ein geschichtsfreier Raum a history-free space un espace non-historique
LIFETIME EUROPE —
LIFETIME EUROPE ein geschichtsfreier Raum – a history-free space – un espace non-historique SEIT 2005 INTERVENTION, IN PROGRESS MIXED MEDIA Haus am Gern reiste im Sommer 2005 auf Einladung des Bundes Bildender Künstler Leipzig BBKL zur Entwicklung eines Projektes nach Leipzig. Am 25. Juli erwarb Haus am Gern den Kleingarten Nr. 266 in der Anlage II des Kleingar tenvereins Anger-Crottendorf. Die vorhergehende Pächter familie hat diese Kleingartenparzelle während dreissig Jahren bewirtschaftet (1975 – 2005). Die 208 Quadratmeter grosse, zu je einem Drittel als Frucht fläche, Ziergarten und Rasen bebaute Parzelle und die ge mauerte Gartenlaube sowie sämtliches Inventar (Gerät schaft, Möblierung und Dekoration) gingen unverändert in den Besitz von Haus am Gern über. Mit dem Kauf wurde Haus am Gern Vereinsmitglied und Pächter des Kleingar tenvereins Anger-Crottendorf e.V. Haus am Gern baute in die bestehende Laubenhülle einen frei stehenden Raum mit den Massen 2.10 x 2.12 x 2.14 m ein. Dieser Raum ist als Reinraum1 nach EN ISO 14644 konzipiert und besteht aus einem Schleusenraum mit Schutzkleidungs ablage sowie dem eigentlichen staubfreien Raum. Ein Klima
erät sorgt für konditionierte Raumbedingungen und den g leichten Überdruck, der ein Eindringen von Partikeln verhin dert. Haus am Gern erklärte diesen Raum zum «geschichts freien» Raum.
Der geschichtsfreie Raum wurde von der Spezialfirma profi- con Contamination Control (Aschaffenburg/Leipzig) gerei nigt, zertifiziert, verschlossen und plombiert und darf seit dem nicht mehr betreten werden. Der Garten 266 und der geschichtsfreie Raum werden mit Unterstützung des Gartennachbarn Hannes Fechtner, bis 2007 von Jasper und Christine Friedrich-Leye und seither von der 5-köpfigen Familie Holzer aus Leipzig gepflegt und gewartet. Die Kleingartenparzelle 266 mit dem geschichts freien Raum kann auf Anfrage besichtigt werden. (lifetimeeurope @ hausamgern.ch).
— LIFETIME EUROPE kann auch angekauft werden. Alle Ver antwortlichkeiten und Pflichten gehen an den Käufer über.
REINRAUM
GARTENLAUBE
SCHLEUSE
1
Als Reinraum wird ein Raum bezeichnet der so konstruiert ist, dass die Anzahl der in den Raum eingeschleppten bzw. im Raum entstehenden und abgelagerten Partikel kleinstmöglich ist und andere Reinheitsparameter wie Temperatur, Feuchte, Druck nach Bedarf geregelt werden, also die Kontamination unter Kontrolle gehalten wird. (Definition nach DIN EN ISO 14644 –1) Neben der Reinheit der Luft, die mit aufwändigen und energieintensiven Klimaanlagen und mehrstufiger Filterung sichergestellt wird, gehört auch eine angepasste Arbeitskleidung, spezielle Arbeitsmittel und Werkzeuge sowie die entsprechende Arbeitstechnik dazu, um die spezifizierte Reinraumklasse einzuhalten. Der Zugang erfolgt oft über Schleusen, die mit Luftduschen ausgerüstet sind. Teile und Maschinen, die im Reinraum eingestzt werden sollen, müssen vorher einer intensiven Reinigung unterzogen wer den. Ein Reinraum wird im Regelfall mit Überdruck (Überdruckbelüftung) gefahren. (Aus: http://de.wikipedia.org)
Gartenfreund Hermann Walter bewirtschaftete den Kleingarten 266 während 30 Jahren.
DDR pur: die Laube vor dem Einbau des geschichtsfreien Raumes.
Einer unter 39.000: Der Kleingarten 266 in der Kleingartenanlage Anger-Crottendorf II im Leipziger Osten.
Schönheit und Vergänglichkeit – fotografiert von Ulrike Holzer.
Reiche Ernte dank Pflege: René Medick schneidet die Bäume.
… der Firma profi-con Contamination Control (Aschaffenburg/Leipzig) reinigt üblicherweise industrielle Reinräume.
Die Mitarbeiterin…
Präsentation von LIFETIME EUROPE in der Gruppenausstellung «The world is not enough» im städtischen Kaufhaus Leipzig, 2005.
Künstlerbrunch im Kleingarten: v.l. Annette Schröter, Barbara Meyer Cesta, Erasmus Schröter, Jürgen Strege.
ÜBER DIE ARCHIVIERUNG DER LEERE Wo das Nichts die Welt beschreibt.
Aus dem Paradies in den Kleingarten: Adam, Eva, Kain und Abel nach der Vetreibung. (Julius Schnorr von Carolsfeld, Die Bibel in Bildern, Georg Wiegand’s Verlag, Leipzig, 1860)
Leerer Raum Nähern Sie sich diesem Raum vorsichtig. Er ist leer. Gänzlich leer. Je näher Sie kommen, desto grösser die Versuchung, ihn zu betreten: Die Folgen sind unabseh bar. Bedenken Sie: Die Vollendung dieses Raumes ist seine Beherbergung von Nichts. Ein Raum ohne Ver gangenheit, ohne Zukunft. Ohne jegliche Absicht, gleich gültig gegenüber seiner eigenen Helligkeit, gegenüber jedem Koordinatensystem, jeder Art von Geomantie, gegenüber sinnvollen Anschlüssen, es sei denn, sie dien ten seiner hermetischen Hygiene. Ohne Reaktion auf Ermattung und Energie, unberührt von Tischbeinen, nie gequert von Wäscheleinen, nicht einmal vom Flü gelschlag eines verirrten Falters, ohne Erinnerung an Einschüsse, Austausch von Körpersäften, lautlos, unver wundet und ohne Brandspuren. Kein Geständnis, kein Verrat kein Seufzer, kein Aufatmen, kein Ausblick, we der Widergeburt noch Auferstehung. Ein niederträch tiger Raum. Vielleicht entfernen Sie sich besser wieder. Ihr Verweilen erzeugt eine prekäre Lage: für Sie und den Raum. Sehen Sie, schon bilden Sie sich ein, etwas berühre die staubfreien Innenwände; Sie erschrecken, obwohl Sie nichts gehört haben … Es ist als ob eine Geschichte zu beginnen versuchte. Ein aussichtsloses Verfangen. Sie wissen es doch. Nicht in diesem Raum.
Franz Dodel, Autor
HISTOIRES SANS ESPACE Tu verras … C’est déjà vu. L’art existe dans l’œil qui le regarde … À toi de voir. Même le regard le plus hagard n’y peut choir là, au néant de l’histoire. Il n’y a d’yeux que tes yeux, qui sèmement l’art et portent le génie des lieux … au fin fond et même au delà des cieux. Espace sans histoire, vous avez dit !!! ou d’histoires sans espace ??? Tout est dans l’ère imaginaire … dans l’esprit fécond et fertile. À toi de voir. L’être n’a rien à voir avec l’avoir, le pédant et le stérile. Bang … Bang … Qui a pété le big bang ??? L’art existe dans l’œil qui le regarde … Ainsi murmurait la Petite Grande étoile.
ALI BOUZAROURA, AUTOR
LUST AUF REINRAUM – EINIGE GEDANKEN, DIE LAUNE MACHEN
Definitionsgemäss ist ein Reinraum ein Raum mit kon trollierten Bedingungen. Ein Blick in die Tageszeitung be weist, dass die Welt kein Reinraum sein kann. Bei Reinraumtechnik spricht man auch von «Kontami nationskontrolle». Kontamination im Sinne von Verunrei nigung – die Luft ist wohl nur noch auf dem Mt. Everest wirklich rein und klar, und auch nur dann, wenn gerade kein Mensch anwesend ist. Wir werden also nie erfahren, wie rein und klar ein kontaminationsfreier Raum ist, denn der Mensch selbst kontaminiert ihn, durch seine Anwesenheit, seine Gedanken und seine Energie. Einen «Geschichtsfreien Raum» zu gestalten ist ein gewagtes Projekt. Menschen existieren nur aus ihrer Vergangen heit und in ihrer Gegenwart, mit Blick in eine hoffnungs volle Zukunft. Ein Raum ohne Geschichte wäre auch ein Raum ohne den physischen Menschen – wohl das Nir wana oder Paradies, je nach dem, welcher Geschichte man anhängt. Die Technische Anwendung von Reinräumen geht von der Halbleitertechnik über die Lebensmittelindustrie bis hin zur Medizin. Ohne Reinräume wären Mikrochips undenkbar. Ohne Mikrochips wäre die Archivierung von Daten schwerer umsetzbar. Datenarchivierung bedeu tet die Manifestation der Existenz von Geschichte. Umso mehr ist es gewagt, einen «Geschichtsfreien Raum» im Reinraum darzustellen.
Indem wir uns in den geschichtsfreien Raum begeben, werden wir von der Umwelt abgeschnitten. Was dort passiert – auch wenn wir es sehen können – ist durch uns in diesem Moment unbeeinflusst. Unsere Geschich te geht weiter, die Geschichte «draussen vor der Tür» geht ohne uns weiter. Das Spiel mit dem Gedanken, dass der Reinraum die Umwelt aber auch den Mensch in ihm vor der Umwelt schützt, gibt zu vielen Assozia tionen Gelegenheit. In dem Moment, wo der Einzelne erkennt, dass die Geschichte der Welt auch ohne sein Zutun geschrieben wird, ist er sich seiner Unzulänglich keit bewusst. Macht er seine und der Welt Geschichte zum integralen Bestandteil der Gegenwart, würde für die Zukunft ein Grossteil der erfahrenen Fehler nicht mehr realisiert. Viele Einzelne gibt eine Menge. Vielleicht sogar alle? Mikrochips werden im Reinraum fehlerfrei hergestellt. Im «Geschichtsfreien Raum» könnte eine Zukunft gebaut werden, die zumindest die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt. Insofern müsste der Mensch nur aus seiner Geschichte lernen – und einen von der Sklaverei der Vorurteile befreiten, reinen Gedankenraum in Kopf und Herz schaffen. Welch gewagtes Projekt.
Daniel Grimm, Sekretär der Schweizerischen Gesellschaft für Reinraumtechnik
«Wenn wir sagen, dass sowohl innerhalb als auch ausserhalb nichts existiert, erhebt sich die Frage: innerhalb und ausserhalb wovon? Etwas existiert also doch? Oder aber auch nicht. Weshalb sprechen wir also von innerhalb und ausserhalb? Nein, da ist eindeutig eine Sackgasse. Und wir wissen selber nicht, was wir sagen sollen. Auf Wiedersehen. Ende.»
Daniil Charms «Zwischenfälle»
Sammlung Luchterhand, München 2003
CREDITS Veranstalter Bund Bildender Künstler Leipzig BBKL Ausstellung «The world is not enough», Städtisches Kaufhaus Leipzig Kuratoren Christine D. Hölzig, Gabriel Häussler Intervention Kleingartenverein Anger-Crottendorf Anlage II, Leipzig Atelier Kunstkaufhaus Leipzig; Gerda Viecenz Unterkunft Jürgen Strege Fotografie Simon Rübesamen & Nadin Maria Rüfenacht Garten 266 Hermann Walter & Familie Technische Beratung Daniel Grimm Trockenbau René Medick Reinraumreinigung Duvernell profi-con Contamination Control Leipzig Gartenunterhalt Hannes Fechtner; Jasper und Christine Friedrich-Leye; Max und Renate Holzer und Kinder unterstützt von Agentur für Arbeit Leipzig / Büro für Internationale Beziehungen Leipzig; Präsenz Bern, Kulturamt Leipzig; Kulturraum Leipziger Raum / KR – 05; Kultur stiftung Sachsen, KulturStadt Bern; REAL Immobilien GmbH Leipzig; Beat Hugi; Yvonne & Robert Häussler; Pro Helvetia; Kanton Bern
Foto: Nadin Maria R端fenacht & Simon R端besamen
Gartenfreund und guter Geist: Hannes Fechtner vom Garten 267.
K체nstlerbrunch im Kleingarten: Heiner, Christine und Jasper Friedrich-Leye.
Pflanzen, j채ten, schneiden, graben: v.l. Max, Ulrike, Oskar, Renate und Arne Holzer k체mmern sich um den Garten 266.
KĂœNSTLER INTERPRETIEREN LIFETIME EUROPE
Matthias Wyss, Laube Leipzig, Bleistift auf Papier, 2006
Tilo Steireif, Lifetime Europe, Filzstift auf Papier, 2007
Bertram Kober, Lifetime Europe, Fotografie, 2007
DURCHS JAHR IM KLEINGARTEN 266 Wachsen, Bl端hen, Ernten und Vergehen