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VON DER QUELLE ZUM STROM – DIE RUHR
Von der Vorstellung der Ruhr als einem fließenden Industriegiftcocktail darf man sich verabschieden. Menschen plantschen im Fluss und fahren Boot, wo er dazu einlädt. Außer auf den letzten Kilometern in Duisburg, bevor der Strom in den Vater Rhein mündet. Doch im Fahrradsattel kann man ihn locker bis zur imposanten Landmarke „Rheinorange“ dort begleiten.
Winterberg hat seinen Namen nicht von ungefähr. Wintersport wird hier großgeschrieben, zumindest wenn der Winter mal wieder seinem Namen Ehre macht. Außerdem leben die Winterberger in der mit 660 Metern höchstgelegenen Stadt Nordrhein-Westfalens. Die Hänge laden natürlich zum Herunterrutschen auf allem was rutscht oder Kufen hat ein. Im Sommer eignet sich die Gemeinde im Rothaargebirge unweit des Kahlen Astens am besten als Startplatz für den Ruhrtalradweg nach Duisburg. Auf geht’s.
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Einen großen Vorteil bietet diese Route Radlern ohne elektrische Unterstützung. Sie führt mit kleinen Ausschlägen nach oben immer bergab. Neben der Ruhr bleibt im zunächst engen Tal eben wenig Platz für einen Radweg. Doch zunächst ist die Quelle das Ziel, ohne die es die Radtour gar nicht gäbe. Man erreicht den Ursprung des Flusses tief im Buchenwald auf gut ausgeschildertem Weg. Ein Beweisfoto, dass man hier gewesen ist – und ab geht die Post talwärts Richtung Assinghausen, dem „Rosendorf“. Neben seinen Rosen kann der Ort mit dem Heimatdichter und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Grimme punkten, der hier das Licht der Welt erblickt hat. Ein Denkmal erinnert an ihn.
Auf dem Weg zum Etappenziel Olsberg, einem Kneippkurort, passiert man die Mündung der Neger in die Ruhr. Bernhard Pollmann verrät in seinem KOMPASS-Fahrradführer, woher der Fluss seinen Namen hat. Er soll ihn im Mittealter erhalten haben, „als sich die Köhler nach der Arbeit im sauberen Wasser wuschen und dieses eine dunkle Färbung annahm.“ Falls sich Radlerin und Radler ebenfalls etwas Gutes tun wollen, lockt in Olsberg die Sauerlandtherme.
Gestärkt und erholt werden die Räder für die Strecke nach Arnsberg bepackt. Der Versuchung, das Burg- und Bergdorf Eversberg mit seinen prächtigen Fachwerkhäusern zu „erstürmen“, sollte man nachgeben. Auch wenn man einen größe-
ren Teil des Weges als Otto-Normalradler schieben muss. Neben den Bauten entschädigt der Blick von der Burgruine ins weite Land. Über Meschede führt die Radlerstrecke nach Arnsberg. Die Stadt gilt als „Altstadtperle“, wo das Hotel „Altes Backhaus“ mit Biergarten und Betten glänzt. Ein paar Schritte weiter hoch durch einen Torbogen und gleich rechts wartet neben der Kirche ein wahres Kleinod für Gin- und Parfumfans. Beides destilliert und mischt hier ein ehemaliger Fabrikant. Einkaufen muss man vor Ort, verschickt wird nichts. Für Radler, die in ihren Gepäcktaschen kaum noch Platz haben, eine betrübliche Erfahrung. Ein Fläschchen Parfum passt allerdings noch rein.
Hervorragend speisen kann man auf der Weiterfahrt im direkt an der Ruhr gelegenen „Gutshof Wellenbad“ nahe Schwerte. In dessen Park trifft man auf einige Skulpturen, darunter eine Buddhastatue. Passt ja zum entspannten Verweilen. Das Wasser des Flusses muss übrigens von ordentlicher Qualität sein, denn es mehren sich Paddler und Schwimmer. Im Hintergrund sind mittlerweile die Wälder des Sauerlandes verschwunden und haben den fruchtbaren Auen der Ruhr Platz gemacht. In Schwerte angelangt, wartet ein Pendant zu Pisa: der schiefe Turm der gotischen St. Viktor-Kirche mitten in der Altstadt. Aber schwer zu fotografieren, weil er von der einladenden Außengastronomie mehrerer Gasthäuser umringt ist.
Auf die Sauerlandberge und die Ruhrauen folgt die Seenplatte mit den gestauten Hengstey- und Harkortseen. Auf der Fahrt dorthin kann man ebenfalls wieder hoch hinauf. Von der Höhe des Ardeygebirges grüßt die Ruine der Hohensyburg. Wer an historischer Baugeschichte nicht interes-
LINKS // In üppiges Grün eingebettet sind die Gemeinden im sich weitenden Tal der Ruhr.
siert ist, kann in einer Spielbank auf dem Gelände sein Glück versuchen. Als beliebtes sommerliches Ausflugsziel ist man unten im Tal am Hengsteysee bestimmt nicht allein.
Den Fluss entlang erreicht der Radler die Stadt Herdecke und das imposante Ruhrviadukt aus Tuffquadern mit seinen zwölf halbkreisförmigen Bögen. Dort beginnt auch der nach einem Pionier der Frühindustrialisierung benannte Harkort-See. Friedrich Harkort gilt nicht nur als „Vater des Ruhrgebiets“ sondern auch als arbeiternaher Sozialpolitiker. Weiter nach Witten erinnern die Museumsbahnlinie mit Bahnhof Zeche Nachtigall und das Gruben- und Feldbahnmuseum Zeche Theresia an die Bergbaugeschichte der lebendigen Stadt mit ihrem rund 150 Kilometer langen Wanderwegenetz. Mit der unterhalb der gleichnamigen Burg pendelnden Fähre Hardenstein überqueren Radler und Fußgänger (von Anfang April bis Ende Oktober) den mittlerweile zum Strom gewachsenen Fluss. Am Kemnader See mit seiner Freizeitküste herrscht an schönen Tagen viel Betrieb. Inlineskater haben sogar eine eigene Bahn zur Verfügung. Wassersportler und Badegäste müssen sich das 1980 eröffnete Staugewässer mit Nilgänsen teilen, die sich an der Ruhr sehr wohl fühlen.
Auf abwechslungsreicher Strecke ist es nicht mehr weit bis Hattingen, dessen Altstadt rund um die Georgskirche nicht nur wegen ihrer regionalen Museen wieder einen Besuch lohnt. Den Klettergarten Isenberg überlassen wir Menschen mit jüngeren Knochen. Auch die stattlichen Ruinen der Isenburg bestaunen die Radler lieber von unten. Schlappe 16 Kilometer muss man dann noch nach Essen-Steele in die Pedale treten, in das man über die
OBEN// Das Dorfhaus im Burg- und Bergdorf Eversberg, einem der schönsten Fachwerkdörfer des Sauerlandes, repräsentiert hier die vielen anderen schönen Fachwerkhäuser, an denen der Radler auf seiner Tour vorbeikommt.
Die vom sachlichen Bauhausstil geprägte Architektur der Zeche Zollverein in Essen wird vom Doppelbock des Fördergerüstes überragt.
RECHTS//
Die gotische Johanneskirche mit ihrem von einer bemerkenswerten Barockhaube gekrönten Turm gilt als das Wahrzeichen von Eversberg. D
Kurt-Schumacher-Brücke hineinradelt. Der 1929 eingemeindete Stadtteil, einst Standort von acht Kohlezechen, wird bereits 840 erstmals urkundlich erwähnt.
Hier sollte man schon zwei Übernachtungen einplanen, weil Essen einiges an technischer und künstlerischer Hochkultur zu bieten hat. Die von dem hoch aufragenden Doppelbock-Fördergerüst dominierte „Zeche Zollverein“ gehört als Architektur- und Industriedenkmal zum Welterbe der UNESCO. Auf dem Gelände befindet sich im ehemaligen Kesselhaus, das im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaut worden ist, auch das Red-Dot-Design-Museum mit einer Fülle von Exponaten zeitgenössischen Industriedesigns, die im Red-Dot-DesignAward eine Auszeichnung erhalten haben. In der Kernstadt bietet das Folkwang-MuDer Radwanderweg durch das Tal der Ruhr von den Höhen des Sauerlandes hinab an den Rhein zählt mit seinen 230 Kilometern zu den schönsten Touren in Deutschland.
seum neben einem von Sonderausstellungen begleiteten faszinierenden Querschnitt durch die moderne und zeitgenössische Kunst zigtausende Graphiken, Fotografien und Objekte des Kunsthandwerks. In dem Gebäude hält man sich nicht nur wegen der klaren Architektur gerne auf. Reich an Eindrücken geht es dann vorbei am Baldeneysee dem Endpunkt der Reise entgegen. Duisburg. Mülheim sollte man allerdings nicht links liegen lassen. Zu abwechslungsreich ist die Parklandschaft der einstigen Landesgartenschau mit der größten begehbaren „Camera Obscura“ der Welt, die sich im Museum zur Vorgeschichte des Films befindet, das in einem ehemaligen Wasserturm für Lokomotiven eingerichtet worden ist. Mit klangvollen Namen der Klassischen Moderne und der zeitgenössischen Kunst kann das Kunstmuseum der Stadt aufwarten. Es muss sich vor dem Museum Küppersmühle und dem Lehmbruck-Museum im benachbarten Duisburg nicht verstecken.
Mit diesen beiden Highlights sind die der bildenden Kunst gewidmeten musealen Ziele der eher spröde anmutenden Industriemetropole neben dem privaten Museum DKM schon genannt. Das nach dem Duisburger Künstler Wilhelm Lehmbruck benannte Haus zeigt ausgehend von dessen Werk eine europaweit einmalige Sammlung moderner Bildhauerkunst.
Ein Wahrzeichen der Stadt ist laut Wikipedia der „Lebensretter“-Brunnen der französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle
mit einer sieben Meter hohen, einem Vogel ähnelnden, Schutz gewährenden und Stärke ausstrahlenden Figur, an die sich eine kleinere Figur hilfesuchend anklammert. Die Skulptur steht auf einer von ihrem Ehemann Jean Tinguely aus Schrottteilen konstruierten rotierenden Plattform. In Anspielung an die schlechte Finanzlage der Stadt wird das Kunstwerk im Volksmund auch ironisch „Pleitegeier“ genannt.
Am Innenhafen wartet schließlich das in einem ehemaligen Backsteinspeicher eingerichtete Museum Küppersmühle. Es beherbergt eine der umfangreichsten Sammlungen deutscher Nachkriegskunst und jährlich mehrere Wechselausstellungen. Auf dem Weg dorthin bieten sich genügend Möglichkeiten, sich für den Kunstgenuss angemessen zu stärken. Entgegengesetzt zu dieser Genussmeile ragt an der Mündung der Ruhr in den Rhein bei Rheinkilometer 780 die 25 Meter hohe Stahl-Skulptur „Rheinorange“ empor. An der 83 Tonnen schweren Landmarke endet der 230 Kilometer lange Ruhrtalradweg. Im Glücksgefühl am Fuße des Monuments spüren die Radler ihre schweren Beine gar
nicht mehr. Wolfgang Nußbaumer