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WEINStEIN-rECHErCHE DIE mACHt DEr WAHrHEIt

DIE mACHt DEr WAHrHEIt

Die Weinstein-Recherche

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„Hollywood war ein organisiertes System zum Missbrauch von Frauen“, schreiben Jodi Kantor und Megan Twohey in ihrem Buch „She Said“, das nun nach einer Drehbuchadaption von Rebecca Lenkiewicz (SMALL AXE, IDA) unter der Regie von Maria Schrader verfilmt wurde. Kantor und Twohey sind die Autorinnen des Artikels in der New York Times, der den systematischen Missbrauch und die Vergewaltigung von Schauspielerinnen und Mitarbeiterinnen durch den Filmproduzenten Harvey Weinstein dokumentierte. In ihrem Buch beschreiben sie den Verlauf der Recherche, die sich besonders schwierig gestaltete, weil viele Opfer Weinsteins durch Non-Disclosure-Agreements (Schweigeverträge) zum Schweigen gezwungen waren, und Schauspielerinnen mit erheblichen Nachteilen oder gleich dem Ende ihrer Karriere rechnen mussten, wenn sie mit Journalistinnen redeten. Ist es ein Zufall, dass DIE MACHT DER WAHRHEIT (SHE SAID) eine Produktion von Annapurna Pictures ist, der Firma von Megan Ellison, Tochter des „Oracle“-Gründers Larry Ellison, eine Firma, die in eigenem Geld schwimmt und nicht auf Kooperationen angewiesen ist, und dass eine deutsche Regisseurin und eine polnische Drehbuchautorin den größten Skandal der US-amerikanischen Filmbranche seit der McCarthy-Ära verfilmen?

Schraders Film hat viele Fallstricke zu überwinden – von rechtlichen Aspekten auf diesem Schlachtfeld der Privatklagen mal ganz abgesehen. Viele Protagonist*innen sind so berühmt, dass sie sich nicht einfach durch andere Schauspieler*innen ersetzen lassen. Niemand will eine Weinstein-Kopie auf der Leinwand

Frauen missbrauchen und vergewaltigen sehen. Sich selbst spielen hier die Schauspielerin und Aktivistin Ashley Judd und Lauren O’Connor, die in den neunziger Jahren Weinsteins Assistentin in London war. Die beiden Frauen waren auch die ersten, die bereit waren, Weinsteins Taten öffentlich zu bezeugen. Andere berühmte Protagonist*innen wie vor allem Rose McGowan und Gwyneth Paltrow sind nur zu hören oder von hinten zu sehen. Weinsteins Taten schildern Frauen aus dem Off, während Schrader Hotelzimmer und -flure zeigt, wo die Taten begangen wurden. Während sich Kantor und Twohey in ihrem Buch vor allem für journalistische Details und Wendepunkte interessieren – etwa im Fall des Fox-Moderators Billy Reilish, bei dessen Entlassung gerade die Non-Disclosure-Agreements und das gezahlte Schweigegeld eine wichtige Rolle spielten – betonen Schrader und Lenkiewicz die emotionalen Folgen und die praktischen Konsequenzen für das Leben der Opfer. Ihr Film beginnt mit einer Szene, in der die sehr junge, fröhliche Waliserin Lauren auf ein Filmset stolpert und dabei einen Jobeinstieg findet. In der nächsten Szene läuft sie schreiend und weinend eine Straße hinunter. Rückblenden aus der Perspektive der Frauen fügen sich immer wieder in die Erzählung über die Recherche ein. Es sind die emotional intensivsten Momente des Films, vielleicht neben den Gesprächen mit Frauen, die nach dem Missbrauch durch Weinstein nie wieder einen Job in der Filmindustrie bekommen haben. In diesen Szenen wird das systemische Problem der Misogynie in der Branche am deutlichsten. Die Arbeitswelt von Jodi Kantor (Zoé Kazan) und Megan Twohey (Carey Mulligan) ist, auch nach Aussage der Journalistinnen selbst, realistisch wiedergegeben. Mulligans Darstellung wirkt vielschichtiger und präsenter als Kazans, gerade in den Szenen, in denen Donald Trump sie am Telefon anbrüllt oder Weinstein unangekündigt im Büro erscheint, oder wenn sie durch die Zeugin Zelda Perkins herausgefordert wird, das ganze rechtliche, finanzielle und kulturelle System auseinanderzunehmen, das Weinsteins Taten über Jahrzehnte ermöglichte. Es gelingt ihr, so viele vermischte Emotionen von Wut, Zweifel, Amüsement, Mitgefühl und Entschlossenheit zugleich zu zeigen, dass eine Oskar-Nominierung fällig sein dürfte. SHE SAID ist ein exzellenter Film über herausragende journalistische Arbeit. D Tom Dorow  Start am 8.12.2022

Originaltitel: She Said D USA 2022 D 128 min D R: Maria Schrader D B: Rebecca Lenkiewicz D K: Natasha Braier D D: Carey Mulligan, Zoe Kazan, Samantha Morton, Patricia Clarkson, Adam Shapiro D V: Universal Pictures

An adaptation of the eponymous book that journalists Jodi Kantor and Megan Twohey wrote about their research into Harvey Weinstein.

Originaltitel: YT D Russland 2021 D 102 min D R: Stepan Burnashev, Dmitrii Davydov D K: Nikolay Petrov D S: Stepan Burnashev D D: Innokenty Lukovtsev, Sergei Balanov, Djulustan Semyonov D V: Cine Global

SIBIrISCH FÜr ANFäNGEr

Tragikomisches vom Ende der Welt

Ein Junge nimmt das Gewehr seines Vaters und verleiht es an einen Freund, der es inmitten eines Trinkgelages seines Vaters wiederfindet. Der störrische Davyd gräbt ein Plumpsklo neben dem Gemüse seiner Nachbarn und zieht damit deren Groll auf sich. Petya hat das Haus seiner Großmutter verkauft, doch als er das Geld nach einer Sauftour mit stolz geschwellter Brust seiner Frau präsentieren will, ist es weg, und der Nachbar hat ein neues Auto. Als ein Dorfbewohner schwer alkoholisiert seine Familie mit der Waffe bedroht, muss der Dorfälteste einschreiten, bevor die Situation eskaliert. Sieben tragikomische Geschichten vom anderen Ende der Welt erzählen Stepan Burnashev und Dmitrii Davydov in ihrem Episodenfilm. Wobei die Tragik hier oft die Überhand hat, alle Geschichten aber ein lakonischer Humor durchzieht. Hier, in den äußersten Ausläufern des russischen Staatsgebiets, in der Republik Sacha am Ostsibirischen Meer, sind die Menschen auf sich selbst zurückgeworfen. In dem kleinen Ort machen Gerüchte schnell die Runde und werden für Wahrheiten genommen. Man lässt sich über Kommunalpolitiker oder Nachbarn aus, weil man nichts Besseres zu tun hat. Die Gespräche sind karg, die Tage wie Nächte alkoholgeschwängert, und mit dem Vodka beginnen und enden oft die Probleme. Gemeinsam mit seinem Kompagnon Davydov schrieb Burnashev Geschichten auf, die man sich an langen Abenden erzählt, wenn der Wind über die Tundra pfeift. In statischen, ausdrucksstarken Bildern erzählen sie von falschem männlichen Stolz und menschlicher Fehlbarkeit, inszeniert mit Laiendarstellern vor der endlosen Landschaft ihrer Heimat. Beim Filmfestival in Warschau gewann ihr Film den Jurypreis. Unter dem reichlich unmotivierten deutschen Titel SIBIRISCH FÜR ANFÄNGER findet er nun zum Glück den wei-

ten Weg auch in unsere Kinos. D Lars Tunçay  Start am 15.12.2022

YT portrays the everyday stories of a remote village in the tundra. Dumb ideas, often fuelled by vodka, always leading to small and big catastrophes.

ELFrIEDE JELINEK – DIE SPrACHE VON DEr LEINE LASSEN

Porträt als Collage Eine „Textmasse ohne eine Spur künstlerischer Struktur“, dafür aber voll „lustloser Gewaltpornographie.“ So äußerte sich Knut Ahnlund, Mitglied der Schwedischen Kommission, die im Jahre 2004 die österreichische Autorin Elfriede Jelinek mit dem Literaturnobelpreis auszeichnete. Der deutsche Großkritiker Marcel Reich-Ranicki kommentierte die Auszeichnung Jelineks im „Spiegel“ wiederum so: „Das literarische Talent der Elfriede Jelinek ist, um es vorsichtig auszudrücken, eher bescheiden. Ihre Dramen sind unaufführbar. Ein guter Roman ist ihr nie gelungen, beinahe alle sind mehr oder weniger banal oder oberflächlich.“ Wer so viel Antipathie weckt, gerade bei den inzwischen sprichwörtlich gewordenen „alten, weißen Männer“, an dem muss etwas dran sein. Doch wie nähert man sich in einem biografischen Dokumentarfilm einer Autorin, die sich wie Elfriede Jelinek fast völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat und praktisch keine Interviews gibt? Claudia Müller hat aus der Not eine Tugend gemacht und – wie es der Untertitel ihres Films andeutet – die Sprache von der Leine gelassen. Gesprochen von Schauspieler*innen wie Sophie Rois, Sandra Hüller oder Martin Wuttke, stehen die Texte Jelineks im Mittelpunkt, die Müller zu einer assoziativen Collage formt. Unterlegt sind die Texte mit Archivaufnahmen von Jelinek, Interviews und Aufnahmen, bevor sie sich ganz zurückzog. Dazu Bilder von Österreich, einem zerrissenen Land, das seine Beteiligung im Zweiten Weltkrieg mehr verdrängte als verarbeitete, ein Missstand, den viele österreichische Künstler anprangerten, von Bernhard über Haneke bis eben Jelinek. Eine dichte, ausufernde Collage, eine Annäherung an eine streitbare Autorin, ein Film, der nicht zuletzt Lust macht, Jelinek (wieder) zu

lesen. D Michael Meyns  Start am 10.11.2022

Claudia Müller’s portrait of author Elfriede Jelinek puts her texts at the center, which are read here by Sophie Rois, Sandra Hüller and Martin Wuttke.

USA 2022 D 121 min D R: Phyllis Nagy D B: Hayley Schore, Roshan Sethi D K: Greta Zozula D S: Peter McNulty D M: Isabella Summers D D: Kate Mara, Elizabeth Banks, Sigourney Weaver, Chris Messina, Aida Turturro D V: DCM

CALL JANE

Underground-Feministinnen

Der Spielfilm CALL JANE von Regisseurin Phyllis Nagy erzählt eine fiktionalisierte Version der Entstehung des „Jane Collective“, ein Netzwerk von Aktivistinnen, das in den 60er und 70er Jahren in Chicago hunderte illegale, aber sichere Schwangerschaftsabbrüche durchführte. Hauptfigur Joy (Elizabeth Banks), die weiße, gut situierte Gattin eines aufstrebenden Anwalts, Hausfrau und Mutter. Als zu Beginn einer Schwangerschaft lebensbedrohliche Komplikationen auftreten, wird ihr Gesuch um einen medizinischen Schwangerschaftsabbruch abgelehnt. Deutlich zeigt der Film, was es für sie bedeutet, ihrer Selbstbestimmung beraubt zu sein, und was für ein Glück es ist, dass sie auf die Gruppe um die Aktivistin Virginia (Sigourney Weaver) stößt. Mithilfe eines windigen, aber sorgfältig arbeitenden Arztes (Rupert Friend) bieten sie ungewollt Schwangeren medizinische und zwischenmenschliche Unterstützung an. Joys politisches Bewusstsein erwacht, und sie tritt der Gruppe bei. Vorbild für Joy ist die unter dem Codenamen „Jenny“ bekannte Aktivistin, die als erste der „Janes“ selbst lernte, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, und das Wissen an andere Frauen weitergab. Sie ist eine perfekte Protagonistin, um in zwei Stunden die faszinierende Geschichte des Kollektivs anzureißen – durch den starken Fokus auf eine Figur und die konventionelle Erzählweise kommen jedoch andere Perspektiven, etwa die der einzigen Schwarzen Aktivistin Gwen (Wunmi Mosaku), zu kurz. Wenn die Gruppe zusammen Entscheidungen debattiert und man das Ensemble von Feministinnen im Zusammenspiel erlebt, ist CALL JANE am besten. Vor allem stechen aber die Szenen hervor, in denen die Schwangerschaftsabbrüche selbst so sachlich, ausführlich und sogar humorvoll gezeigt werden, dass es im aktuellen amerikanischen Klima durchaus sub-

versiv wirkt. D Eva Szulkowski  Start am 1.12.2022

CALL JANE tells a fictionalized version of the formation of the “Jane Collective”, a network of activists that performed hundreds of illegal, but safe, abortions in the 60s and 70s in Chicago. In the GDR, Jena youth pastor Lothar König was surveilled by the Stasi. Since the reunification, he has been involved against right-wing extremism. Tilman König accompanies his father for three years and shows him as a pugnacious, uncomfortable person.

KÖNIG HÖrt AUF

Porträt eines Aufrechten

Mit seinen Krücken humpelt Lothar König in den voll besetzten Saal. „Die Parkplatzsituation ist hier ja genauso beschissen wie in Jena“, ruft er einem der Anzugträger entgegen. Sein Auftritt beim Erfurter Forum „Theologie im Dialog mit der Politik“ ist typisch für den kleinen Mann mit dem Zauselbart. Er bereitet ihm die Bühne, sorgt dafür, dass man ihm zuhört. Lang und laut richtet er sich bei der Diskussion im Anschluss an die Erfurterinnen und Erfurter, fordert sie auf, es sich nicht gefallen zu lassen, wenn ein FDP-Politiker sich mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen wählen lässt. Drei Jahre lang begleitete Tilman König seinen Vater, den Jenaer Jugendpfarrer Lothar König, bei seinem Eintritt in den Unruhestand. Er zeigt ihn bei seinen Predigten, den Demos, Punk-Konzerten im Jugendclub und dabei, wie er seine Habseligkeiten in Kisten verpackt und auf den seit Jahren leerstehenden Hof der Familie in Leimbach bei Nordhausen zieht. Er war dabei, wenn es laut wurde, und als die Stille einkehrte. Der Sohn zeigt seinen Vater als streitbaren, unbequemen Menschen, der sein Umfeld stets herausfordert. In der DDR wurde er von der Stasi überwacht. Seit der Wende engagiert sich Lothar König gegen Rechtsextremismus und stand deswegen immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit und der Justiz, wurde von Faschos verprügelt und wegen der Teilnahme an einer Demo gegen Faschismus in Dresden 2011 wegen schweren Landfriedensbruchs angeklagt. Als zahlreiche Videodokumente von polizeilicher Gewalt gegen Demonstranten ans Licht kamen, wurde die Anklage fallengelassen. Die nimmermüde politische Arbeit, seine Rolle als Jugendpfarrer in der Kirche und die Sozialarbeit mit Migrant*innen gehört ebenso zu seiner Natur wie die Wut und das stete Nerven seines Umfelds. Ein vielschichtiges Porträt eines Aufrechten, der Vorbild sein sollte für

uns alle D Lars Tunçay  Start am 17.11.2022

BONES AND ALL

Außenseiterromantik

Man hätte sich denken können, dass eine Kannibalen-Geschichte mit dem Titel BONES AND ALL nicht lange ohne Blut und Knochen auskommt. Aber wenn die schüchterne Maren (Taylor Russell) zum ersten Mal ihre Zähne zusammenbeißt, sitzt der Schock dennoch tief. Zumal die Teenagerin selbst nicht so genau weiß, warum sie manchmal eine solche Fleischeslust verspürt. Doch kaum hat ihr Vater realisiert, was (wieder einmal!) geschehen ist, packt er hektisch das Nötigste zusammen und fordert seine Tochter auf, das Gleiche zu tun. Kurz darauf sind sie auf der Flucht in einen anderen Bundesstaat, ein anderes kurzes Stück Heimat, wo sie niemand kennt und keiner Marens Schicksal erahnt. Doch schon bald schafft es ihr Vater nicht mehr, mit der Last des Geheimnisses umzugehen. Eine Tonbandaufnahme ist alles, was er seiner Tochter hinterlässt, und so begibt sich Maren auf die Suche nach ihrer Mutter, die sie nie gekannt hat, um Antworten zu finden.

Was der italienische Regisseur Luca Guadagnino dann mit seinem Film macht, ist weniger grausam als – ähnlich wie in seinem wunderbar gefühlvollen schwulen Liebesfilm CALL ME BY YOUR NAME – vielmehr von einer bewundernswerten Sinnlichkeit geprägt. Erst geht es noch ein bisschen düster zu, weil Mark Rylance seine Rolle als so rätselhafter wie abgebrühter Kannibale Sully, der Maren buchstäblich mit der Nase aufspürt, ganz hervorragend spielt. Doch kaum rückt Timothée Chalamets verschlossener Drifter Lee ins Bild, entdeckt Maren in ihm einen Seelengefährten, der mindestens genauso mit seinem Anderssein kämpft wie sie. Die zarte Romanze, die sich daraus entwickelt, ist das Herzstück dieses Films, der verpackt als Roadmovie im Achtziger-Jahre-Flair, so behutsam mit seinen Figuren umgeht, dass er sich von vornherein geschickt jeder offensichtlichen Genre-Kategorisierung entzieht. In seinen besten Momenten ist BONES AND ALL ein emotionaler Balanceakt, der tief unter die Haut geht.

USA 2022 D 130 min D R: Luca Guadagnino D B: David Kajganich D K: Arseni Khachaturan D S: Marco Costa D D: Timothée Chalamet, Michael Stuhlbarg, Taylor Russell, Mark Rylance, Chloë Sevigny, Jessica Harper, David Gordon Green D V: Warner Bros.

Shy cannibal Maren (Taylor Russell) is searching for her mother and finds vagabond Lee (Timothée Chalamet), a soul mate, along the way,

Italien 2020 D 90 min D R: Giuseppe Tornatore D K: Giancarlo Leggeri, Fabio Zamarion D D: Giuseppe Tornatore, Ennio Morricone, Bernardo Bertolucci D V: Koch Films Originaltitel: The Drover’s Wife D Australien 2021 D 109 min D R: Leah Purcell D B: Leah Purcell D K: Mark Wareham D D: Leah Purcell, Benedict Hardie, Elpida Savva, Jessica De Gouw, John McPharlen, Marti Murray D V: Cinemien

In Leah Purcell‘s postcolonial adaptation of Henry Lawson‘s short story from 1892, light-skinned Aboriginal Molly Johnson has to take care of her farm and her children alone while her husband is out working as a cattle drover.

ENNIO mOrrICONE – DEr mAEStrO

Der größte aller Filmkomponisten Ennio Morricone war zweifellos der größte aller Filmkomponisten – und vielleicht einer der ganz großen Komponisten überhaupt. Mit Giuseppe Tornatore erweist eine Größe des italienischen Kinos diesem Giganten der Filmgeschichte die Referenz. Herausgekommen ist ein großer Film, der mit zweieinhalb Stunden gerade die richtige Länge hat. Tornatore führte kurz vor dessen Tod ein langes Interview mit Morricone, in dem dieser ausführlich seine Karriere resümiert – die Anfänge im Musikbusiness als Arrangeur für Schlager, die experimentelle Musik, die ihn interessierte, die Filmmusik, in der er Arrangement und Experiment mit eingängigen Melodie-Ideen mischen konnte, die er offenbar im Überfluss hatte. Durch den direkten Zugriff auf den Protagonisten entzieht sich der Film der Versuchung, ein bloßes Requiem auf das Musikgenie zu werden – und durch umfassend eingesetzte Ausschnitte aus Filmen wie auch Morricone-Konzerten umschifft Tornatore die rein retrospektive Werkbetrachtung. Denn die Werke leben weiter, die Musik packt selbst in der fragmentierten Form von Szenenclips, und die Gewalt der Melodien umrauscht den Zuschauer auch, wenn die Live-Aufführung lediglich mittelbar erlebt werden kann. Tornatore ist der richtige Mann für diesen Film – seit CINEMA PARADISO hatte er vielmals mit Morricone zusammengearbeitet. Er ergänzt dessen Selbstauskunft durch Einschätzungen von Wegbegleitern, auch von Fans (Bruce Springsteen! James Hetfield!) und arbeitet heraus, was die Kraft von Morricones Musik ausmachte: Kontrapunktisch und rhythmenverschiebend, zugleich eingängig und avantgardistisch fügte er den Instrumenten zusätzliche Geräusche (Peitsche, Pfiffe oder Jaulen) hinzu, um mit seiner Musik die Bilder in etwas anderes, Höheres zu transzendieren – zu

wirklich gewaltiger Kunst. D Harald Mühlbeyer  Start am 22.12.2022

In his documentary, Giuseppe Tornatore works out what made Ennio Morricone’s music so powerful using a smart composition of talking heads and film scenes.

tHE DrOVEr’S WIFE

Outback-Western

Wenn es um ihre Kinder geht, kennt Molly Johnson keine Gnade. Kaum wittert sie Gefahr, stellt sie sich auf, mit einem mörderischen Blick und der Schrotflinte an der Brust. Keine Frau, die am Ende des ausgehenden 19. Jahrhunderts im australischen Outback lebt, ist robuster, widerstandfähiger und entschlossener als sie. Die Hochschwangere muss sich allein um die Farm und ihren Nachwuchs kümmern, während ihr Mann monatelang als Viehtreiber unterwegs ist. Mehr muss man über die hellhäutige Aborigine-Frau zunächst nicht wissen, die Leah Purcell in ihrem Spielfilmdebüt selbst verkörpert. Basierend auf ihrem eigenen Theaterstück, hat sie sich die Rolle auf den Leib geschrieben. Und so wie Molly keine Zeit mit Höflichkeiten verschwendet, bringt auch Purcell ihr Anliegen schnell auf den Punkt: In ihrer postkolonialen Überarbeitung von Henry Lawsons Kurzgeschichte aus dem Jahr 1892 ist ihre Unerbittlichkeit eine notwendige Eigenschaft zum Überleben. Entsprechend hartnäckig macht sich die Regisseurin daran, dem klassischen Outback-Western eine feministische, indigene Perspektive entgegenzusetzen. Die Geschichte verdichtet sich, als Molly eines Tages auf Yadaka (Rob Collins) trifft, einen Aborigine auf der Flucht vor der Polizei, der bei ihr Unterschlupf sucht. Zwischen ihnen entwickelt sich ein zerbrechliches, angespanntes Vertrauen, das auf gemeinsamen Geheimnissen beruht. Ihre Beziehung gibt dem Film Halt, wenn er aufgrund der anderen Nebenfiguren und Handlungsstränge mitunter seinen Fokus verliert. Der Rassenhass, die patriarchalischen Geschlechterrollen und Ausbrüche von sexueller Gewalt sind stets präsent. Befeuert von Purcells Tour-de-Force vor und hinter der Kamera kriecht die schwelende Brutalität, die sich in den Bildern von Kameramann Mark Wareham entlädt, immer wei-

ter unter die Haut. D Pamela Jahn  Start am 10.11.2022

Originaltitel: Feng Bao D China 2021 D 114 min D R: Li Jun D B: Sha Song, Li Jun D K: Xiaoshi Zhao D D: Yilong Zhu, Huang Zhi-zhong, Shu Chen D V: Plaion Pictures

Similar to the Indian action hit RRR, CLOUDY MOUNTAIN is nationalistic, but very enjoyable, action entertainment.

CLOUDY mOUNtAIN

… und RUMMS!

CLOUDY MOUNTAIN ist ein chinesischer Propagandafilm, im selben Sinne, wie Hollywood-Actionfilme US-Propagandafilme sind. Der ideologische Zweck ist das Gedenken an die Pioniere, die den gewaltigen technologischen Fortschritt der chinesischen Gesellschaft bewerkstelligt haben: eine Beschwörung des patriotischen Geistes. Immerhin ist die Verklärung hier pazifistisch und auf Eisenbahnarbeiter gerichtet. In US-Produktionen gab es das zuletzt in Cecil B. DeMilles UNION PACIFIC (1938). Die Pionier-Verklärung geschieht dort allerdings auf Kosten der kolonialisierten Bewohner des Landes. CLOUDY MOUNTAIN ist aber auch ein exzellenter Actionfilm, trotz der gelegentlich allzu offensichtlichen CGI-Tricks. Es geht um einen Erdrutsch bei einem Tunnelbau, und der Film lässt sich bis zur ersten Katastrophe keine fünf Minuten Zeit. Ein kurzer Dialog, ein Typ ist Messtechniker, seine Freundin auch, der Vater soll zu Besuch kommen, Andeutung eines Generationenkonflikts, die Chefin drängt aufs Tempo und RUMMS. Schnitt und Kameraführung sind so virtuos, dass selbst eine Kamerafahrt an einem ankommenden Bus entlang zu einer schwindelerregenden Bewegungschoreografie wird. Die psychologischen Konflikte sind minimal, gottseidank gibt es kein Typendrama, wie in klassischen Katastrophenfilmen in der Tradition von THE POSEIDON ADVENTURE (1972). Alle verhalten sich weitestgehend vernünftig und tun, was sie können, um das Schlimmste zu verhindern, aber das ist schwierig genug. Ein Wassereinbruch im Tunnel ist nur der Anfang. Um die Zerstörung einer Stadt durch die Erdmassen zu verhindern, müssen Höhlen durchkrochen, Berge erklommen und gesprengt werden, in strömendem Regen. Ähnlich wie der indische Actionkracher RRR ist CLOUDY MOUNTAIN nationalistisches, aber

perfektes Entertainment. D Tom Dorow  Start am 1.12.2022

EIN FILM VON JERZY SKOLIMOWSKI AB 22.12. IM KINO

WWW.RAPIDEYEMOVIES.DE

Deutschland/Finnland/Indien 2021 D 71 min D R: Rahul Jain D B: Yaël Bitton, Rahul Jain, Iikka Vehkalahti D K: Tuomo Hutri, Saumyananda Sahi, Rodrigo Trejo Villanueva D M: Kimmo Pohjonen D V: GMFilms

INVISIBLE DEmONS

Schonungslose Diagnose

„In den letzten 30 Jahren galt Indien als das Land mit der am schnellsten wachsenden Wirtschaft. Aber wer profitiert von diesem Wachstum?“ Dieser Frage geht Rahul Jain in seinem zweiten Film INVISIBLE DEMONS nach (sein Debut MACHINES von 2016 porträtierte die Arbeitsverhältnisse in einer indischen Textilfabrik). Es geht hier jedoch nicht so sehr um die ungleiche Verteilung von Wohlstand, sondern um die Schattenseite der Industrialisierung, die Umweltverschmutzung, deren Auswirkungen wiederum ungleich verteilt sind: sowohl international, da der globale Süden stärker von der Klimakrise betroffen ist als die größten CO2-Emittenten, als auch national. So sind es in Indien die Armen und insbesondere die Obdachlosen, die den „Invisible Demons“ – der Hitze, der Luftverschmutzung und der Vergiftung der Wasserquellen – schutzlos ausgeliefert sind. Rahul Jains Erzählung ist zurückgenommen, nüchtern, selbstreflexiv – der in Kalifornien ausgebildete Filmemacher bezeichnet sich beispielsweise als „air conditioned child“ und verortet sich damit auf der privilegierten Seite der Gesellschaft. In seiner schonungslosen Diagnose erlaubt sich Jain immer wieder assoziative Einstellungen und Bilder, die nicht nur ethisch, sondern auch ästhetisch erschütternd sind. Diese Bilder – von giftigen Schaumkronen, endlosen Mülldeponien oder mikroskopischen Rußpartikeln – sind schön, fallen aber nie in die Kategorie des Erhabenen, die etwa Edward Burtynskis Dokumentarfilmen über das Anthropozän so eine gefährliche Distanz verleiht. Auch bemüht sich Jain nicht um einen versöhnlichen Abschluss, wie, dass jede*r einen kleinen Beitrag zur Rettung der Welt leisten könne. So schnell schließt sich der Abgrund, den INVISIBLE DEMONS öffnet, nicht.

D Yorick Berta  Start am 3.11.2022 Originaltitel: Plus que jamais D Deutschland/Frankreich/Luxemburg/Norwegen 2022 D 123 min D R: Emily Atef D B: Emily Atef, Lars Hubrich D K: Yves Cape D S: Sandie Bompar, Hansjörg Weißbrich D M: Jon Balke D D: Gaspard Ulliel, Vicky Krieps, Bjørn Floberg D V: Pandora Filmverleih

mEHr DENN JE

Licht am Fjord

Vicky Krieps spielt die 33-jährige Hélène, die an idiopathischer Lungenfibrose erkrankt ist, einer chronischen Erkrankung, bei der die Lungen langsam verhärten und die Betroffenen irgendwann ersticken. Die Ärztin hat eine Lungentransplantation in Aussicht gestellt, aber auch da sind die Aussichten nicht gut. Hélènes Freund Matthieu (Gaspar Ulliel in seiner letzten Rolle) klammert sich an diesen Rettungsanker, aber Hélène ist eigentlich schon woanders. In eindringlichen Szenen zwischen Krieps und Ulliel wird die Barriere deutlich, die sich zwischen ihnen aufgetan hat,. Besser verstanden fühlt sich Hélène bei dem norwegischen Blogger „Mister“ (Bjørn Floberg), der Bilder, Fotos und Notizen aus seinem Leben mit Krebs postet. Als sie das erste Mal miteinander telefonieren, sagt er einen Satz, der Hélènes Situation perfekt zu erfassen scheint „Die Lebenden verstehen die Sterbenden nicht“, und sie macht sich auf den Weg, um ihn in Norwegen zu besuchen. Mister ist anders als gedacht, aber die Fjorde, die Luft und die Ruhe verhelfen Hélène zu einer Art von Frieden, der ihr in Paris fehlte. Emily Atef erzählt mit großer Genauigkeit. Krieps Darstellung lässt einen nie vergessen, dass fast jede Bewegung für Hélène eine Anstrengung bedeutet, zugleich spielt sie Hélène nicht als jemand, der leidet, sondern als jemand, der mit seiner Situation, Stück für Stück, umgeht. In Norwegen ist sie dann mit ganz praktischen Dingen beschäftigt, dem Licht, das sie am Schlafen hindert, oder dem fehlenden Handy-Empfang. MEHR DENN JE fängt ein, wie raumgreifend einfachste Alltagsdinge – eine durchwachte Nacht, ein unbequemes Bett, ein Bad im Fjord – in Hélènes Situation werden, und wie weit entfernt die Welt, die Freunde, sogar Mathieu, der sie verzweifelt nach Paris zurückholen möchte, ihr scheinen. D Hendrike Bake

 Start am 1.12.2022

Rahul Jain investigates the dark side of industrialization in India, the environmental pollution, with impacts that are unequally distributed, internationally as well as nationally. In India it is the poor that are unprotected against the heat, air pollution, and the contamination of water sources. Gravely ill Hélène comes across Norwegian blogger “Mister“ online who makes her feel understood. She decides to travel to Norway.

Originaltitel: Nelly och Nadine D Schweden/Belgien/Norwegen 2022 D 92 min D R: Magnus Gertten D K: Caroline Troedsson D S: Jesper Osmund, Phil Jandaly D M: Marthe Belsvik Stavrum D V: Rise and Shine Cinema

NELLY & NADINE

Unerschütterliche Liebe

Der schwedische Regisseur Magnus Gertten widmete sich bereits in HAFEN DER HOFFNUNG (2011) und EVERY FACE HAS A NAME (2015) Menschen aus einem Archivfilm, die am 28. April 1945 mit fast 2000 anderen Überlebenden deutscher Konzentrationslager den Hafen seiner Heimatstadt Malmö erreichten. NELLY UND NADINE, für den Gertten auf der Berlinale 2022 den TEDDY Jury Award erhielt, bildet den Abschluss seiner Filmtrilogie. Nadine Hwangs Blick, auf dessen Spuren er sich darin begibt, faszinierte ihn – an wen denkt sie? Auf dem Dachboden eines Bauernhofs in Nordfrankreich lagern Tagebücher, Briefe, Super-8-Filme und Fotos von Sylvie Bianchis Großmutter Nelly Mousset-Vos. 20 Jahre lang schafft Sylvie es nicht, die Dokumente anzuschauen, doch vor der Kamera ist sie nun bereit zu der aufwühlenden Reise in Nellys Vergangenheit. Immer entschlossener rekonstruiert Sylvie das Leben der Mezzosopranistin und lernt auszusprechen, was die Familie nie laut zu sagen wagte: Nelly und Nadine, die sich nach dem Krieg wiederfanden und gemeinsam nach Venezuela gingen, waren jahrzehntelang ein Paar. In ihrem Tagebuch beschreibt Nelly, wann sich die beiden kennenlernten: Weihnachten 1944 im Frauen-KZ Ravensbrück, als Nelly sang – und auf Nadines Wunsch eine Arie aus Madame Butterfly vortrug. In NELLY UND NADINE begleitet Magnus Gertten unmittelbar die Annäherung einer Enkelin an ein Familiengeheimnis – Nellys und Nadines lesbische Identität – und erzählt von einer unerschütterlichen, queeren Liebe trotz aller Widerstände. Indem Gertten Nellys und Nadines persönliche Erinnerungen an das KZ Ravensbrück öffentlich macht, wo im Mai 2022 erstmals offiziell lesbischen Frauen und Mädchen gedacht wurde, setzt er den queeren Opfern des Nationalsozialismus ein eindrückliches und notwen-

diges filmisches Denkmal. D Stefanie Borowsky  Start am 24.11.2022

The moving documentary tells the story of Belgian opera singer Nelly Mousset-Vos and Chinese resistance fighter Nadine Hwang who met in the Ravensbrück concentration camp, got separated and found each other again after the war ended.

w.Nachtwald-Der lm.de AB 24. NOVEMBER IM KINO

BEN ATTAL

SUZANNE JOUANNET

CHARLOTTE GAINSBOURG

MATHIEU KASSOVITZ

PIERRE ARDITI

AUDREY DANA

BENJAMIN LAVERNHE

von der ComédiE-Française JUDITH CHEMLA

GrUmP

Nörgler auf Tour

In seiner Heimat Finnland ist der grummelige Einsiedler mit der Pelzmütze, der gegen alles Moderne zetert, aus Zeitungskolumnen, Hörfunk und dem Kino bekannt. Nach Deutschland hat es der Grump bislang mit dem Film KAFFEE MIT MILCH UND STRESS (2014) geschafft. Im neuen Film von Mika Kaurismäki (MASTER CHENG IN POHJANJOKI) reist der Kaffeeliebhaber nun selbst dort hin, nachdem er seinen roten 1972er Ford Escort schrottreif gefahren hat. Natürlich kommt für ihn als Ersatz nur ein genau gleiches Modell in Frage (Diese ganzen neumodischen Hybrids taugen ja nichts!) und das steht in Hamburg. Dort angekommen, gerät der Alte an Gauner und wacht ohne Geld wieder im Krankenhaus auf. Schlimm genug, und dann steht auch noch sein Bruder am Fußende, mit dem er doch nie wieder sprechen wollte! Aber der Bruder ist genauso dickköpfig, und so lässt sich der Grump notgedrungen von ihm helfen. Auf der Jagd nach dem Escort geht es quer durchs Land, und endlich sprechen sich die beiden auch darüber aus, wieso Jahrzehnte Funkstille zwischen ihnen herrschte. ist er erstaunlich versöhnlich, und seine Botschaft lautet „Habt Verständnis füreinander“. Der Grump nörgelt viel, aber eigentlich ist er ein lieber Kerl und sorgt niemals für die ernsthaften Konflikte, die bei einem Ewiggestrigen möglich wären. Alle Charaktere des Films stecken oder geraten in eine persönliche Krise, von einer Midlife Crisis bis hin zu einem Herzinfarkt. Die ist dann aber immer schnell bewältigt, weil auch sofort jemand hilft, und wird zur Chance, dass alles besser als vorher wird. Leider werden skurrile Charaktere (Ein Nachbar mit übermenschlich gutem Gehör) und Situationen („Escort“ ist nicht nur ein Auto) schnell wieder verworfen, bevor sie sich voll entwickeln können

Originaltitel: Mielensäpahoittaja Eskorttia Etsimässä D Deutschland/Finnland 2022 D 109 min D R: Mika Kaurismäki D B: Daniela Hakulinen, Tuomas Kyrö D K: Jari Mutikainen D S: Markus Leppälä D M: Anssi Tikanmäki D D: Iikka Forss, Heikki Kinnunen, Tiina Lymi, Mari Perankoski, Silu Seppälä, Rosalie Thomass D V: Arsenal Filmverleih

D Christian Klose  Start am 24.11.2022

Mika Kaurismäki tells a charming, warm-hearted story of two estranged brothers who reconnect after years of silence on a road trip across Germany.

EmILY

Viktorianischer Freigeist

Als der neue, adrette Hilfspfarrer Mr. Weightman um 1840 seine Stelle in Haworth in West Yorkshire antritt, regnet es, und in seiner ersten Predigt sinniert er über Gott in jedem Regentropfen. Der Sprengel ist entzückt ob so viel Poesie und Feingefühl, auch Anne und Charlotte Brontë, die Töchter des Pfarrers, nur eine guckt skeptisch: Emily.

Über die private Emily Brontë, eine der berühmtesten und mutigsten Autorinnen der Weltliteratur, ist wenig bekannt. 1847 schrieb sie mit 29 Jahren unter dem Pseudonym Ellis Bells ihren ersten und einzigen Roman, den Klassiker „Wuthering Heights“ (Sturmhöhe), ein Jahr später starb sie, vermutlich an Lungenentzündung. Sie war nie verheiratet, und auch von einer Liebesbeziehung weiß man nicht. Der Debütfilm von Frances O’Connor kümmert sich denn auch kaum um Fakten, sondern versucht, sich über den Roman ihrem Leben anzunähern. Statt der üblichen Suche von Spuren historisch belegter Ereignisse in einem literarischen Werk, imaginiert O’Connor ausgehend von Elementen des Buches Szenen aus Emilys Leben, was erstaunlich gut funktioniert.

So zeichnet O’Connor die Beziehung von Emily (Emma Mackey) und ihrem Bruder Branson als eng und verschwörerisch. Gemeinsam huldigen sie in den Yorkshire Moors dem „freedom of thought”, und abends lugen sie durch die hellerleuchteten Fenster der reichen Nachbarn – ganz so, wie es das in selbstzerstörerischer Liebe verbundene Paar Catherine Earnshaw und ihr Adoptivbruder Heathcliff in „Wuthering Heights“ tut. O’Connor erfindet auch eine heiße Affäre, zwischen Emily und Mr. Weightman (Oliver Jackson-Cohen), die ähnlich heimlich, ähnlich leidenschaftlich und ähnlich aussichtslos verläuft wie die Liebesgeschichte zwischen Catherine und Heathcliff. War es dort Cathy, die ein bürgerlicheres Leben anstrebt, als es mit Heathcliff denkbar ist, so ist es hier Mr. Weightman, dessen Glauben ihn davon abhält, sich zum Freigeist Emily zu bekennen.

Das Auf und Ab der Gefühle verknüpft die Kamera von Nanu Segal mit der weiten Heidelandschaft des Hochmoors und ihren ständig wechselnden Lichtstimmungen. Dominierte in Andrea Arnolds Adaption von „Wuthering Heights“ die graue Schwere eines wolkenverhangenen Himmels, so bricht hier immer wieder gleißende Sonne durch, ist das Moor der Ort, an dem Emily frei atmen, lieben und denken kann. Einmal sagt sie „I will never get out of this pond” – “Ich werde diesen Flecken (wörtlich: Teich) niemals verlassen“, und Weightman antwortet: „Das hier ist kein Teich, es ist die See.“ Dazu rauscht draußen im Sturm das Heidegras.

Ähnlich wie letztes Jahr AMMONITE von Francis Lee, der auch eine reale Person, die Paläontologin Mary Anning, zum Anlass nahm, um sich ein Bild von den undokumentierten Seiten eines Frauenlebens im 19. Jahrhundert auszumalen, ist EMILY mehr Fantasie als Biopic. O’Connor entwirft ein modernes Porträt einer hochintelligenten, sehr privaten Frau, die wenig auf soziale Regeln gibt, aber einige Menschen gerade durch ihre Direktheit fasziniert. Einer Frau, die Emily Brontë hätte gewesen sein können, möglicherweise aber auch nicht … D Hendrike Bake

Großbritannien 2022 D 130 min D R: Frances O’Connor D B: Frances O’Connor D K: Nanu Segal D S: Sam Sneade D M: Abel Korzeniowski D D: Emma Mackey, Fionn Whitehead, Oliver Jackson-Cohen, Adrian Dunbar, Gemma Jones, Alexandra Dowling, Sacha Parkinson, Amelia Gething D V: Wild Bunch

 Start am 24.11.2022

Similar to how Francis Lee’s AMMONITE painted a picture of the undocumented sides of women’s lives in the 19th century by portraying a real person, namely paleontologist Mary Anning, EMILY is more of a fantasy than a biopic.

Originaltitel: Un beau matin D Frankreich/Deutschland 2022 D 112 min D R: Mia Hansen-Løve D B: Mia Hansen-Løve D K: Denis Lenoir D S: Marion Monnier D D: Léa Seydoux, Pascal Greggory, Melvil Poupaud, Nicole Garcia, Kester Lovelace D V: Weltkino

AN EINEm SCHÖNEN mOrGEN

Geist im eigenen Leben

Die französische Filmemacherin Mia Hansen-Løve greift immer wieder auf Autobiografisches zurück. In BERGMAN ISLAND verwob sie die eigene Beziehung zu ihrem 26 Jahre älteren Ehemann Olivier Assayas, ebenfalls Filmemacher, mit dem Schaffen und Leben Ingmar Bergmans. Den Musikfilm EDEN über die französische House-Szene schrieb sie mit ihrem Bruder, dem DJ Sven Løve. Auch AN EINEM SCHÖNEN MORGEN kokettiert damit. Die Übersetzerin Sandra, Mitte 30, pflegt ihren Vater, einen ehemaligen Philosophieprofessor mit deutschen Wurzeln – was Hansen-Løves Stammbaum, ihr Vater war Übersetzer mit dänischen Wurzeln, die Mutter Philosophielehrerin, doch ähnelt. Die akademisch-bürgerliche Atmosphäre, aus der Sandra stammt, ist Hansen-Løve also nicht fremd. Im Gegensatz zur Filmemacherin ist Sandra (Léa Seydoux) verwitwet und alleinerziehend. Zwischen Broterwerb und Care-Arbeit ist wenig Raum für sie. Der Vater, an einem seltenen neuro-degenerativen Syndrom erkrankt, ist immer weniger er selbst und kann nicht mehr alleine leben. Ein Heimplatz muss her. Sandra sucht für ihn, besucht ihn und erhält, was von seinem Leben übrig ist. Ihre Mutter unterstützt sie, ist aber als Kämpferin für Extinction Rebellion und mit dem neuen Lebensgefährten ausgefüllt. Für den Vater ist seine Partnerin Leyla das Hauptaugenmerk. Ihre kurzen Besuche entfachen Lebensfunken in ihm. An seine Tochter erinnert er sich oft nicht. Wie ein Geist im eigenen Leben scheint Sandra immer da zu sein, ohne gesehen zu werden. Erst als sie einen alten Freund ihres verstorbenen Mannes trifft, ändern sich auch die Dinge für sie. Aus einer Freundschaft wird eine Affäre und schließlich verliebt sie sich. Einfühlsam erzählt AN EINEM SCHÖNEN MORGEN von Abschied, Hoffnung und dem Riss zwischen der Sorge für andere

und sich selbst. D Clarissa Lempp  Start am 8.12.2022

Translator Sandra (Léa Seydoux) is widowed, a single parent and is taking care of her sick father. Between breadwinning and carework, there’s little space for her. Ein Film von Masaaki Yuasa

Originaltitel: Echo D Deutschland 2022 D 98 min D R: Mareike Wegener D B: Mareike Wegener D K: Sabine Panossian D S: Mareike Wegener D M: Thom Kubli D D: Valery Tscheplanowa, Andreas Döhler, Ursula Werner, Fedja van Huêt D V: Grandfilm Polen 2022 D 86 min D R: Jerzy Skolimowski D B: Ewa Piaskowska, Jerzy Skolimowski D K: Michal Dymek D S: Agnieszka Glinska D M: Pawel Mykietyn D D: Sandra Drzymalska, Mateusz Kosciukiewicz, Tomasz Organek, Sophia Loren, Isabelle Huppert D V: rapid eye movies

ECHO

Nachhall des Krieges

Nach einem Afghanistaneinsatz kehrt Kriminalhauptkommissarin Saskia Harder (Valery Tscheplanowa) in den Polizeidienst in der westdeutschen Provinz zurück. Im winterlich-verhangenen Nirgendwo des fiktiven nordrhein-westfälischen Örtchens Friedland ist eine Moorleiche gefunden worden. Im dunklen Wald beginnen Harder und ihr Kollege Alfons Tenhagen (Andreas Döhler), unterstützt von der schroffen Moormeisterin (Ursula Werner), zu ermitteln – und stoßen auf komische Käuze. Im nahe gelegenen Wasserschloss haust zurückgezogen – samt sprechendem Papagei – Lorenz von Hüning (Felix Römer), der vor Jahrzehnten seine Tochter Beate verlor und sich seitdem seiner Sammlung aus Steinen und Tierskeletten und dem Nymphengemälde Les Oréades widmet. Ist Bea die Tote im Moor? Kommissarin Harder suchen bei ihren Nachforschungen immer wieder Flashbacks aus dem Kriegseinsatz heim, bildlich dargestellt als pinkfarbener Nebel, den eine moderne Echo-Nymphe begleitet. Mit lakonischen, teils theatral anmutenden Dialogen und düsteren, von der WDR Big Band eingespielten Klängen erschafft Regisseurin Mareike Wegener eine Mischung aus verstörendem Provinztatort, gegenwärtigem Echo-Mythos und Geschichtsaufarbeitung im symbolträchtigen deutschen Wald, die an Saralisa Volms SCHWEIGEND STEHT DER WALD erinnert. Auf mehreren Ebenen erzählt Wegener auf so schräge wie geniale Weise vom allgegenwärtigen Nachhall des Krieges und von dem Unausgesprochenen, das Wald und Moor verbergen. Spätestens als ein Einheimischer mitten im gespenstisch-beschaulichen Dorf lauthals den „Schuldkult“ und „anerzogenen Selbsthass“ für beendet erklärt, tritt zu Tage, dass nicht nur die Blindgänger im Boden Spuren des Zweiten Weltkriegs hinterlassen haben – in den Köpfen wirkt das Gedankengut nach.

D Stefanie Borowsky  Start am 24.11.2022

With laconic, partially theatrical-seeming dialogues and dark sounds, director Mareike Wegener creates a mixture of a disturbing provincial crime thriller, the contemporary echo myth and reckoning with history in the symbolic German forest. Jerzy Skolimowski’s EO is a homage to Bresson’s AU HASARD BALTHASAR: donkey EO takes an apocalyptic journey across a world that has been turned into hell by humans.

EO

Fürsorge und Grausamkeit

EO von Jerzy Skolimowski, der zusammen mit ACHT BERGE den diesjährigen Preis der Jury beim Cannes Filmfestival gewann, handelt von einem Esel. Dieser Esel durchlebt stumm und störrisch, wie Esel eben sind, verschiedene Besitzverhältnisse: Zirkus, Streichelzoo, Tierarzt, Gestüt, Schlachthaus, um nur die naheliegendsten Erfahrungen eines Nutztiers zu nennen. EO ist eine Hommage an Robert Bressons eigentümlichen Film AU HASARD BALTHASAR von 1966; auch dieser dreht sich um einen Esel als passiven Akteur, der gerade durch diese Passivität die ihn umgebenden Menschen als neurotisch, brutal und durchgehend absurd entlarvt. Gegenüber Balthasar wirkt der Esel Eo vermenschlichter, er spricht zwar nicht, doch verfügt er über Motivationen, die Balthasar fremd zu sein schienen. In vielen Szenen und Schnitten bietet Skolimowski eine Interpretation von Eos Handlungen nach menschlichem Vorbild an. Gleichzeitig ist EO aber auch radikaler auf die tierische Erfahrung fokussiert. Alle menschlichen Schauspieler*innen sind kurzlebige Nebenfiguren, die auftauchen und vergehen, ohne dass sich ihr Charakter bestimmen oder moralisch bewerten ließe. Eo erlebt Fürsorge und Grausamkeit, doch oft auch eine Mischung aus beidem. Dieser Graubereich, in dem sich die Erzählung bewegt, wird durch surrealistische Einstellungen und eine markante Filmmusik unterstützt. Zu den eindrücklichsten Szenen gehört ein Traum des schwer verletzten Esels, in dem ein vierbeiniger Roboter von Boston Dynamics durch eine schwarz verspiegelte Welt stakst. EO ist ein Ausgriff in eine bizarre, nichtmenschliche Welt – ohne aber vor den anthropozentrischen Strukturen die Augen zu verschließen, in denen Tieren als lebenden und leidenden Ressourcen sehr begrenzte und schockierende Plätze

zugewiesen werden. D Yorick Berta  Start am 22.12.2022

AFtErSUN

Nach dem Sonnenbad

USA/Großbritannien 2022 D 96 min D R: Charlotte Wells D B: Charlotte Wells D K: Gregory Oke D S: Blair McClendon D M: Oliver Coates D D: Paul Mescal, Frankie Corio, Celia Rowlson-Hall, Kayleigh Coleman, Sally Messham D V: Mubi

AFTERSUN heißt Charlotte Wells‘ Spielfilmdebüt, wie die Krem, die aufgetragen wird, um den Schmerz zu lindern, der nach dem selbstvergessenen Glück des Sonnenbads auftritt. Sophie (Celia Rowlson-Hall) erinnert sich beim Betrachten alter Videoaufnahmen an den gemeinsamen Türkei-Urlaub mit ihrem Vater Calum (Paul Mescal) vor zwanzig Jahren. Sie war elf, er wurde während der Reise 31. Aus den Videoaufnahmen entstehen Szenen wie mentale Bilder in Sophies Erinnerung. Der Budget-Urlaub beginnt mit Warterei an der Rezeption und einem Doppel- statt zwei Einzelbetten auf dem Zimmer, aber Calum und Sophie scheint das kaum etwas auszumachen. Das Geld ist knapp, und in dem All-Inclusive-Resort sind Calum und Sophie, die jeden Drink selbst zahlen müssen, Gäste der zweiten Klasse. Sophie steht an der Schwelle zur Pubertät, er wirkt so jung, dass zwei Teenager ihn beim Billard nach dem Namen seiner Schwester fragen. Sie interessiert sich nicht mehr für jüngere Kinder, ältere Teenager betrachtet sie heimlich, hängt später auch mit ihnen herum, aber so richtig dazu gehört sie noch nicht. Es wird sich viel eingekremt, und die Berührungen zwischen Vater und Tochter stehen ebenfalls auf der Schwelle. Mal trägt er sie wie ein Kind auf dem Arm ins Bett, mal will sie sich den Rücken selbst einkremen. Als das nicht gelingt, sind seine Berührungen äußerst vorsichtig.

Die ältere Sophie scheint in ihren Erinnerungen auf der Suche nach einer Dunkelheit zu sein, die sie damals, viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, nicht wahrgenommen hat. Calum ist an der Hand verletzt, es wird nie aufgeklärt, warum. Er kauft einen Teppich, den er sich nicht leisten kann. Langsam wird klar, dass neben der Urlaubsleichtigkeit eine Bedrohung mitschwingt, und dass Sophie als Erwachsene nach Antworten sucht, die sie vielleicht nie finden wird. Charlotte Wells‘ Film ist ein zärtlicher, heiterer und trauriger Film über Verlust und Erinnerung, der so unprätentiös daherkommt, dass die riskante Inszenierung mit so ungewöhnlichen wie beiläufigen Perspektiven leicht übersehen werden könnte. Stilistisch erinnert AFTERSUN am ehesten an Joanna Hogg (EXHIBITION), die sich aber nicht für die Arbeiterklasse interessiert, oder an Jonathan Glazer (UNDER THE SKIN). Charlotte Wells‘ Film ist eines der besten Debüts der letzten

Jahre. D Tom Dorow  Start am 15.12.2022

Sophie remembers her trip to Turkey with her father Calum 20 years ago by watching old video footage and traces chasms that she didn‘t perceive as a child.

Originaltitel: Armageddon Time D USA 2022 D 115 min D R: James Gray D B: James Gray D K: Darius Khondji D M: Christopher Spelman D D: Anne Hathaway, Anthony Hopkins, Jeremy Strong, Domenick Lombardozzi, Michael Banks Repeta D V: Universal Pictures

ARMAGEDDON TIME tells a coming-of-age story set in the 1980s in Queens, New York with a keen sense for the nuances and fractures. 12 year old Paul is supposed to pursue a successful career at any cost, but he prefers to dream about a life as an artist.

ZEItEN DES UmBrUCHS

Politisches Erwachen

ZEITEN DES UMBRUCHS erzählt sehr zart und mit vielen Nuancen eine Coming-of-Age Geschichte in Queens, New York in den 1980er Jahren. Während sein älterer Bruder Ted eine Privatschule besucht, geht der verträumte Paul (Michael Banks Repeta), der am liebsten zeichnet, in die sechste Klasse der staatlichen Schule. Es gefällt ihm gut dort, aber seine Leistungen lassen zu wünschen übrig, insbesondere als er sich mit dem neuen Sitzenbleiber Johnny (Jaylin Webb) anfreundet, der vor niemandem Angst hat, schon gar nicht vor dem Klassenlehrer Mr. „Turkey“ Turteltaub. Als John und Paul beim Kiffen erwischt werden, ergreifen Schule und Eltern Maßnahmen: John, dem Schwarzen Jungen aus prekären Verhältnissen, drohen Förderschule und Pflegeeltern, und Paul, Kind einer jüdischen Mittelschichtsfamilie mit Ambitionen, wird zum Privatschüler mit Schuluniform und Aktenköfferchen. In der Aula werden Ansprachen an die „neue Elite“ des Landes gehalten, und in dieser Welt ist kein Platz für seinen besten Freund. ZEITEN DES UMBRUCHS erzählt aus Pauls Sicht von einem politischen Erwachen. Konfrontiert mit widersprüchlichen Eindrücken und sich widersprechenden Erwartungen und Loyalitäten, wird sich Paul immer mehr der Brüche bewusst, die durch die Gesellschaft gehen, aber auch in seiner eigenen Familie zu spüren sind. Da ist die Großelterngeneration mit ihren Erfahrungen von Flucht und Diskriminierung, da ist aber auch der Vater (Jeremy Strong), der als einfacher Klempner mit dem Snobismus der Verwandtschaft zu kämpfen hat und vom Aufstieg der Kinder träumt. Momente von Zuwendung und Härte wechseln einander ab. Pauls Anker in diesem Strudel ist sein prinzipientreuer und unerschütterlicher Großvater Aaron (Anthony Hopkins), der ihn auffängt und daran erinnert, vor allen Dingen ein „Mensch“ zu

sein. D Hendrike Bake  Start am 24.11.2022 Originaltitel: Il buco D Italien/Frankreich/Deutschland 2021 D 93 min D R: Michelangelo Frammartino D B: Michelangelo Frammartino, Giovanna Giuliani D K: Renato Berta D S: Benedetto Atria D D: Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin, Nicola Lanza D V: Film Kino Text

IL BUCO can be seen as both an essay film about the modern demystification of the world and as a portrait of a landscape in which the cave plays the main role.

IL BUCO – EIN HÖHLENGLEICHNIS

Ungewöhnlich und schön

Warum macht man einen dialogfreien Film über eine Höhlenexpedition in Süditalien im Jahre 1961? Wer diese Frage erst einmal ignoriert und sich auf IL BUCO („Das Loch“) einlässt, sieht einen ungewöhnlichen und schönen Film. 1961 ist Italien im Wirtschaftswunder angekommen. Doch hundert Jahre nach der nationalen Vereinigung gibt es immer noch ein deutliches Gefälle zwischen dem industrialisierten Norden und dem bäuerlichen Süden, das bis heute weiterbesteht. In diesem Kontext bricht eine Gruppe von Höhlenforscher*innen aus Mailand auf nach Kalabrien, um eine der tiefsten Höhlen der Welt zu erkunden. Mit der Expedition hält scheinbar die Moderne Einzug in die pastorale Monotonie des Südens. Das Hinabsteigen, Ausleuchten, Vermessen lässt sich als Metapher für die kolonialistische Wissenschaft verstehen, zumal die Aufnahmen aus der Höhle oft kontrastiert werden mit Erkundungen des Körperinneren durch Ärzte oder der gebannten Versammlung vor dem Fernseher, der auch die Dorfbewohner*innen Kalabriens in die Globalisierung portiert. Essenziell sind diese Assoziationen jedoch nicht. IL BUCO lässt sich genauso gut als Essay über die modernistische Entzauberung der Welt schauen wie als Porträt einer Landschaft, in der die Höhle die Hauptrolle übernimmt: Anstelle von Dialogen hören wir Tropfen, anstelle von Gesichtern sehen wir Schatten. Den Aufnahmen aus den feucht-dunklen Gängen, die an Eingeweide erinnern, ohne ekeln zu wollen, gingen immense technische Herausforderungen voraus: Das Filmteam um den Regisseur und Hobbyspeläologen Michelangelo Frammartino brauchte nach jedem Drehtag bis zu vier Stunden, um an die Oberfläche zurückzukehren. Und auch über der Erde zeigt IL BUCO ausnahmslos beeindruckende Einstellungen, die auch die kleinsten Bewegungen und Geräuschen

atmosphärisch in Szene setzen. D Yorick Berta  Start am 10.11.2022

Originaltitel: Illusions perdues D Frankreich 2021 D 144 min D R: Xavier Giannoli D B: Jacques Fieschi, Xavier Giannoli D K: Jacques Fieschi D D: André Marcon, Benjamin Voisin, Cécile de France, Gérard Depardieu D V: Cinemien

Xavier Giannolis adaptation of the eponymous novel by Honoré de Balzac is opulent and precisely staged, but completely relies on the text for the important aspects of the narrative, for the categorization and interpretation of the events.

VErLOrENE ILLUSIONEN

Opulent, präzise, hochaktuell

Merkwürdig, dass im stolzen Kinoland Frankreich ein Film der große Gewinner bei den Césars ist, der so nah an der Literaturvorlage bleibt, dass er wichtige Passagen des Romans von einer Off-Stimme vorlesen lässt, anstatt sie filmisch umzusetzen. Xavier Giannolis Adaption des gleichnamigen Romans von Honoré de Balzac ist opulent und präzise inszeniert, vertraut aber für wichtige Aspekte der Erzählung, für die Einordnung und Interpretation der Ereignisse ganz auf den Text. Das gilt im Kino eigentlich als verpönt, weshalb man es fast als selbstbewussten Regelbruch sehen kann, die Worte des Autors auch ganz direkt vorkommen zu lassen. Beim Schauen gewöhnt man sich nach einer Weile daran, dass es hier eben einen Erzähler gibt, der einem immer wieder erklärt, was Sache ist. Erzählt wird von Aufstieg und Fall des jungen Dichters Lucien (Benjamin Voisin), der im nach-revolutionären, nach-napoleonischen Paris der Restauration versucht, sich einen Platz im Literaturbetrieb der Hauptstadt zu erkämpfen. Das läuft – siehe Titel – nicht darüber, dass die Granden der Szene sich in seine Gedichte verlieben, sondern über Kontakte, Intrigen, Gemeinheiten und den Verlust von Gewissen und Grundsätzen. Diesen Prozess der Desillusionierung, der Konfrontation mit gesellschaftlichen Mechanismen und den Blick hinter die grandiosen Fassaden von Kunstbetrieb und Adel erzählen Balzac und Giannoli überaus genau, jeder Schachzug wird nachvollzogen, jede Manipulation durchschaubar gemacht. Herrlich böse die Figur des hochprofessionellen käuflichen Claqueurs Singali, der Triumph oder Fiasko von Theaterpremieren an den Meistbietenden verkauft. Hochjubeln und Hetze spielen sich in Balzacs Paris aber vor allem in gekauften Artikeln in den vielen Tageszeitungen ab. Die Nähe dieser Methoden zum heutigen Hype oder Rufmord via Social Media liegt auf der Hand und gibt dem his-

torischen Stoff große Aktualität. D Susanne Stern  Start am 22.12.2022

Copyright: Karin Rocholl E L F R I E D E

Jelinek

DIE SPRACHE VON DER LEINE LASSEN

EIN FILM VON CLAUDIA MÜLLER

/ ElfriedeJelinekFilm

AB 10. NOVEMBER IM KINO

Soundwatch #6 Music Film Festival Berlin November 8–21, 2022

Lichtblick-Kino Jugendwiderstandsmuseum Galiläakirche Kino im Zeiss Großplanetarium Tschechisches Zentrum Berlin / Klick Kino Zönotéka / Café Oblomov / ausland soundwatch.de

mENSCHLICHE DINGE

Paradigmenwechsel

Bereits in DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEÏLA (frz. LE BRIO, das Vorbild für Sönke Wortmanns CONTRA) beschäftigte sich Yvan Attal damit, was passiert, wenn alte, weiße Dinosaurier des Kulturbetriebs auf neue Sensibilitäten stoßen. Damals war es ein ressentimentgeladener Juraprofessor, der an eine schlagfertige Studentin mit arabischen Wurzeln geriet. Auch MENSCHLICHE DINGE nach dem gleichnamigen Roman von Karine Tuil ist wieder ein eleganter Film, der von gesellschaftlichem Diskurs handelt und von seinen klugen, scharfen Dialogen lebt, die Tonlage ist aber um Einiges ernster. Im Zentrum steht die ultra-bürgerliche Familie Farel. Vater Jean (Pierre Arditi) ist ein bekannter Fernsehmoderator. Mutter Claire (Charlotte Gainsbourg) ist feministische Essayistin, Sohn Alexandre (Ben Farel) studiert an einer US-amerikanischen Elite-Uni und ist gerade in den Semesterferien zu Besuch. Die Eltern sind getrennt, aber die Verhältnisse scheinen geklärt und freundschaftlich.

Der Film beginnt auf dem Zenith von Jeans Karriere, morgen soll er zum Großoffizier der Ehrenlegion ernannt werden, aber eine Zeitenwende kündigt sich bereits an. Seine Talkshow „Le Grand Oral“ wird abgesetzt, man brauche „neue Gesichter“. Auch Claire spürt Gegenwind, eben noch hat sie sich in einer Radiodebatte um sexuelle Gewalt durch Migranten gegen den Vorwurf des Rassismus verteidigt. „Alle sexuellen Straftäter, und ich meine, alle, müssen gleichermaßen hart bestraft werden!“ ist ein Satz, der ihr auf die Füße fallen wird: Am Morgen der Preisverleihung wird ihr Sohn Alexandre von Polizisten abgeholt. Der Vorwurf lautet Vergewaltigung, und die Anklägerin ist keine andere als Mila (Suzanne Jouannet), die Tochter von Claires neuem Lebensgefährten, mit der Alexandre am vergangenen Abend gemeinsam auf einer Party war.

Originaltitel: Les choses humaines D Frankreich 2021 D 138 min D R: Yvan Attal D K: Rémy Chevrin D S: Albertine Lastera D M: Mathieu Lamboley D D: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg, Pierre Arditi, Mathieu Kassovitz D V: MFA+

Minutiös verfolgt MENSCHLICHE DINGE wie die Schockwellen die beiden betroffenen und verzahnten Familien durchlaufen. Wie Alexandre nur langsam begreift, dass seine Zukunftspläne sich erstmal in Luft auflösen. Wie Mila unter Tränen aussagen muss, während ihre jüdisch-orthodoxe Mutter fassungslos daneben sitzt. Wie Claire sich fragt, ob ihr Sohn das wirklich getan haben könnte, und Jean davon ausgeht, dass er unschuldig ist: „Das hat er doch gar nicht nötig“. Zwei Jahre später kommt es zum Prozess, dem Herzstück des Films, und in einer hochspannenden Verhandlung schälen sich aus Falschaussagen, Zeugenbefragungen und Plädoyers nach und nach die Umstände des verhängnisvollen Abends heraus.

Dabei ist der Tathergang am Ende einigermaßen klar, zumindest so viel: Es kam zum Sex und Mila hat sich nicht gewehrt oder „Nein“ gesagt. Worum es in MENSCHLICHE DINGE eigentlich geht, ist etwas anderes. Der Film wirft ein scharfes Licht auf die beiden völlig unterschiedlichen Perspektiven von Täter und Opfer. Was der vom Leben und weiblicher Aufmerksamkeit verwöhnte Alexandre maximal als eine Art versnobte Rücksichtslosigkeit versteht, hat Mila als bewussten, willkürlichen Übergriff erlebt. Noch vor 10 Jahren wäre Alexandre ein Freispruch sicher gewesen, wäre eine Anklage vermutlich erst nie erfolgt, doch inzwischen haben sich die Parameter verschoben. In MENSCHLICHE DINGE lotet Yvan Attal geschickt die Eckpunkte des Diskurses

aus. D Hendrike Bake  Start am 3.11.2022

After a party, young elite student Alexandre is accused of rape. In the legal drama THE ACCUSATION, Yvan Attal deftly surveys key points of contemporary discourse: when does recklessness and thoughtlessness become sexual assault?

ein Film von MAREIKE WEGENER

ein Film von MAREIKE WEGENER

ein Film von MAREIKE WEGENER

INU-OH

ein Film von MAREIKE WEGENER

Rock-Oper-Superstars

Der Animationsfilm INU-OH erzählt die Geschichte von zwei jungen Männern. Beide sind verflucht: Tomona stammt aus einer Familie, die im Fluss nach den Überresten einer mythischen Schlacht taucht. Als er mit seinem Vater ein Artefakt birgt, stirbt der Vater sofort, Tomona wird geblendet. Tomona wird zu einem Biwa-hoshi, einem blinden Mönch, der durchs Land reist und Geschichten zur Biwa-Laute vorträgt. Das bedeutendste Werk in der mittelalterlichen Tradition der Biwa-Mönche sind die „Heike Monogatari“ des Mönchs Akashi Kakuichi, Geschichten eines untergegangenen Samurai-Geschlechts, nach deren Schätzen Tomonas Familie tauchte. Als Tomona einem monströs entstellten Jungen begegnet, finden sie gemeinsam heraus, dass der Junge, der sich nun Inu-Oh, der „Herr der Hunde“ nennt, von den Geistern der Heike umschwärmt wird. Sie flüstern ihm neue Geschichten der Heike ins Ohr, die er als Songs mit Tomona vorträgt. Inu-Oh ist der verstoßene und verfluchte Sohn eines Meisters des Noh-Tanzes, und gemeinsam werden sie zu Stars. Ab hier wird der Film zu einer Art Rock-Oper. Die traditionellen Biwa-Klänge werden zur E-Gitarre, und die Bühnenshows der Auftritte von Tomona und Inu-Oh werden immer elaborierter, bis sie Stadionrockkonzerten gleichen. Mit jedem neuen Song verliert Inu-Oh ein Stück Monstrosität, aber allmählich ziehen sie den Zorn der Traditionalisten und des Shogun auf sich. Der virtuos gezeichnete Film arbeitet mit vielen unterschiedlichen visuellen Stilen. Die Geschichte erinnert an Osamu Tezukas Manga-Klassiker „Dororo“, in dem sich der Held seinen Körper ebenfalls allmählich zusammensuchen muss, aber es klingt noch etwas anderes an: der Wandel der japanischen Kultur nach dem Krieg, als der Einfluss neuer amerikanischer Musik einer Generation einen neuen Weg der Subjektwerdung

ein Film von MAREIKE WEGENER

GRANDFILM präsentiert EINE PETROLIO FILMPRODUKTION in Koproduktion mit dem WDR ECHO von MAREIKE WEGENER mit VALERY TSCHEPLANOWA URSULA WERNER ANDREAS DÖHLER FELIX RÖMER OSKAR KEYMER MARINA GALIC BERND RADEMACHER ROLAND SILBERNAGL MICHAEL STANGE ILSE STRAMBOWSKI versprach. D Tom Dorow  Start am 17.11.2022

The monstrous Inu-oh was deformed in the womb as the result of a curse,

Tomona the monk goes blind due to a curse. Together they become rock superstars, 600 years ago, by singing about stories of the restless dead.

ERIC KLOTZSCH YVON JANSEN JULES LUIS

Postproduktions-Supervisorin TOLKE PALM GRANDFILM präsentiert eine SERGER Bildgestaltung SABINE PANOSSIAN Colorist GREGOR PFÜLLER VFX RUDOLF PETROLIO FILMPRODUKTION in GRANDFILM präsentiert eine PETROLIO FILMPRODUKTION in Koproduktion mit dem WDR ECHO von MAREIKE WEGENER Szenenbildnerin INA TIMMERBERG GERMANN Ton & Sounddesign PETER RÖSNER Co-Produktion mit dem WDR ECHO von MAREIKE WEGENER mit mit VALERY TSCHEPLANOWA URSULA WERNER ANDREAS DÖHLER FELIX RÖMER OSKAR KEYMER MARINA GALIC BERND RADEMACHER ROLAND SILBERNAGL MICHAEL STANGE ILSE STRAMBOWSKI ERIC KLOTZSCH YVON JANSEN JULES LUIS SERGER Kostümbildnerin GITTI FUCHS MAKE-UP Komponist THOM KUBLI in Kollaboration mit der WDR BIG BAND Redakteurin ANDREA VALERY TSCHEPLANOWA URSULA WERNER ANDREAS DÖHLER Bildgestaltung SABINE PANOSSIAN Szenenbildnerin INA TIMMERBERG Kostümbildnerin GITTI FUCHS Make-Up DIANA BADALOVA Casting ULRIKE MÜLLER Dramaturgische Beratung GABRIELE BRUNNENMEYER DIANA BADALOVA Casting ULRIKE MÜLLER HANKE Produzent:innen MAREIKE WEGENER FELIX RÖMER OSKAR KEYMER MARINA GALIC BERND RADEMACHER Produktionsleitung LAURA WEBER Postproduktions-Supervisorin TOLKE PALM Colorist GREGOR PFÜLLER VFX RUDOLF GERMAN Ton & Sounddesign PETER RÖSNER Komponist THOM KUBLI in Kollaboration mit der WDR Big Band Redakteurin Westdeutscher Rundfunk Köln Dramaturgische Beratung G ABRIELE HANNES LANG Buch Regie & Schnitt ROLAND SILBERNAGL MICHAEL Andrea Hanke Produzent:innen MAREIKE WEGENER HANNES LANG Buch Regie Schnitt MAREIKE WEGENER STANGE ILSE STRAMBOWSKI BRUNNENMEYER Produktionsleitung LAURA WEBER M A R E I K E W E G E N E R

ein Film von MAREIKE WEGENER ein Film von MAREIKE WEGENER ein Film von MAREIKE WEGENER

GRANDFILM präsentiert EINE PETROLIO FILMPRODUKTION in Koproduktion mit dem WDR ECHO von MAREIKE WEGENER mit VALERY TSCHEPLANOWA URSULA WERNER ANDREAS DÖHLER FELIX RÖMER OSKAR KEYMER MARINA GALIC BERND RADEMACHER ROLAND SILBERNAGL MICHAEL STANGE ILSE STRAMBOWSKI

„MAL EIN GANZ ANDERER PROVINZ-KRIMI ein Film von MAREIKE WEGENER – AUSSERGEWÖHNLICH, ANREGEND UND LAKONISCH-LUSTIG!“

filmstarts.de

ERIC KLOTZSCH YVON JANSEN JULES LUIS

Postproduktions-Supervisorin TOLKE PALM GRANDFILM präsentiert eine SERGER Bildgestaltung SABINE PANOSSIAN Colorist GREGOR PFÜLLER VFX RUDOLF PETROLIO FILMPRODUKTION in GRANDFILM präsentiert eine PETROLIO FILMPRODUKTION in Koproduktion mit dem WDR ECHO von MAREIKE WEGENER Szenenbildnerin INA TIMMERBERG GERMANN Ton & Sounddesign PETER RÖSNER Co-Produktion mit dem WDR ECHO von MAREIKE WEGENER mit mit VALERY TSCHEPLANOWA URSULA WERNER ANDREAS DÖHLER FELIX RÖMER OSKAR KEYMER MARINA GALIC BERND RADEMACHER ROLAND SILBERNAGL MICHAEL STANGE ILSE STRAMBOWSKI ERIC KLOTZSCH YVON JANSEN JULES LUIS SERGER Kostümbildnerin GITTI FUCHS MAKE-UP Komponist THOM KUBLI in Kollaboration mit der WDR BIG BAND Redakteurin ANDREA VALERY TSCHEPLANOWA URSULA WERNER ANDREAS DÖHLER Bildgestaltung SABINE PANOSSIAN Szenenbildnerin INA TIMMERBERG Kostümbildnerin GITTI FUCHS Make-Up DIANA BADALOVA Casting ULRIKE MÜLLER Dramaturgische Beratung GABRIELE BRUNNENMEYER DIANA BADALOVA Casting ULRIKE MÜLLER HANKE Produzent:innen MAREIKE WEGENER FELIX RÖMER OSKAR KEYMER MARINA GALIC BERND RADEMACHER Produktionsleitung LAURA WEBER Postproduktions-Supervisorin TOLKE PALM Colorist GREGOR PFÜLLER VFX RUDOLF GERMAN Ton & Sounddesign PETER RÖSNER Komponist THOM KUBLI in Kollaboration mit der WDR Big Band Redakteurin Westdeutscher Rundfunk Köln Dramaturgische Beratung G ABRIELE HANNES LANG Buch Regie & Schnitt ROLAND SILBERNAGL MICHAEL Andrea Hanke Produzent:innen MAREIKE WEGENER HANNES LANG Buch Regie Schnitt MAREIKE WEGENER STANGE ILSE STRAMBOWSKI BRUNNENMEYER Produktionsleitung LAURA WEBER M A R E I K E W E G E N E R

ein Film von MAREIKE WEGENER ein Film von MAREIKE WEGENER ein Film von MAREIKE WEGENER

HALLELUJAH: LEONArD COHEN, A JOUrNEY, A SONG

Lied und Autor

HALLELUJAH erzählt von der Entstehung eines modernen Volksliedes: Die Regisseur*innen Danya Golfine und Dan Geller lassen ihre Zuschauer*innen miterleben, wie Leonard Cohens „Hallelujah“ in der Zeitspanne eines Menschenlebens zu einem weltweiten Phänomen wurde. Das Leben Cohens, der 2016 verstorben ist, bildet dabei den Rahmen für die Geschichte eines Liedes, das sich eigentlich längst von seinem Autor gelöst hat. Als der jüdische kanadische Dichter Leonard Cohen Anfang der 60er zum ersten Mal als Musiker in Erscheinung tritt, ist er mit 32 Jahren schon zu alt für „das Geschäft“. Erst, als die bekannte Sängerin Judy Collins seinen Song „Suzanne“ covert, beginnt seine ungewöhnliche musikalische Karriere. Das Filmteam interviewte zahlreiche seiner Wegbegleiter*innen, darunter die langjährige Kollaborationspartnerin Sharon Robinson und den „Hallelujah“-Produzenten John Lissauer, der auch den Score zum Film komponiert hat. Die Fotografin Dominique Issermann, die lange mit Cohen zusammen war, war dabei, als er „Hallelujah“ schrieb, und findet eine treffende Metapher: Das Lied sei „wie ein Vogel, der durch den Raum fliegt und manchmal die Wände der Kultur berührt.“ Flughilfe bekam das Lied von Musikern wie Bob Dylan, John Cale (Velvet Underground) und Jeff Buckley, deren Versionen längst bekannter sind als das Original. Heute ist „Hallelujah“ ein Weihnachts- und Hochzeitsschlager, der in dem Repertoire keines Kirchenchores fehlen darf. Der Dokumentarfilm zeichnet den Weg des Songs nach, verfolgt aber auch die Spur zurück zu seinem Urheber. So erinnert er seine Zuschauer*innen unter anderem daran, dass dieses vielleicht bekannteste „moderne Gebet“ sprachlich wie philosophisch in einer jüdischen Tradition steht.

D Eva Szulkowski  Start am 17.11.2022

The documentary follows the story behind what is probably Leonard Cohen’s most well-known song. Deutschland 2021 D 94 min D R: Florian Hoffmann D B: Florian Hoffmann D K: Carmen Treichl D S: Marco Rottig D D: Hadi Khanjanpour, Kristin Suckow, Aziz Capkurt, Jeanette Hain, Melda Kanbak D V: Across Nations

Elementary school teacher Khalil has lived in Germany for years. He begins a feverish search when he believes he recognizes his sister in pictures from Kurdistan.

StILLE POSt

Kurdischer Lehrer in Berlin

Mit seinen Schülerinnen und Schülern pflegt Lehrer Khalil (Hadi Khanjanpour) einen so emphatischen wie sanft-autoritären Umgang: nicht gefürchtet, aber stets respektiert. Für den Lehrer-Job, zumal in Berlin, keine ganz schlechten Voraussetzungen. Rührend, wie er einem Jungen nicht nur physisch, sondern mit Worten über den Turnkasten hilft: „Ist doch gut!“. Das Leben des Pädagogen wird zerfleddert, als ihm seine, als Journalistin arbeitende Freundin (Kristin Suckow) Videos aus seiner kurdischen Heimatstadt zeigt: Ist das wirklich seine, seit Jahren tot gewähnte Schwester Senem, die all die brutalen Zusammenstöße zwischen Kurden und türkischen Sicherheitskräften filmt? Über fast die gesamte Filmlänge wird Khalil sich mit dieser Frage herumschlagen. Wird versuchen, die stets neuen, über einen kurdischen Kulturverein nach Berlin geschmuggelten Bilder aus Cizre, dieser am Tigris gelegenen Stadt, einzuordnen. Wie es Khalil zunehmend emotional zerreißt, dafür findet der in Kreuzberg geborene Regisseur Florian Hoffmann in seinem Spielfilmdebüt adäquate, zumeist in kühles Grüngrau getauchte Bilder. Ein Grüngrau, das nicht selten vom Widerschein all der Monitore und Mobiltelefone stammt, die im Film eine Rolle spielen. STILLE POST ist (auch) Kommentar zu und Kritik an unserer Medienkultur. Wie funktioniert Agenda Setting? Welche Bilder schaffen es durch die Filter der (auf vermeintlich zynischen Maßstäben fußenden) Medien? Fragen wie diese überlasten den Film, der schon an seinem Hauptthema schwer trägt, ein wenig. Am meisten bei sich ist der Film in den Szenen, die den Lehrer beim schlichten, indes so wichtigen Einfach-Für-Seine-Schüler-Da-Sein zeigen, etwa wenn Khalil das kurdische Mädchen aus seiner Klasse vor den Hänseleien türkischer

Jungs in Schutz nimmt. D Matthias von Viereck  Start am 15.12.2022

Deutschland 2022 D 105 min D R: Pola Beck D B: Burkhardt Wunderlich D K: Juan Sarmiento G. D S: Philipp Thomas D M: Johannes Repka D D: Aylin Tezel, Sohel Altan Gol, Slavko Popadic, Yuval Scharf D V: Port-Au-Prince Pictures

Based on the eponymous bestseller by Olga Gryasnowa from 2012, Pola Beck tells the story, both quickly and sensitively, of a global generation that continually recomposes its own coordinate systems of “home“ and “family”.

DEr rUSSE ISt EINEr, DEr BIrKEN LIEBt

Was hält?

Einmal beschwert sich ihr deutscher Freund Elias (Slavko Popadic) bei Mascha (Aylin Tezel) darüber, dass er gar nichts über sie weiß, sie nie etwas von sich erzähle. Für ihn ist das ein Zeichen mangelnden Vertrauens. Vielleicht ist das auch so, denn Mascha legt sich nur ungern fest. Andererseits lässt sich Mascha auch nicht so leicht auf einen Ort, eine Geschichte reduzieren. Sie ist zugewanderte Deutsche, geflohen aus Aserbaidschan, von Kindheitstraumata geprägt, aber gut aufgehoben im Jetzt, Jüdin, und als angehende Dolmetscherin in vielen Sprachen, Orten und Kulturen zu Hause. Mit ihrem besten Freund Cem (Sohel Altan Gol), ebenfalls Dolmetscher, spricht sie Türkisch, ansonsten Deutsch, Russisch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch. Sie ist Klassenbeste, feiert gern und träumt von einer Karriere bei der UN. Der Film fängt diese Vielheit, die auch ein Gefühlszustand ist, in schnellen Orts- und Zeitwechseln ein. Gegenwart und Vergangenheit verschränken sich, wenn Mascha eben noch mit Elias in der gemeinsamen Küche sitzt, dann allein in einem Apartment in Tel Aviv. Erst nach und nach schält sich heraus, wie sie dort hingekommen ist, dass Elias nach einem Sportunfall erkrankt und an Komplikationen verstorben ist, und Mascha nun sozusagen auf der Flucht ist – in noch mehr Orte, Sprachen, Beziehungen, Konflikte. Nach dem gleichnamigen Bestseller von Olga Grjasnowa aus dem Jahr 2012 erzählt Pola Beck gleichermaßen schnell und einfühlsam von einer globalen Generation, die sich ihre Koordinatensysteme aus „Zuhause“ und „Familie“ selbst und immer wieder neu zusammensetzt. Als mit Elias Maschas wichtigster Ankerpunkt wegfällt, bricht für sie dieses Koordinatensystem auseinander und katapultiert sie auf eine Reise, auf der sie austestet, was hilft, was hält, und was bleibt. D Toni Ohms  Start am 3.11.2022

mEIN GEStOHLENES LAND

Paúl ist Anführer des bewaffneten, indigenen Protests gegen die Mine Río Blanco. Sie kämpfen gegen die rücksichtslose Ausbeutung und sehen dabei massiver staatlicher Verfolgung ins Auge. Fernando ist Journalist und hat Geheimverträge aus den Jahren 2009 bis 2017 aufgedeckt, in denen sich Ecuador unter der Regierung Rafael Correas extrem bei China verschuldet hat und in Folge dessen seine landesweite Souveränität in Bereichen des Bergbaus oder der Ölförderung in Gefahr ist. Fernando sagt dazu, Ecuador sei nun ein weiteres Mal kolonialisiert worden.

 Start am 10.11.2022

Deutschland 2021 D 93 min D R: Marc Wiese D K: Wolfgang Held D S: Marc Schubert D M: Alva Noto D V: Real Fiction

VANDANA SHIVA – EIN LEBEN FÜr DIE ErDE

1982 gründete die Wissenschaftlerin und Schriftstellerin Dr. Vandana Shiva die Research Foundation for Science, Technology and Ecology (RFSTE), ein unabhängiges Forschungsinstitut, das sich mit den drängendsten ökologischen Problemen unserer Zeit befasst, und zwei Jahre später Navdanya („neun Samen“), eine Bewegung zur Verteidigung der biologischen Vielfalt und der Kleinbauern. Ihr Engagement machte sie zur Feindin der Agrarindustrie und brachte ihr den alternativen Nobelpreis ein. Der Dokumentarfilm erzählt von ihrem Werdegang zur Umweltaktivistin.

 Start am 1.12.2022

USA/Australien 2021 D 81 min D R: James Becket, Camilla Becket

GEIStErSCHIFFE

Die thailändische Fischereiindustrie gehört zu den größten der Welt. Die illegale Fischerei macht dabei einen großen Teil des Marktes aus, vor allem, seit die Bucht von Thailand praktisch leergefischt ist und die Trawler weite Wege zu den Fischgründen zurücklegen müssen. Patima Tungpuchayathul versucht mit ihrer Organisation LPN (Labor Rights Promotion Network Foundation) auf den Schiffen versklavte Männer zu befreien und Männern, die aus der Sklaverei entkommen sind, die Rückkehr in ihre Heimat und zu ermöglichen und sie bei Gericht zu unterstützen.

 Start am 8.12.2022

mErKEL

Angela Merkel war nicht nur die erste Frau im Bundeskanzleramt, mit vier Amtszeiten von 2005 bis 2021 gehört sie neben Helmut Kohl (fünfmal wiedergewählt) und Konrad Adenauer auch zu den erfolgreichsten Personen, die diesen Posten je bekleidet haben. Basierend auf Archivmaterial und Interviews mit engen Vertrauten erzählt der Dokumentarfilm zum ersten Mal mit Blick auf ein internationales Publikum „den unaufhaltsamen Aufstieg der dreifachen Outsiderin – Frau, Wissenschaftlerin, Ostdeutsche – und wie sie zur de facto Führerin der Freien Welt wurde.“

 Start am 24.11.2022

BLACK mAmBAS

Für die „Black Mambas“ ist ihr Job ein Dilemma. Im Kruger Nationalpark, einem der beliebtesten Tourismusziele Südafrikas, gehen die Rangerinnen gegen Wilderer vor. Für sie selbst ist der Job eine Chance, für ihre Communities kommt er oftmals Verrat gleich, denn die lokalen Gemeinden haben an der Wildtierwirtschaft der Parks keinen Anteil. Der Film porträtiert die Arbeit der Frauen zwischen Artenschutz und Tradition, weißen Vorgesetzen und fordernden Angehörigen, und wirft einen Blick auf „das System Nationalpark“.

 Start am 17.11.2022

Frankreich/Deutschland/Südafrika 2022 D 81 min D R: Lena Karbe

rOBIN BANK

Der katalanische Aktivist Enric Ducan, aka Robin Bank, nahm zwischen 2005 und 2008 Kredite in Höhe von einer halben Million Euro auf, die er nie zurückzahlte. Stattdessen ließ er das Geld sozialen Projekten zukommen, die für die ihnen geschenkten Gelder natürlich nicht belangt werden konnten. Nach einer zweimonatigen Haft wurde Ducan auf Kaution freigelassen und floh. Bis heute lebt er im Exil und agitiert von dort aus für zivilen Ungehorsam. Die Dokumentarfilmerin Anna Giralt Gris hat ihn aufgespürt und erzählt seine Geschichte.

 Start am 10.11.2022

Spanien 2022 D 80 min D R: Anna Giralt Gris

CrImES OF tHE FUtUrE

Körper-Pop der unmittelbaren Vergangenheit

In der Welt, die David Cronenbergs CRIMES OF THE FUTURE beschreibt, spüren die meisten Menschen keinen Schmerz mehr. Eine Ausnahme ist der Performance-Künstler Saul Tenser (Viggo Mortensen), der ständig an Schmerzen leidet, in einem speziellen Knochenmassage-Bett schlafen und in einem sehr unbequem wackelnden Stuhl frühstücken muss. Seine Kreativität besteht in der permanenten Produktion neuer Organe, deren Zweck ungewiss bleibt. Es seien Tumore, rumort es. Seine Partnerin Caprice (Lea Seydoux), eine ehemalige Trauma-Chirurgin, tätowiert Sauls Organe im Körper und extrahiert Sauls „innere Schönheit“ schließlich mit einer aufwendig umgebauten Autopsie-Maschine während einer Live-Performance. Saul und Caprice sind Superstars der Performance-Kunstszene.

Man merkt Cronenbergs Film an, dass der Regisseur dieses Projekt bereits in den 90er Jahren begonnen hat. Es gibt zahlreiche Bezüge zu älteren Filmen, vor allem zu VIDEODROME (1981), in dem Körper mit Medien (bzw. VHS-Videorekordern) verschmelzen und ein „neues Fleisch“ begründen, und mit DEAD RINGERS (1988), in dem Zwillinge einen Fetisch für mutierte Geschlechtsorgane entwickeln. In den neunziger Jahren wurden die Fantasien aus Cronenbergs früheren Filme immer mehr zur Wirklichkeit. In der Pop-Kultur wurden Tattoos und Piercings zum Kennzeichen von „urban primitives“ erklärt, Body Art und Body Modifications wurden Mainstream, Performance-Künstler wie Flatz, der sich auf einem Berliner Mietshaus kreuzigen und auspeitschen ließ, während ein Hubschrauber eine tote Kuh auf die Straße warf, wurden zu Cover-Stars des „Zeit-Magazins“. Goths lasen Batailles „Erotisme“ und dachten beim transgressiven Vögeln an den Tod.

CRIMES OF THE FUTURE ist also eher ein ironischer Titel. Das „shock value“ der älteren Cronenbergs erreicht CRIMES nicht, aber der Witz, der damals auch durch die Erregung in den Zensurbehörden verdeckt wurde, tritt deutlicher hervor. Es gibt eine Performance eines nicht ganz so großartigen, aber populären Künstlers, der sich hundert Ohren an den Körper nähen lässt, die aber alle nichts hören. Es gibt ein Fan-Archiv, in dem Kristen Stewart als sexy-creepy Mega-Fan davon träumt, EINMAL selbst eines von Sauls Organen zu tätowieren. Es gibt ein lesbisches Mechanikerinnen-Paar, das völlig auf die Autopsie-Maschine abfährt. Ob die Verbrechen der Zukunft wirklich in der Manipulation von Organen und epigenetischen Versuchen mit dubiosen Zwecken liegen, sei mal dahingestellt. Als eine Satire über den Körper-Pop der unmittelbaren Vergangenheit ist CRIMES OF THE FUTURE ungemein amüsant. Dass zu Beginn des Films ein Plastikmülleimer verzehrt wird, ist konsequent. D Tom Dorow

Kanada/Griechenland/Frankreich 2022 D 107 min D R: David Cronenberg D B: David Cronenberg D K: Douglas Koch D S: Christopher Donaldson D M: Howard Shore D D: Kristen Stewart, Léa Seydoux, Viggo Mortensen, Scott Speedman, Tanaya Beatty D V: Weltkino

 Start am 10.11.2022

In the world which David Cronenberg’s CRIMES OF THE FUTURE depicts, most people don’t feel any pain anymore. One exception is performance artist Saul Tenser (Viggo Mortensen), who is constantly in pain and is constantly producing new organs with purposes that remain unclear.

Originaltitel: Mrs. Harris Goes To Paris D USA 2022 D 115 min D R: Anthony Fabian D B: Carroll Cartwright, Anthony Fabian D K: Felix Wiedemann D S: Barney Pilling D M: Rael Jones D D: Jason Isaacs, Rose Williams, Lesley Manville, Isabelle Huppert, Alba Baptista, Anna Chancellor D V: Universal Pictures

When Londoner Mrs. Harris, a cleaning woman, falls in love with the Dior ball gown of one of her clients and unexpectedly wins a nice amount on a bet, she dares to set a goal for herself. A fairy-tale, impractical luxury goal: a Dior dress.

mrS. HArrIS UND EIN KLEID VON DIOr

Träume in Tüll

MRS. HARRIS UND EIN KLEID VON DIOR ist zuckersüß, ein Film wie ein Windbeutel mit Schokoüberzug, oder besser – es geht ja um Paris und ein gewisses je-ne-sais-quoi – ein elegantes Türmchen hauchzarter Profiteroles. Mrs. Harris (Lesley Manville) ist eine Londoner Putzfrau, deren Ehemann auch ein Jahrzehnt nach dem Krieg noch als vermisst gilt. Ihre beste Freundin ist die zupackende Nachbarin Vi, und im Hintergrund hält ihr Archie die Stange, der im Wettbüro der Hunderennbahn arbeitet. Als Mrs. Harris bei einer ihrer Kundinnen ein Ballkleid von Dior entdeckt, einen pastellfarbenen Traum aus Tüll und Stickerei, und überraschend eine hübsche Summe beim Wetten gewinnt, wagt sie es, sich ein Ziel zu setzen. Ein unpraktisches Luxusziel: ein Kleid von Dior. Wie Mrs. Harris sich Penny für Penny ihren Traum zusammenspart, gehört zu den rührendesten Szenen des Films. Und dennoch braucht es noch zusätzliches Glück, bis sie endlich im Flieger nach Paris sitzt. Dort angekommen, gerät sie nicht nur an Madame Colbert (Isabelle Huppert), die die einfache Frau sofort wieder hinauskomplimentieren möchte, sondern stellt auch fest, dass sie für die Maßanfertigung EINE GANZE WOCHE in Paris bleiben muss, wofür sie weder Geld noch Zeit hat. Doch alle helfen mit: Vi und Archie in London, ein Vicomte und ein Buchhalter in Paris, und Model Natascha mit dem Faible für existentialistische Literatur. Mrs. Harris schlägt sie alle mit ihrer Mischung aus großen Träumen und einer schlagfertigen Bodenständigkeit in ihren Bann. MRS. HARRIS ist ein buntes, nostalgisches Filmmärchen, das nicht nur in den 1950ern spielt, sondern auch dort hätte produziert sein können. Weniger raffiniert als die Kreationen von Dior, dabei aber so offenherzig wohlwollend, dass man ihm das

kaum übelnehmen kann. D Hendrike Bake  Start am 10.11.2022

„DER FILM FEIERT TRIUMPHIEREND DIE STÄRKE DER FRAUEN“

- FILM THREAT

ELIZABETH BANKS

SIGOURNEY WEAVER

AB 1. DEZEMBER IM KINO

DCMSTORIES.COM

Originaltitel: Vous n’aurez pas ma haine D Deutschland/Frankreich/Belgien 2022 D 102 min D R: Kilian Riedhof D B: Kilian Riedhof, Jan Braren, Marc Blöbaum, Stéphanie Kalfon D D: Pierre Deladonchamps, Camélia Jordana, Zoé Iorio, Anaïs Dahl D V: Tobis Filmverleih

mEINEN HASS BEKOmmt IHr NICHt

Suche nach Halt

Der Journalist Antoine Leiris schrieb, nachdem seine Frau Hèléne beim islamistischen Massaker im Musikclub Bataclan ermordet wurde, ein Facebook-Posting, das in kürzester Zeit viral ging und am nächsten Tag auf der Titelseite von „Le Monde“ abgedruckt wurde. Das Posting verband tiefste persönliche Betroffenheit mit einer beeindruckenden Weigerung, in die Spirale des Hasses und der Gewalteskalation einzusteigen. Leiris schrieb später ein Buch mit dem Titel „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, das vor allem einen todtraurigen Mann zeigte, der verzweifelt nach Halt sucht, und ihn am ehesten in der Verantwortung für seinen kleinen Sohn Melvil findet. Der gleichnamige Film von Kilian Riedhof, der vor allem für seine TV-Dokudramen „Gladbeck“ und „Der Fall Barschel“ bekannt ist, hält sich über weite Strecken minutiös an Leiris’ Schilderungen. Es geht weniger um Leiris’ Absichtserklärung, glücklich zu werden, damit sein Sohn nicht von ererbtem Hass zerfressen wird, sondern um das Überleben, wenn Verlust und Trauer die ganze Welt als fremd erscheinen lassen. Von den zahlreichen Bataclan-Filmen, die in den letzten Monaten herausgekommen sind oder demnächst starten – NOVEMBER über die Polizeiarbeit nach dem Anschlag, der spanische Film LIEBE, FRIEDEN UND DEATH METAL über zwei Überlebende nach dem Anschlag, und die Netflix-Doku NOVEMBER 13 – ATTACK ON PARIS, eine Chronik aus der Perspektive von Überlebenden, Polizisten und Helfern – interessiert sich MEINEN HASS BEKOMMT IHR NICHT am wenigstens für das Attentat selbst. Antoine (Pierre Deladonchamps) schaltet den Fernseher aus, wenn Nachrichten über die Täter zu sehen sind. Riedhofs Film zeigt Momentaufnahmen, in denen der Alltag als junger Vater beim Überleben hilft, und solche, in denen Schmerz und

Trauer ihn überwältigen. D Tom Dorow  Start am 10.11.2022

Antoine Leiri loses his wife and daughter in the attack at the Parisian club Bataclan. His social media post “you will not have my hate!” spreads across the world. An adaptation of the eponymous autobiographical book. Originaltitel: Berdreymi D Island/Dänemark/Schweden/Niederlande/Tschechische Republik 2022 D 123 min D R: Guðmundur Arnar Guðmundsson D B: Guðmundur Arnar Guðmundsson D K: Sturla Brandth Grøvlen D S: Andri Steinn Guðjónsson, Anders Skov D D: Birgir Dagur Bjarkason, Áskell Einar Pálmason, Viktor Benóný Benediktsson, Snorri Rafn Frímannsson, Anita Briem D V: Edition Salzgeber

Growing up can be exhilirating, overwhelming, magical and nightmarish all at once. Guðmundur Arnar Guðmundsson captures all of this in his second feature film BEAUTIFUL BEINGS and engagingly portrays a group of teens living in a suburb of Reykjavik.

BEAUtIFUL BEINGS

Magisch und alptraumhaft

Erwachsenwerden kann beglückend, erdrückend, magisch und albtraumhaft zugleich sein. All das fängt Guðmundur Arnar Guðmundsson in seinem zweiten Langfilm BEAUTIFUL BEINGS ein, der vom Aufwachsen in den Vororten von Reykjavik erzählt. Der 14-jährige Balli (Áskell Einar Pálmason) ist ein Einzelgänger. Zuhause findet er keinen Halt, in der Schule wird er gemobbt. Seine Mutter ist drogenabhängig, der Vater sitzt im Knast. Seine Mitschüler Addi (Birgir Dagur Bjarkason), Konni (Viktor Benóný Benediktsson) und Siggi (Snorri Rafn Frímannsson) tyrannisieren ihn nach der Schule. Aus Langeweile enden sie eines Nachmittags in dem verwahrlosten Haus, in dem Balli meist mit sich alleine ist. Langsam entwickelt sich zwischen den vier Jungs eine Art Freundschaf. Sie alle stammen aus zerrütteten Verhältnissen und halten zusammen, als Ballis Vater aus dem Gefängnis entlassen wird und plötzlich wieder zu Hause aufaucht. Gemeinsam bieten sie dem gewalttätigen Schläger die Stirn. Klug und einfühlsam reflektiert Guðmundsson (HERZSTEIN) in seinem bemerkenswerten Film die Auswirkungen von Gewalt und emotionaler Verwahrlosung. Die Atmosphäre drohender Gewalt verlagert sich, bleibt aber steter Bestandteil in der Welt der Heranwachsenden. Dazwischen finden Guðmundsson und sein Kameramann Sturla Brandth Grøvlen hypnotische Traumbilder, in denen Addi sein ambivalentes Verhältnis zu seiner Mutter und dunkle Vorahnungen verarbeitet. Guðmundssons Coming-of-AgeDrama pendelt gekonnt zwischen hartem Sozialrealismus und sanfer Freundschafsgeschichte. Im Panorama der diesjährigen Berlinale wurde er dafür mit dem Europa Cinemas Label Preis als bester europäischer Film ausgezeichnet D Lars Tunçay

 Start am 10.11.2022

Originaltitel: Drii Winter D Schweiz 2022 D 136 min D R: Michael Koch D B: Michael Koch D K: Armin Dierolf D S: Florian Riegel D D: Michèle Brand, Simon Wisler, Jeroen Engelsman, Anna-Katharina Müller D V: Grandfilm

Marco from the “lowland” loves Anna from the mountain village. Then he gets sick and his behavior changes. A PIECE OF SKY is slow and well-observed with raw acting from its amateur actors.

DrEI WINtEr

Wenig Sprache, große Bilder

Ein Mann mit einem Nacken wie die Kuh, die er bemuttert. Ein Mann „vom Flachland“, wie sie in der Beiz im Dorf über ihn sagen, einer, der seit einem Winter da ist und drei Winter bleiben wird. Marco lebt hoch oben in den Schweizer Bergen, umgeben von grünen, steinigen Wiesen oder von weißen Bergkämmen, je nach Saison. Er ist gekommen, um einem Bauern auszuhelfen, beim Aufbereiten, bei den Kühen, beim Schneeschippen. Marco (Simon Wisler) hat sich in Anna (Michèle Brand) verliebt, die aus dem Bergdorf kommt, als Postbotin und Kellnerin arbeitet und eine kleine Tochter aus einer früheren Beziehung hat. „Wer mich will, muss auch meine Tochter wollen“, sagt sie einmal fast triumphierend zu den Stammgästen der Kneipe, die mit Skepsis auf Marcos und Annas Beziehung schielen. DREI WINTER von Michael Koch erzählt mit wenig Sprache und großen Bildern von einer Liebe, die sich zunächst selbst genügt, von blanker Zärtlichkeit und Sonne im Heu. Doch die Glückseligkeit währt nicht lang, erst tauchen bei Marco Schmerzen am Auge auf, dann ein Tumor im Gehirn. Sein Verhalten verändert sich, er wird abwesend, aggressiv. Irgendwann erwischt ihn Annas Freundin dabei, wie er vor deren Tochter onaniert. Anna trennt sich, zumindest räumlich. Sie bricht zusammen, aus Angst um das Wohl ihrer Tochter. Doch sie sagt auch: „Er ist krank, er ist kein schlechter Mensch.“ Und steht zwischen Abscheu und Mitleid alleine da. Kochs Film möchte sich auf keine Seite stellen, kein klares Bild zeichnen, Opfer hier, Täter dort, Berg, Flachland, die Integrierte, der Außenseiter und so weiter. DREI WINTER ist langsam und fein beobachtet, roh gespielt von seinen Laiendarsteller*innen. In hellgrün-weißen Bildern wird die Schönheit, aber auch die Tristesse der kargen Bergwelt eingefangen, die Härte der Umstände. D Lili Hering  Start am 15.12.2022

rEBELLINNEN – FOtOGrAFIE. UNDErGrOUND. DDr

Künstlerinnen in der DDR

In REBELLINNEN porträtiert Pamela Meyer-Arndt drei ostdeutsche Künstlerinnen, die in der DDR der 70er gewirkt und gelebt haben: Cornelia Schleime, Gabriele Stötzer und Tina Bara. „Als ich anfing zu fotografieren, da war ich eigentlich noch sehr neugierig“, erzählt Bara. Der Film zeigt, was das Aufwachsen in der Diktatur mit ihnen gemacht hat – und was sie daraus gemacht haben. Fotografie, Performance, Malerei, Literatur: Die Frauen nutzten sämtliche Möglichkeiten und Materialien, die ihnen zur Verfügung standen, gerade auch die eigenen Körper und Gesichter, um ihren Gefühlen der Entfremdung Ausdruck zu verleihen. Sie verarbeiteten ihre unmittelbare Umgebung, machten Spiegel-„Selfies“ am Schlafzimmerfenster, wickelten Freunde in Alufolie ein, fotografierten sie im verfallenen Hinterhof, vor den Betonflächen und kahlen Häuserfassaden eines zerstörten Landes. Die Arbeiten sind oft nicht explizit politisch, aber sie ecken trotzdem an, weil die Frauen eine Realität zeigen, die nicht zur SED-Propagandaversion der Wirklichkeit passte. REBELLINNEN begleitet die Frauen an die Orte aus ihrer Vergangenheit und aus ihren Werken. Sie erzählen, wie es war, als Künstlerinnen in einem Staat zu leben, der Ausstellungen schloss, Auftrittsverbote erteilte und Kameras konfiszierte; ein Staat, der verdammt viel Aufwand betrieb, um seine Bürgerinnen systematisch fertig zu machen. Umso mehr fasziniert die Widerständigkeit der Werke, die uns Regisseurin Meyer-Arndt mit viel Zeit und Ruhe betrachten lässt. Mit der Kunst aufhören und sich fügen, das kam für keine infrage – auch nicht für Gabriele Stötzer, die wegen einer Unterschriftenaktion ins Gefängnis gesperrt wurde. REBELLINNEN lässt erahnen, wie ein weiblicher, feministischer Blick auf die DDR aussehen könnte: Schwarzweiß und schroff, nachdenklich und nackt, voller Verletzlichkeit, Wut und dem unbedingten Willen, sich niemals kleinkriegen zu lassen. D Eva Szulkowski

Deutschland 2022 D 88 min D R: Pamela Meyer-Arndt D K: Lars Barthel D S: Andreas Zitzmann D M: Ulrike Haage D V: Edition Salzgeber

 Start am 3.11.2022

In REBELLINNEN, Pamela Meyer-Arndt portrays three East German artists who were working and living in the GDR in the 70s: Cornelia Schleime, Gabriele Stötzer and Tina Bara.

DIE StILLEN trABANtEN

Großstadtballade

Reinigungskraft Christa (Martina Gedeck) trifft in einer Bahnhofskneipe auf die Friseurin Birgitt (Nastassja Kinski). Sie trinken zusammen, sind gemeinsam einsam und verlieben sich. Der Wachmann Hans (Peter Kurth) begegnet bei einem seiner nächtlichen Rundgänge in einem Heim für Geflüchtete der Ukrainerin Marika (Irina Starshenbaum), die ihm fortan nicht mehr aus dem Kopf geht. Jens (Albrecht Schuch) und Mario (Andreas Döhlen) haben mal davon geträumt, einen eigenen Imbiss zu eröffnen, doch jetzt ist nur noch Jens da. Abend für Abend steht er allein am Treppenhausfenster des Mietblocks und raucht – bis ihm Aischa (Lilith Stangenberg) begegnet, deren Gesicht Spuren einer gewalttätigen Beziehung trägt. Sie alle sind Nachtgestalten, die ähnlich wie in Andreas Dresens gleichnamigen Episodenfilm haltlos durch das Dunkel treiben. Entsprungen sind sie der Kurzgeschichtensammlung „Die stillen Trabanten“ von Clemens Meyer. Wie schon bei HERBERT und IN DEN GÄNGEN adaptierte er sie gemeinsam mit Thomas Stuber für die Leinwand. Sie verknüpfen drei der Geschichten lose miteinander und finden einen ganz eigenen Rhythmus, der dem sprachlichen Takt der Geschichten von Meyer ähnelt, aber filmisch erzählt. Die Melancholie der frühen Morgenstunden, wenn man die Trabanten am Horizont erkennt, fängt Stuber in seinen Szenen atmosphärisch ein. Der neue Prolog, den er mit Meyer verfasste, in dem ein junges Flüchtlingsmädchen am Rande der Autobahn stirbt, wirkt nicht aufgesetzt, sondern fügt sich in die Erzählung. Die dritte Zusammenarbeit zwischen Autor und Regisseur ist aber auch ein Film über ihre gemeinsame Heimatstadt Leipzig geworden, über die Ränder der Boomtown, die Verlierer der Wende, die einfach weitermachen. Mit einer hervorragenden Besetzung, den ausdrucksstarken Bildern von Peter Matjasko (IN DEN GÄNGEN) und der Musik von Kat Frankie entstand eine Großstadtballade, deren Takt noch lange nachhallt. D Lars Tunçay

Deutschland 2022 D R: Thomas Stuber D B: Clemens Meyer, Thomas Stuber D K: Peter Matjasko D S: Kaya Inan, Julia Kovalenko D M: Kat Frankie D D: Martina Gedeck, Nastassja Kinski, Charly Hübner, Irina Starshenbaum, Peter Kurth D V: Warner Bros.

The third collaboration between author Clemens Meyer and director Thomas Stuber is a film about their hometown Leipzig, about the margins of the boomtown, the losers of the reunification, who just keep going.

Originaltitel: Rosy D Frankreich 2021 D 90 min D R: Marine Barnérias D B: Marine Barnérias, Anne-Sophie Bion D K: Marine Barnérias, Guillaume Boutindi, Ronan De Suin, Timothée Hilst D S: Anne-Sophie Bion D M: Matthieu Chedid D V: 24 Bilder

When student Marine Béarnais gets an MS diagnosis in 2015, her and her family’s world collapses. Marine escapes from the opinions of doctors, family members, friends and her own thoughts and embarks on a nine month journey to New Zealand, Myanmar and Mongolia.

rOSY – AUFGEBEN GILt NICHt

Begnadete Erzählerin

Wenn Marine Béarnais erzählt, blitzen ihre Augen. Sie lacht viel, gestikuliert viel und flucht reichlich. Sie ist eine begnadete Erzählerin, und man hört ihr fasziniert zu, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Die beginnt, als die Studentin 2015 ein nationales Sportfest besucht und mitten im wildesten Trubel auf einmal nicht mehr sehen kann. Die ärztliche Diagnose lautet MS, und für Marine und ihre Familie bricht die Welt zusammen. Vor den Meinungen von Ärzten, Familie, Freunden und ihren eigenen Gedanken flüchtet Marine, zunächst in die Bretagne und dann ans andere Ende der Welt: Sie beschließt, nach Neuseeland, Myanmar und in die Mongolei zu reisen, findet nach langer Suche einen Neurologen, der sie darin unterstützt, und macht sich mit der Unterstützung von 344 Followern wenig später ganz allein auf den Weg. ROSY erzählt von dieser Reise anhand der Videoclips, die Marine unterwegs aufgenommen hat, und von Gesprächen und Interviews, in denen Marine und ihre Eltern im Rückblick berichten, wie sie die Zeit erlebt haben. In den kleinen, erfrischend direkten Clips schnauft Marine Berge hinauf, flucht über das Wetter, schwört sich, NIEMALS Anhalter*innen am Weg stehen zu lassen, fängt aber auch ein, wie sie nachts im Zelt bei jedem Fehlgefühl Angst vor einem Schub hat. Im Schweigekloster in Myanmar will sie nach 24 Stunden hinwerfen. Sie bleibt und nimmt als Fazit mit, dass Meditation und Stille Teil ihrer Therapie sein werden. Dabei ist die Reise explizit keine Suche nach „alternativen“ Heilmethoden, vielmehr ist es Marines Weg, allein mit sich und viel Natur ein Verhältnis zu ihrer Krankheit zu finden, die sie irgendwann anfängt, freundschaftlich „Rosy“ zu nennen. Marine gewinnt unterwegs das Vertrauen zurück, ihr Leben meistern zu können, egal was es ihr in den Weg wirft. D Hendrike Bake

 Start am 8.12.2022

Jeanine Meerapfel uses her own mother to grapple with what memory means: piecing together the old and the new.

EINE FrAU

Autofiktionale Spurensuche

Eine Frau, die jung verwaist von ihrer Tante aufgezogen wird und einen Neuanfang mit der Liebe zu einem jüdischen Deutschen versucht, kann ihrer Zeit nicht entkommen. So berichtet es uns ihre Tochter in einem persönlichen Film-Essay. Jeanine Meerapfel nimmt ihre eigene Mutter Malou zum Anlass, um sich mit dem auseinanderzusetzen, was Erinnern heißt: Altes und Neues zusammenzusetzen. Sie reist an die Orte, die das Leben ihrer Mutter geprägt haben, sie spricht mit den Menschen vor Ort, und sie versucht, heute zu verstehen, was es damals bedeutete, dort zu sein. Die Spurensuche führt durch pittoreske Städte, von Frankreich, Deutschland über die Niederlande bis nach Argentinien. Es ist die Lebenslinie einer jüdischen Flucht, aber auch die Geschichte einer Frau, die nach Unabhängigkeit suchte. Die Schwarz-Weiß-Porträts der schönen jungen Mutter hat Meerapfel immer im Gepäck, sie montiert sie in die Original-Schauplätze und lässt die Menschen, die heute dort leben, damit spielen. Die deutsch-argentinische Filmemacherin Jeanine Meerapfel spricht von Buenos Aires als ihrem Kindheits- und Sehnsuchtsort, aber auch als dem schwierigsten Teil dieser Geschichte. Hier bröckelte die Liebe der Eltern nach ihrer Flucht aus Deutschland, hier trennten sich bald die Wege der Regisseurin und ihrer Schwester – und hier sucht Meerapfel umso mehr nach Spuren in den Filmen und Fotos, die ihre Mutter ihr vermacht hat. Mit behutsamen Bildern und Worten ertastet und ersucht Meerapfel die Wahrheit. Zwischen Reise- und Familiendokumentarfilm entspinnt sich ein zartes, sehnsuchtsvolles Netz von Autofiktion und Biografie.

D Anna Hantelmann  Start am 1.12.2022

Brasilien 2021 D 127 min D R: Anita Rocha da Silveira D B: Anita Rocha da Silveira D K: João Atala D S: Marilia Moraes D D: Mari Oliveira, Lara Tremouroux, Joana Medeiros, Felipe Frazão D V: drop-out cinema

Marianna is a part of a Christian-fascist girl gang who go out looking for “sinners” at night in order to beat them up. After a facial injury during one of her attacks, she distances herself from the sect.

mEDUSA

Christliche Terror-Frauen

Eine junge Frau sieht ein Video auf dem Mobiltelefon: eine Mischung aus erotischem Tanz und Charcots Hysterie-Studien. Kurz darauf wird sie von maskierten Vigilantinnen verfolgt. Die Rächerinnen schlagen und treten sie zusammen und beschimpfen sie als Schlampe. Marianna ist eines der christo-faschistischen Mädchen, die sich nachts auf die Suche nach „Sünderinnen“ begeben. Außerdem singt sie in der „Lobpreis“-Band „Michele und die Schätze des Herren“ über die Liebe zu Jesus. Als sie bei einem ihrer nächtlichen Überfälle selbst im Gesicht verletzt wird und daraufhin eine Reihe von Privilegien verliert, geht sie allmählich in Distanz zu ihrer Sekte. MEDUSA von Anita Rocha da Silveira will dem satirisch-politischen Horrorfilm in der Nachfolge von Jordan Peeles Filmen GET OUT, US und NOPE einen brasilianisch-feministischen Twist geben. Sie nennt als Einflüsse unter anderem Dario Argento und Brian de Palmas CARRIE. MEDUSA verhandelt wichtige Themen: das Erwachen eines religiösen oder (quasi-religiösen) Faschismus in einst liberalen Demokratien, das Geschlechterverhältnis in diesen Ideologien, die gegenseitige Kontrolle von Frauen, die Gewaltstruktur der Schönheitsideale. Die Idee, das alles am Beispiel des Mitglieds einer fanatisch religiösen weiblichen Terror-Gang zu zeigen, funktioniert allerdings nur streckenweise. Der Film zeigt die Kultur der Szene eindrucksvoll und effektiv, lässt dann aber alle Frauen des Films zu feministischen Konvertitinnen werden. Zwar führen Feministinnen im Iran gerade den Aufstand gegen ein religiös-faschistisches System an, aber das sind nicht die gleichen Frauen, die das System gestützt haben. Als Reaktion auf den Bolsonaro-Faschismus in Brasilien und seine weiblichen Anhängerinnen ist dieser wütende Film aber schon beeindruckend.

D Tom Dorow  Start am 1.12.2022

Polen/Ukraine/Deutschland 2021 D 101 min D R: Oleg Sentsov D B: Oleg Sentsov D K: Bogumil Godfrejów D S: Karolina Maciejewska D M: Andrey Ponomaryov D D: Serhii Filimonov, Yevhen Chernykov, Yevhen Grygoriev, Alina Zevakova D V: Ma.Ja.De.

rHINO

Stiernackiger Sünder

Der Regisseur und Aktivist Oleg Sentsov begann schon 2012 mit der Arbeit zu RHINO. Im November 2013 unterbrach er die Dreharbeiten jedoch für seine Teilnahme an den Euromaidan-Protesten. Ein paar Monate später wurde Sentsov auf der von Russland annektierten Krim verhaftet; erst nach seiner Freilassung 2019 wurde der Film fertiggestellt und feierte 2021 in Venedig Premiere. Inzwischen kämpft Sentsov bei den ukrainischen Streitkräften. Gegenüber dieser bewegten Entstehungsgeschichte ist RHINO als Film ein recht klassisches Gangsterepos: Der Protagonist mit dem Spitznamen Rhino (sprich: mit dem Kopf durch die Wand) wächst in einem ukrainischen Dorf während der Perestroika auf. Durch Kinderbanden, den alkoholkranken Vater und den militanten großen Bruder lernt er schnell, was es heißt, ein Mann zu sein: austeilen und einstecken zu können. Weil er in beidem sehr gut ist, wird er bald vom organisierten Verbrechen engagiert und beweist seine Talente als Schuldeneintreiber. So gut wie seine Mitarbeiter findet sich Rhino jedoch nicht in das schnelle Leben aus Autofahrten, Schießereien und Orgien in der Sauna ein; vergeblich sucht er nach Sinn in einer Welt, die nur durch die Instinkte des Überlebens und des Unterwerfens angetrieben zu sein scheint. Die Erzählung wird durch einige experimentelle Passagen aufgebrochen: Die anfängliche Tour de force durch Rhinos Kindheit ist vielversprechend und seine prägendste Verlusterfahrung wird in einem rotgefärbten hedonistischen Delirium inszeniert. Gleichzeitig verlässt sich RHINO jedoch auf die narrativen Formeln des Genres mit Aufstieg, Verrat und Rachefeldzug, die der Passionsgeschichte des stiernackigen Sünders einiges an Glaubwürdigkeit nehmen. Gerade in der aktuellen Lage ist das Setting der ukrainischen Provinz nach dem Zerfall des sowjeti-

schen Imperiums spannend. D Yorick Berta  Start am 3.11.2022

Rhino grows up in a Ukrainian village during Perestroika. Because he can give as good as he gets, he soon gets involved with organized criminals. Österreich 2022 D 87 min D R: Kurdwin Ayub D B: Kurdwin Ayub D K: Enzo Brandner D S: Roland Stöttinger D D: Melina Benli, Law Wallner, Maya Wopienka D V: Neue Visionen

Yesmin, Bella, and Nati perform “Losing My Religion” wearing a hijab. Only one of them, Kurdish Yesmin, wears a headscarf in real life, and she gives the directions. But when Bella posts the video online without asking Yesmin, the act of freedom and self-actualization becomes a burden.

SONNE

Kompromisslos und herzlich

Drei Freundinnen machen zusammen Quatsch, haben eine Idee, verkleiden sich und zücken die Handykamera. Zu „Losing My Religion“ performen Yesmin (Melina Benli), Bella (Law Wallner) und Nati (Maya Wopienka) im Hijab. Nur eine von ihnen, die Kurdin Yesmin, trägt im echten Leben Kopftuch, und sie gibt die Regieanweisungen. Aber als Bella das Video ins Internet stellt, ohne Yesmin zu fragen, wird aus dem Akt der Freiheit und Selbstverwirklichung zusehends eine Last. Yesmin fühlt sich entfremdet – vom Glauben, der Familie und vor allem von Bella und Nati, die nicht fähig oder willens sind, sich selbst zu reflektieren. Das preisgekrönte Langspielfilmdebüt SONNE der kurdisch-österreichischen Regisseurin Kurdwin Ayub, die aus dem Irak stammt, erregte dieses Jahr viel Aufmerksamkeit und wird als „Zäsur im österreichischen Film“ (Diagonale) gehandelt. Zugleich tritt Kurdwin stilistisch und konzeptionell unverkennbar in die Fußstapfen Ulrich Seidls, dessen Produktionsfirma für SONNE verantwortlich zeichnet, und mit der sie auch ihren nächsten Film, MOND umsetzen wird. SONNE ist ein brandaktueller, selbstbewusster Film mit einer starken Handschrift. Der Instagram-Stil, also die Bildsprache von Yesmin und ihren Altersgenoss*innen, die sich mit der des Films untrennbar vermischt, wirkt realistisch und verfremdend zugleich. Mit viel improvisatorischem Wagemut zeigen die Schauspielerinnen, wie dumm und eklig, wie mutig und klug Teenagermädchen sein können. Auch gemessen am Seidl-Oeuvre ist SONNE ein Film, der kompromisslos erzählt und trotzdem herzlich ist, der Stellung bezieht, aber nicht nur Leere hinterlässt.

D Eva Szulkowski  Start am 1.12.2022

Schweiz 2022 D 92 min D R: Barbara Kulcsar D B: Petra Volpe D K: Tobias Dengler D S: Wolfgang Weigl D M: Carsten Meyer D D: Esther Gemsch, Stefan Kurt, Isabelle Barth, Martin Vischer, Ueli Jäggi D V: Alamode Filmverleih

DIE GOLDENE JAHRE shows the challenges of a long marriage in a pleasant way, but it incidentally sneaks in some refreshing perspectives on familiar problems.

DIE GOLDENEN JAHrE

Wohin geht die Reise?

DIE GOLDENEN JAHRE erzählt gefällig von den Herausforderungen einer langen Ehe, schmuggelt dabei aber nebenher ein paar erfrischende Sichtweisen auf altbekannte Probleme ein. Noch ein letzter Blick über den verlassenen Schreibtisch, dann ist ein ganzes Arbeitsleben zu Ende. Auf die Frage der Kollegin, was er mit seiner freien Zeit jetzt vorhabe, antwortet Peter: Erstmal Ausschlafen. Doch bereits am ersten Morgen drückt ihm seine Frau Alice den Staubsauger in die Hand „Wir teilen uns den Haushalt jetzt 50/50.“ Sie freut sich schon auf neue gemeinsame Abenteuer und Unternehmungen und ganz besonders auf die Mittelmeer-Kreuzfahrt, die die Kinder den beiden zu Peters 65stem geschenkt haben. An Bord wird dann schnell deutlich, wie sehr die Vorstellungen beider sich voneinander wegentwickelt haben. Peter, der die Reise am liebsten gleich umgetauscht hätte, verbringt die meiste Zeit auf dem Laufband und mit seinem besten Freund, dem frisch verwitweten Heinz, den er zu Alices Ärger auf die Reise eingeladen hat. Alice findet sich mit ihren Sehnsüchten allein in der Borddisco wieder und denkt immer wieder an Magalie, ihre beste Freundin, die Ehefrau von Heinz. Kurz vor ihrem Tod hat die ihr ein Geheimnis anvertraut: Eine langjährige Affäre mit einem Franzosen. In Marseille hat Alice dann genug. Sie kehrt nicht an Bord zurück und macht sich auf die Suche nach „Claude“. Mit seinen bunten Farben und den hübschen, gutsituierten Menschen sieht DIE GOLDENEN JAHRE nach Komödie aus, ist aber nicht auf Lacher hin gebaut, sondern nimmt die Personen und ihre Probleme ernst. Getrennt voneinander wird Alice und Peter klar, wie sie sich ihre „goldenen Jahre“ eigentlich vorstellen, und auch, dass sich dabei wenig Überschneidungspunkte finden lassen. Das Drehbuch stammt von Petra Volpe (Regie: DIE GÖTT-

LICHE ORDNUNG, 2017). D Toni Ohms  Start am 17.11.2022 Deutschland 2022 D 116 min D R: Christopher Roth D B: Jeanne Tremsal, Christopher Roth D K: Lydia Richter D S: Christoph Bargfrede, Christopher Roth D M: Cosimo Flohr D D: Jana McKinnon, Clemens Schick, Leo Altaras, Julia Hummer, Ina Paule Klink D V: Port-au-Prince

The screenplay of SERVUS PAPA is based on the memories of Jeanne Tremsal, who grew up in the AAO commune of Otto Mühl.

SErVUS PAPA, SEE YOU IN HELL

Kommunenkinder

Die 14-jährige Jeanne wächst in einer Kommune auf. Hier stehen freie Natur, freie Kunst und freie Liebe auf dem Programm. Ganz so locker geht es aber doch nicht zu, denn eigentlich bestimmt Otto. Zweierbeziehungen lehnt er ab. Wer sich doch verliebt, fliegt. Auch von der Elternfixierung hält er nichts. Die schaffen in den Stadtkommunen Geld ran, verkaufen in Frankfurt, in Amsterdam oder München in Anzügen Wertpapiere, während die nackte Oberliga mit den Kindern im Trommelkreis tanzt. Eigentlich fühlt Jeanne sich hier wohl. Sie malt und hängt mit ihrem besten Freund Otis ab, von dem sie sich immer mit einem lässigen „see you in hell“ verabschiedet. Bis sie sich in den wenig älteren Jean verliebt und Otto eingreift und übergriffig wird. Aber Jeanne ist mehr Revoluzzerin als die Erwachsenen, und sie begehrt gegen Otto auf. Das Drehbuch zu SERVUS PAPA basiert auf den Erinnerungen von Jeanne Tremsal, die selbst in der AAO-Kommune von Otto Mühl aufwuchs. Auch wenn der Nachname nie genannt wird, ist der Film-Otto schnell als das umstrittene Kommunen-Oberhaupt zu erkennen. Der ehemalige Wehrmachtssoldat und Aktionskünstler Mühl schuf in den 1970er Jahren auf dem Friedrichshof in Österreich eine Gegenwelt zum verachteten Establishment, die Ableger in ganz Europa nach sich zog. Als immer mehr Kommunard*innen aufgrund Mühls autoritären Auswüchsen die Gemeinschaft verließen, folgten bald Anzeigen wegen sexuellen Übergriffen auf Minderjährige. Mühl landete schließlich im Knast. Regisseur Christopher Roth und Jeanne Tremsal, die ihre eigene Mutter im Film spielt, inszenieren mit einer feinen Besetzung, u.a. mit Clemens Schick als Otto und Jana McKinnon als Jeanne eher eine Kommunen-Parabel als ein Biopic. D Clarissa Lempp

 Start am 24.11.2022

IrrLICHt

João Pedro Rodrigues wollte zunächst Ornithologe werden, wechselte dann aber zum Film. In seinen Arbeiten, die auch schon im Centre Pompidou zu sehen waren, vermischt er Genres, Fiktionales und Dokumentarisches und erzählt von Mythen, (schwulem) Begehren, Kunst und Natur. Sei jüngster Film IRRLICHT ist eine „wunderbar wilde und perfekt choreografierte Mischung aus Musical, Folklore und queerer Erweckungsgeschichte im Zeichen des Umweltschutzes.“ Im Jahr 2069 erinnert sich der ehrwürdige Regent Alfredo auf dem Sterbebett an seine ausschweifende Jugend als Feuerwehr-Azubi.  Start am 8.12.2022

Portugal/Frankreich 2022 D 67 min D R: João Pedro Rodrigues D D: Mauro Costa, André Cabral, Margarida Vila-Nova, Miguel Loureiro, Joel Branco, Oceano Cruz

USA/Ruanda 2021 D 105 min D R: Anisia Uzeyman, Saul Williams D D: Cheryl Isheja, Elvis Ngabo, Bertrand Ninteretse, Eliane Umuhire, Rebecca Muciyo, Trésor Niyongabo Rumänien 2020 D 81 min D R: Eugen Jebeleanu D D: Conrad Mericoffer, Alexandru Potocean, Radouan Leflahi, Cendana Trifan, Ionut Nicolae, Alex Câlin, Rolando Matsangos, George Piştereanu

NEPtUNE FrOSt

Ein afrofuturistisches queeres Sci-Fi-Musical: In den Hügeln von Burundi bildet eine Gruppe entkommener Coltan-Bergleute ein antikolonialistisches Hacker-Kollektiv. Von einer Elektroschrott-Müllhalde aus versuchen sie, das autoritäre Regime zu stürzen, das die natürlichen Ressourcen und die Menschen der Region ausbeutet. Als eine intersexuelle Ausreißerin und ein entkommener Bergarbeiter durch kosmische Kräfte zueinander finden, löst ihre Verbindung Störungen im größeren übermenschlichen Kreislauf aus …

 Start am 24.11.2022

tENOr

Antoine (Rapper MB14 alias Mohamed Belkhir) arbeitet ohne große Ambitionen auf ein Diplom in Buchhaltung hin. Seine wahre Leidenschaft lebt er bei Rap-Battles mit seinen Freund*innen im Viertel aus. Als Lieferant bringt er eines Tages eine Portion Sushi in die Pariser Oper. Dort kommt es zur schicksalshaften Begegnung: Antoine gerät mitten in eine Gesangsprobe hinein und rappt, um einem herablassend auftretenden Studenten seine Kunst entgegenzusetzen. Seine Tenorstimme beeindruckt Madame Loyseau, die beschließt, Antoine zu fördern.

 Start am 3.11.2022

Frankreich 2022 D 100 min D R: Claude Zidi Jr. D D: MB14, Michèle Laroque, Mohammed Belkhir, Guillaume Duhesme

POPPY FIELD

In seinem Job bei der Gendarmerie, einer Art militärischer Polizei, hat Weichheit keinen Platz und Cristi verbirgt vor den Kollegen, dass er schwul ist. Doch an diesem Abend wird seine Einheit in ein Kino gerufen, in dem christliche Konservative gegen einen „unmoralischen“ lesbischen Film protestieren, und ein Bekannter erkennt Cristi aus den Clubs wieder… Der etablierte Theaterregisseur Eugen Jebeleanu hat für seinen Debütfilm ein Kammerspiel effektiv mit den Mitteln des Kinos umgesetzt. So entsteht ein großes Drama aus kleinen Momenten.

 Start am 24.11.2022

LAND OF DrEAmS

Der Film öffnet ein Portal in eine poetische Wüsten-Zwischenwelt: Die iranische Amerikanerin Simin befragt im Auftrag der Zensusbehörde befragt als „Traumfängerin“ Menschen nach ihren Träumen. Warum, das weiß sie selbst nicht genau, doch sie ist fasziniert von dem, was ihr die Leute erzählen. Nach getaner Arbeit wird sie zur Gestaltwandlerin, verkleidet sich und erzählt die Träume auf Farsi, ihrer Muttersprache, in die Kamera. Ein Koffer voller Fotografien ist alles, was sie selbst noch mit ihrer eigenen Vergangenheit verbindet.

 Start am 3.11.2022

USA/Deutschland/Katar 2021 D 103 min D R: Shoja Azari, Shirin Neshat D D: Sheila Vand, Matt Dillon, William Moseley, Isabella Rossellini, Christopher McDonald, Joaquim De Almeida

tHE mIDDLE mAN

Der Norweger Bent Hamer (KITCHEN STORIES, O’HORTEN) ist bekannt für seine lakonischen Komödien voller eigenbrötlerischer Charaktere. Hauptfigur seines neuen Films, der in einem kleinen Ort im industriellen Nordosten Amerikas spielt, ist der schweigsame, leicht depressiv wirkende Frank (Pål Sverre Hagen). Frank wurde von der ortsansässigen „Commission“ dazu auserkoren, den neu geschaffenen Job des „Middle Man“ zu übernehmen und den Betroffenen von Unglücksfällen, von denen es im Ort eine erstaunliche Menge gibt, die schlechten Nachrichten zu überbringen.

 Start am 17.11.2022

Originaltitel: The Middle Man D Kanada/Deutschland/Dänemark 2021 D 95 min D R: Bent Hamer D D: Pål Sverre Hagen, Tuva Novotny, Paul Gross, Don McKellar, Kenneth Welsh

EIN trIUmPH

Étienne (Kad Merad), ein Schauspieler mit einst großen Ambitionen, aber seit langem ohne Erfolg, soll ein Theaterstück mit den Insassen der lokalen Haftanstalt auf die Beine stellen. Er hält die Männer, die sich für den Theaterworkshop anmelden, zunächst für hoffnungslos unbegabt. Doch als die erste Vorstellung besser verläuft als gedacht, kommt ihm eine Idee: Er will mit seiner Truppe „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett aufführen, auf einer richtigen Bühne, wenn auch nur ein einziges Mal. Sechs Monate Probezeit verlangt er dafür von den Behörden.

 Start am 15.12.2022

Originaltitel: Un triomphe D Frankreich 2020 D 105 min D R: Emmanuel Courcol D D: Kad Merad, David Ayala, Lamine Cissokho

Bardo

NEtFLIX Im KINO

Kurz vor dem TV-Start bringt Netflix einige Filme aus dem Programm auch ins Kino. Im November sind das Alejandro G. Iñárritus BARDO – DIE ERFUNDENE CHRONIK EINER HANDVOLL WAHRHEITEN (17.11.) über die Existenzkrise eines Journalisten und Filmemachers, Sally El Hosainis DIE SCHWIMMERINNEN (10.11), der von zwei geflüchteten Sportlerinnen aus Syrien erzählt, GUILLERMO DEL TOROS PINOCCHIO (24.11.) – eine düstere Puppentrick-Version des Stoffs –, Noah Baumbachs New Yorker Familiendrama WEISSES RAUSCHEN (8.12.) und DER DENKWÜRDIGE FALL DES MR. POE (22.12.) von Scott Cooper, in dem Edgar Allen Poe einen Mord aufklärt.

Der kleine nick erzählt vom Glück

Zauberhaft gezeichnet

DER KLEINE NICK ERZÄHLT VOM GLÜCK ist ganz zauberhaft im Stil von Sempé gezeichnet und animiert. Teils in ganz zarten Strichzeichnungen, wie sie auch die Bücher vom kleinen Nick illustrieren, teils in warmen Aquarellen, die an die Cartoons von Sempé oder seine Cover-Illustrationen für das Magazin „The New Yorker“ erinnern. Der Film erzählt elegant verschachtelt, wie „Der kleine Nick“ im Jahr 1955 von zwei Freunden, dem Zeichner Jean-Jacques Sempé und dem Comicautor René Goscinny (u.a. Autor von „Lucky Luke“ und „Asterix und Obelix“) in einem Pariser Café erfunden wurde. Sie geben dem kleinen Jungen, den Sempé entworfen hat, ganz normale Eltern, ein kleines Einfamilienhaus in den Vororten und eine Gruppe von Freunden und denken sich immer neue Abenteuer für ihn aus. Sobald Sempé zeichnet oder Goscinny schreibt, erwachen die Figuren zum Leben, und verschmitzt erzählt der Film einige der bekannten Geschichten vom kleinen Nick und seiner Bande. Zwischendrin erfährt man Einiges aus dem Leben von Goscinny und Sempé, so zum Beispiel, dass Goscinny in Argentinien aufwuchs und zunächst versuchte, als Comiczeichner in New York Fuß zu fassen, bevor er an seinen Geburtsort Frankreich zurückkehrte. Sempé erzählt dem kleinen Nick, der auf seinem Schreibtisch sitzt und Fragen stellt, von seiner lieblosen Jugend: Nach einer Kindheit, wie er sie für den kleinen Nick gezeichnet hat, hat er sich immer gesehnt. Im schnell erzählten DER KLEINE NICK ERZÄHLT VOM GLÜCK fließen die Zeit- und Erzählebenen virtuos ineinander, und wie bei den Cartoons von Sempé gibt es in den Bildern immer wieder lustige Details zu entdecken. Damit ist der Film nicht unbedingt für sehr junge Zuschauer*innen geeignet, aber von 10 bis 100 ist in diesem charmanten Film für alle etwas dabei. D Hendrike Bake

Originaltitel: Le Petit Nicolas – Qu’est-ce qu’on attend pour être heureux? D Frankreich 2022 D R: Amandine Fredon, Benjamin Massoubre D V: Leonine

¢ Start am 1.12.2022

In the animated film, little Nick meets his two creators, the illustrator JeanJacques Sempé and author René Goscinny, who tell him their story.

Nachtwald

Deutschland 2021 D 90 min, FSK: 6 D R: André Hörmann D D: Levi Eisenblätter, Marc Limpach, Jonas Oeßel

Die Teenager Paul und Max suchen im nahen Wald nach einer geheimnisvollen Höhle. Pauls Vater, der unter ungeklärten Umständen verschwand, hatte diese entdeckt, doch aufgrund seiner psychischen Erkrankung nahm ihn niemand im Ort ernst. Anhand der rätselhaften Aufzeichnungen seines Vaters will sich Paul in den Sommerferien nun selbst auf die Suche nach der sagenhaften Höhle machen … Regisseur André Hörmann, der u. a. am Orgelfelsen drehte, setzt auf mal idyllisch, mal bedrohlich wirkende Naturaufnahmen und einen Hauch Fantasy.

¢ Start am 24.11.2022

MaMa Muh und die groSSe weite welt

Schweden 2022 D 65 min, FSK: 0 D R: Christian Ryltenius Tomas Tivemark

Mama Muh ist eine ungewöhnliche Kuh, die Abenteuer liebt. Ihr Freund Krähe dagegen fühlt sich ganz wohl auf dem heimischen Bauernhof. Als eine Storch-Dame auf dem Weg von Afrika bei Mama Muh Station macht und ihren Reisen erzählt, beginnt Mama Muh von der großen weiten Welt zu träumen. Umsonst versucht Krähe, ihr das schöne Zuhause schmackhaft zu machen. Es hilft nichts, Mama Muh muss sich natürlich auf den Weg machen, und Krähe kommt mit.

¢ Start am 3.11.2022

Der räuber Hotzenplotz

Deutschland 2022 D 106 min, FSK: 0 D R: Michael Krummenacher D D: Nicholas Ofczarek, Hans Marquardt, Benedikt Jenke, August Diehl, Christiane Paul, Olli Dittrich, Luna Wedler

Nach dem Kinderbuch von Ottfried Preußler erzählt DER RÄUBER HOTZENPLOTZ die Geschichte, wie der Großmutter eines Tages die geliebte Kaffeemühle geklaut wurde. Für Kasperl und seinen besten Freund Seppl ist der Fall sofort klar: Das war der Räuber Hotzenplotz, und weil der Wachtmeister Dimpfelmoser zu nichts zu gebrauchen ist, machen sie sich selbst auf die Suche nach dem Räuber. Dabei geraten Sie in die Fänge des bösen Zauberers Petersilius Zwackelmann und treffen dort die Fee Amaryllis.

¢ Start am 8.12.2022

BlueBack

Australien 2022 D 102 min, FSK: 6 D R: Robert Connolly D D: Mia Wasikowska, Radha Mitchell, Ilsa Fogg, Eric Bana

Abby und ihre Mutter Dora leben in einem einfachen Bauernhaus an der westaustralischen Küste, und ihr Leben ist vom Rhythmus des Meeres bestimmt. Doras Lösung für alle Probleme ist „Let’s get wet“ – „Lass uns baden gehen“. Eines Tages freundet sich Abby beim Tauchen mit einem großen „Blue Groper“ (Riesenlippfisch) an, den sie Blueback nennt. Als sie begreift, dass die Korallenriffe und mit ihnen Blueback in Gefahr sind, beginnt sie, ihre Mutter, eine radikale Umweltaktivistin, besser zu verstehen, und beginnt ebenfalls, sich zu angagieren.

AFrIKAmErA – AKtUELLES KINO AUS AFrIKA

Unter der Überschrift „Urban Africa, Urban Movies“ widmet sich das Berliner AFRIKAMERA Festival seit 2020 dem urbanen Afrika und seiner Repräsentation im afrikanischen Kino. Ein besonderer Schwerpunkt liegt in diesem Jahr auf dem Aspekt „Migration & Diaspora“. Den europäischen Sichtweisen, die den politischen und künstlerischen Diskurs dominieren, stellt das Festival afrikanische Perspektiven entgegen: „Die Frage nach der „kulturellen Identität“, die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ wird im aktuellen Kino aus Afrika nicht mehr nur aus der Perspektive der Einwandernden, sondern aus Sicht der aus der Diaspora nach Afrika Zurückkehrenden behandelt und so neu austariert.“

Das Festival eröffnet mit Adolf El Assals Tragikomödie SAWAH (Ägypten/Luxemburg/Belgien). Der Film schildert die Odyssee des jungen ägyptischen DJs Samir, dessen Flugzeug auf der Reise zu einem DJ-Festival von Kairo nach Brüssel streikbedingt in Luxemburg landet. Dann geht auch noch sein Gepäck mitsamt Pass und Musikaufnahmen verloren, und man hält ihn für einen Geflüchteten. José Miguel Ribeiros mythischer Animationsfilm NAYOLA (Portugal/Belgien/Frankreich/Niederlande) erzählt die Geschichte des angolanischen Bürgerkriegs in Form eines Dreigenerationenporträts, Ismael El Irakis ZANKA CONTACT (Marokko/Frankreich/Belgien) ist eine wilde Hommage an die Rock’n’Roll- Szene Casablancas der 1970er Jahre und den italienischen Western, und das Kurzfilmprogramm AFRIKAMERA SHORTS – LAUGH IS POSSIBLE zeigt Komödien aus Nigeria, Kenia, Ägypten und der Demokratischen Republik Kongo.

Neben dem Filmprogramm gibt es aktuelle Virtual Reality-Filme vom afrikanischen Kontinent und die Theaterperformance „Je demande la route“ der burkinischen Schauspielerin Roukiata Ouédraogo zu sehen, und die Heinrich-Böll-Stiftung bietet eine Veranstaltung zum Thema „Flucht und Migration“ an. Eine Auswahl der Festivalfilme ist vom 11.-18.11. auch im Indiekino Club zu sehen. afrikamera.de

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