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Cannabis und Chronisches Müdigkeitssyndrom

TEXT DIRK NETTER

Unter der Bezeichnung „Chronisches Müdigkeitssyndrom“ (englisch: chronic fatigue syndrome, alternativ: myalgic encephalomyelitis, abgekürzt ME/CFS) versammelt sich eine Vielzahl von Symptomen.

Allen voran eine extreme Erschöpfbarkeit nach diversen Belastungen sowie eine daraufhin lang anhaltende Kraftlosigkeit. Die Ursachen der chronischen Erkrankung sowie mögliche Behandlungsoptionen sind bisher nicht abschließend erforscht. Viele Betroffene berichten jedoch von Behandlungserfolgen mit Cannabis in Eigentherapie.

Millionen Menschen weltweit sind von ME/CFS betroffen

Die Krankheit kann ausschließlich über die klinischen Symptome diagnostiziert werden, ein Labortest zur Bestimmung existiert bis dato nicht. Der Weg zur Diagnose ist für viele der Betroffenen lang, Fehldiagnosen sind häufig (Rowe et al. 2017, S. 1). Die Mehrzahl der verfügbaren Studien weisen darauf hin, dass nur ein Bruchteil der Fälle tatsächlich diagnostiziert werden. In den USA liegt die Zahl der Erkrankungen zwischen 800.000 und 2,5 Millionen. Für Deutschland wird eine Zahl von 300.000 bis 400.000 angegeben – die Dunkelziffer ist extrem hoch. Am häufigsten betroffen sind Personen im Alter zwischen 30 und 45 Jahren, wobei Frauen dreimal häufiger an diesem Syndrom leiden.

Überschneidung von ME/CFS mit „Long Covid“ und Fibromyalgie

ME/CFS zeigt einige Überschneidungen mit anderen Syndromen. So zeigt sich beispielsweise auch beim Fibromyalgie-Syndrom eine vermehrte Erschöpfung nach diversen Belastungen (Post-Exertional Malaise, kurz: PEM) (Rowe et al. 2017, S. 10). Nicht selten liegt neben einer ME/CFS-Diagnose eine Komorbidität mit Fibromyalgie vor. Vergleichbare Erschöpfungszustände werden auch bei Long Covid beobachtet. Dieser Zustand, zuweilen auch als „Postvirales Müdigkeitssyndrom“ bezeichnet, tritt bei 30 % der überlebenden Covid-Intensivpatienten auf. Auch milde Verläufe können offenbar zu Long Covid führen, wobei Studien mit größeren und repräsentativen Stichproben noch nicht verfügbar sind.

Weitere Gemeinsamkeiten von ME/ CFS, Fibromyalgie und Long Covid sind neurologische Störungen, wie Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, Schlaflosigkeit und sog. „brain fog“. Weiterhin werden chronische Schmerzen in Muskeln und Gelenken berichtet. Inwiefern Long Covid eine eigenständige Diagnose darstellt, oder ob es sich dabei um eine Form von ME/CFS handelt, ist derzeit Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen (siehe: Kedor et al. 2021). Erste Studien deuten auf einen Zusammenhang zwischen einer Störung des autonomen Nervensystems und Krankheiten wie Fibromyalgie und ME/ CFS hin. Unklar ist bislang jedoch die Art dieses Zusammenhangs (Martínez- Martínez et al. 2014).

Cannabis-Medikation bei Fibromyalgie

Die medikamentöse Behandlung der genannten Syndrome gilt als nicht zufriedenstellend. Diverse Medikamente scheinen zwar in manchen Fällen Wirkung zu zeigen, gehen jedoch in der Regel nicht über eine leichte Linderung der Symptome hinaus (Kia/Choy 2017; Richman et al. 2019; Rowe et al. 2017, S. 3). Eine Studie (Sagy et al. 2019) mit 367 Fibromyalgie-Erkrankten deutet darauf hin, dass die Eigenmedikation mit Cannabis sowohl die Schmerzintensität signifikant verringert, als auch die allgemeine Lebensqualität der Betroffenen stark verbessert. 22,2 % der Teilnehmenden konnten ihre Opioid-Dosis verringern oder die Medikation komplett einstellen. 20,3 % konnten darüber hinaus ihre Dosis an Benzodiazepinen verringern. Die Schlafprobleme verbesserten sich signifikant bei 73,4 % der Patienten, während sie bei 13,2 % vollständig verschwanden (Sagy et al. 2019, S. 6f). Spannenderweise konnten insbesondere dann Behandlungserfolge erzielt werden, wenn bereits Erfahrung mit Cannabisgebrauch bestand. Bedenken gegenüber Cannabis führten dagegen – statistisch gesehen – eher zu einem Misserfolg der Behandlung (Sagy et al. 2019, S. 6). Grundlage waren reine Selbstberichte der Teilnehmenden, es handelte sich nicht um eine randomisierte und kontrollierte klinische Studie, weshalb weder seriöse Angaben zur benötigten Dosis, noch zur verwendeten Cannabis-Sorte gemacht werden können. Dennoch kann diese Studie als deutliche Grundlage und Aufforderung für weitere Forschungen gesehen werden.

Cannabis-Medikation bei ME/CFS

Auch bei der Behandlung von ME/ CFS ist die Datenlage unzufriedenstellend. Es gibt anekdotische Hinweise in der wissenschaftlichen Literatur (Rowe et al. 2017, S. 15), die auf eine entsprechende Wirksamkeit von Medizinalcannabis hindeuten, systematische Studien existieren jedoch nicht. Da die Ursache des Syndroms noch nicht geklärt werden konnte, ist die Suche nach kausalen, pharmakologischen Behandlungsmethoden nicht trivial. Ein Erklärungsmodell geht davon aus, dass es sich bei ME/ CFS um eine Autoimmunerkrankung handelt – wobei Medizinalcannabis als aussichtsreiche Medikation gilt (vgl. Shoenfeld 2016; vgl. Giorgi et al. 2021).

In entsprechende Selbsthilfeforen häufen sich Berichte von Betroffenen, die sich eigenständig mit Cannabis therapieren. Dabei scheint Cannabis in einer überwiegenden Mehrheit erfolgreich zu sein, was die symptomatische Behandlung der Symptome angeht.

So werden zufriedenstellende Ergebnisse, besonders bei chronischen Schmerzen, PEM und Fatigue berichtet. Insbesondere THC-reiche Cannabissorten scheinen die Symptome ausreichend zu lindern, während die reine Behandlung mit CBD nur in wenigen Fällen positive Erwähnung findet.

Politik, Ärzteschaft und Krankenkassen müssen auf ME/CFS hingewiesen werden

Der eklatante Mangel an Studien ist sehr verwunderlich, betrachtet man die hohe Zahl der Erkrankungen und dessen enormen Schaden für die Betroffenen und die Gesellschaft. Um eine Relation zu geben: Laut Hochrechnungen sind alleine in Deutschland über dreimal mehr Menschen an ME/CFS erkrankt, als Menschen mit HIV infiziert sind (300.000 ME/CFS Erkrankte, 90.700 HIV-Infizierte). Die Lebensqualität vieler ME/CFS und Fibromyalgie-Patienten ist oft extrem vermindert, in schweren Verläufen sind die Betroffenen nicht mehr dazu in der Lage alleine das Haus zu verlassen. Ausbildung oder Erwerbsarbeit sind oft nur noch in Teilzeit und im Homeoffice zu erledigen.

Die Deutsche Gesellschaft für ME/ CFS weist darauf hin, dass es „nur möglich [sei], ME/CFS-PatientInnen zukünftig flächendeckend zu versorgen, wenn es gelingt, die Krankheit breit bekannt zu machen, insbesondere in der Medizin und Politik“. Nach § 31 Absatz 6 SGB V kann Cannabis-Medikation verordnet werden, wenn eine „anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht“.

Theoretisch steht somit einer Behandlung mit Cannabis rechtlich nichts im Wege. Die ersten Studien, sowie zahlreiche anekdotische Berichte weisen darauf hin, dass eine signifikante Linderung der Symptome möglich ist.

Das Ziel muss also sein, Bewusstsein für diese Krankheit zu schaffen, um den Betroffenen die bestmögliche Versorgung zukommen zu lassen – dazu zählt auch der problemlose Zugang zu Medizinalcannabis, sowie die entsprechende Kostenübernahme durch die Krankenkassen, die viele Patienten sich häufig trotz ihres Gesundheitszustandes juristisch erkämpfen müssen. Diesbezüglich sind verbindliche Regelungen vonseiten des Gesetzgebers zu erwarten.

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