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Stigmatisierung und Identitätsarbeit – Das Programm „In Würde zu sich stehen“ Matthias Pauge, Madeleine Neubauer
Stigmatisierung und Identitätsarbeit
Das Programm „In Würde zu sich stehen“
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Matthias Pauge, Madeleine Neubauer
Schon im Untertitel der Studie „Stigma – Techniken der Bewältigung beschädigter Identität“ des Soziologen Ervin Goffman wird die Problematik deutlich, mit der die stigmatisierte Person zu kämpfen hat. Das Stigma schädigt das Selbstverständnis einer Person, sie muss fortan um ihre Identität ringen. Das Stigma, so Goffman, drängt sich auf als ein unverbesserlicher Makel, welcher den Betroffenen unfreiwillig in eine soziale Position rückt und für diesen einen veränderten sozialen Status bedeutet.
Durch seine Stigmatisierung ist der oder die Betroffene gezwungen, Identitätsarbeit (Abels, 2017) zu leisten, die sich von denen der Nicht-Stigmatisierten unterscheidet. Der Betroff ene muss sich fragen, wie er den Umgang gestaltet: Isolation, Off enlegen, Verheimlichen, Vertuschen. Doch all diese Aspekte führen a priori zu Konfl ikten mit der eigenen Identität (Engelhardt, 2010). Denn der Betroff ene wird sich darüber gewahr, dass sich die Einstellungen der anderen ihm gegenüber wegen seines Stigmas verändern oder verändert haben (Goff man, 2012; Pauge, Steff en Schulz & Löhr, 2018). Ihm werden letztlich die Mittel zur Selbstrepräsentation genommen (Goff man, 1972).
Die Identität bzw. Ich-Identität ist nach Erikson (1979) die Vorstellung, die ein Mensch von sich im sozialen Vergleich entwickelt. Sie ist quasi das Fazit aus inneren und äußeren Einfl ussfaktoren, die er je nach Möglichkeiten ausbalanciert, um sich sodann folgerichtig im Umgang mit anderen Menschen zu präsentieren. Wird er sich mit den anderen Menschen über seine Identität einig, ist das Selbstgefühl kohärent (Straub, 1998). Das Stigma hingegen führt zu Konfl ikten, es gibt keine Einigkeit. Eine Person, die das Stigma „psychische Erkrankung“ erhält, kommt immer wieder in konfl ikthafte Situationen, da die Umwelt eine indiff erente Vorstellung über die Identität der Person entwickelt (Abels, 2010). Besonders kompliziert ist es für die betroff ene Person, weil das Stigma „psychische Erkrankung“ unsichtbar ist. Bis zu einem gewissen Zeitpunkt kann die Person ihren Makel steuern. Der Makel führt aber irgendwann zu unweigerlichen Korrekturen ausgehend von der sozialen Umwelt. Die drohende Stigmatisierung macht Angst, weil der Betroff ene weiß, dass er nicht mehr der Alte sein kann (Engelhardt, 2010).
Das Stigma „psychische Erkrankung“ ist noch immer eines der stärksten Stigmata und führt auf verschiedenen Ebenen zu Diskriminierung, Ausgrenzung und Ablehnung (Angermeyer, Matschinger, Link & Schomerus, 2014). Durch die „Stigma-Power“ (Phelan & Link, 2013) werden Ablehnung und die damit verbundenen Konsequenzen gesellschaftlich legitimiert. Ohne Frage sind negative Einstellungen, entsprechende Stereotype und Vorurteile weit verbreitet (Angermeyer, Matschinger & Schomerus, 2013; Schomerus, Matschinger & Angermeyer, 2014). Gesellschaftliche Stereotype und Vorurteile über psychische Erkrankungen haben den zusätzlichen Eff ekt, dass der Betroff ene diesen selbst Glauben schenken kann. Wenn er die Vorstellungen verinnerlicht hat, denkt er selbst negativ über psychisch erkrankte Menschen. Daraus entwickeln sich Angst und Scham; der Betroff ene büßt an Selbstwirksamkeit ein, wird sich seiner Fähigkeiten unsicher (Corrigan, Larson & Rüsch, 2009). Die Zweifel an den eigenen Fähigkeiten und die Selbstabwertung wird Selbststigmatisierung genannt. Der Erkrankte integriert diese in seine Identität, wodurch sie zugleich die Wahrnehmung eben jener Identität prägt.
Seine Identität zu bewahren und zu beschützen ist ein tiefgreifendes Bedürfnis und darf besonders in der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen, die sich ihrer selbst ohnehin schon unsicher sein könnten, nicht übersehen werden. Stigmatisierung und Selbststigmatisierung stellen dabei Herausforderungen dar, die viel zu oft unterschätzt
werden und daher einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Das Programm „In Würde zu sich stehen“ (nachfolgend IWS genannt) bietet für die Betroff enen die Möglichkeit, ihre Identitätsarbeit souverän zu gestalten und sich der Stigmatisierung ein Stück weit entziehen zu können.
Das Programm „In Würde zu sich stehen“
Mit dem IWS legen Nicolas Rüsch und Nadja Puschner (2019) eine adaptierte und ins Deutsche übersetzte Version des US-amerikanischen Anti-Stigma-Coaching-Programms „Honest, Open, Proud“ (Corrigan, Kosyluk & Rüsch, 2013) vor. Das Programm soll Menschen mit einer psychischen Erkrankung befähigen, ihr Coming-out konzeptuell zu planen. Grundsätzlich ist hier festzuhalten, dass sich das Programm an Menschen richtet, die eine eigene Position zum Umgang mit der durch die Diagnose veränderten Lebenssituation fi nden möchten.
Das Programm wird in vier Modulen angeboten, die zeitlich individuell an die Fähigkeiten der Teilnehmenden angepasst werden. Drei der Module fi nden zusammenhängend und in unmittelbaren zeitlich geregelten Abständen statt. Wobei das letzte Modul zur Refl exion dient und einige Wochen später stattfi nden sollte. An den Sitzungen nehmen üblicherweise vier bis acht Teilnehmende und ein bis zwei Leiterinnen oder Leiter teil. Letztere sollen vorzugsweise Peers sein.
Der Kern des Programms ist ein umfassendes Arbeitsbuch, welches didaktisch-methodisch durch das Thema führt. Das Arbeitsbuch umfasst vier Lektionen, die jeweils als ein Modul geplant werden können.
In der ersten Lektion beschäftigen sich die Teilnehmenden mit dem Verhältnis zu ihrer Erkrankung. Dabei wird die Selbststigmatisierung refl ektiert. Die Lektion schließt mit dem Sondieren und Abwägen von kurz- und langfristigen Vor- und Nachteilen für die Off enlegung. Hier sollen die Teilnehmenden das Ziel und die Erwartungen für ihr Coming-out bedenken. Gerahmt wird dies durch die Überlegung, in welchem sozialen Umfeld (Familie, Job, Freunde, Sportverein) und vor welchen Personen die Offenlegung geschehen soll.
Die zweite Lektion thematisiert die Möglichkeiten, Strategien und Auswirkungen von Off enlegungen. So beginnt die Lektion mit der Darstellung von fünf Stufen der Off enlegung, die hierarchisch von absoluter Geheimhaltung bis hin zu aktiver Verbreitung der Erfahrung gegliedert sind. Die Teilnehmenden sollen je nach sozialem Umfeld überlegen, inwieweit eine Off enlegung für sie in Frage kommt. Dementsprechend lernen sie Strategien kennen, die helfen, Personen und deren Reaktionen einschätzen zu können.
Die dritte Lektion konkretisiert die Off enlegung der Erkrankung. Dafür werden Strategien (Aufb au und Erzählen einer eigenen Geschichte) vermittelt, die die Off enlegung erleichtern sollen. Die Lektion endet mit einer Refl exion des Programms und mit der grundsätzlichen Frage, ob sich eine Person für die Off enlegung entscheidet oder ihre Lebenssituation gar neu bewertet.
Die letzte Lektion wird etwa einen Monat später durchgeführt. Hier geht es vor allem darum, die Erfahrungen mit dem Programm zu refl ektieren. Die Teilnehmenden sollen überlegen, ob sich Ziele, Erwartungen, Vor- und Nachteile bewahrheitet haben oder ob sie zu einer veränderten Einschätzung gekommen sind.
Die Teilnehmenden setzen sich in jeder Lektion immer wieder mit praktischen Beispielen auseinander, um auf diese Weise ein besseres Verständnis über Stigmatisierung, Formen, Folgen und eigene Möglichkeiten zu gewinnen. Über die Fremdbeispiele können sie Analogien zu sich selbst oder Bekannten herstellen und das Abwägen lernen. Immer wieder folgen auf die einzelnen Aufgaben Diskussionen in Kleingruppen oder ein durch die Leitung moderierter Austausch in der Großgruppe. Dadurch gibt es regelmäßig Raum für Erfahrungsaustausch.
Erfahrungen mit IWS
In den folgenden Abschnitten besprechen wir IWS auf Basis eines selbst durchgeführten Workshops mit einer Gruppe von psychisch erkrankten Menschen. Weiterführende Anmerkungen über das Programm werden ebenso ihre Erwähnung fi nden. Der Workshop wurde in Zusammenarbeit mit einer Genesungsbegleiterin und einem Professionellen durchgeführt. Planung, Durchführung und Evaluation der einzelnen Module wurden gemeinsam unternommen. Die Eindrücke stellen wir separat dar.
Genesungsbegleiterinnen-Perspektive
IWS ist ein praktisches Manual, das Menschen, die von psychischer Erkrankung betroff en sind, früh nach der Stabilisierungsphase zugänglich gemacht werden sollte – jedoch nicht in Akut- oder Krisenzuständen. Geht man von einer Stunde pro Woche (wie es bei den meisten Angeboten üblich ist) mit anschließendem Refl exionsmodul aus, ist es eher nicht in der Kurzzeittherapie anzusiedeln, obwohl das Manual insgesamt als kompakt zu bezeichnen ist.
Von dem Wissen profi tieren können Peer-Berater, Anbieter des Ambulant-Betreuten-Wohnens, Leiter von Selbsthilfegruppen und anderen psychosozialen Einrichtungen. Längere Settings könnten dies im Gruppenkontext nutzen, besonders mit Bezug auf die Arbeitswelt. Denn durch IWS kann die Persönlichkeitsarbeit neu ausgerichtet werden. Zudem kann das Programm in Selbsthilfegruppen angewandt werden. Auch Therapeuten könnten davon profi tieren. Darüber hinaus halten wir es für sinnvoll, wenn bereits Erfahrungen mit oder Grundsätze von Achtsamkeit vorhanden sind.
Der Gruppenkontext ist so essentiell, weil er es den Teilnehmenden ermöglicht, einen Wiedererkennungswert und ein Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe zu erfahren. Bereits gemachte Erfahrungswerte der Teilnehmenden, die die Module füllen, werden um das Wissen des jeweils
anderen erweitert und damit vielleicht zu einer Hilfestellung für die jeweiligen Belange. Es wird ein Raum geboten, in dem die Teilnehmenden eine erste bzw. neue Kultur der Konversation und der Diskussion erfahren und untereinander anwenden können.
Ein großer Vorteil ist, dass das ganze Manual bewertungsfrei anzuwenden ist. Es dient nicht als Auff orderung zur Off enlegung, sondern dazu, eine eigene Position zur Off enlegung zu fi nden. Des Weiteren wird erarbeitet, wie die Off enlegung der Erkrankung geplant werden kann und welche Schritte dabei behilfl ich sein könnten. Durch klare Strukturen – etwa die Verhaltensregeln der wertfreien Kommunikation und das Fernhalten von Bewertungen – kann ein sicherer Raum für die Teilnehmenden entstehen, um eben solch einer Auseinandersetzung konstruktiv begegnen zu können.
Je mehr Zeit für die Module zur Verfügung steht, desto mehr bietet das Manual Anpassungsfreiheit. Bei mehr Zeit können individuelle Belange intensiver durch die Gruppe behandelt werden. Es können dann Instrumente wie Gruppenarbeit genutzt werden, um eventuelle Verständnisprobleme zu beheben.
Das erste Modul ermöglicht es den Teilnehmenden, eine neutrale Position zum Thema einnehmen zu können, ihre subjektiven Erfahrungen nutzbar zu machen und ihren Erfahrungen Bedeutung und Sinn zu verleihen. Sie haben die Wahl, welche Sicht sie auf ihre Erkrankung einnehmen und wie sie diese mittels freier Wortwahl transportieren wollen.
Auf meinem jetzigen Stand des Genesungsweges ist ADHS die beste psychische Diagnose, die man erhalten kann, wenn man gelernt hat, damit umzugehen. Man kann Menschen durch eine diff erenzierte Auff assungsgabe immer wieder verblüff en. Diese Art der Sicht bedenkenlos einnehmen zu können, eröff net den Teilnehmenden eine persönliche Freiheit. Was je nach Persönlichkeit früher oder später zu einem Vertrauen in sich selbst führt. Das kann das Leben in und mit der Gesellschaft ermöglichen. Für das erste Modul sollte daher ausreichend Zeit vorgesehen werden.
IWS zeigt unersetzbare Methoden, die alltagstauglich und auf viele Bereiche übertragbar sind. Es kann dargestellt werden, ob die Teilnehmenden der Selbststigmatisierung unterliegen und mit Bewältigungsstrategien Erfahrung haben.
Eine Möglichkeit zum Umgang mit Selbststigma und dessen Umkehrung können die Teilnehmenden in einem zusätzlichen Modul erhalten, welches aber von ihnen eingefordert, nicht nur frei gewählt werden kann, was wir als besonders sinnvoll erachten. Das hat den wunderbaren Nebeneff ekt, neues Selbstbewusstsein in Folge eigener Selbstbehauptung hervorzurufen bzw. stärken zu können. Verschiedene Perspektivmöglichkeiten mit Einbeziehung von zeitlichen Faktoren werden als Hilfsmittel an die Hand gegeben, um einen möglichst großen Überblick für die Teilnehmenden zu eröff nen. Dies wirkt der Ungewissheit entgegen, die oft für innere Unruhe und Spannungszustände sorgt. Ebenfalls sollte dieses Wissen, wenn auch in abgewandelter Form, allen Menschen im sozialen Be-
reich zugänglich gemacht werden bzw. ein Bewusstsein dafür geschaff en werden, weil sich Betroff ene so vielleicht früher aus einer möglichen Taktik der Geheimhaltung herauswagen können.
Professionellen-Perspektive
In modifi zierter Form kann IWS auch für die Schulung von Psychiatrie-Professionellen eingesetzt werden. Dabei ist natürlich die Zusammenarbeit mit geschulten Peers absolut notwendig, um sich hinsichtlich des Umgangs mit Stigmatisierung zu sensibilisieren. Einzelne Punkte des IWSProgramms, wie die Einschätzung des eigenen sozialen Umfeldes bezüglich der Abwägung von Vor- und Nachteilen einer Off enlegung, können in Beratungssituationen ihre Anwendung fi nden. Natürlich würde dann die Komponente des Austausches mit anderen Betroff enen fehlen.
Unseres Erachtens sollte die Auseinandersetzung mit Stigmatisierung Bestandteil jeder Ausbildung und einschlägiger Studiengänge sein. Darüber hinaus müssen Fort- und Weiterbildungen implementiert werden, die die Mitarbeitenden dahingehend sensibilisieren. Peers und IWS-geschulte Coaches können dabei ihre Erfahrungen und Handlungsanleitungen vermitteln, von denen alle Berufsgruppen mit großer Sicherheit profi tieren.
Studierte psychiatrische Pfl egekräfte sollten Stigmatisierung im Arbeitsalltag vermehrt zum Thema machen und IWS als konkrete Handlungsmöglichkeit anbieten. Unseres Erachtens trägt dies zur Stärkung der eigenen Profession bei. Die Kompetenz als „Stigma-“ bzw. „IWSCoach“ defi niert einen Bereich, der sich als genuin pfl egerisches Handlungsfeld verstehen kann. Durch eine generelle Sensibilisierung für Stigmatisierung werden alltägliche psychosoziale Belastungen in das Blickfeld pfl egerischen Handelns gerückt. IWS bietet einen konzeptuellen Ansatz für den Alltag.
Zu überlegen wäre, wo und wie IWS als feststehendes Angebot integriert werden kann. Für Krankenhausbehandlungen ist IWS sicher nicht geeignet, da die Durchführung anspruchsvoll und die Off enlegung der Krankheit mit Druck verbunden ist. Dennoch sollten unabhängig davon Gespräche über Stigmatisierung stattfi nden, die auf die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt vorbereiten. IWS sollte unseres Erachtens für die Zeit nach dem Krankenhausaufenthalt angeboten werden. Erste konkrete Erfahrungen mit Stigmatisierung und die Fragen nach dem Umgang ergeben sich erst wieder im Alltag. Noch unklar ist, ob die Angehörigen der Betroff enen auch geschult werden könnten, da Stigmatisierung auch für sie ein Problem darstellt.
IWS kann in stationären oder ambulanten Wohnformen angewendet werden. In den Lebensbereichen der Betroffenen stellt sich mitunter häufi ger die Frage des Umgangs mit der eigenen Stigmatisierung. So können Mitarbeitende mit Anbieterlogos auf Dienstwagen oder in Gesprächen mit Nachbarn unfreiwillig auf die Erkrankung aufmerksam machen. Für Stigmatisierung sensibilisierte Betreute und Mitarbeitende können vor Ort überlegen, wie der Umgang gestaltet werden kann.
Fazit
Insgesamt bewerten wir das IWS-Programm als hilfreich und sind der Überzeugung, dass dies einen festen Bestandteil in psychiatrischen Settings haben sollte. Es unterstützt Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose in Zeiten der Unsicherheit und bietet bei Identitätskonfl ikten Orientierung, besonders durch den Austausch mit anderen. Doch der Austausch über Stigmatisierung setzt das Bewusstsein bzw. das Wissen voraus, dass man von Stigmatisierung betroff en ist. IWS initiiert diesen Austausch. Es hilft bei der Artikulation eines Problems, das vorher möglicherweise gar nicht als Aufgabe erkannt wurde oder eben schwer zu beschreiben war. Deswegen sind wir der Überzeugung, dass der erste Teil des Programms mehr Raum für das Verständnis von und Austausch über Stigmatisierung geben sollte. Betroff ene, die mit dem Konzept vertraut sind, sind dabei eine Bereicherung. Die Teilnehmenden erhalten den Raum, sich über ihre konkreten Stigma-Erfahrungen auszutauschen und diese gemeinsam zu refl ektieren. Dafür sollte mehr Zeit eingeräumt werden, da die Probleme mit Stigmatisierung in der allgemeinen Krankenbehandlung weniger thematisiert werden.
Darüber hinaus wird deutlich, wie enorm wichtig die Auseinandersetzung mit dem Stigma „psychische Erkrankung“ ist. Nicht nur für Betroff ene selbst, die verstehen sollten, welche Implikationen die Diagnose in Form ihrer Zuschreibung mitbringen kann (Leferink, 1997). Erst das Verstehen macht einen entsprechenden Umgang damit möglich, der sich schließlich in der Alltagspraxis wiederfi nden kann. Auch Professionelle müssen mehr in die Verantwortung genommen werden, damit sie Stigmatisierung nicht mehr als Bagatelle abtun, sondern diese als tiefgreifende Erschütterung und einen möglichen Sinnverlust wahrnehmen, der zu Desorientierung und Angst führen kann. Aufk lärung und Beratung sollten an dieser Stelle selbstverständlich sein. IWS ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung.
Literatur
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Matthias Pauge
Heilerziehungspfl eger, Sozialwissenschaftler (M. A.), Pfl egeexperte
matthias.pauge@rub.de
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