9 minute read

Versorgungsrealität und Möglichkeiten zur Psychosentherapie – Ein Widerspruch? Yvonne Wiesner

Versorgungsrealität und Mö glichkeiten zur Psychosentherapie

Ein Widerspruch?

Advertisement

Yvonne Wiesner

Seelische Krisen und psychische Erkrankungen haben laut allgemein verbreitetem wissenschaftlichem Verständnis ihren Ursprung in einem Komplex biologischer, psychologischer sowie sozialer Faktoren. Sie entstehen immer auch aus Lebensgeschichten. Psychische Erkrankungen sind zutiefst menschlich. Wenn Menschen erstmalig schizophren erkranken, wird nach wie vor in Kliniken, psychiatrischen Praxen oder der Fachliteratur vermittelt, dass die Erkrankung nicht heilbar sei, lebenslange Medikamenteneinnahme unerlässlich, und sie gegebenenfalls mit Symptomen leben müssen.

„Jeder Mensch braucht ein gesundes Bild von sich selbst, um den Mut zur Veränderung entwickeln zu können.“ (Brigitte Bremer)

Gerade bei Menschen mit Psychosen und komplexen psychischen Störungen ist eine bedürfnisangepasste und sektorenübergreifende systematische Zusammenarbeit verschiedener Professionen und Disziplinen unerlässlich. Die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen ist gut belegt, so dass eine psychotherapeutische Behandlung fester Bestandteil der multiprofessionellen Komplexbehandlung bei Menschen mit psychotischen Erkrankungen sein sollte. Leider ist die Versorgungsrealität davon immer noch weit entfernt.

Viele Betroff ene ringen damit, sich nicht nur mit den negativen Aspekten der Erkrankung zu befassen, sondern sind auch auf der Suche nach deren Sinn. Sie sind lernbereit und werden zunehmend mutiger, auch im Umgang mit psychischen Krisen. Die Auseinandersetzung mit sich selbst im Kontext der Erkrankung lässt Betroff ene zu Expert_innen ihrer Erkrankung werden.

Seit nunmehr bald 30 Jahren bin ich im Arbeitsfeld Psychiatrie tätig, wobei mir Menschen mit Psychosen in sämtlichen Facetten begegnet sind. Nach wie vor begegnen mir Menschen aller Altersklassen, unterschiedlicher Herkunft und mit einem bunten Mix verschiedenster Erscheinungsbilder einer Psychose. Mal mehr, mal weniger ausgeprägt und sichtbar ist die Symptomatik für das soziale Umfeld. Mir begegnen auch Menschen, die durch die Psychose extrem beeinträchtigt und belastet waren oder sie auch mal entlastend oder sogar als wünschenswerte Bereicherung erlebten.

Durch den Artikel „Psychotherapie für Menschen mit Psychosen“ (von Haebler & Becker, 2016) wurde ich auf einen Studiengang aufmerksam, welcher Themen und Ansätze beinhaltet, die mich seit Jahren im Rahmen meiner Tätigkeiten mit Menschen mit Psychosen beschäftigen:

Gerade bei Menschen mit Psychosen ist der Bedarf an psychotherapeutischer Begleitung im Rahmen einer multiprofessionellen Komplexbehandlung hoch. Dennoch liegt der Anteil der Menschen mit schizophrenen und aff ektiven Psychosen in der Richtlinienpsychotherapie bei weniger als einem Prozent! Das heißt, die am schwersten erkrankten Menschen sind zugleich diejenigen, die am schlechtesten therapeutisch versorgt werden. So etwas gibt es in keiner anderen medizinischen Disziplin.

Nicht jeder, der therapeutische Hilfe benötigt, erhält bei der derzeitigen Versorgungslage automatisch Zugang zu entsprechenden qualifi zierten Therapieangeboten. Natürlich sind ausreichende Versorgungsstrukturen vorhanden. Kein Mensch muss unbehandelt oder unversorgt bleiben. Was aber macht ein individuelles psychiatrischpsycho therapeutisches Handeln und die zugehörige Haltung aus?

Selbst bei der Etablierung eines Helfersystems mangelt es oftmals an Vernetzung und Kommunikation, so dass wichtige Ressourcen nicht genutzt werden (können), um patientenorientiert, kooperativ und kompetent zu handeln.

Seit 2013 wird der berufsbegleitende Masterstudiengang „Interdisziplinäre Psychosentherapie – multiprofessionelle Arbeit für Menschen mit Psychosen“ von der International Psychoanalytic University Berlin (IPU) in Zusammen arbeit mit drei weiteren Hochschulen (Charité Berlin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin) angeboten, der sich an berufserfahrene Pfl egende aus der psychia trischen Versorgung, Sozialarbeiter_innen, Psy-

cholog_innen, Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige anderer Professionen mit einem ersten Hochschulabschluss, inzwischen auch bei ausreichender Qualifi kation ohne ersten Hochschulabschluss, richtet.

Im Zentrum des Studiengangs steht der psychoseerfahrene Mensch und sein soziales Umfeld. Ziel ist unter anderem die Entwicklung und Unterstützung bedürfnisorientierter und sektorenübergreifender multiprofessioneller Zusammenarbeit. Die Konzepte verschiedener Methoden und psychotherapeutischer Verfahren werden gelehrt, integriert und miteinander verbunden und auch spezifi sche Berufsgruppenprofi le vorgestellt und so eine mögliche Zusammenarbeit entwickelt.

Aspekte wie Off enheit für Besonderheiten von Menschen mit Psychosen, aufsuchende Hilfen im sozialen Kontext, Flexibilität sowie pharmakologische, psychotherapeutische und sozialpsychiatrische Kompetenzen sind dabei essentiell. Neben der fachlichen Vertiefung werden die Studierenden immer wieder dazu angeregt, die eigene Haltung und Handlung zu refl ektieren sowie ihre therapeutische und professionelle Identität weiterzuentwickeln. Durch die Verbindung von Theorie und Praxis mit studienbegleitender Selbstrefl exion und Fallseminaren gelingt es, Fragen aus dem Arbeitsalltag in das Studium einzubringen und durch die gewonnenen Ideen und Perspektiven neue Aspekte in der Arbeitspraxis anzuwenden.

Wer mehr zum Master-Studiengang „Interdisziplinäre Psychosentherapie“ wissen möchte: https://www.ipu-berlin.de/studium/ma-interdiszipli naere-psychosentherapie/

Der Studiengang ist höchst innovativ und gewährleistet erstmals in Deutschland die Umsetzung der Kernziele eines Weiterbildungsstudienganges, der für die Behandlung und Beratung der Betroff enen und ihres Umfeldes auf hohem Niveau qualifi ziert. Explizit geht es um die Schnittstellen von Behandlung und Wiedereingliederung, Prävention und Rehabilitation sowie individuelle, familiäre und soziale Herausforderungen und Ressourcen im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Ungleichheit. Durch die intensive Fallarbeit und interne Supervision wird die persönliche Perspektive des Betroff enen und auch das therapeutische Verhältnis in den Vordergrund gestellt.

Ziel des Studiums ist die Weiterbildung von Professionellen, die Menschen mit Psychosen in der Praxis therapieren, beraten und psychosozial begleiten, um unter anderen die Psychodynamik der therapeutischen Beziehung zu verstehen und zu refl ektieren. Erworbene Methoden, Fachkenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen führen zur Verbesserung analytischer, refl exiver und handlungsbezogener Kompetenzen und befähigen unter anderem zur Aufnahme einer Leitungsposition im berufl ichen Umfeld. Diese Kompetenzen bestehen insbesondere darin, an den Schnittstellen der interdisziplinären Psychosentherapie mitzuwirken und sich selbst im sektorenübergreifenden Netzwerk mit der eigenen Professionalität zu positionieren und zu vernetzen.

Mich beschäftigt insbesondere die Frage, welche Mö glichkeiten ich als Teil des psychiatrischen Behandlungssystems habe, mö glichst umfassend und effi zient auf mein professionelles Umfeld einzuwirken, sich dieser Behandlungsmö glichkeit nicht zu verschließen und bestenfalls in ihre alltägliche Behandlungspraxis einzubinden. Selbst mit meinen noch begrenzten Mö glichkeiten erlebe ich in meiner täglichen Praxis immer wieder, wie off en, erstaunt und auch dankbar Patient_innen sind, beispielsweise den Wahn als Abwehrmechanismus zur Reduzierung einer durch das massive intrapsychische Dilemma ausgelö sten Angst zu verstehen. Viele Patient_innen empfi nden das erneute Auftreten von Psychosen eben doch als eigenes Versagen und massive Belastung.

Seit ich das Studium Interdisziplinäre Psychosentherapie an der IPU begonnen habe, ereilt mich häufi g das Gefühl, aus einem „Dornrö schenschlaf“ zu erwachen. Weshalb? Viele Jahre verbrachte ich im Zwiespalt, in dem es einerseits Verständnis, Respekt und Zugewandtheit für Menschen mit Psychosen gab, der (Klinik-)Alltag dennoch von starren Prinzipien, Sichtweisen und Handlungen geprägt war.

Als Pfl egende hatten wir ärztlichen Anweisungen Folge zu leisten und mussten oftmals zähneknirschend schwere Nebenwirkungen, von denen die Patient_innen betroff en waren, hinnehmen, aushalten und begleiten. Pfl egende kamen bei mehr als 20 Patient_innen oftmals an Grenzen. Auch fehlte dem Personal sehr oft das notwendige therapeutische „Handwerkszeug“.

Nach wie vor begegnet mir auch außerhalb der Klinik die ähnlich lautende Meinung der Behandelnden, dass Ur sachen und Entstehung von Psychosen in erster Linie biochemischer Natur und daher vor allem Medikamente die Mittel der Wahl seien. Menschen mit Psychosen machen etwa 50 % der Patient_innen von stationären psychiatrischen Einrichtungen mit Pfl ichtversorgung aus. Die psychotische Symptomatik wird nach wie vor als Resultat eines psychischen oder auch biologisch bedingten Defektes verstanden. Gegen diese Annahme spricht, dass sich in genauen Beobachtungen zeigen lässt, wie die angenommene Dysfunktionalität gleichzeitig auch eine Abwehr- sowie Kompensationsfunktion erfüllt (Mentzos, 2015). Dabei spielen psychodynamische Zusammenhänge bei Psychosen, vor allem auch unter Berücksichtigung der Biografi e oder Psychosen auslö sende Momente, eine zentrale Rolle.

Dorothea von Haebler, Leiterin des Studiengangs an der International Psychoanalytic University (IPU), umschreibt treff end den psychosespezifi schen therapeutischen Ansatz: „Aufgrund der Annahme, dass vergangene und aktuelle Beziehungserfahrungen von Menschen mit Psychosen zu intrapsychischen Spannungen führen, die die Verarbeitung von Erfahrungen beeinträchtigen, hat sich eine modifi zierte Psychotherapie entwickelt, welche die individuelle Lösung dieser Dilemmata, also z. B. den Wahn als konst-

ruktiven Lösungsversuch ansieht. Somit muss er nicht als Symptom bekämpft werden, sondern kann in einen Verstehensprozess eingebunden werden, der eine Brücke zum Patienten schaff en kann“ (von Haebler, 2013, S. 12).

Herr R.

Herr R. ist 25 Jahre alt. Kennengelernt habe ich ihn bereits vor vier Jahren im Rahmen einer Soziotherapie, welche ihm verordnet wurde. Psychosen kennt er seit dem 16. Lebensjahr. 2015 hatte er mit 21 Jahren die zweite Episode einer schizophrenen Psychose, welche einen längeren Klinikaufenthalt nach sich zog. Im Zeitraum der Soziotherapie begann er eine Ausbildung, wohnte in einer Wohngemeinschaft, ging regelmäßig zum behandelnden Psychiater und nahm die ihm verordneten Medikamente ein. Er hatte einen Nebenjob und zeigte sich mit seinem Leben zufrieden, so dass meine Hilfe recht bald nicht mehr erforderlich war. Herr R. hielt sporadisch Kontakt, indem er mich in größeren Abständen anschrieb und mir im Wesentlichen mitteilte, dass es ihm gut gehe. Er schlafe kaum, rede „wirr“, ziehe nachts um die Häuser, gebe all sein Geld aus und trinke große Mengen Alkohol. Er zeige sich Hilfsangeboten gegenüber ablehnend, halte sich für nicht krank und sei viel unterwegs, ohne dass seine Freunde wussten, wo er war. Auch an seiner Ausbildungsstätte tauche er in diesem desolaten Zustand auf und sorge dort für einige Irritationen. Da mir seine Freunde und Mitbewohner versicherten, dass er trotz der akuten Psychose die ganze Zeit über meist freundlich und nicht aggressiv sei, besprach ich mit ihm, dass, wenn er die Medikamente einnehme, wir auch eine ambulante Zusammenarbeit versuchen könnten, so dass eine Aufnahme in der Klinik überfl üssig war. Ich kannte ihn aus dem letzten Zeitraum der Soziotherapie als einen zuverlässigen Patienten, der sich an unsere Absprachen hielt, so dass mir diese Möglichkeit realistisch erschien. Seine Freunde waren zu diesem Zeitpunkt außerordentlich hilfreich, da sie für ihn da waren, ihn zu Terminen begleiteten und darauf achteten, dass er sich in seinem Alkoholkonsum einschränkt. Die psychotische Symptomatik reduzierte sich bei Herrn R. Er schlief viel und hielt sich an die Termine der psychiatrischen Institutsambulanz (PIA). Noch einmal entschloss sich Herr R., die Medikamente wieder abzusetzen, was er nicht mit den Behandelnden absprach, so dass es dann doch noch zu einer stationären Behandlung kam. Nach einigen Wochen Klinikbehandlung und einer Medikamentenumstellung wurde er entlassen. Seitdem sehen wir uns möglichst einmal wöchentlich zum Gespräch. In diesen Gesprächen zeigt sich Herr R. offen und zugewandt. Ihn beschäftigen viele Fragen. Er hat Pläne und Wünsche. Sein oberstes Ziel ist der Abschluss der Ausbildung („für meinen Vater“). Mittlerweile hat er dieses Ziel erreicht und aufgrund seiner guten Leistungen wurde er als einziger Absolvent von der Firma übernommen. Innerfamiliär gibt es offenbar Strukturen, die für den Patienten unlösbar erscheinen, so dass er hier die Lösung einer eigenen Realität, die der eigenen Psychose, wiederwählte. Er fühle sich innerhalb der Psychose lebendig, stark, selbstbewusst, echt und unangreifbar. Er habe dann das Gefühl, dass er alles schaffen kann und dadurch seine Familie aus ihren Verstrickungen retten könne. Demnach ist für Herrn R. die Psychose ein durchaus sinnvoller Zustand mit geringem Leidensdruck, was meines Erachtens zu diesem Zeitpunkt einer langfristigen Psychose-Freiheit im Wege steht. Er selbst meint, dass seine Träume ihn ab und zu wieder in diese Welt eintauchen lassen. Dies möge er sehr. Ich würde mir wünschen, dass Herr R. neben der Soziotherapie einen Psychotherapeuten fi ndet, der sich Herrn R. und dieses Themas annimmt, damit er perspektivisch auch ohne Psychose genügend Selbstwert entwickelt und somit die Psychose überfl üssig wird.

Literatur

Bremer, B. (2014). Das Dilemma der Ambivalenz. In T. Bock, K. Klapheck & F. Ruppelt (Hrsg.), Sinnsuche und Genesung (S. 267–275). Köln: Psychiatrie-Verlag. Mentzos, S. (2015). Lehrbuch der Psychodynamik – Die Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. von Haebler, D. (2013). Zur Bedeutung der Psychotherapie von

Menschen mit Psychosen. Die Kerbe, 31(2), 9–12. von Haebler, D. & Becker, M. (2016). Psychotherapie für Menschen mit Psychosen – Aus- und Fortbildungsangebote sind gefragt.

Psychosoziale Umschau, 31(1), 8–9.

Yvonne Wiesner

selbständige Soziotherapeutin in eigener Praxis, systemische Familientherapeutin, Vorstandsmitglied im Berufsverband der Soziotherapeuten, seit 2018 Studium an der IPU Berlin, M. A. Interdisziplinäre Psychosentherapie

mail@soziotherapie-wiesner.de

This article is from: