HRM_2025_01_Performance_Issuu

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Inhalt

Rebecka Heinz erkrankte 2021 an Brustkrebs. Heute unterstützt sie andere Betroffene und Unternehmen im Umgang mit Krebs in der Arbeitswelt.

3 Editorial AKTUELLES

DEBATTE

6 Vertrauen, Integrität, Respekt

Wirtschaftsethiker Professor Andreas Suchanek über die Herausforderungen der deutschen Wirtschaft und die Basis für soziale Nachhaltigkeit.

Von Sabine Schritt

TRENDS

11 Zahlen und Meldungen

IM FOKUS

12 Erschöpft statt erfüllt

Es braucht mehr Sinn und weniger Mikromanagement in den Unternehmen.

Von Charleen Rethmeyer

INSIDE HR

16 Kolumne

HR ist tot – es lebe HR?

Von Emmanuel Siregar

18 Meine Arbeitswelt

Irène Kilubi, Gründerin von Joint Generations.

Von Salome Häbe

IMPULS

20 Hoffnung oder Angst?

Wie Beschäftigte auf eine Zukunft mit KI blicken.

Von Jens Nachtwei

SCHWERPUNKT: Performance

26 Was fördert Leistung?

Der Wille allein reicht nicht. Was Menschen brauchen, um ihre Potenziale zu entfalten.

Von Kathi Preppner

32 Menschen groß machen Führungsexperte

Peter Baumgartner im Interview über Leadership als Schlüsselkompetenz für den Unternehmenserfolg.

Von Sabine Schritt

36 Lebensdienliches Performance Management

Wie Leistung im Sinne der Belegschaft und der Gesellschaft gestaltet werden kann.

Von Antoinette Weibel

40 Kein Selbstläufer

Wie Teams leistungsstark und innovativ zusammenarbeiten können.

Von Petra Walther

Viele Menschen fühlen sich erschöpft und ausgelaugt. Schuld daran sind nicht immer die Aufgaben im Job, sondern die Arbeitsbedingungen. Wie wir gesünder und motivierter arbeiten können.

44 Culture eats Strategy

Unternehmenskultur zwischen Wohlfühlatmosphäre und Produktivitätsdruck.

Von Caroline Schlienkamp

48 Ein Leben mit und nach dem Krebs

Rebecka Heinz im Porträt.

Von Salome Häbe

52 Sicherheit in Krisenzeiten Menschen brauchen in Krisenzeiten Schutz, Bindung und Orientierung.

Von Eva Bock und Tillmann Seidel

56 360-Grad-Feedback Nicht mehr anonym: Über persönliche Feedbackprozesse bei Daimler Truck.

Von Arndt Zeitz 62

Oft missverstanden und als „zu sensibel“ abgestempelt, bergen hochsensible Menschen das Potenzial für eine einfühlsame und kreative Zusammenarbeit.

74 Reingeschaut

Ausgewählte Neuerscheinungen.

76 Rezension

Daniel Goleman: „Emotionale Intelligenz @Work.“

Von Salome Häbe

78 Sieben Gedanken zu Thema Fokus.

Von Anja Förster

RECHT

80 Aktuelle Urteile

Von Pascal Verma

82 Essay

PRAXIS

ANALYSE

58 KI in der Personalarbeit Eine Studie zeigt, welche Aufgaben beim KI-Einsatz bislang auf der Strecke bleiben.

Low Performer und Improver: Wie rechtmäßig ist die Kategorisierung der Leistung?

Von Christoph Seidler und Anna-Lena Otzen

84 Impressum

VERBAND

87 Weichenstellung für die Arbeitswelt: Die Forderungen des BPM an die neue Regierung. 36

Die Wirtschaft schwächelt und die Zukunft ist ungewiss. Ein Perpektivwechsel ist gefragt. Wie Leistung zum Nutzen der Mitarbeitenden und der Gesellschaft wirken kann.

Von Bernd Blessin und Lukas M. Fastenroth

PERSONALARBEIT

62 Verborgene Stärke Hochsensible Menschen verarbeiten Reize anders. Darin liegt eine große Chance.

Von Benjamin Schäfer

66 Dos and Don’ts Für Leistungssteigerung durch Teamevents.

Von Christoph Scheunemann

68 VUCA reicht nicht mehr Für neue Herausforderungen ist das Modell überholt.

Von Simon Berkler

72 Ein Jahr der Entscheidungen Serie zu den HR-Thesen des BPM für das Jahr 2025.

Von Emmanuel Siregar und Frank Kohl-Boas

86 Editorial

LETZTE SEITE

90 Die Anti-Girlboss

Nadia Shehadeh plädiert für mehr Ausruhen auf dem Sofa.

Von Salome Häbe

„Klare Tendenz zu weniger Respekt und Anstand“

In einer Welt, die von rasantem Wandel, steigender Komplexität und zunehmendem Druck geprägt ist, steht auch die deutsche Wirtschaft vor großen Herausforderungen. Gleichzeitig scheint der gesellschaftliche Zusammenhalt abzunehmen. Andreas Suchanek erläutert, wie Vertrauen, Integrität und Respekt als Basis für soziale Nachhaltigkeit dienen können. Gemeinsam in die Zukunft investieren bedeutet für ihn auch, schädigende Handlungen zu unterlassen.

Herr Professor Suchanek, wie ist Ihre Beobachtung als Ethiker zur Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre?

Prof. Dr. Andreas Suchanek: Es ist in den letzten Jahren viel schwieriger geworden zu regieren, weil die Komplexität der Zusammenhänge, der globalen Themen und die Schnelligkeit des globalen Wandels zunehmen und die Ansprüche steigen. Es wird oftmals versucht, auf all die Dinge schnell zu reagieren, was aber manchmal gar nicht im Sinne guter Politik ist. Denn sie soll ja eigentlich Stabilität und Verlässlichkeit sichern. Da hilft es nicht, wenn man immer wieder interventionistisch agiert. Aber der Druck ist heute schon höher als früher. Das macht es schwerer, die Dinge zu beurteilen. Was ich aber als problematisch empfinde in heutiger Zeit, ist, dass die Kritik derart überzogen und respektlos ist. Dies hat mit Feedback nichts mehr zu tun. Anerkennung für das, was geleistet worden ist, finden Sie heute selten. Und das verdirbt die Stimmung.

Die Stimmung scheint nicht nur in Bezug auf das Regierungshandeln

schlecht oder zumindest gespalten, sondern auch im Umgang der Menschen miteinander. Lässt der Umgang alte Tugenden wie Anstand, Fairness und Respekt vermissen? Und müsste die Politik nicht Vorbild sein in der Debattenkultur? Es gibt in meinen Augen eine klare Tendenz zu weniger Respekt und Anstand. Respekt und Anstand meint, im Umgang miteinander gewisse Grenzen anzuerkennen. Das heißt auch immer Begrenzung der eigenen Freiheit, wo ihr Gebrauch sonst andere –oder einen selbst – schädigt. Allerdings wird Selbstbegrenzung oft als Hindernis für Innovation und Change gesehen. Und wenn die Zeiten dann auch noch wie gegenwärtig turbulenter und rauer werden, wird Selbstbegrenzung zur Herausforderung. Denken Sie dabei auch an die sozialen Medien?

„Manche Ideen für mehr Gerechtigkeit sorgen eher für mehr Nicht-Nachhaltigkeit.“

Genau, an Shitstorms und Hatespeech. Weil eben schneller Klicks generiert werden, wenn man auf die anderen schimpft, ganz abgesehen vom Ausleben eigener Emotionen. Zum Teil habe ich den Eindruck, dass auch Erwachsene in den sozialen Medien vergessen, was sie einst als Kinder gelernt haben: dass man respektvoll miteinander umgeht und dem anderen nicht Sachen entgegenschleudert, die man auch selbst nicht hören will. Diese Regel wird weder eingehalten von Menschen, die Hasskommentare äußern, noch von Politikern, die manchmal sogar in der eigenen Partei versuchen, sich auf Kosten anderer zu profilieren. Man kann sich unter Umständen leichter profilieren, indem man andere klein macht, statt sich selbst groß zu machen. Wir haben kürzlich einen Präsidenten Trump erlebt, der das geradezu perfektioniert hat, bis in die Antrittsrede seiner Amtseinführung hinein.

Die Überschreitung von Grenzen kann kurzfristig Vorteile bringen. Oft ist solch ein Erfolg nicht von Dauer. Kurzfristig ist sogar der Dieb erfolgreich, wenn er mir die Brieftasche

Ein Interview von SABINE SCHRITT

klaut, er ist ja dann reicher. Langfristig ist es keine so gute Strategie, weil er hoffentlich ins Gefängnis kommt.

Das Gleiche finden Sie in Wirtschaft und Politik, wo Sie häufig durch kurzfristige unverantwortliche, unanständige Maßnahmen erfolgreich sein können. Es muss nicht immer illegal sein, es reicht ja völlig, dass sie versuchen, den anderen in der Verhandlungssi-

tuation einzuschüchtern oder eben respektlos behandeln. Doch das hat immer Folgen, und viele davon sind schädigend, kostspielig und leidvoll. Trump setzt in der US-Wirtschaft neue Prioritäten. Wird sich die EU mit ihren Prinzipien und Werten auf Dauer dagegen behaupten können?

Prof. Dr. Andreas Suchanek

ist promovierter Volkswirtschaftler und Wirtschaftsethiker. Er ist seit 2009 Inhaber des Dr. Werner Jackstädt-Lehrstuhls für Wirtschafts- und Unternehmensethik an der HHL Leipzig Graduate School of Management. Seine Forschungsschwerpunkte sind Wirtschafts- und Unternehmensethik, Nachhaltigkeit, Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsmanagement. Suchanek ist seit 2005 Mitglied des Vorstands des Wittenberg-Zentrum für Globale Ethik, einem gemeinnützigen Thinktank, der seit 1998 praxisorientiert Wirtschafts-, Unternehmens- und Führungsethik vermittelt. Er ist ist zudem Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Berufsverbands der Compliance Manager.

Das wird sich zeigen. Wir sind ja eigentlich eine Nation, die bereit ist, hart zu arbeiten, die unter anderem sehr gute Ingenieure hervorgebracht hat und die auch eine große Start-up-Szene hat. Und wir haben einen Rechts- und Sozialstaat, der eine großartige institutionelle Infrastruktur liefert und gute Voraussetzungen für Unternehmen schafft. Mir ist aber auch klar, dass da vieles massiv unter Druck geraten ist. Das Hauptproblem ist, diese Infra -

Auf dem Weg zu einem lebensdienlichen Performance Management

Immer häufiger hört man die Forderung: Leistung muss sich wieder lohnen. Doch stellt sich nicht eher die Frage, welche Art von Leistung wir angesichts von Krisen, Umbrüchen und Unsicherheit brauchen und wie diese sich zum Vorteil der Mitarbeitenden und der Gesellschaft gestalten lässt?

Ein Beitrag von ANTOINETTE WEIBEL

Die Sorgen in Deutschland sind spürbar: Die Wirtschaft schwächelt, die Regierung ist zerrissen, die Zukunft scheint ungewisser denn je. Globale Umweltkrisen und der Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts tragen zusätzlich zur allgemeinen Verunsicherung bei. In dieser angespannten Lage fordern viele Wirtschaftsführer eine neue Leistungskultur. Doch was diese Leistung konkret ausmacht und welche Rahmenbedingungen sie fördern, bleibt oft unklar. Stattdessen lassen sich aus Kurzschlussreaktionen – wie dem Rückgriff auf das umstrittene „Forced Ranking“, das gezielt Verlierer und Gewinner eines internen Leistungswettbewerbs erzeugt, oder hitzigen Debatten in sozialen Medien – zwei zentrale Annahmen ableiten: Leistung ist stets messbar und auf einzelne Köpfe zurückführbar. Die Botschaft lautet: Mitarbeitende sollen mit „Fleiß und Anstand“ wieder mehr leisten, wobei sich diese Einzelleistung „wieder lohnen soll“.

Doch ist dieser Ansatz in einer Welt voller Unsicherheiten der richtige? Gerade die aktuellen Herausforderungen könnten dazu anregen, innezuhalten und grundlegende Fragen zu stellen: Welche Art von Leistung benötigen wir, um in dieser neuen, komplexen Realität zu bestehen? Und wie schaffen wir es, Leistung in Organisationen so zu gestalten, dass sie nicht nur dem Unternehmen dient, sondern auch zur gesellschaftlichen Resilienz beiträgt? Ein zeitgemäßes Performance Management erfordert nicht nur neue Tools

und Prozesse, sondern vor allem einen Perspektivwechsel. Und dieser hängt entscheidend davon ab, welches zugrunde liegende Organisationsmodell und welche Ideologie das Denken und Handeln eines Unternehmens prägt.

Vorherrschende Leistungslogiken: die Maschine und der Organismus

Ein zeitgemäßes Performance Management erfordert nicht nur neue Tools und Prozesse, sondern vor allem einen Perspektivwechsel.

Aktuell konkurrieren zwei Überzeugungen wie Unternehmen gelenkt werden sollen. Beide Ansätze konzeptualisieren Leistung unterschiedlich. Zum einen gibt es das noch stark verbreitete „Maschinenmodell“, welches traditionell und recht bürokratisch daherkommt. Organisationen in diesem Modell wähnen sich in einer stabilen Welt, die Planbarkeit ermöglicht, um auch schwere Tanker auf das Ziel der Gewinnmaximierung einzuschwören. Hier regiert eine strikte Hierarchie, Prozesse sind standardisiert, Kontrolle ist zentralisiert, und Menschen werden als Zahnräder in einem großen, präzise arbeitenden System betrachtet. Wer leistet, tut, was gefordert ist, und erledigt dies effizient. Gefördert wird diese individuelle Leistung durch formale Qualifikationen und extrinsische Anreize wie Beförderung, Arbeitsplatzsicherheit – aber auch die Angst vor Sanktionen treibt an. Skaliert wird diese Leistung durch feste Regeln und klar definierte Rollen, die wenig individuellen Spielraum zulassen. Die Gesamtleistung ergibt sich vor allem durch die Addition der Einzelleistungen.

Leistungsmanagement soll Lernen und persönliche Entwicklung ermöglichen.

Im Gegensatz dazu setzen agile Unternehmen auf das „organische Modell“. Organisationen in diesem Modell sehen sich als komplexe, adaptive Systeme, die auf ständige Anpassung, Kreativität und marktorientierte Innovation ausgelegt sind. Agile Methoden, kurze Produktzyklen, kreative Diversität und interdisziplinäre Teams sind die dominierenden Merkmale der Zusammenarbeit. Auch diese Unternehmen zielen in erster Linie auf den Shareholder Value ab, welcher in diesem Modell vermehrt durch Wachstum und Marktanteilssteigerung vergrößert werden soll. Mitarbeitende werden nicht mehr als Zahnräder, sondern als „Humankapital“ betrachtet: Sie sind hoch individualistisch, wettbewerbsorientiert und motiviert, in einem meritokratisch-unternehmerischen Umfeld zu „gewinnen“. Leistung bleibt individuell und wird in diesem Modell durch Geschwindigkeit, Innovation und marktorientierte Metriken definiert. Außerdem wird sie incentiviert durch Autonomie, persönliche Entwicklung, Boni und allerlei Vergünstigungen (Perks) wie moderne Büros, Fitnessangebote oder Wellbeing-Programme. Um diese Leistung zu skalieren, arbeitet man mit ambitionierten Zielen (Big Hairy Audacious Goal (BHAG)), flachen Hierarchien, mikro-unternehmerischen Strukturen und internem Wettbewerb.

Die unerwünschten Konsequenzen beider Modelle

Beide Modelle stehen exemplarisch für unterschiedliche Philosophien des Performance Managements. Während das Maschinenmodell auf Kontrolle, Standardisierung und

extrinsische Anreize setzt, fördert das organische Modell Dynamik, Eigenverantwortung und Flexibilität. Beide Ansätze haben ihre Vorzüge, offenbaren jedoch auch erhebliche Schwächen. Das Maschinenmodell kann Kreativität und Anpassungsfähigkeit ersticken – ein Blick nach Wolfsburg zu VW verdeutlicht dies aktuell eindrucksvoll. Das organische Modell hingegen geht häufig zulasten von Stabilität, Zusammenhalt und individueller Gesundheit. Zudem führt der Leistungsdruck nicht selten zu unethischem Verhalten. Wie schnell ein solches System in den Abgrund geraten kann, zeigt eindrücklich das Beispiel verschiedener Bankenpleiten, etwa die jüngste der Credit Suisse, die bis zu ihrer Auflösung von einem Skandal in den nächsten taumelte.

Zudem stellen Umfragen beiden Varianten des Performance Managements ein schlechtes Zeugnis aus. Laut dem Portal srhrm.org halten gemäß einer Gallup-Befragung aus dem Jahr 2023 95 Prozent der befragten Manager Leistungsbeurteilungen, die als Kernstück des Performance Managements gelten, für unzureichend. Demnach empfand nur eine kleine Minderheit der Mitarbeitenden Leistungsgespräche als lehrreich und inspirierend. Wiederkehrende Studien des Beratungsunternehmens Gartner bestätigen zudem, dass weniger als 20 Prozent der HR-Manager die Performance-Management-Systeme ihrer Unternehmen als effektiv einschätzen.

Dieser ernüchternde Blick spiegelt sich auch in wissenschaftlichen Befunden zu den einzelnen Leistungsmanagementpraktiken wider. Zunächst zur Zielsetzung: Die Forschung von Lisa Ordóñez zeigt, dass SMART-Ziele –obwohl sie spezifisch und fokussiert sind – oft Kreativität und Achtsamkeit vernachlässigen. Der Druck durch ehrgeizige Zielvorgaben kann zu emotionaler Erschöpfung führen, welche in Gaming oder kleinen bis hin zu großen Manipulationsversuchen mündet. Modernere Ansätze wie OKRs oder FAST-Ziele, die vermeintlich agiler wirken, tragen dieselben Probleme in sich. Der Drang, immer ehrgeizigere und schnellere Ziele zu setzen, verschärft vermutlich sogar die Herausforderungen, anstatt sie zu lösen. Beim Feedback sieht es ähnlich kritisch aus: Carol Sanford und Marcus Buckingham fordern – recht medienwirksam – ein Ende des klassischen Leistungsfeedbacks: ihre Meta-Analysen belegen, dass evaluatives Feedback in der Tat nicht so effektiv wie gewünscht ist. Laut Ethan Bernstein können technologiegestützte Methoden wie tägliche Pulsabfragen oder Feedback-Apps sogar kontraproduktiv sein, da

„Es ist alles total egal, außer leben“

Rebecka Heinz erkrankte 2021 an Brustkrebs. Noch während der Chemotherapie rief sie das Projekt Eine von acht ins Leben und unterstützt seither andere Betroffene und Unternehmen im Umgang mit Krebs in der Arbeitswelt.

Ein Porträt von SALOME HÄBE
Foto: Monique Wüstenhagen

Rebecka Heinz ist Managerin, Strategieberaterin, Kommunikationsexpertin, zertifizierte Businesscoachin und Mediatorin mit Zusatzausbildungen in Karriereberatung, Potenzialanalyse, Personality Profiling und hypnotherapeutischer Kommunikation. Sie war in leitender Position in der Musikindustrie tätig und betreute für den BVMI die Verleihung und TV-Produktion des Deutschen Musikpreises. Im Jahr 2021 wurde bei ihr Brustkrebs diagnostiziert und sie begann sich mit dem Thema Krebs im beruflichen Kontext auseinanderzusetzen. 2022 gründete sie ehrenamtlich das Projekt Eine von acht, seit 2024 widmet sie sich auch hauptberuflich dem Thema „Arbeiten mit und nach Krebs“.

Ein kalter Novembertag in Berlin-Mitte. Münzstraße. Eine Boutique reiht sich an die nächste. Passantinnen und Touristen kämpfen um den letzten Platz in der Tram. Der Geruch von Kaffee und Regen liegt in der Luft. Nur wenige Meter von der belebten Straße wartet Rebecka Heinz in einem ruhigen Café im Innenhof eines Berliner Altbaus auf mich. Durch eine Glasfensterfront winkt sie und lächelt. Im Inneren des Cafés schmücken blaukarierte Fliesen die Wände. Meine Gesprächspartnerin bestellt sich einen Cappuccino mit Hafermilch und ein Müsli mit Bienenpollen und wundert sich. „Das höre ich auch zum ersten Mal“, sagt sie, lacht und beginnt zu erzählen.

Nie Stillstand

Anfang 2019 beendet Rebecka Heinz ihre Stelle als Geschäftsführerin des Deutschen Musikpreises beim Bundesverband Musikindustrie. Sie will sich selbstständig machen. Doch bevor es mit der Arbeit losgeht, zieht es sie hinaus in die Welt. Sie fliegt nach Marokko, bereist mit ihrem Hund und ihrem Auto Frankreich, Spanien und Italien. Dabei sucht sie sich immer Unterkünfte, die „so schön sind, dass man am liebsten sofort einziehen würde“.

Ihr Leben steht nie still. Heinz ist voller Energie. „Wenn etwas nicht funktioniert, finde ich eine Lösung“, so ihr Credo. Ihre freie Zeit verbringt sie gerne mit Freundinnen, Freunden und Familie. Sie wohnt in einer ruhigen Gegend in Berlin, die Mischung aus Stadt und Natur gibt ihr Energie. „Mir ist es wichtig, immer eine Balance zu haben. Gerade weil ich ein sehr sprudelnder Mensch bin, brauche ich meine Ruheräume.“

Auch anderen Menschen beschert

Heinz gerne das Gefühl der Balance: „Ich habe ein sehr gutes Gespür für Menschen und eine große Offenheit und emotionale Stabilität in mir.“

Im Dezember 2019 gibt sie die Selbstständigkeit offiziell bekannt, im Januar 2020 nimmt sie die ersten Aufträge entgegen. Sie berät Unternehmen bei Veranstaltungsprojekten. Noch im gleichen Jahr macht ihr die Coronapandemie, wie vielen anderen, einen Strich durch die Rechnung. Heinz ist schwanger und im Mutterschutz. Da Präsenzveranstaltungen wegfallen, wird auch ihr Geschäftsmodell vorerst auf Eis gelegt. Ihr steht wenig Geld zur Verfügung. Doch sie bleibt positiv. Zeit im Wald erdet sie, Laufen und Yoga helfen. Eigentlich fühlt sie sich trotz Schwangerschaft so fit und ausgeglichen wie lange nicht mehr. Wenn sie heute Fotos aus der Zeit sieht, stellt sie sich oft die Frage, ob sie damals irgendwelche Zeichen übersehen hat – Veränderungen an ihrem Aussehen, die darauf hindeuten würden, dass sie zu dem Zeitpunkt eigentlich schon sehr krank war. Mit dem Frühling kommt im Mai 2020 auch ihre Tochter auf die Welt. Ein neues Kapitel beginnt. Auch ihre Arbeit stimmt sie darauf ab – Heinz berät von nun an Unternehmen bei Kommunikationsprojekten. Um Kind und Karriere zu vereinbaren, arbeitet sie von zu Hause aus. Im August 2021 beginnt die Eingewöhnung bei der Tagesmutter. Stolz verkündet sie ihren Klientinnen und Klienten: „Ab jetzt kann ich zu normalen Zeiten arbeiten.“

Die Diagnose

Im Herbst 2021, beim Abstillen, bemerkt sie vermeintliche Milchreste, die einfach nicht verschwinden wollen. Drei Tage später findet sie sich bei der Frauenärztin wieder und sieht im Ultraschall zum ersten Mal den „großen schwarzen Fleck“ auf einem Monitor.

Ihre Frauenärztin schlägt Alarm. Verweist sie in die Radiologie. Heinz bekommt noch für den darauffolgenden Montag einen Termin. Eine Gewebeprobe wird entnommen. Bei der Untersuchung wird ihr versichert, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Es handele sich um ein Fibroadenom. Das sei nur eine gutartige Verklebung. Abends geht sie mit ihrer Familie Sushi essen. „Ich sehe uns da noch immer im Restaurant sitzen, wie wir uns alle dachten: Okay, noch mal Glück gehabt.“ Als das Ergebnis freitags noch nicht eingetroffen ist, ruft Heinz bei der Frauenärztin an, dann in der Radiologie – lässt sich sogar die Nummer vom Labor geben. „Im Labor meinten sie dann, es musste noch mal etwas immunhistologisch nachuntersucht werden. Da wusste ich: Das klingt nicht mehr ganz so cool.“

„Gerade weil ich ein sehr sprudelnder Mensch bin, brauche ich meine Ruheräume.“

18. Oktober 2021. Heinz telefoniert die gleiche Reihenfolge ab – ihr lösungsbasierter Ansatz zieht sich durch ihr Leben wie ein roter Faden. Am Nachmittag kommt der Anruf ihrer Frauenärztin: „Frau Heinz, sitzen Sie?“ Sie erfährt zum ersten Mal von ihrer Brustkrebsdiagnose. Die Kurzschlussreaktion? Geheimhalten! Bloß niemand soll von dem Brustkrebs erfahren: Familie,

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