff und Michel gelungen, ein extrem praxistaugliches Framework zu schaffen, das nicht nur als Basis für strategisch-konzeptionelle Diskussionen über die Preisgestaltung eingesetzt werden kann, sondern von grossem Nutzen im operativen Tagesgeschäft ist», sagt JeanMarc Grand, Geschäftsführer der GfM. Patrick Pfäffli Partner, Verwaltungsrat und Miteigentümer, Input Consulting AG. Referent für Price Excellence. Seit 20 Jahren Beratung von Schweizer Unternehmen im Bereich Strategie, Marktorientierung, Pricing und Servicemanagement.
J John-Oliver Breckoff Selbstsständiger Unternehmensberater iin den Bereichen Strategie, Reorganisation/ChangemanageR ment und strategisches Markem tting, vorher Geschäftsleitender P Partner, Input Consulting AG. Verwaltungsrat, Spain Active V A AG. Dozententätigkeit an der Hochschule Luzern (HSLU) für H Sales and Distribution Management. Stefan Michel Professor für Marketing und Service Management am IMD in Lausanne. Präsident des Stiftungsrates der Gesellschaft für Marketing (GfM). «Price Excellence» von Pfäffli, Breckoff und Michel, 368 Seiten, Versus Verlag Zürich, 69 Franken.
ZVG
SPECIAL MARKETING
Michael O’Leary: Der exzentrische Ryanair-Konzernchef liefert ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Tiefpreisstrategie, die auch rentabel ist.
Preiskriegen führt, weil Konkurrenten sich gezwungen sehen, nachzuziehen, um ihren Marktanteil zu verteidigen. Eine Tiefpreisstrategie zeichnet sich hingegen durch ein hierauf abgestimmtes Geschaftsmodell aus (QR-Code 2 auf Seite 17).
Ryanairs Rentabilität Ryanair ist ein gutes Beispiel für eine erfolgreiche Tiefpreisstrategie. Der Preis für das reine Flugticket – ohne Flughafengebühren, Kerosinzuschlag und Servicepauschale – kann bei Ryanair bis auf null runtergehen. Die hierfür erforderlichen extrem niedrigen Kosten erzielt Ryanair durch Anflüge von günstigen Flughäfen ausserhalb der grossen Städte, Beschränkung auf einen Flugzeugtyp und damit Rabatte bei der Beschaffung und Einsparungen in der Wartung, höhere Kapazitäten durch zusätzliche Sitzreihen und dadurch höhere Kosteneffizienz pro Flug, Reduktion des Service und damit Einsparungen beim begleitenden Flugpersonal. Allerdings ist Ryanair in letzter Zeit wegen ihres zum Teil rüden Umgangs mit Kunden und mehrerer Vorfälle in Bezug auf die Flugsicherheit verstärkt in die Negativschlagzeilen geraten. Auf Facebook existieren gegenwärtig sieben Ryanair Hate Pages mit Tausenden von Likes. Ryanair-Piloten mussten wiederholt bei den Fluglotsen um eine Änderung der Anflugsequenz ersuchen, weil das Kerosin knapp wurde. Ryanair betankt ihre Flugzeuge mit möglichst wenig Kerosin, um somit Gewicht und damit Treibstoff zu sparen. Ebenso öffentlich diskutiert wurden 2010 die Ideen von Ryanair-Konzernchef Michael O’Leary, Stehplätze anzubieten, die Toiletten von drei auf eine zu reduzieren sowie WC-Türen einzu-
bauen, bei denen die Fluggäste 1 Pfund einwerfen müssen, um das Klo zu benutzen. Dennoch hat Ryanair mit dieser Strategie 2013 einen Umsatz von rund 4,9 Milliarden Euro bei einem Ebit von 718 Millionen ausgewiesen, das entspricht einer Umsatzrendite vor Steuern von 14,7 Prozent. Zum Vergleich: Die Lufthansa-Tochter Swiss erzielte 2013 mit einem etwas grösseren Umsatz von
Wer laut Warren Buffet vor einer Preiserhöhung Stossgebete zum Himmel schicken muss, der hat ein miserables Unternehmen. 5,2 Milliarden Franken einen weniger als halb so grossen Ebit von 264 Millionen. Das entspricht einer Umsatzrentabilität vor Steuern von 5,1 Prozent, also lediglich einem Drittel des Wertes von Ryanair.
Learnings für Preisprofis Zahlreiche Unternehmen haben mittlerweile das grosse Potenzial gut gemanagter Preise erkannt. Doch wie gelangt man zur Price Excellence? Dorthin führt ein kontinuierlicher Prozess der ständigen Verbesserung aller im Framework dargestellten Themen. Preisprofis haben dies verinnerlicht und weisen drei herausstechende Merkmale auf, die sie in der Praxis erfolgreich machen: Preisprofis geben Preisentscheidungen eine überaus hohe Management Attention. Sehr oft sind sie bei Preisprofis vom Chef initiiert oder unterstützt. So meinte Geberit-Konzernchef Albert Baehny einst:
«Wer Pricing delegiert, es im schlimmsten Fall dem Markt überlässt, wird über das Mittelmass nicht hinauskommen.» Das zweite Kennzeichen von Preisprofis ist deren Fähigkeit, nicht nur bessere Preise festzulegen, sondern diese durch entsprechende Verhandlungstaktiken und -techniken und eine abgestimmte Preiskommunikation im Markt auch durchzusetzen. Investmentlegende Warren Buffett sagt dazu: «Wer die Preise erhöhen kann, ohne Aufträge zu verlieren, hat ein sehr gutes Unternehmen. Und wer vor einer zehnprozentigen Preiserhöhung Stossgebete zum Himmel schicken muss, der hat ein miserables Unternehmen.» Als drittes Element haben Preisprofis ein ausgebautes System etabliert, wie sie das nach aussen gerichtete Pricing inklusive der Preisdurchsetzung nach innen verankert haben. So fördern ihre Anreizsysteme die Preisdurchsetzung, die Mitarbeiter verfügen über ein grosses Price-Know-how, Preisinformations- und -controllingsysteme sorgen für die erforderliche Transparenz, die Preisverantwortungen sind klar geregelt. Fazit: Das Management hat die Aufgabe, den Unternehmenswert nachhaltig zu steigern. Die Erreichung von Price Excellence ist dabei eine nicht einfache, aber effektive Strategie zur Steigerung der Profitabilität.
2.
3.
QR-Code 1
QR-Code 2
1.
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
17
SPECIAL MARKETING
Swiss Poster Award 2014 Kategorie «Public Service»
Gold Plakatsujet: «Schneekristall» Auftraggeber: Suva, Luzern Werbeagentur: Ruf Lanz, Zürich
Silber Plakatsujet: «Zündholz-Hand» Auftraggeber: Suva, Luzern Werbeagentur: Ruf Lanz, Zürich
18
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
Bronze Plakatsujet: «Hilfe schenken» Auftraggeber: HEKS, Zürich Werbeagentur: Y&R Group, Zürich
ZVG
SPECIAL MARKETING
Jean-Claude van Damme: Das YouTube-Video «The most epic of Splits» von Volvo Trucks wurde 78 Millionen Mal angeschaut.
Der epischste aller Spagate Markenbotschafter Immer mehr Unternehmen lassen berühmte oder weniger berühmte Testimonials für ihre Brands sprechen. Ist das noch zeitgemäss? SIMON REHSCHE
P
rominente in der Werbung sind ein Evergreen. Ihr Potenzial für die Markenführung ist offensichtlich und verführerisch. Mit dem wachsenden Anspruch von Konsumenten an Werbung ist die reine Platzierung von berühmten Gesichtern neben Logos aber längst nicht mehr zielführend. Der wirkungsvolle Einsatz von Prominenten wird zum Prüfstein für Relevanz, Schärfe und Konsequenz einer Idee. Der vermeintlich simple und in Fachkreisen zuweilen belächelte Selbstläufer mit garantiertem Erfolg wird zur grossen Herausforderung für die zeitgemässe Markenführung. Dies bietet auch vielseitige Potenziale, die nur selten in ihrer ganzen Kraft realisiert werden. Seit es Werbung gibt, gibt es Markenbotschafter, sogenannte Testimonials. Gemäss wissenschaftlichen Analysen setzen 20 bis 25 Prozent aller Kampagnen auf prominente Protagonisten. Vom Alt-Skirennfahrer, der einer Automarke Authentizität verleiht und für die Verlässlichkeit von Leistungsverspre-
chen bürgt, über Ex-Missen, die alles Mögliche mit einem Hauch Begehrlichkeit anreichern, zum Schauspieler, der Kaffee zum Symbol alltagskompatibler Luxusmomente macht. Markenverantwortliche suchen Vertrauenswürdigkeit, Erfolg und Attraktivität populärer Bekanntheiten als positive Treiber für das Brandimage. Dies verstärkt den funktionalen Nutzen beworbener Produkte emotional mit Glaubwürdigkeit oder lädt ihn mit zusätzlicher Begehrlichkeit auf.
Wir alle brauchen Testimonials Menschen sind von der Komplexität unserer Welt überfordert. Heute mehr denn je. Und das gilt nicht nur für Kaufentscheide. Rollenmodelle und Vorbilder waren und sind für das menschliche Hirn effiziente Strategien, um Komplexität zu bewältigen. Testimonials spielen deshalb nicht nur in der Werbung eine wichtige Rolle, sondern in unserem gesamten Alltag. Schon bei der Imitation von Handlungen im Sandkasten, später beim Prüfen der Referenzen von Stellenbewerbern oder der Beobachtung von Konsumentscheiden unseres Umfelds ler-
nen wir, dass Nachahmung und Orientierung an Vorbildern unser Leben vereinfacht. Die Psychologie erklärt dies mit sozialen Lerntheorien oder kognitiven Strategien zur Entscheidungsfindung bei Unsicherheit. Mit den erwähnten Theorien können wir auch verstehen, wie Testimonialwerbung funktioniert – und warum sich die oft willkürlich wirkenden Summen für das Engagement Prominenter eben doch lohnen können. In Bezug auf die Potenziale lassen sich praktisch alle Modelle zwei Clustern zuordnen: Entweder wird das Ziel als die Ergänzung von Attributen, bei denen der Brand Defizite aufweist, oder in der Vertiefung und Festigung bestehender Attribute betrachtet. Was für die Beurteilung der Eignung eines Markenbotschafters der Bezugsrahmen ist, entscheidet allein die gegenwärtige Situation, in der sich der Brand befindet. Neben der Wahl von passenden Persönlichkeiten verdient ein anderer Faktor aber mehr Beachtung. Marken machen heute den emotionalen Unterschied bei den meisten Konsumentscheiden. Ihre Kraft schwindet jedoch, wenn Testimonials – die sich ` HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
19
GfM Marketingpreis Nominieren Sie Ihre Favoriten für den 31. GfM Marketingpreis bis zum 30. April 2015 www.marketingpreis.ch
Swisscom – Marketingpreisträger 2014
Mobility – Marketingpreisträger 2013
FREITAG lab ag – Marketingpreisträger 2012
` schon lange selbst als Brand entdeckt haben und diesen konsequent pflegen – mit einer Markenbotschaft in Konkurrenz treten. Häufig stehen Brands denn auch nicht wirklich im Zentrum, sondern werden von Testimonials regelrecht kannibalisiert. In der Literatur finden sich dazu Studien unter dem Stichwort «Vampire Effect». Diejenigen, die die Werbung finanzieren, laufen dann Gefahr, zu reinen Sponsoren für deren Auftritt zu werden. Die Folge ist ein hoher Wert für den Werbe-Recall für das Testimonial, der ohne Markenzuordnung aber fehlinvestiertes Geld bedeutet. Darum ist es heute (auch) für die Werbung mit Testimonials essenziell, dass Marken eine eigene und klare Idee zur Botschaft machen. Testimonials dürfen nicht als eine einfache Alternative zur Idee betrachtet werden, sondern sind vielmehr eine grosse Chance für ihre Aktivierung. Wer Prominente nicht nur zur Dekoration gekaufter Werbeflächen und als ohnehin meist unglaubwürdige Referenz nutzt, gewinnt. Wer aufmerksamkeitsstarke Protagonisten mit der eigenen Story interagieren lässt, verleiht dem Markenversprechen mehr Kraft. Testimonials sollten ein Markenversprechen in einer überraschenden Art und Weise erleben. Dies muss in der werblichen Dramatisierung keineswegs immer realistisch, aber in der Story klar und damit nachvollziehbar sein.
Die vier Erfolgsfaktoren Die Werbung mit Testimonials unterliegt einem spezifischen Wandel, den folgende interessante Aspekte veranschaulichen: Prominente sind auch online berühmt. Sie erzielen über ihre Fans, Likes und Followers in sozialen Netzwerken Reichweiten, die sie als zielgruppenspezifisches Medium wertvoll machen. Wie man dies als Marke nutzt, ist nicht nur eine vertragliche Frage. Marken, die ihren Testimonials mit attraktiven Kampagneninhalten dabei helfen, ihre Anhänger zu unterhalten, liefern dankbaren Content.
1.
TESTIMONIALS
Bis eine halbe Million im Jahr Kosten Was sich Unternehmen ihre Markenbotschafter kosten lassen, lässt sich nicht generell beziffern. Die bestimmenden Faktoren dafür sind der Marktwert, die Einbindung und die Dankbarkeit. In der aktuellen Studie von Advant Planning zur Wirksamkeit von Sporttestimonials wird spekuliert, dass mehr als 11 Prozent der Deals in Österreich, der Schweiz und Deutschland über 500 000 Euro kosten – und das allein an jährlichen Aufwendungen.
ZVG
SPECIAL MARKETING
George Clooney: Der Weltstar unter den Markenbotschaftern wirbt für Schweizer Nespresso.
2.
Neue Formen von fortlaufendem erfolgreichen Umgang mit Letzteren. Wer Campaigning über das gesamte Jahr indes eine kommunikative Markenvision hinweg ermöglichen es, Testimonials nicht findet, die authentisch, relevant und diffenur punktuell zu inszenieren, renzierend ist, und den Einsondern ihre Rolle mit einer satz von Testimonials an dieStory zu entwickeln. Dadurch ser orientiert, wird dem Brand Wer Prominente kann Vertrauen und Akzepauch in Zukunft einen Gefalnicht nur zur len tun. Dies garantiert zudem, tanz für die Zusammenarbeit dass Marken die Hauptrolle geschaffen werden. Dekoration von Steigende Ressourcen für behalten, was gleichzeitig für Werbeflächen nicht direkt produktTestimonials spannender ist gekoppelte Markenführung benutzt, gewinnt. als reine Präsenz. So können ermöglichen es, dass sich Tessie ihr Image mit Facetten timonials mit Markenwerten erweitern, die ihnen in ihrer und Markenpersönlichkieten auseinander- standesgemässen Domäne so nur schwer setzen. Daraus entstehen kommunikative zugänglich sind. Angebote, die nicht nur Produktvorzüge Eindrücklich wurde dies vor eineinhalb zelebrieren und so mehr Potenzial haben, in Jahren bewiesen, als die Konsumenten ihre sich selbst für Zielgruppen attraktiv zu sein. Liebe zum als Schauspieler nicht mehr ganz Entertainment-Angebote vermögen Kon- so gefragten Jean-Claude van Damme als sumenten über die vermehrt kurzlebigen Markenbotschafter für schwedische LastProduktlebenszyklen hinaus langfristig an wagen neu entdecken konnten (siehe Bild Marken zu binden, was direkt verkaufsorien- auf Seite 19). Beispiele für solche Testimonialstrategien gibt es auch in der Schweiz. So tierter Werbung schwerer fällt. Prominenz wird zunehmend ein frag- lernen hiesige Konsumenten den besten mentiertes Konzept. Über soziale Schweizer Tennisspieler aller Zeiten zurzeit Medien wie YouTube erlangen Persönlich- über die Kommunikation eines Telekomkeiten innerhalb von Szenen und kulturellen munikationsanbieters in einem Kontext kenStrömungen eine Popularität, die massen- nen, der sonst nicht mit ihm assoziiert wird. Wenn dieser Kontext nicht einfach nur medial ohne Beachtung bleibt. Communities fühlen sich durch den Einsatz ent- lustig ist, sondern durch ein in Erinnerung sprechender Testimonials verstanden und bleibendes Markenversprechen entsteht, attestieren Marken Wertekongruenz und begünstigt das Einzigartigkeit und nachhalideologische Verankerung. Dies schafft tige Differenzierung. Und wenn die so geneue Möglichkeiten für das Erschliessen schaffenen Assoziationen auf Imageebene von über die Massenansprache schwer er- auch noch auf Produktebene relevant sind, so sind alle Kriterien für gute Testimonialreichbaren spezifischen Zielgruppen. werbung erfüllt. Mit anderen Worten: Sie Nicht nur Marken wachsen lohnt sich. Für die Stärkung der Marke, den Testimonials sind weiterhin mehr oder Verkauf – und für das Testimonial. weniger sichere Garanten für Aufmerksamkeit und Sympathie. Die Austauschbarkeit Simon Rehsche, Strategy Director, TBWA, Zürich. Die sowohl von Produkten als auch von Marken- Werbeagentur verantwortet etwa die Kampagnen von botschaftern erschwert aber den nachhaltig Sunrise mit ihrem Markenbotschafter Roger Federer.
3.
4.
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
21
SPECIAL MARKETING
Marken werden heute zu Medien Content Marketing Wie Schweizer Unternehmen Werbeinhalte erfolgreich implementieren und weshalb sie dafür ihre Organisation umstellen müssen.
CYRILL HAUSER
D
ie Digitalisierung der Gesellschaft hat das Informationsverhalten und damit die Anforderungen an das Marketing nachhaltig verändert. Bei etablierten Push-Massnahmen wird es immer teurer, die gleiche Anzahl Personen zu erreichen. Zudem verliert Paid Media durch die ungebremste Fragmentierung der analogen und digitalen Medien weiter an Relevanz. Der Konsument von heute bewegt sich aktiv in einer vernetzten Welt und sucht primär nach Inhalten, die sein Bedürfnis nach Information oder Unterhaltung decken. Was heisst das für die Marketing- und Kommunikationsverantwortlichen? Unternehmen und Marken, die im digitalen Raum nicht zu relevanten Themen auffindbar sind, werden für die Nutzer zunehmend unsichtbar. Dies haben viele Firmen erkannt. Aus Marken werden immer öfters Medien: Statt in Werbezeiten zu investieren, bauen Unternehmen eigene Informations- und Unter-
ANZEIGE
haltungsangebote auf. Bekanntestes Beispiel ist die Marke Red Bull, die konsequent die Sparte Extremsportarten besetzt. Aber auch der Haarkosmetikhersteller Schwarzkopf hat mit seiner kompromisslosen Ausrichtung der Webplattform auf das Thema Hairstyling beachtliche Erfolge erzielt. Obschon der Begriff Content Marketing erst nach der Jahrtausendwende erstmals in der Fachliteratur auftaucht, ist das Konzept
Der Konsument bewegt sich aktiv in einer vernetzten Welt und sucht nach Inhalten, die sein Bedürfnis decken. bereits über 120 Jahre alt. Denn schon 1891, als Dr. Oetker auf der Rückseite seines Backpulvers Rezeptvorschläge druckte, ging es bereits um die Vermarktung von Inhalten. Im Jahr 1900 druckten die Gebrüder Michelin, die Hersteller von Autoreifen, ein Buch,
das ihre Kunden zum Autofahren anregen sollte. Der «Guide Michelin» war geboren.
Das sind die Schweizer Pioniere Auch hierzulande gibt es Firmen, die Content Marketing erfolgreich eingesetzt haben: Etwa die Warenhauskette Globus, die in den 1940er-Jahren zum 25. Jubiläum mit der Figur Globi neu die Familien ansprechen wollte. Oder Betty Bossi, ursprünglich kreiert, um das Speisefett von Astra vermehrt in die Schweizer Küchen zu bringen. Ein drittes Beispiel ist Maggi. Unter dem Titel «Erprobte Rezepte» publizierte man 1930 ein Kochbuch und sicherte sich so einen festen Markenplatz im deutschsprachigen Raum. Dabei wurden nicht die Produkte beworben, sondern die Rezepte. Ein aktuelleres Beispiel ist Mammut. Der Schweizer Sportartikelhersteller produziert regelmässig emotionale und für seine Zielgruppe relevante Inhalte – jüngst mit dem «#Project360», das die Besteigung des Matterhorns für den Konsumenten interaktiv erlebbar macht. Aber auch die Migros hat in ihrer Marketingkommunikation den Mehr-
SPECIAL MARKETING
Ein Geheimrezept gibt es nicht Wie schaffe ich es als Firma, einen integrierten Marketing- und Kommunikationszyklus zu etablieren, der die Kundenbedürfnisse und nicht das Unternehmen ins Zentrum stellt? Nebst begrenzten Ressourcen und fehlendem Know-how in der Produktion von Inhalten ist die erfolgreiche Implementierung von Content Marketing äusserst komplex. Ein universales Geheimrezept gibt es nicht – da sind sich die Experten einig. Es gibt aber ein paar Faktoren, die man unabhängig von Firma und Markt beachten sollte. Content Marketing muss zwingend als abteilungsübergreifende Funktion und Disziplin innerhalb des Marketingmix angesehen werden, die im Rahmen eines Change-Management-Prozesses implementiert wird. Die gewachsenen Silos der einzelnen Unternehmensbereiche müssen abgebaut und eine netzwerkartige ThemenGovernance etabliert werden. Es braucht das Bekenntnis der Geschäftsleitung ebenso wie eine klare Content-Marketing-Strategie und ein internes Stakeholder-Management. Zudem müssen das nötige Know-how aufgebaut, die Verantwortlichkeiten definiert und neue Prozessabläufe verankert werden. Wie ein Blick auf die Geschichte von Content Marketing zeigt, ist die Vermarktung von Inhalten kein eigentlich neues Konzept. Firmen treffen heute aber stark veränderte Rahmenbedingungen an. Das Mediennutzungs- und Kaufverhalten der Kunden hat sich mit der Digitalisierung und der Etablierung von Suchmaschinen stark gewandelt, die Differenzierung über Produkte ist schwieriger geworden, die Akzeptanz und damit die Effizienz von Push-Massnahmen nimmt ab. Ignorieren die Unternehmen diese veränderten Rahmenbedingungen, werden sie Marktanteile verlieren. Es ist wichtig, dass Firmen im deutschsprachigen Raum eine eigene ContentMarketing-Strategie entwickeln, die über alle Medien in Owned, Paid und Earned funktioniert. Besser heute als morgen. Cyrill Hauser, Geschäftsführer, Jung von Matt/Limmat Public Relations (PR), Jung von Matt/Limmat, Zürich.
ZVG
wert von Inhalten erkannt. In einer letztjährigen Kampagne konnten Herr und Frau Schweizer in einem 143-seitigen Büchlein lesen, welche «100 Dinge» sie diesen Sommer unbedingt gemacht haben sollten. Fakt ist aber: Es gibt in der Schweiz bis heute keinen einheimischen Consumer Brand von nationaler Bedeutung, der seine Gesamtkommunikation so konsequent auf Inhalte ausgerichtet hat wie Red Bull oder Schwarzkopf. Glaubt man den Aussagen der wenigen hiesigen Studien zum Thema, so haben vier von fünf Marketing- und Kommunikationsentscheidern das Potenzial von Content Marketing erkannt und geben auch an, bereits heute darin zu investieren. Wieso gibt es also nicht mehr gute Beispiele?
Mammut: Das «#Project360» macht die Besteigung des Matterhorns interaktiv erlebbar.
` 10 TIPPS FÜR DIE ERFOLGREICHE IMPLEMENTIERUNG Die folgende Checkliste basiert auf den Ergebnissen von Expertenbefragungen im Rahmen der Master-Arbeit «Handlungsempfehlungen für eine erfolgreiche Implementierung von Content Marketing in Unternehmen» von Cyrill Hauser und Birger Armstrong. Eingereicht im Studiengang Executive MBA Marketing an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ). 1. Einstellung: Sich bewusst sein, dass erfolgreiches Content Marketing ein komplexer Change-Management-Prozess ist. 2. Unterstützung: Die Unterstützung der internen Stakeholder ist entscheidend für den Erfolg. 3. Schritt für Schritt: Eine schrittweise Implementierung führt zu schnelleren Ergebnissen. 4. Strategie: Es braucht eine Strategie, um folgende Frage beantworten zu können: Welche Kunden möchte ich mit welchen Zielen in welchen Kanälen mit was für Inhalten angehen?
5. Keine Silos: Die klare Trennung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten der einzelnen Abteilungen innerhalb der Organisation muss aufgehoben werden. Silos verhindern eine optimale Nutzung der Synergien. 6. Verantwortung: Es ist unabdingbar, dass jemand auf C-Level (CEO, COO, CMO etc.) die Verantwortung für alle Aktivitäten übernimmt und steuert. 7. Wissensaufbau: Eine Investition in zusätzliches internes sowie externes Knowhow begünstigt die schnelle Entwicklung. 8. Mannschaft: Ein schlagkräftiges Team aus Spezialisten begünstigt die Erfolgschancen. 9. Synergien: Content Marketing muss als Teil im gesamten Marketingmix betrachtet werden. 10. Definitionen: Es braucht klare Prozesse und neue Tools für die Produktion von Inhalten. HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
23
SPECIAL MARKETING
Swiss Poster Award 2014 Kategorie «Culture»
Gold Plakatsujet: «Weingart Typografie» Auftraggeber: Museum für Gestaltung, Zürich Werbeagentur: Ralph Schraivogel, Zürich
Silber Plakatsujet: «Hans Richter» Auftraggeber: Museo d’Arte, Lugano Werbeagentur: CCRZ, Balerna
Bronze Plakatsujet: «Sommernachtstraum» Auftraggeber: Junges Theater Sempach, Sempach Werbeagentur: Erich Brechbühl, Luzern
24
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
SPECIAL MARKETING
Einblick in die Zukunft Singapur Der starke Fokus auf die Kundenerfahrung über sämtliche Kanäle ist ein neuer zentraler Erfolgsfaktor des boomenden Staates. NORMAN C. BANDI
Robin Barraclough, CMO von Emmi, Luzern: «Singapur ist nicht nur als Staat und hochentwickelter Markt eindrücklich, sondern hat uns hinsichtlich grundlegender Konsumentenorientierung und mobiler digitaler Kommunikation einen kleinen Einblick in die Zukunft gewährt.» Bruno Chiomento, Country Managing Partner von EY Schweiz, Zürich: «Singapur ist eine Erfolgsstory – in vielem vergleichbar mit der Schweiz. Doch stellen sich im globalen Wettbewerb für beide als Länder ohne Rohstoffe analoge Fragen: Wie sollen der erworbene Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit gesichert und immer aufs Neue kreiert werden, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt dabei zu gefährden?» Jean-Marc Grand, Geschäftsführer der GfM, Zürich: «Singapore Sling – Singapore Girl – Singapore Flyer. Obwohl Singapur dieses Jahr erst 50 Jahre jung wird, gibt es bereits Markenikonen, die weltberühmt sind: Der
ANZEIGE
ZVG
V
om 24. bis 29. Januar 2015 folgten 20 Vertreter aus der hiesigen Wirtschaft und Wissenschaft dem Ruf der Universität St. Gallen (HSG), von Google Schweiz sowie der Gesellschaft für Marketing (GfM) und packten ihre Koffer für eine Studienreise nach Singapur. Die Mission war klar: In kürzester Zeit möglichst viel über den Stadtstaat in Südostasien, seine Konzerne und Startups sowie die digitale Transformation zu lernen. Die wichtigsten «lessons learned» der Teilnehmer ...
1936 vom Bartender im Hotel Raffles kreierte Singapore Sling Cocktail. Seit 1972 steht das Singapore Girl im Kebaya Sarong gehüllt für die hohe Servicequalität der Singapore Airlines. Das seit 2008 grösste Riesenrad der Welt, der Singapore Flyer, reiht sich nahtlos in die Liste dieser starken Brands ein.» Chris Hanan, Partner von Webrepublic, Zürich: «Hier bestimmt die Frage ‹Warum nicht?› das Denken und Handeln. Es ist diese positive und auch risikofreudige Grundeinstellung, die im Verbund mit klarer staatlicher Innovationsförderung und einem freundlichen Geschäftsklima eine starke Plattform für Wachstum schafft.» Hans-Peter Rohner, Verwaltungsrat der Publigroupe, Lausanne: «Zwei Dinge haben mich nebst vielem anderem besonders beeindruckt. Eine Geschäftsgründung dauert dank standardisierten Prozessen drei Arbeitstage mit allem Drum und Dran. Ein traditionelles Bankhaus, das sich neu auch als ‹bank for below 30’s› konzipiert – dies in
Die Studienreise-Gruppe während ihrer Stippvisite bei Singapore Airlines.
einer Konsequenz, wie ich es in Europa bei weitem noch nirgends gesehen habe.» Manfred Strobl, CEO von Mediaschneider, Zürich: «Ein Stadtstaat, der wie ein grosses Unternehmen funktioniert, vielleicht sogar besser ... Singapur hat über Jahrzehnte bewiesen, dass staatliche Investitions- und Optimierungsstrategien keine wirtschaftliche Sackgasse sein müssen, sondern als Langfristpolitik mit gesellschaftlicher Integration äusserst erfolgreich sein können.» Martin Sturzenegger, Direktor von Zürich Tourismus, Zürich: «Wir haben selbstbewusste, innovative und kundenorientierte Firmen angetroffen. Wenn wir in Europa an dieser Dynamik partizipieren möchten, brauchen wir einen gewaltigen Ruck.» Gaudenz Thoma, Direktor von Graubünden Ferien, Chur: «Mich beeindruckt, mit welch klarem Fokus an der Customer Experience gearbeitet wird und dies nicht nur ein Lippenbekenntnis ist, sondern echt gelebt wird.»
SPECIAL MARKETING
«Keine Angst vor Misserfolg» Keywan Nadjmabadi und Peter Mittemeyer Die SAPManager über die Innovationsmethode Design Thinking. INTERVIEW: ISABEL STEINHOFF
Welche Rolle spielt Design Thinking im Innovationsprozess? Keywan Nadjmabadi: Design Thinking sucht nutzerzentrierte, ganzheitliche Lösungen mithilfe kollaborativer Kreativität. Früher stoppte Konsens Innovation häufig, weshalb diese Methode bewusst unkonventionelle Ansätze fördert und fordert. Das bewusste Ausklammern von vorgefassten Meinungen und Annahmen erlaubt optimale Lösungen. Design Thinking ist so versatil, dass es die Entwicklung eines neuen Produkts, einer Dienstleistung, eines neuen Prozesses, einer neuen Software oder eines ganz neuen Geschäftsmodelles zum Ziel haben kann. Geschäftsmodelle sind nämlich wesentlich schwerer kopierbar als neue Produkte oder Dienstleistungen. Erläutern Sie den Design-Thinking-Prozess anhand eines Beispiels. Peter Mittemeyer: Illustrativ ist die Kooperation Connected Car zwischen SAP, Shell und Volkswagen. Die Challenge lautete: Kreiere ein angenehmes Fahrerlebnis für den Fahrer, das gleichzeitig für Erstausrüster und Dienstleister rund um eine Autofahrt eine Umsatzgenerierung bedeutet und durch das das digitale Automobil ermöglicht wird. Nach einer initialen 360-GradAnalyse wurden Autofahrer betreffend ihrer Wünsche, Bedürfnisse und Gewohnheiten befragt. Daraus wurde der Kundenbedarf definiert und die initial definierte Design Challenge angepasst. Mit typischen DesignThinking-Methoden wie Low-Fi-Prototyping und durch kontinuierliches Anpassen wurden die besten Ideen ausgewählt und verfeinert. Im Ergebnis wurden zahlreiche Szenarien für das Fahrerlebnis der Zukunft erarbeitet. Das Zusammenbringen der Services für das Finden und mobile Bezahlen eines Parkplatzes sowie das Identifizieren der nächsten Tankstelle, das Tanken durch einen Servicemitarbeiter und das direkte Bezahlen über das integrierte mobile Device im Auto oder über ein portables Device zum Beispiel waren die Ergebnisse eines zweitägigen Workshops, der von einem Hackathon ergänzt wurde, in dem innert drei Wochen ein erster Software-Prototyp
26
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
entstand. Ende letzten Jahres ging der Prototyp des Connected Car übrigens in Deutschland bereits in die Testphase. Wie identifiziert man die beste Lösung aus der Menge an Ideen? Mittemeyer: Die Lösungen müssen in der Schnittmenge der drei Dimensionen Attraktivität, Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit liegen. Dies bezeichnen wir als den «sweet spot» der Innovation. Die Auswahl der besten Ansätze im Problem- oder Lösungsraum kann durch Bewertung und wiederholte Iterationen erfolgen. Sollte ein Ansatz sich als nicht machbar erweisen, kann jederzeit eine Alternative gewählt und weiterverfolgt werden. Hier gilt: Keine Angst vor Misserfolg. «Fail early, fail cheaply, fail often!» Worin liegen die Stärken der Methode? Nadjmabadi: Oberste Priorität hat die Customer Centricity. Durch das intensive, kontinuierliche Hinterfragen von Bedarf und Nutzen wird ein optimales Ergebnis für den Endkunden kreiert. Für das Unternehmen selbst wird das Innovationsrisiko gesenkt und die «time to value» beschleunigt. Generell stellen wir höhere Mitarbeitermotivation und Kundenzufriedenheit fest. Welche Risiken stehen dem gegenüber? Nadjmabadi: Einerseits herrscht oft ein falsches Verständnis von Design Thinking vor. Es handelt sich dabei nicht nur um einen blossen Prozess, sondern viel mehr auch um eine Geisteshaltung. Es geht um die Empathie für den Kunden, um das Verständnis des «job to be done» oder des wirklichen Kundenbedarfs sowie die Aktivierung aller kreativen Potenziale der Mitarbeiter. Anderseits gibt es auch seitens der Kunden zu hohe Erwartungen, denn Design Thinking ist nicht die Lösung zu jedem Problem. In welchem Umfeld funktioniert die Methode denn am besten? Nadjmabadi: Heterogene Teams aus mehreren Managementebenen und Fachexpertisen liefern die besten Ergebnisse, da viele Aspekte des Problems und viele Denkweisen in die kreative Lösungsfindung einfliessen. Das Unternehmen muss bereit sein, nach Ideen und Ansätzen ausserhalb des
SPECIAL MARKETING
KEYWAN NADJMABADI
PETER MITTEMEYER
Funktion: Managing Principal, SAP Business Transformation Services Alter: 45 Wohnort: Zürich Ausbildung: Studium der Betriebswirtschaftslehre und Wirtschaftsinformatik
Funktion: Head of Business lnnovation & Transformation EMEA, SAP Business Transformation Services Alter: 49 Wohnort: Zürich Ausbildung: Dipl.-Betriebswirt
üblichen Lösungsraums zu suchen, seine Perspektive auf den Endkunden hin zu verändern und das Bedürfnis zu hinterfragen sowie gegebenenfalls umzuformulieren. In welchem Verhältnis steht der SAPKonzern zu Design Thinking? Mittemeyer: 2004 wurde Hasso Plattner, einer der Gründer von SAP, in Stanford auf Design Thinking aufmerksam. So wurde er zum Mitgründer des Institute of Design – d.school – der Universität Stanford und hat ebenfalls eine d.school am Hasso Plattner Institut der Universität Potsdam gestiftet. SAP kooperiert mit beiden Instituten intensiv, um die Methode stetig weiterzuentwickeln. Ausserdem arbeiten wir auch mit anderen Bildungsinstitutionen wie der Uni-
versität St. Gallen im Bereich Geschäftsmodellinnovationen zusammen, in dem wir Design Thinking massiv einsetzen. Wir bieten Design Thinking nämlich nicht nur unseren Kunden an, sondern wenden es auch unternehmensintern an. Und wie sieht Ihre persönliche Erfahrung mit Design Thinking aus? Nadjmabadi: Während meiner Tätigkeit im Bereich Value Management wurde Design Thinking als ein wesentliches Instrument eingeführt, um gemeinsam mit Kunden nicht allein bestehende Prozesse zu optimieren, sondern auch um über neue, innovative Geschäftsmodelle nachzudenken. Die Zusammenarbeit mit interdisziplinären Teams, die Begeisterung der Teilnehmer, die
Möglichkeit, kreativ zu sein und schliesslich die positiven Projektergebnisse sind für mich persönlich die Treiber, warum ich als Design Thinking Coach tätig bin. In meiner Freizeit bin ich im Rahmen des CSR-Programms von SAP als Tutor und Mentor für Startups tätig, wo ebenfalls Design Thinking und Business-Model-Innovation-Elemente zum Einsatz kommen. Mittemeyer: Nach meinem initialen fünftägigen Design Thinking Bootcamp war mir noch nicht klar, wo der Mehrwert oder auch der Neuwert dieser Methode liegen sollte. Erst nachdem ich Design Thinking mehrfach angewendet hatte, wurde mir bewusst, welche kreative Kraft teilnehmende Teams an dieser Methode entwickeln können. Ein Design-Thinking-Projekt mit einem Kunden in Tokio war dann der entscheidende AhaMoment. In nur zwei Tagen wurde die Vision des Unternehmens für das Jahr 2020 erarbeitet – sie nannten es «The Social Enterprise». Die Begeisterung der Mitarbeiter des Kunden für den Prozess war fast körperlich spürbar. Seither konnte ich Design-Thinking-Projekte in China, Europa und Nordamerika leiten, überall waren die Prinzipien dieser Arbeitsweise erfolgreich. Mir wurde klar, dass in allen Menschen ein erstaunliches Mass an Kreativität steckt, das man aktivieren kann.
DESIGN THINKING
Eine erste Idee kann jederzeit durch eine neue Idee ersetzt werden Vorurteil Clayton Christensen, Professor an der Harvard Business School, behauptet in seinem Buch «The Innovator’s Dilemma», dass grosse Unternehmen nicht zu disruptiven Innovationen fähig sind. Das heisst, zu Innovationen, die Wachstum generieren und nicht nur die augenblickliche Marktposition sichern. Inkrementelle Verbesserungen und die Expansion in zusätzliche Märkte schliessen das Wachstumsloch nur kurzfristig. Hier kommt die Innovationsmethode Design Thinking ins Spiel, die ursprünglich aus dem Bereich Produktdesign stammt, aber immer mehr begeistere Anhänger in der Wirtschaft findet.
Methode Design Thinking kombiniert kreative und analytische Verfahren. Der iterative Prozess ist in zwei grundsätzliche Phasen eingeteilt: Problem- und Lösungsphase. Zunächst entwickelt das Team ein tiefes Verständnis der Situation des Kunden und seiner Bedürfnisse. Es wird auch recherchiert, welche Gründe zum Bedarf führen. Das Team formuliert dann die sogenannte Design Challenge, sprich das zu lösende Problem, wobei das eigentliche Problem oder der eigentliche Kundenwunsch hinterfragt und bei Bedarf umformuliert wird. Danach beginnt der eigentliche Lösungsfindungsprozess. Er umfasst die Weiterent-
wicklung des Problemverständnisses, die Ideenfindung sowie die Entwicklung und das Testen von Low-Fi-Prototypen, die auch physisch mit Schere und Papier designt werden können. Durch stetigen Abgleich mit dem Kunden und kontinuierlicher Optimierung soll die bestmögliche Deckung der Problemlösung mit dem Kundenbedarf gesichert werden. Der letzte Schritt ist die Umsetzung. Wesentlich an der Methode sind mögliche Iterationen zu jedem Zeitpunkt. Das bedeutet dass eine Idee jederzeit verworfen und durch eine neue ersetzt werden kann, die anschliessend weiterentwickelt und verfolgt wird. HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
27
SPECIAL MARKETING
Swiss Poster Award 2014 Kategorie «Poster Innovations»
Gold Plakatsujet: «Transparenz» Auftraggeber: Bank Coop, Basel Werbeagentur: Ruf Lanz, Zürich
Silber Plakatsujet: «Potatoe Slicer» Auftraggeber: McDonald’s, Crissier Werbeagentur: TBWA, Zürich
Bronze Plakatsujet: «Wahn oder Wirklichkeit?» Auftraggeber: Departement Gesundheit Kanton BS, Basel Werbeagentur: CR, Basel
28
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
SPECIAL MARKETING
Hindernisse in den Köpfen der Nutzer Service-Design Jedem Unternehmen sollte daran gelegen sein, seine Zielgruppen möglichst gut zu verstehen. Leider ist das oft schwierig. SANDRO GRAF UND MARC BLUME
M
arkteinführungen sind teuer und mit Unsicherheiten behaftet. Gemäss einer Studie des Marktforschungsunternehmens Nielsen scheitern drei Viertel aller Lancierungen in der Konsumgüterindustrie. Eines von zahlreichen Beispielen aus der Schweiz ist der Milchserum-Drink «Lacto Tab» von Emmi, der 2006 lanciert wurde. Trotz Werbeträger Roger Federer war dem innovativen Produkt kein Erfolg vergönnt. 2007 verschwand es wieder aus den Regalen. Wie Emmi zugeben musste, hatte man die Bekanntheit und Akzeptanz des darin enthaltenen und prominent beworbenen Coenzyms Q10, einer vitaminähnlichen Nahrungsergänzung, falsch eingeschätzt. Auch für das neuartige Verpackungsdesign liessen sich die Konsumenten nicht begeistern. Flops gibt es aber nicht nur bei Konsumgütern: So scheiterte VW beim Versuch, mit dem Phaeton in den Premiummarkt vorzustossen. Die Zulassungen blieben deutlich unter den Erwartungen, in den USA wurde der Verkauf gar eingestellt. Wie es scheint, haben die Kunden nicht auf eine Luxuslimousine aus dem Hause Volkswagen gewartet und kaufen lieber Modelle prestigeträchtigerer Marken wie Audi, BMW oder Mercedes. Kleiner Trost: Zumindest im Fall von Audi bleibt das Geld im VW-Konzern.
Konsumenten zu wenig im Fokus Diese Beispiele unterstreichen: Wer Vorhersagbarkeit liebt, verzweifelt bisweilen an den Verhaltensweisen von Kunden, die sich trotz aufwendigen Tests nur schwer voraussagen lassen. Selbst bei Produkten und Dienstleistungen, bei denen die Vorteile objektiv betrachtet auf der Hand liegen, bestehen bisweilen Hindernisse in den Köpfen der Nutzer. Ein entscheidender Erfolgsfaktor neuer Technologien liegt somit stets darin, Bedürfnisse, Gewohnheiten und Befürchtungen der Anwender genau zu verstehen. Bei der Gestaltung des Zusammenspiels von Mensch und Technik sollte systematisches Service-Design eine tragende Rolle spielen. Es stellt die Anwender bei der Entwicklung von Produkten und Dienstleistung
konsequent in den Fokus. Dabei wird danach gestrebt, Technologien und Personen (-Gruppen) so zu verknüpfen, dass ein attraktives Angebot entsteht, das Kunden als nützlich und bedienerfreundlich erleben. Diesem Ansatz hat sich das Service Lab des Instituts für Marketing Management an der ZHAW School of Management and Law verschrieben. Mit entsprechender Kompetenz und speziellen Einrichtungen zur Nutzerforschung geht man dem Kundenerlebnis auf den Grund. Die Vorgehensweise orientiert sich an einem Mix qualitativer (verständnisorientierter) und quantitativer (statistikorientierter) Verfahren, die sich gegenseitig stützen. So wird sichergestellt, dass sich zwei Perspektiven ergänzen: Zum
Unternehmen, die mit Kunden statt nur für Kunden neue Angebote entwickeln, haben in der Regel mehr Erfolg. einen, wie Anwender Angebote subjektiv wahrnehmen und bewerten. Zum anderen, wie sie sich objektiv messbar in verschiedenen Situationen entscheiden und verhalten. Diese Gesamtsicht hilft das Zusammenspiel von Einstellung und Verhalten aufzudecken und zu erklären, einschliesslich der Gründe für inkonsequente Verhaltensweisen. Auch neue Bezahlsysteme stossen bisweilen auf wenig Akzeptanz. So wurde das Projekt Cash nach Jahren mit mässigem Erfolg 2013 endgültig eingestellt. Das bequemere kontaktlose Bezahlen, das sich mittlerweile positiv entwickelt, hatte ebenfalls Startschwierigkeiten. Ein möglicher Grund für die Zurückhaltung: Der Entscheid für die Nutzung eines Zahlungsmittels ist eine fest verankerte Gewohnheit, die kaum je bewusst hinterfragt wird. Wir neigen dazu, je nach Betrag und Einkaufsort ein bestimmtes Zahlungsmittel einzusetzen. Für Anbieter kontaktloser Bezahlsysteme ist es eine grosse Herausforderung, solche Verhaltensmuster zu durchbrechen. Umso nötiger und ergiebiger ist der beschriebene Service-Design-Ansatz. Es gilt, konsequent
den Blickwinkel der Konsumenten einzunehmen, um zu verstehen, wie sie Entscheidungen treffen. So lassen sich Ansatzpunkte identifizieren, die beeinflusst werden können.
Empirisch erhärtete Erkenntnisse Das Service Lab hat jüngst das Bezahlverhalten mithilfe eines Feldexperiments praktisch untersucht. Schauplatz waren die Cafeterien und Kantinen des Campus der ZHAW in Winterthur. Die zentrale Frage war, wie wirksam verschiedene Anreize zur Nutzung des kontaktlosen Bezahlens sind. Zu Beginn wurde anhand von Fachliteratur sowie Einzel- und Gruppeninterviews ein provisorisches Erklärungsmodell erarbeitet. Dieses umfasste die fundierte Analyse der «Payment Decision Journey», also der Gedankengänge und Entscheidungspfade beim Bezahlvorgang. Das Erklärungsmodell diente zur Ausarbeitung der Anreize. Ein als Gewohnheit verankertes Bezahlverhalten lässt sich auf zwei Arten beeinflussen: Indem man in der Bezahlsituation die verschiedenen Möglichkeiten bewusst macht oder indem die Nutzung eines Zahlungsmittels durch bestimmte Vorteile (etwa Rabatte) besonders attraktiv gemacht wird. Entsprechende Anreize wurden ausgearbeitet und getestet. Es hat sich gezeigt, dass Konsumenten vor allem durch Informationsbroschüren, Rabatte und Loyalitätsprogramme zum erstmaligen Gebrauch der Kreditkarte für das kontaktlose Bezahlen bewogen wurden. Promotionsanlässe und Hinweisaufkleber auf der Ware hatten sowohl Einfluss auf den Erstgebrauch als auch auf die Loyalität zur kontaktlosen Bezahlung. Das Service Lab verwendet die Erkenntnisse solcher Experimente für die Gestaltung und Markteinführung von Produkten und Dienstleistungen. Dabei wird ebenfalls der Erfahrungsschatz der Sozialwissenschaften und der Verhaltensökonomie genutzt. Schon oft hat sich gezeigt: Wer mit Kunden statt nur für Kunden neue Angebote entwickelt, hat mehr Erfolg. Sandro Graf, Leiter des Service Lab, und Marc Blume, Dozent für Customer Experience Management, ZHAW School of Management and Law, Winterthur.
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
29
SPECIAL MARKETING
ZVG
Zentrum Regensdorf ZH: Digitale Werbeflächen in einem Shoppingcenter.
Plakatstellen mit Big Data Clear Channel Die vergangenes Jahr lancierte Mobility Map soll den hiesigen Aussenwerbemarkt aufmischen. GÉRARD MOINAT
D
ie Geschichte der Mobility Map begann vor 50 Jahren. Damals wurden erste einfache Verkehrsmodelle erstellt. Bei der ETH Zürich gingen schon bald Anfragen des Bundes ein, ob diese das Verkehrsverhalten der Schweizer modellieren und vorhersagen könnten. Einfache computergestützte Modelle gibt es seit den 1980er-Jahren. Sie sollen etwa Aussagen darüber treffen, was mit dem Verkehrsfluss geschieht, wenn Umfahrungen gebaut oder Tunnels geschlossen werden. Mit dem 21. Jahrhundert entwickelte sich die ETH zu einem Know-how-Zentrum in diesem Bereich. Am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme wurde ein iteratives Modell entwickelt, eine Art künstliche Intelligenz, die dazulernt und das reale Verkehrsaufkommen simuliert. Es war die Geburtsstunde eines agentenbasierten Modells der Verkehrsnachfrage in der Schweiz. Im Rahmen eines KTI-Projekts wurde nachgewiesen, dass derartige Modelle beziehungsweise das Wissen um Verkehr und Mobilität über die Verkehrsplanung hinaus auch einen kommerziellen Nutzen stiften können. «In der Zusammenarbeit mit Clear Channel wurde anschliessend konkret ge-
30
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
zeigt, auf welche Weise die Modelle für werbetechnische, also privatwirtschaftliche Zwecke nutzbar gemacht werden können», sagt Oliver Schönfeld, Marketing Director des Schweizer Aussenwerbespezialisten. Doch warum erfolgte die Zusammenarbeit ausgerechnet mit Clear Channel und nicht mit der viel grösseren APG? «Unser Geschäftsmodell basiert auf Einzelstellen», erklärt Schönfeld, «wir stellen unsere Plakatstandorte für jede Kampagne Stelle für Stelle einzeln zusammen, picken also für jeden Kunden individuell die Rosinen aus unserem Inventar.» Durch die Kooperation mit dem Lieferanten für GeomarketingKonzepte, der damaligen Firma Endoxon (heute Axon Active), ergab sich letztlich die Zusammenarbeit mit der ETH Zürich.
Herausforderung Multisourcing Aber damit man überhaupt Rosinen picken konnte, mussten die ETH-Daten zuerst aufbereitet und mit Personen- und Firmendaten ergänzt werden. Sie genügten zwar den Zwecken der Verkehrsplanung, nicht aber den Anforderungen eines Werbeunternehmens. Also musste eine Drittfirma – die erwähnte Axon Active in Luzern, ein führender Anbieter im Bereich Big Data – hinzugezogen werden, um Daten aus unterschiedlichsten Quellen in einem Tool zu fusionie-
ren oder zu «multisourcen», wie man das nennt. Dies umfasste das Beisteuern von Personen-, Arbeitsstätten- und Firmendaten sowie Daten über zahllose Points of Interest von Seiten Axon Active. Zudem musste eine Front-End-Software entwickelt werden, die die vorhandenen Daten plan- und nutzbar machte. «Möglich gemacht wurde dies erst durch den übergeordneten forscherischen Ansatz des ETH-Projekts», sagt Schönfeld. Alleine hätte Clear Channel solch ein Tool weder inhaltlich noch finanziell stemmen können. Es brauchte eine lange Entwicklungszeit, diverse Datenquellen und auch die Fähigkeit, mit riesigen Datenmengen umgehen zu können. Eine der grössten wissenschaftlichen Herausforderungen war es, die gigantischen Datenmengen in sinnvoller Zeit verrechenbar zu machen. Die Analyseläufe dauerten erst Tage, später Stunden. Durch eine neue Datenstruktur können heute komplexe Berechnungen in weniger als zwei Minuten abgeschlossen werden. Im Spätherbst 2014 war es dann endlich so weit: Clear Channel lancierte die Mobility Map. «Für uns ist das Tool eine extreme Bereicherung», schwärmt Schönfeld. Es sei zu einem unerlässlichen Planungs- und Optimierungshilfsmittel geworden, weil es die Absicht der Passanten mit einberechne und Streuverluste minimiere. So kann in einer Planung differenziert werden, ob die Zielgruppen auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen, zu Ausbildungszwecken oder zu einer Freizeitbeschäftigung unterwegs sind. Eine Plakatstelle könne sich zwar im Umfeld von McDonald’s befinden. «Wenn die Leute aber nur zum Arbeiten vorbeigehen, passt sie trotzdem nicht auf die Zielgruppe», sagt Schönfeld. Jede Plakatstelle sei also individuell. Dem könne nun mit dem Mobilitätsverhalten Rechnung getragen werden. Traditionell wird Plakatwerbung in zwei Schritten geplant. Erstens: Wie viele Personen kann man mit einer Plakatstelle erreichen. Zweitens: Passt das Umfeld? Nun kommt neu die Mobilität als dritte Dimension hinzu (siehe Box): Sie erlaubt es, Plakatkampagnen nicht nur darauf auszurichten, wie viele Personen an einer Plakatwand vorbeigehen, sondern auch darauf, woher sie kommen, wohin sie gehen und mit welcher Absicht sie unterwegs sind. «Damit können wir die Zielgruppen in der richtigen Stimmung ansprechen», ergänzt Schönfeld. Seit drei Monaten ist Clear Channel mit einer Roadshow unterwegs, um das Tool bekannt zu machen und es zu optimieren. Die Frage nach der durch die Mobility Map gesteigerten Wirksamkeit einer Kampagne konnte der Aussenwerbespezialist allerdings noch nicht wissenschaftlich beweisen. Er befindet sich derzeit auf der Suche
SPECIAL MARKETING
MOBILITY MAP
So funktioniert die Plakatplanung 2.0 Ausgangslage Als Erstes wird definiert, wie viel Geld fßr eine Kampagne zur Verfßgung steht, welches Gebiet abgedeckt werden soll, welche Zielgruppe erreicht und welche Filialen einbezogen werden sollen. Und dann tauchen aufgrund dieser Angaben erste Händlerkoordinaten auf. Diese stammen aus GPS-Daten, in denen 1,7 Millionen Gebäude gespeichert sind.
Kein Kunde, der ein Filialgeschäft betreibt, kommt am Tool vorbei. Oliver SchÜnfeld Marketing Director, Clear Channel, Hßnenberg ZG
nach einem Kunden, der seine Abverkäufe und Frequenzen ßber das Tool mit einer gemeinsamen Fallstudie ausweist.
Umkreissuche Dann geht es als Zweites an die Grobplanung mit dem Anfangsschritt der Umkreissuche: Wie viele Plakatstellen befinden und qualifizieren sich im Umfeld des gewĂźnschten Standorts? Zielgruppen Anschliessend kommen die vier folgenden Punkte der sogenannten Zielgruppenmobilität zum Tragen: Ä‘Ćą .!-1!*6Ä?ĆŤ %!ĆŤ2%!(!ĆŤ .+6!*0ĆŤ !.ĆŤ %!(gruppe auf der Mobility Map biegen auch wirklich richtig ab oder fahren nur an einer Zufahrtsstrasse vorbei? Ä‘Ćą % $0 .'!%0Ä?ĆŤ /0ĆŤ %!ĆŤ ( ' 03 * ĆŤ*1.ĆŤ 1"ĆŤ der RĂźckseite oder aus einem komischen
ANZEIGE
Internationalisierung schwierig Die fßr die Planung mit der Mobility Map relevanten Werbekunden des Dienstleiters sind hauptsächlich in den Sektoren Automobil, Telekom, Detailhandel, Sportgeschäfte, Apotheken und Baumarkt zu Hause – also alles Firmen mit Filialgeschäften. Fßr sie sei die Dienstleistung ohne Aufpreis, so SchÜnfeld. Denn das Tool sei vielmehr ein Alleinstellungsmerkmal von Clear Channel: Es verbessere die Qualität von Aushängen – nicht nur bezßglich der Kostenberechnung pro Stelle, sondern indem es der Plakatplanung die Dimension Zielgruppe hinzufßge. Kein Kunde, der ein Filialgeschäft betreibt, kommt am Tool vorbei, ist er ßberzeugt. Das bedinge allerdings eine andere Art der Konversation mit der Agentur. Es gehe nicht mehr nur um eine bestimmte Anzahl Plakate zu einem Preis X, sondern auch der Zielgruppe und den Filialeinzugsgebieten komme eine hohe Bedeutung zu. Die Anwendung auch im Ausland wäre wßnschenswert; viele Ländereinheiten hätten bei Clear Channel Schweiz bereits Interesse bekundet. Sie waren begeistert, mussten aber gleichzeitig feststellen, dass die benÜtigten Datenquellen in ihren Ländern oft nicht in genßgender Menge und Qualität vorhanden sind. Es gibt zwar im Ausland Verkehrsplanungsmodelle, aber der Mix mit Personen- und Firmendaten ist meistens nicht vollzogen, sagt SchÜnfeld. Somit sei die Umsetzung in den meisten anderen Ländern vorerst noch zu teuer. Die LÜsung kÜnnte ihm zufolge darin bestehen, internationalisierte Standarddaten einzusetzen.
Winkel zu sehen? Dieser Punkt ist laut Oliver SchĂśnfeld eine grosse Herausforderung. ÂŤWir fĂźhren jeweils eine Sichtbarkeitsbereinigung durch. Das heisst, wir mĂźssen dem Tool sagen, wie der Passant die Plakatstelle sieht.Âť Ä‘Ćą +6%+ !)+#. "%!Ä?ĆŤ '0!*ĆŤ3%!ĆŤ (0!.ÄŒĆŤ !schlecht, Einkommen oder Bildung. Ä‘Ćą +0%2 0%+*Ä?ĆŤ 1ĆŤ#10!.ĆŤ !060ĆŤ'+))0ĆŤ %!ĆŤ Zielgruppencharakteristik Motivation ĆŤ$%*61ÄŒĆŤ (/+ĆŤ3 .1)ĆŤ %!ĆŤ !10!ĆŤ1*0!.3!#/ĆŤ sind. Dazu gehĂśren zum Beispiel Arbeit, Shopping, Ausbildung und Freizeit. Feintuning Das Tool fĂźhrt eine Rangierung aufgrund dieser Kriterien durch. An welcher Plakatstelle kommt die Zielgruppe mit hoher Frequenz vorbei und taucht sie auch im Radius des Händlers auf? Das Feintuning geschieht dann am Schluss per Hand: Ein Planer von Clear Channel kann sich inhouse jede einzelne Plakatstelle per Mouseover mit Fotos anschauen, manuell optimieren und danach einzelne Stellen (de)selektieren.
SPECIAL MARKETING
Das kreative Chamäleon Christoph Bürge Der Chef der jungen Agentur Metzger Rottmann Bürge Partner über die Ausrichtung auf die digitale Transformation.
ZVG
Christoph Bürge: «Wir wollen die Schweiz mit unseren Ideen begeistern.»
MÉLANIE KNÜSEL-RIETMANN
W
er mit Christoph Bürge, dem neuen Chef der jungen Werbeagentur Metzger Rottmann Bürge Partner (früher Metzgerlehner) spricht, wird sofort von der Leidenschaft angesteckt, die er und seine drei Partner in diesem Unternehmen verbreiten. Es sind nicht allein die klingenden Namen auf der Referenzenliste, die beeindrucken. «Ich bin ein potenzieller Kunde. Wie würden Sie mich von Ihrer Philosophie überzeugen?» Bereits seine Antwort auf die erste Frage verblüfft. Bürge konnte sich auf dieses Gespräch nicht vorbereiten, weil wir stereotype Antworten verabscheuen. Er pariert wie erhofft unkonventionell. «Nehmen wir ein Lagerfeuer. Jeder, der diese Atmosphäre erlebt hat, liebt sie und will sie wieder einmal geniessen. Gute Kommunikation ist seit dem Lagerfeuer unverändert. Wenn die Geschichte eingängig ist, wird sie gerne ge-
32
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
hört. Immer wieder.» Bürge spricht damit an, was heute unter «Love Brands» verstanden wird. «Wir möchten bei den Kunden Begeisterung für Produkte und Dienstleistungen unserer Auftraggeber wecken. Das bedeutet, dass sie selbst die grössten Erwartungen der Kunden übertreffen und nicht nur in ihren Köpfen, sondern auch in ihren Herzen einen festen Platz erobern.»
In den Kunden hineinhören Dann stellt Bürge eine Frage, was auch unüblich ist: «Wissen Sie, warum wir am Morgen gerne aufstehen?» Und beantwortet sie gleich selber: «Wir wollen die Schweiz mit unseren Ideen begeistern und unseren Kunden und ihren Marken zu Mehrwert verhelfen. Wer Begeisterung auslöst, dem wird im Gegenzug Engagement und Involvement geschenkt.» Womit wir wieder beim Lagerfeuer wären, das alle Beteiligten wärmt und anfacht. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Metzger Rottmann Bürge Partner (MRBP)
bekommt den Auftrag, um für ein bekanntes Warenhaus im Vorfeld von Weihnachten die Temperatur bei den Kunden zu erfühlen. Anstatt sich einfach ausschliesslich auf ausgeklügelte Studien und sophistizierte Kommunikationskonzepte zu verlassen, wird – beispielsweise – auch eine Art Anti-MysteryShopping betrieben. Kunden werden direkt befragt, wieso sie just diesen Gegenstand kaufen, was ihnen am vorweihnachtlichen Treiben gefällt und was sie nervt. Das verströmt Empathie, vor allem, wenn die Befragten ihrem Ärger über Preiskämpfe in einer an sich mit emotionalen Inhalten besetzten Jahreszeit Luft machen können. Diese Szenerie lässt sich problemlos auf Ostern übertragen. Was für Werbeprofis dabei herausschaut? Eine ganze Menge Informationen, die dann in das Gesamtprojekt einfliessen. Jedenfalls kommt dabei mehr heraus als bei lästigen Telefonumfragen, gestellten Interviews oder unglaubwürdigen Testimonials, bei denen von vorneherein feststeht, dass sowieso jene `
SPECIAL MARKETING
Swiss Poster Award 2014 Kategorie «Digital Out of Home»
Gold Plakatsujet: «Überwachungskameras» Auftraggeber: WOZ Die Wochenzeitung, Zürich Werbeagentur: Leo Burnett, Zürich
Silber Plakatsujet: «Gründer-Garagen» Auftraggeber: VBZ, Zürich Werbeagentur: Ruf Lanz, Zürich
Bronze Plakatsujet: «Chancengleichheit» Auftraggeber: HEKS, Zürich Werbeagentur: Y&R Group, Zürich HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
33
SPECIAL MARKETING
` zum Zug kommen, die nur das sagen, was mit dem Auftraggeber abgesprochen wurde und ihm genehm ist. «Wir wollen in die Kunden unserer Auftraggeber hineinhören und nicht das kolportieren, was sie möglicherweise denken oder sagen könnten», liesse sich eines der Geschäftsgeheimnisse von MRBP preisgeben. «Wir gehen mit offenem Visier auf die Menschen zu, die wir für unsere Ideen und Inspirationen begeistern wollen», sagt Bürge. Das Resultat seien ehrliche Antworten. Darauf basieren auch Kampagnen, die nicht nur im Kopf ankommen, sondern auch das Bauchgefühl stimulieren. Letztlich baut man auch bei MRBP auf einen zwar abgedroschenen, aber halt immer noch gültigen Werbeslogan, nämlich den von der Mundzu-Ohr-Propaganda – allerdings verbirgt sich dahinter viel Überzeugungsarbeit.
METZGER ROTTMANN BÜRGE PARTNER
Von Biotta über Suisse Garantie bis Villiger Gestern Die inhabergeführte Kreativagentur wurde 1982 von Ted Metzger gegründet und firmierte 33 Jahre unter dem Namen Metzgerlehner Worldwide Partners mit Sitz in Erlenbach ZH. Sie gehört seither zu einer soliden Grösse in der nationalen Werbelandschaft, zuletzt mit einem Jahresumsatz von rund 4 Millionen Franken. Silvan Metzger trat 2005 in die Fussstapfen seines Vaters.
der führenden Werbe-, Media- und Kommunikationsagenturen in der Schweiz. Team MRBP beschäftigt gegenwärtig 20 Mitarbeitende. Ihre führenden Angestellten sind die vier Partner Christoph Bürge (CEO), Silvan Metzger (Client Service Director), Michael Rottmann (Creative Director) und Andreas Meier (Key Account Director). Sie engagieren sich aktiv in allen tonangebenden Branchenverbänden.
Heute Seit diesem Februar heisst das Unternehmen neu Metzger Rottmann Bürge Partner (MRBP). Es rangiert nach wie vor unter den Top Twenty des Rankings des BSW, des Branchenverbands
Kunden Im Palmares der Auftraggeber findet man so bekannte Namen wie Biotta, Manor, Migros Klubschule, Suisse Garantie, Suzuki sowie Villiger.
ZVG
Vom ROI zum ROE Was uns zum nächsten Erfolgsrezept der Agentur führt: Der Begriff Return on Invest- ten Agenturen an der richtigen Adresse. ment (ROI) ist nicht erklärungsbedürftig. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie Aber was Return on Excitement (ROE) be- nicht nur innovative Ideengeber sind, sondeutet, schon eher. Darunter verstehen die dern auch Wertschöpfungspartner – eine eingefleischten Partner alles, was wie ein Art kreative Unternehmensberater.» Echo zurückkommt, wenn sie ihre AuftragDavon, dass das keine hohlen Phrasen geber und ihre anvisierten Kunden mit ihrer sind, zeugt ein Projekt, das derzeit noch in Begeisterung angesteckt hader Pipeline, aber bereits weit ben. Bürge spricht immer wieausgereift ist. Es dürfte zu eider von einem Enthusiasmus, nem Quantensprung in der Bürge schwebt der nicht nur das Heute, sonQualität der angebotenen ein Labor vor, dern auch das Morgen überDienstleistung von MRBP lebt. Für ihn ist dieser ein in dem aus allem führen. Erstaunlich daran ist Schmieröl der Wirtschaft. Ernur, dass Bürge freimütig daSpezialwissen lahmt er, verlangsamt sich rüber berichtet. Hat er keine ein Ganzes wird. auch deren Motor. Eine PhiloBefürchtungen, dass dies bei sophie, die sich in 33 Jahren der Konkurrenz auf allzu bewährt hat: Metzgerlehner ist fruchtbaren Boden fallen zu einer soliden Grösse in der schweizeri- könnte? Immerhin ist er in einer Branche schen Agenturlandschaft geworden und fir- tätig, in der man nicht nur das Werbegras miert heute als Metzger Rottmann Bürge wachsen hören muss, sondern auch erPartner mit neuen, kreativen Köpfen, um in spriessliche Anregungen, die nicht auf dem der digitalen Transformation zu bestehen. eigenen Mist gewachsen sind, so schnell wie Wie würde Bürge die idealen Kunden möglich internalisieren sollte. Bürge hat charakterisieren? «All jene, welche kein diesbezüglich keine Bedenken und erinnert Agentursystem, sondern ein kooperatives an die bekanntesten Exponenten der St. GalMiteinander mit viel gesundem Menschen- ler Stickerei-Industrie. verstand und Partner mit hochgekrempelJa, richtig gehört. Wenn es Branchenverten Ärmeln suchen, sind bei inhabergeführ- treter gibt, die vor Kopisten auf der Hut sein
Die vier Partner: Silvan Metzger, Andreas Meier, Christoph Bürge, Michael Rottmann (v.l.).
34
HANDELSZEITUNG | Nr. 12 | 2015
müssen, sind es die kreativen Kräfte in diesen Gefilden, wo entschieden wird, was morgen auf dem Catwalk Furore macht. «Einfach so schnell neue Ideen entwickeln, dass die Konkurrenz eine Nasenlänge hinterherhinkt», sagen die Stardesigner von Forster Rohner, Hans Schreiber oder von Jakob Schlaepfer, Martin Leuthold unisono. Ohne ihren Einfallsreichtum sind grosse Modeschauen und atemberaubend schöne Frauen in raffinierten Roben gar nicht denkbar. Bürge gefällt dieser Vergleich. «Es geht im Grunde genommen doch wirklich um diese berühmte Nasenlänge», bestätigt er und hebt den Vorhang für den nächsten Coup der Agentur ein bisschen in die Höhe.
Lösungen à la carte Gerade weil Lösungen, die MRBP erarbeitet, immer à la carte sind und einen ganz eigenen Stempel tragen, gibt es in diesem Haus keine festgefügten Hierarchien oder Stallordnungen. Je nach Bedarf werden Leute ihres Spezialfachs hinzugezogen, die sich dann zusammenraufen. «Das können Fachleute für Social Media sein, Gestalter von Websites, Eventprofis, PR-Spezialisten oder sogar branchenfremde Exponenten, die zu unüblichen Ideen inspirieren.» Es gibt in der Werbewelt bestimmt 100 verschiedene Untergruppen – egal ob analog oder digital –, die zum Gelingen einer Kampagne beitragen. Sie lassen sich finden, aber der Mix muss stimmen. Und genau darum geht es Bürge mit seiner Zukunftsvision. Ihm schwebt ein Labor vor, in dem alle Involvierten ihr Spezialwissen zu einem Ganzen zusammenfügen, wobei jeder von jedem profitieren kann. «Und das ist ganz wichtig: Der Output dieses fruchtbaren Prozesses ist dem jeweiligen Auftrag angepasst und verändert sich immer wieder neu.» Man könnte sich das wie ein Chamäleon vorstellen, das die Farben seiner Umgebung annimmt, die sich aus den Facetten der jeweiligen Aufträge zusammensetzt.