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ErINNErUNG AN DIE HOFFNUNG PASSAGIErE DEr NACHT
Man kann den Film PASSAGIERE DER NACHT so sehen: Eine Frau wird von ihrem Mann verlassen, bekommt einen Job beim LateNight-Radio, trifft eine junge Obdachlose, die sie in ihr Haus aufnimmt, und die zwar bald wieder verschwindet, aber sie selbst und ihre Familie dazu inspiriert, ein freieres Leben zu führen. Alles wird gut, und schließlich wird auch die Obdachlose gerettet. Das ist nicht sehr interessant. Aber so wurde der Film bei der Berlinale von Vielen verstanden.
Mikhaël Hers, der mit AMANDA (dt. Mein Leben mit Amanda) einen der besten Filme über die Folgen des Terrors für das Leben und Träumen von Pariser*innen gedreht hat und auch dort mit sehr subtilen Realitätsverschiebungen arbeitete, gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass diese Geschichte nicht ganz für bare Münze genommen werden kann. Die Hauptfigur Elisabeth (Charlotte Gainsbourg) hat oder hatte Brustkrebs. Ihre Geschichte beginnt am 8. Mai 1981. Der Sozialist François Mitterand ist gerade zum französischen Staatspräsidenten gewählt worden. Auf den Straßen wird gefeiert. Tatsächlich war die Wahl aber zwei Tage später, am 10. Mai.
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Elisabeth freut sich im Auto ihrer Familie mit den Feiernden auf den Straßen. Im Autoradio läuft die Radiosendung „Les passagers de la nuit“, und die Moderatorin kündigt als erstes Lied „Regarde“ von Barbara an. Darin gibt es die Verse: „Regarde, au ciel de notre histoire, une rose, à nos mémoires, dessine le mot espoir …“ („Sieh es dir an: Am Himmel unserer Geschichte, zeichnet eine Rose zu unseren Erinnerungen das Wort Hoffnung“). Aber das Lied ist nicht zu hören. Über den Kamerablicken auf moderne Architektur und Feiernde in der Nacht liegen melancholische Synthesizer-Sounds.
PASSAGIERE DER NACHT kündigt sich als ein Film über die Erinnerung an die Hoffnung an. Im Moment, in dem der Radio-Ton verschwindet, entgleitet die Realität. Ist Elisabeth am 8. Mai gestorben, und halluziniert sich zwei Tage in die Zukunft, und von dort aus vier, acht Jahre weiter in eine Zukunft, in der – mit Hilfe einer Traumfee, der obdachlosen Talulah (Noée Abita), alles gut wird? Die Fee war bereits zuvor erschienen. In den ersten Bildern des Films steht Talulah vor dem Stadtplan in der Pariser U-Bahn, auf dem die möglichen Fahrtstrecken damals mit Leuchtpunkten markiert wurden und auf Knopfdruck erstrahlten. Der analoge Zauber der Großstadt liegt in einer Überblendung auf ihrem Gesicht. Man kann ihre Figur als ein weiteres „manic pixie dream girl“ verstehen, eines dieser hübschen, etwas verpeilten, aber mit hoher Energie ausgestatteten Film-Mädchen, die in tausenden Coming-of-Age Filmen schüchterne Jungs, neuerdings auch schüchterne Mädchen, aus ihrer Lethargie reißen, um dann selbst gerettet zu werden oder verloren zu gehen. Aber Talulah ist klarer als ein geisterhaftes Phantasma markiert als in klassischen Coming-of-Age-Filmen.
Der Film macht nach diesen ersten Szenen zwei Zeitsprünge, nach 1984 und 1988. 1984 hat Elisabeth ihre Krebs-Erkrankung überwunden, aber ihr Mann hat sich getrennt, und sie hat Geldsorgen.
Sie braucht einen Job, hat aber nie gearbeitet. Sie bekommt einen Job in der von Wanda (Emmanuelle Béart) moderierten Show „Les passagers de la nuit“. Dort lernt sie Talulah kennen, die als Gast eingeladen wurde, aber danach einsam auf einer Parkbank sitzt. Elisabeth nimmt das Mädchen mit nach Hause und quartiert sie in einer romantischen Dachkammer ein, ein Raum nahe dem Dach des Hochhauses, in dem die Familie wohnt – das moderne, imaginäre Äquivalent zum Gartenhaus im viktorianischen Roman, mit dem dieser Film einiges gemein hat. Talulah wird von allen geliebt und geht gern mit Elisabeths Teenager-Kindern ins Kino, und verschwindet wieder.
Vier Jahre, 1988, später taucht Talulah als Junkie wieder auf, wird aber geheilt, als wäre Heroinsucht ein böser Schnupfen. Sie will ins Kino, den Film VOLLMONDNÄCHTE von Eric Rohmer sehen. Matthias erklärt ihr, dass die Schauspielerin aus dem Film – Pascale Ogier – gestorben sei. „Das kann nicht sein“ murmelt Talulah immer wieder. Pascale Ogier war in den frühen achtziger Jahren der größte junge weibliche Star des französischen Kinos. Sie starb 1984, im gleichen Jahr, in dem auch Rohmers VOLLMONDNÄCHTE ins Kino kam. Talulah ist aus der Zeit gefallen. Warum?
Kurz vor ihrem Tod hatte Pascale Ogier in dem Experimentalfilm GHOST DANCE von Ken McMullen mitgespielt, in dem sie mit Jacques Derrida ein Gespräch über Film als Kunst der Geisterbeschwörung führt. Eine Erklärung für die Brüche in diesem Film wäre, dass die ganze Geschichte das Phantasma von Elisabeth auf der Grenze zwischen Leben und Tod erzählt, aus der Perspektive von 1981, auf dem Weg zum oder aus dem Krankenhaus. Dem Tod nahe, denkt sie darüber nach, was passieren könnte, wenn es ihr gelänge, den Krebs zu überleben. Weitere Spuren sind angelegt, die auch die anderen Figuren geisterhaft erscheinen lassen, trotz der über weiteste Strecken realistisch-psychologisch wirkenden Inszenierung. Aber wenn im Schlussbild Mutter Elisabeth mit ihren Kindern, Großvater und Talulah fröhlich im Park sitzen – ist das ein Happyend oder eine Erinnerung an die Hoffnung von 1981? Die Passagiere der Nacht sind auch die Gespenster derjenigen, die in den 80er Jahren verloren gingen.
Man kann den Film natürlich auch anders sehen. Dann ist alles sehr liebenswert und schön gespielt, aber ein bisschen banal. Ein Phantasma dagegen muss nicht unbedingt originell sein, Phantome sind es auch nur selten. D Tom Dorow
PASSAGIErE DEr NACHT
Erinnerung an die Hoffnung
Start am 5.1.2023
Originaltitel: Les passagers de la nuit D Frankreich 2022 D 111 min D R: Mikhaël Hers D B: Maud Ameline, Mikhaël Hers D K: Sébastien Buchmann D S: Marion Monnier D M: Anton Sanko D D: Charlotte Gainsbourg, Quito Rayon-Richter, Noée Abita, Megan Northam, Thibault Vinçon, Emmanuelle Béart D V: eksystent distribution
Director Mikhaël Hers integrated many ruptures in the story of a young woman who is left by her husband, gets a job at a late night radio show and takes in a young homeless person.
Deutschland/Frankreich/Tunesien/Luxemburg 2021 D 95 min D R: Samir Nasr D B: Sonallah Ibrahim, Samir Nasr D K: Darja Pilz D S: Hansjörg Weißbrich D M: Oli Biehler D D: Ahmed Al Munirawi, Fadi Abi Samra, Khaled Houissa, Jihed Cherni D V: barnsteiner film
SHArAF
Zwei-Klassen-System
Die Welt, in der sich Sharaf (Ahmed Al Munirawi) bewegt, ist korrupt, eng und brutal. Seit er hinter Gittern sitzt, weil er einen Mord begangen haben soll, ist er gefangen in einem isolierten Zwei-Klassen-System, das keine Gnade und nur eine harte Währung kennt: Wer nicht mit Zigaretten zahlen kann, muss im Flügel der „staatlichen“ Gefangenen unter widrigsten Bedingungen ausharren, während den „königlichen“ Insassen diverse Privilegien wie freie Kleiderwahl und besseres Essen zustehen. Sharaf lernt schnell, sich in diesem Mikrokosmos zu behaupten, geschickt navigiert er zwischen den Fronten, passt sich an, wenn er muss, und stellt sich quer, wenn er kann. Doch seine Familie ist arm und hat Mühe einen verlässlichen Anwalt zu finden, der ihn aus der Gefangenschaft befreit. Samir Nasrs düsteres Drama konzentriert sich ausschließlich auf Sharafs Leben hinter den Gefängnismauern. „Dies ist eine erfundene Geschichte, die in einer fiktiven Welt spielt“, heißt es zu Beginn des Films. „Wir können glücklich sein, dass die Realität besser und schöner ist.“ Aber ganz erdichtet ist das Drehbuch nicht. Es basiert auf dem gleichnamigen, autobiografisch gefärbten Roman des ägyptischen Schriftstellers Sonallah Ibrahim, in dessen Ausführungen sich immer wieder auch die komplexen Machtgefälle innerhalb arabischer Gesellschaften zwischen Diktaturen, Armut und Klassenkonflikten widerspiegeln. Die Bilder, die Nasr dafür findet, sind in gedämpften Farben gehalten und von einer Monotonie geprägt, die Sharafs tristem Alltag hinter Gittern entspricht. Das lässt den Film insgesamt manchmal etwas träge erscheinen. Dennoch funktioniert SHARAF, weil der Regisseur in vielen kleinen Szenen und flüchtigen Momenten die Grausamkeiten des Systems offenlegt, in dem sein Protagonist sich zurechtfinden muss, ohne
es wirklich zu verstehen. D Pamela Jahn Start am 26.1.2023
Sharaf, who allegedly committed murder, quickly learns how to assert himself in prison. He skillfully navigates between the fronts, adapts when he has to, and is protective when he can be. Emigholz’ essay film which was developed in Bolivia, Argentina and Berlin traces the connections and influence between European and Latin American fascism, colonial crimes and commemorative culture.
SCHLACHTHäUSEr DEr mODErNE
Architektur und Faschismus
Bekannt wurde der deutsche Filmemacher Heinz Emigholz durch seine streng komponierten Architekturfilme, in denen er der Formensprache der Architekturmoderne nachspürte. Kurze Einstellungen, oft verkantet, kein Kommentar, nur Häuser, Gebäude, pure Architektur. Mit DIE LETZTE STADT legte Emigholz 2020 erstmals einen Spielfilm vor, zumindest ansatzweise. Schauspieler theoretische Sentenzen vor, in denen natürlich über Architektur reflektiert wurde, aber auch über den Zusammenhang von Architektur und Faschismus. Emigholz jüngstes Werk SCHLACHTHÄUSER DER MODERNE nimmt diesen Gedanken nun in Form eines Essayfilms auf, der in Bolivien, Argentinien und Berlin entstand und Verbindungen und Einfluss zwischen europäischem und lateinamerikanischem Faschismus nachspürt, Kolonialverbrechen und Erinnerungskultur. Im wahrsten Sinne des Wortes Schlachthäuser entwarf der argentinische Architekt Francisco Salamone in der Provinz Buenos Aires in den 30er Jahren, längst verfallene Kathedralen der Moderne, die der expandierenden Produktion des weltweit gefragten argentinischen Rindfleisches dienten und an den Stil des italienischen Art Deco erinnern. Ganz anders das Barock des wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses, in dem einst der deutsche Kaiser den Genozid an den namibischen Völkern der Hereros und Namas in die Wege leitete, ein direkter Vorläufer und Inspiration des Holocaust. Emigholz bietet vielfältige Bezüge an, zieht Verbindungen zwischen einer Ruinenstadt in Bolivien und der missglückten Stadtplanung Berlins, schlägt eine Brücke von Jorge Luis Borges zu den Bauten Freddy Mamani Silvestres, der im Hochland Boliviens Häuser baute, die an die Pop Art erinnern. D Michael Meyns
Start am 19.1.2023
Schweden 2021 D 93 min D R: Kristina Lindström, Kristian Petri D B: Kristina Lindström, Kristian Petri D K: Erik Vallsten D S: Dino Jonsäter, Hanna Lejonqvist D M: Filip Leyman, Anna Von Hausswolff D V: missingFILMs
The documentary portrays Björn Andrésen, who played Tadzio at 15 in Visconti’s DEATH IN VENICE and was labeled as “the most beautiful boy in the world”.
THE mOST BEAUTIFUL BOY IN THE WOrLD
Der wahre Tadzio
Für seine Thomas-Mann-Verfilmung DER TOD IN VENEDIG reiste Luchino Visconti durch ganz Europa, um einen Jungen „mit honigfarbenem Haar, wie ein Gott aus der griechischen Mythologie“ zu finden, mit dem er die Rolle des Tadzio, einer Verkörperung reiner Schönheit, besetzen konnte. Diese Suche, die unangenehm an die Auswahl engelsgleicher Opfer in Pasolinis DIE 120 TAGE VON SODOM erinnert, führt das Filmteam schließlich nach Schweden. Hier begegnen sie dem 15-jährigen Björn Andrésen, der direkt engagiert und von Visconti bei der Premiere in London als „The Most Beautiful Boy in the World“ tituliert wird – auch wenn er langsam schon älter und hässlicher werde. Von Visconti vermarktet, in der Pariser Bohème herumgereicht und an die japanische Popindustrie ausgeliehen, machen seine Schönheit und ein erschreckender Mangel an Fürsorge Andrésen schnell zur Ware. „Es hat sich angefühlt wie ein Schwarm Fledermäuse um mich, die ganze Zeit. Es war ein lebender Alptraum.“ Aus diesem vampiristischen Alptraum, in dem vor allem ältere Männer sich an Andrésens Jugend und Schönheit gütlich tun, scheint auch der heute 65-Jährige noch nicht ganz aufgewacht zu sein. Die Erlebnisse seit dem ersten Treffen mit Visconti haben ihn sichtbar gezeichnet – doch erzählt THE MOST BEAUTIFUL BOY IN THE WORLD mehr als nur von den bleibenden Folgen seiner ‚Entdeckung‘. Porträtiert wird der Heilungs- und Entdeckungsprozess eines sensiblen, verschrobenen, und ja, immer noch umwerfend gutaussehenden Mannes mit langen Silberhaaren und Ledermantel, der sich, zurückhaltend begleitet von Kristina Lindström und Kristian Petri den Stationen seines Missbrauchs und seiner düsteren Familiengeschichte stellt. D Yorick Berta „EINE IRRWITZIGE KOMÖDIE UND EIN STATEMENT FÜR GIRLPOWER“ FBW PRÄDIKAT BESONDERS WERTVOLL
Start am 29.12.2022
SEASIDE SPECIAL
Good Old England
Die Seebrücke im kleinen Seebadeort Cromer an der Küste von Norfolk beherbergt eine Rarität: die letzte europäische „End-ofPier-Show“. Im Pavillon am Ende des Piers findet in den Sommermonaten und zu Weihnachten täglich eine Variety-Show statt, ein buntes Programm aus Gesangs- und Tanzeinlagen, Zauberstücken und Comedy. Regisseur Jens Meurer, der über ein Studium und seine englische Frau eng mit der Insel verbunden ist, hat nun einen sehr persönlichen und liebevollen Film über die Show, den Ort und England in der Zeit der fatalen Brexit-Entscheidung gedreht. SEASIDE SPECIAL (wie auch die Show heißt) verfolgt die Produktion eines Sommerprogramms anhand einiger Protagonist*innen. Da ist die Regisseurin Di Cooke, die das Team zusammenstellt, die Musiknummern auswählt und Kostüme abnickt, Mrs. Duniam, die an der lokalen Tanzschule die jüngsten Bühnenstars unterrichtet und ihre aufgedrehten Zwillingstöchter, der Krabbenfischer und Brexit-Enthusiast John Lee und der lokale Conferencier Olly Day, der durch den Film wie durch eine Revue führt. Die Jahreszeiten vergehen, die Produktion nimmt Form an, und im Hintergrund nimmt das Jahr 2019, das vielleicht bizarrste Jahr der Brexit-Saga, seinen Lauf. Der EU-Vertrag wird abgelehnt, der Brexit verschoben, Theresa May tritt zurück und Boris Johnson wird gewählt, und immer noch liegt etwas Hoffnung in der Luft, dass es ein Zurück geben könnte. SEASIDE SPECIAL – in leuchtendem, berührenden 16 mm gedreht – war schon zum Drehzeitpunkt ein nostalgischer Film, der von Traditionen und Zusammenhalt und einem leicht verschrobenen „good old England“ erzählte und dessen drohenden Verlust betrauerte. Nun mischt sich beim Ansehen der Theaterproben noch das Wissen um die unmittelbar bevorstehende Corona-Pandemie und das
Brexit-Disaster hinein. D Hendrike Bake Start am 19.1.2023
VOGELPErSPEKTIVEN
Arten erhalten
Es ist wahrlich keine vollkommen neue und überraschende Botschaft, die am Anfang von Jörg Adolphs Dokumentarfilm VOGELPERSPEKTIVEN steht: Vögel sind eine bedrohte Art. In den letzten 60 Jahren hat Deutschland fast die Hälfte seines Artenreichtums verloren. Wer im Frühjahr und Sommer in der Natur unterwegs ist, dem wird aufgefallen sein, dass das Gezwitscher abgenommen hat. Jörg Adolph behandelte mit seinem Dokumentarfilm zum Besteller von Peter Wohlleben DAS GEHEIME LEBEN DER BÄUME bereits das Schwinden der Arten. In VOGELPERSPEKTIVEN begleitet er Ornithologen und Vogelschützer mit seiner Kamera. Dr. Norbert Schäffer ist Vorsitzender des Landesbunds für Vogel- und Naturschutz in Bayern. Er hat sich die Rettung der Vogelwelt zum Ziel gesetzt und leistet Lobbyarbeit in der Politik ebenso wie aktiven Umweltschutz. Arnulf Conradi wiederum ist Gründer und früherer Verleger des Berlin Verlages und begeisterter Birdwatcher seit Kindertagen. Vor der Kamera und zu faszinierenden Naturaufnahmen erzählt er von seiner Begeisterung für die heimische Vogelwelt. Dazu liefert Jörg Adolph einen Blick hinter die Kulissen der Umweltpolitik und zeigt konkrete Beispiele des Artenschutzes wie etwa die Wiederansiedlung des Bartgeiers in Bayern. Adolph nähert sich dem Thema auf einer Gefühlsebene, klammert aber auch die Fakten nicht aus. Sein Film ist bewusst keine Anklage. Stattdessen will er Mut machen, sich einzusetzen für den Erhalt der Vogelwelt. Vielleicht haben wir uns etwas zu selbstverständlich an der Allgegenwärtigkeit der gefiederten Lebewesen gewöhnt. VOGELPERSPEKTIVEN ruft ins Gedächtnis, dass etwas fehlt, wenn sie nicht mehr da sind. D Lars Tunçay
Start am 16.2.2023
Director Jens Meurer filmed a very personal and loving film about Europe’s last “End-of-Pier-Show”, in the seaside resort Cromer in Norfolk and England during the fatal Brexit decision. In VOGELPERSPEKTIVEN, nature documentarian Jörg Adolph follows ornithologists and bird conservationists with his camera.
CLOSE
Etwas verschiebt sich
Der zweite Spielfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont taucht wie sein Debüt GIRL in die nicht immer einfache Welt Jugendlicher ein. Im Drama CLOSE behandelt er den Suizid eines 13-Jährigen. Leo (Eden Dambrine) und Remi (Gustav De Waele) sind beste Freunde, und Remi übernachtet fast täglich bei Leo. Remi, dessen Eltern riesige Blumenfelder bewirtschaften, ist eigentlich schon ein Teil von Leos Familie. Bis sich irgendetwas zwischen den beiden verschiebt. Leo wird Remi zu viel. Er will ständig an seiner Seite sein. Auch da, wo Remi ihn nicht haben will. Zum Beispiel beim Hockey-Training. Nach einem Streit kommt Leo nicht mehr in die Schule. Remi kämpft mit Schuldgefühlen, mit Scham gegenüber Leo und seiner Familie. Gerade auf dem Sprung zum (männlichen) Teenager, denkt Remi, dass er da allein durch muss und setzt auf Wut. Auf die Erwachsenen, die mit Stuhlkreisen in der Schule oder am Abendessentisch Trauerbewältigung anstreben, angesichts der Tragödie aber selbst hilflos erscheinen. Remi, der Sportler, findet ein Ventil im Körperlichen. Er powert sich beim Hockeyspielen aus. Arbeitet bis in die Nacht auf den elterlichen Feldern, schneidet Dahlien und erntet ihre Zwiebeln als Saatgut. Remi der stille Held. Der alles mit sich ausmacht. In den atmosphärischen Bildern wirkt Remi aber fehl am Platz, wenn er durch regnerische Nächte läuft oder wie ein Besessener Blumenzwiebeln rupft. Als müsste da jetzt eigentlich ein erwachsener Mensch an seiner Stelle stehen, denn wie soll ein Kind das so bewältigen?
CLOSE seziert schmerzhaft Remis Gefühlswelt, ergötzt sich aber nicht am Thema. Immer in Remis Perspektive, erfahren wir nur so viel wie er. Tasten uns mit ihm durch das, was passiert ist und zu dem, was wirklich hilft, um weiterzumachen - so wie die zarten Dahlien, die im Frühling wieder aus den Zwiebeln treiben.
Belgien/Niederlande/Frankreich 2022 D 105 min D R: Lukas Dhont D B: Lukas Dhont, Angelo Tijssens D K: Frank van den Eeden D S: Alain Dessauvage D M: Valentin Hadjadj D D: Léa Drucker, Kevin Janssens, Émilie Dequenne, Igor van Dessel D V: Pandora Film
Like in his debut GIRL Lukas Dhont’s CLOSE ventures into the complicated inner world of adolescents.
USA 2021 D 85 min D R: Josef Kubota Wladyka D K: Ross Giardina D S: Benjamin Rodriguez Jr. D M: Nathan Halpern D D: Kali Reis, Daniel Henshall, Tiffany Chu, Michael Drayer, Kimberly Guerrero, Lisa Emery, Kevin Dunn D V: drop-out cinema
Ex-boxer Kaylee has a mission: she wants to take revenge on the organization that drives girls and young women, many of them Native American, to prostitution due to a lack of prospects.
CATCH THE FAIr ONE
Rape-Revenge-Thriller
Unterwürfig nimmt sie, die Servicekraft, jedes Motzen der Gäste im Diner auf sich, packt sich aus Hunger Essensreste ein, schläft im Frauenwohnheim. Sie war Boxerin, jetzt lässt sie sich ein auf Selbstverteidigungs- und Kampftraining mit großen, massigen Männern. Sie unterliegt jedes Mal. Aber sie hat ein Ziel, eine Mission: Einen Informanten hat sie bereits aufgetan, und einen Weg in die Organisation, die Mädchen und junge Frauen aus der Perspektivlosigkeit in die Prostitution treibt - und die Kaylees Schwester geschnappt hat. Kaylee, die Kämpferin, lässt sich selbst einschleusen, lässt sich verschleppen auf der Spur nach oben, zum Kopf des Menschenhändlerrings. Kaylee wird von Kali Reis gespielt, Boxweltmeisterin im Halbweltergewicht. Reis hat auch am Drehbuch mitgearbeitet, es ist offenkundig eine Geschichte, die ihr am Herzen liegt: die aussichtslose Situation von native americans, die rassistischen Sexualverbrechern in die Hände spielt. Reis ist selbst aktive Unterstützerin der Bewegung für vermisste und ermordete indigene Frauen MMIWG. Reis und Regisseur Josef Kubota Wladyka gelingt in CATCH THE FAIR ONE die Verbindung von Sozialdrama, Action und Rape-Revenge-Thriller, sie lassen keinen Zweifel, dass die blutige Rache, die Kaylee zu üben gewillt ist, aus ihrer eigenen Lage kommt, nichts mehr zu verlieren zu haben. Geschickt fusioniert der Film Genreelemente mit der Realität der US-indigenen Bevölkerung, erzählt ist er in düsteren Bildern zwischen sachter Stilisierung und realistischer Unmittelbarkeit (Kamera: Ross Giardina). Wie der Film ein konstruiertes, aber ehrliches Porträt sozialer Realität liefert, wie er Genreelemente einsetzt, wie er Klischees von bösen Mädchenhändlern spielerisch unterläuft – das hat offensichtlich auch Darren Aronofsky überzeugt, der als Executive Producer
fungiert. D Harald Mühlbeyer Start am 26.1.2023 Originaltitel: Ezrah Mudag D Israel 2022 D 82 min D R: Idan Haguel D K: Guy Sahaf D S: Shauly Melamed D M: Zoe Polanski D D: Shlomi Bertonov Ariel Wolf D V: Edition Salzgeber
Start am 2.2.2023 Ben and Raz have just gotten comfortable in their new apartment in a trendy Tel Aviv neighbourhood. Then Ben becomes partially responsible for a police brutality case and his self-image is shaken.
CONCErNED CITIzEN
Bürger in der Krise
Etwas stimmt nicht, das merkt man gleich. Dabei läuft eigentlich alles gut für Ben (Shlomi Bertonov) und Raz (Ariel Wolf). Gerade haben es sich die beiden in ihrer neuen Wohnung in einem angesagten Viertel in Tel Aviv gemütlich gemacht. Jetzt wollen sie Eltern werden. Doch als Ben eines Abends vom Fenster aus einen Fall von brutaler Polizeigewalt beobachtet, gerät sein Weltbild ins Wanken. Er hatte kurz zuvor selbst die Behörden eingeschaltet, weil zwei junge Migranten den jungen Baum nicht in Ruhe lassen wollten, den er zum Einzug vor dem Haus gepflanzt hat. An derart harsche Folgen hatte er dabei nicht gedacht. Der Vorfall bringt Bens Leben aus dem Tritt. Erst ist es nur eine leichte Anspannung, die sich wie ein Schleier über sein Gemüt legt. Aber immer öfter reagiert er Raz gegenüber passiv-aggressiv. Er wird hypersensibel für alles, was in seiner unmittelbaren Umgebung nicht stimmt. Auch die Wohnung ist plötzlich am falschen Ort – für ihn als schwulen Mann, und für das ungeborene Kind sowieso. Als er einen Makler engagiert, ohne Raz davon zu erzählen, bringt er damit auch ihre Beziehung in Gefahr. Idan Haguels dritter Spielfilm, der im letzten Jahr im Panorama der Berlinale lief, will einen sozialkritischen Blick auf die heutige Zeit richten. In vielen kleinen Details gelingt ihm das auch. Nur vergisst er darüber, seiner Hauptfigur die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, um seine Beobachtungen in eine Charakterstudie zu verwandeln. Oft bewegt sich die Handlung in einer Art Grauzone, weil so große Themen wie Schuld und Sühne, Einwanderung und Rassismus, Armut und Stadtentwicklung angesprochen, aber nicht ausreichend reflektiert werden. Trotzdem schafft es der Regisseur, eine rätselhafte, seltsam schwebende Spannung zu erzeugen, die auf faszinierende Weise zum Weiterschauen ver-
leitet. D Pamela Jahn
Deutschland/Frankreich 2022 D 106 min D R: Helena Wittmann D B: Helena Wittmann D K: Helena Wittmann D S: Helena Wittmann D D: Angeliki Papoulia, Ferhat Mouhali, Gustavo de Mattos Jahn, Ingo Martens, Mauro Soares D V: Grandfilm Verleih
After departing from the harbor, the sea takes over the rhythm more and more. Waves determine the camera movements. The cabins are filled with the creaking of the ship day and night.
HUmAN FLOWErS OF FLESH
Magnetische Wirkung
Schon mit ihrem Debüt DRIFT zog die Künstlerin und Filmemacherin Helena Wittmann aufs Meer, und auch ihr zweiter Film spielt wieder auf, in und mit der See. Segelbootbesitzerin Ida (Angeliki Papoulia) macht darin mit ihrer Schiffscrew Halt in Marseille. Dort trifft die Gruppe auf Fremdenlegionäre. Ida und die Männer sind wie gebannt von den Söldnern und den Legenden um sie und machen sich schließlich über das Mittelmeer auf, in das algerische Sidi bel Abbès, das bis 1962 Hauptquartier der Französischen Fremdenlegion war. Mit dem Verlassen des Hafens übernimmt die See immer mehr den Rhythmus. Wellen bestimmen die Kamerabewegungen. Die Kajüten sind Tag und Nacht mit dem Knarzen des Schiffs gefüllt. Eine sehnsüchtige Sprachnachricht für die an Land Gebliebenen wird verschickt. Auf dem Deck lesen sich die Männer der Crew Gedichte vor und tanzen mit Ida zu Elektro, das Meer reflektiert die Nachtlichter wie eine Diskokugel. Dazwischen mikroskopische Aufnahmen von Plankton und blaue Unterwasserwelten. Die bestechenden Bilder verschmelzen mit dem Sound der Hamburger Musikerin und Künstlerin Nika Son zu betörenden Szenen. Wittmann, die auch Kamerafrau ist, nutzte trotz der erschwerten Bedingungen Filmmaterial und arbeitete u.a. mit Cyanotypie. HUMAN FLOWERS OF FLESH ist kein Erzählfilm, viel mehr stupst er Emotionen und innere Narrative an. Dekonstruiert nautische Mythen um brummige Seebären und wütende Fluten. Neben historischen und mythologischen Referenzen greift Wittmann auch auf Filmzitate zurück. So trifft Ida zum Ende auf „Galoup“, gespielt von Denis Lavant, der 1999 eine gleichnamige Rolle in Claire Denis’ DER FREMDENLEGIONÄR besetzte. Aber auch ohne jeden Verweis zu entschlüsseln, erzeugt der atmosphärische Film eine magnetische Wirkung – unerklärlich und sirenenhaft, wie
das Meer selbst. D Clarissa Lempp Start am 2.2.2023
rETUrN TO SEOUL
Impulsiv
Originaltitel: Retour à Séoul D Belgien/Deutschland/Frankreich/Qatar 2022 D 116 min D R: Davy Chou D B: Davy Chou D K: Thomas Favel D S: Dounia Sichov D M: Jérémie Arcache, Christophe Musset D D: Ji-Min Park, Guka Han, Yoann Zimmer, Ouk-Sook Hur D V: rapid eye movies
Freddie wurde als Baby von einem französischen Ehepaar adoptiert. Doch ihre Wurzeln liegen in Südkorea. Einem Impuls folgend reist sie in das Land ihrer leiblichen Eltern. Regisseur Davy Chou (DIAMOND ISLAND), der als Kind kambodschanischer Eltern in Frankreich aufwuchs und auch erst als Erwachsener Kambodscha kennenlernte, kennt sich aus mit der Zerrissenheit, die man spürt, wenn man sich immer im Dazwischen bewegt, nie wirklich zugehörig ist. Und diese innere Verbindung mit seiner filmischen Geschichte spiegelt sich auch in seiner sensiblen Inszenierung. Zudem thematisiert er Koreas Geschichte als „Baby-exportierende Nation“, die bis heute schambesetzt ist. Nach dem KoreaKrieg hatte Südkorea zunächst aus wirtschaftlichen Gründen angefangen, in Vielzahl vor allem Waisen und amerikanisch-koreanische Säuglinge ins Ausland zu vermitteln, aber auch später, als aufstrebende Industrienation, nicht damit aufgehört. Die konfuzianische Tradition des Landes stützt sich stark auf Blutsverwandtschaft und Ahnenlinien, die als Voraussetzung für eine intakte Familie gelten. Deshalb gelten adoptierte Kinder immer noch als minderwertig, auch wenn sich in den letzten Jahren die Einstellung der koreanischen Gesellschaft hierzu langsam verändert. Mittlerweile steigen die Inlandsadoptionen. Chou lässt vielleicht auch deshalb Freddie in einem Mix aus Auflehnung und Selbstsabotage über koreanischen Boden fegen und dabei alle Grundpfeiler der Benimm-Codes, die in Korea unausgesprochen gelten, mit sich reißen. Sie mag sich nicht den Gepflogenheiten anpassen, ist fordernd und bis an die Schmerzgrenze extrovertiert. Vermittelt durch die staatliche Adoptionsagentur trifft sie auf die Familie ihres Vaters, die sie mit Entschuldigungen überschüttet aber auch fast umgehend der Meinung ist, dass Freddie in Korea leben und einen koreanischen Mann heiraten soll. Chou zeigt, in mehreren Zeitsprüngen über acht Jahre, Freddies Reibungen und Häutungen auf der Suche nach sich selbst und einem Ankerpunkt im Leben, hinreißend intensiv dargestellt von Park Ji-min in ihrer ersten Rolle – Freddie, als Sinnbild für den Stachel, der bis heute tief in der südkoreanischen Gesellschaft
sitzt. D Susanne Kim Start am 26.1.2023
Freddie was adopted by a French married couple as a baby, but her roots are in South Korea. Following an impulse, she travels to the country of her biological parents.
Deutschland 2022 D 99 min D R: Tine Kugler, Günther Kurth D B: Tine Kugler, Günther Kurth D K: Günther Kurth D S: Tine Kugler, Günther Kurth D M: Philip Bradatsch D V: mindjazz Pictures
The long-term documentary KALLE KOSMONAUT about a childhood in East Berlin in the 2010s follows young Pascal, nicknamed Kalle, over 10 years.
DANIEL rICHTEr
Unprätentiös
Eine klassische Künstler*innendoku ruht auf drei Säulen: Aufnahmen bei der Arbeit, Selbstreflexionen und Kommentare von Freunden und Weggefährtinnen. Die erste Säule von DANIEL RICHTER ist solide: Wir sehen den Künstler in seinem Westberliner Hinterhofatelier, an den Wänden lehnen riesige Leinwände, auf dem Boden liegen Perserteppiche. Im Gegensatz zu Richters immer verschmierter Kleidung lassen sie keinen Tropfen Farbe erkennen. Durch die Luft fliegen Papageien, im Hintergrund laufen Platten, Reggae, Hip-Hop, Elektronisches. Die Szenen im Studio sind immersiv und energetisch und bringen Richters Kunstpraxis tatsächlich näher. Die zweite Säule ist angenehm schlicht: Für einen dokumentarfilmwürdigen Künstler wirkt Daniel Richter sympathisch und unprätentiös, seine Beobachtungen beschließt er gern mit trockener Selbstironie. Er versucht erst gar nicht, Tiefgründiges über die Malerei und die Welt zu sagen, daher erfahren wir nichts sonderlich Interessantes, aber auch nichts Peinliches. In einer bezeichnenden Passage erklärt eine Kunsthistorikerin den politischen Gehalt von Richters Gemälde „Tarifa“ von 2001, das geflüchtete Menschen auf einem Schlauchboot im Mittelmeer zeigt, und schaut im Anschluss online dessen Versteigerung bei Christie’s zu: 950.000 €, ein anonymer Kauf über das Telefon. Zwar äußert sich Richter auch über die Funktion von Kunst als Anlage und Geldwaschmittel, so richtig scheint ihn trotzdem nicht zu interessieren, woher sein Geld kommt. Der vom Künstler selbst initiierte Film darf auch die Schattenseiten erfolgreicher Kunst beleuchten; Richters Bestreben, nicht nur ein cooler, sondern auch ein linker Millionär zu sein, wird vom Filmemacher Pepe Danquart jedoch nicht weiter hinterfragt. Und die dritte Säule: ist Jonathan Meese. Yorick Berta D
Start am 2.2.2023
KALLE KOSmONAUT
Aufwachsen in Marzahn-Hellersdorf
Tief im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf liegt die Allee der Kosmonauten. Hier wächst Pascal, den alle nur Kalle nennen, bei seiner Mutter und deren Freund auf. Für den persönlichen und sozialkritischen Langzeit-Dokumentarfilm KALLE KOSMONAUT über eine Jugend in Ost-Berlin in den 2010ern begleiten Tine Kugler und Günther Kurth Kalle zehn Jahre lang. Kalle steht vor einem Plattenbau. „Ich hab Angst, wie’s mit mir weitergeht“, sagt der 16-Jährige. Unter Drogeneinfluss hat er einen Mann verletzt. Mit 10 Jahren ist Kalle allein zuhause. Seine Mutter hat ihm einen Zettel mit Anweisungen dagelassen: „Kein Blödsinn.“ Kalle spielt Fußball, Kalle hält Händchen, Kalle rappt. Die Kamera ist dabei. Dann der Einschnitt: Kalle muss eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und drei Monaten absitzen. Düstere Animationen von Alireza Darvish zeigen Kalle im Knast, aus dem er dem Filmteam nur Briefe schreiben kann. Ein riesiger Rabe symbolisiert das Unheil, das über Kalles jungem Leben kreist. Auf der mit Respekt und Empathie gefilmten Reise durch eine schwierige Berliner Jugend werten Kugler und Kurth nicht, treten Kalle und seiner Familie nie zu nahe und lassen Raum für eigene Erklärungsversuche: Wie ist es, in Marzahn-Hellersdorf aufzuwachsen? Mittlerweile trocken, schildert Kalles Oma, wie ihr Partner und sie vor Kalle tranken. Kalles Opa sehnt sich nach der „guten“ DDR-Zeit. Kalles Mutter Kerstin musste viel arbeiten und fragt sich, ob sie zu wenig Zeit für Kalle hatte. Seinen Vater hat Kalle seit Jahren nicht gesehen. Hätten sich Kalles Straftaten verhindern lassen? Eigentlich sei Kalle ein lieber Kerl, sagt die Kiezpolizistin. Kalle selbst ist fest entschlossen, nie wieder in einer Zelle zu landen. Ob er es schafft, weiß der reflektierte junge Mann nicht: „Was ist ein gutes Leben? Ich hab keine Ahnung davon! Aber die
Luft will ich auch mal riechen.“ D Stefanie Borowsky Start am 26.1.2023
Deutschland 2021 D 98 min D R: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof D B: Sabine Lamby, Cornelia Partmann, Isabel Gathof D K: Nicolas Mussell D S: Martin Hoffmann D M: Matthias Vogt D V: Real Fiction
The documentary accompanies two current trials against the former concentration camp warden. Experts provide insight into the trial and the history of the trials against Nazi criminals in the federal republic in a clear and detailed way.
FrITz BAUErS ErBE
Späte Prozesse
2018 steht der frühere SS-Wachmann Johann R. in Münster vor Gericht. Möglich wurde die Anklage dank der Zeugenaussage von Judy Meisel (USA), Überlebende des KZ Stutthof, die den Mann auf einem Foto identifizierte. Zwei Jahre später wird in Hamburg ein weiterer Wachmann des KZ Stutthof angeklagt; Zeugin ist die über 90-jährige Roza Bloch, die aus Israel anreist, um ihre Aussage zu machen. Beide Damen und ihre Familien stellen der deutschen Justiz die gleiche Frage: Warum hat es mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, diese Männer vor Gericht zu bringen? Dieser Frage versucht sich der Dokumentarfilm FRITZ BAUERS ERBE anzunähern. Das Team begleitete die Nebenklägerinnen, ihre Angehörigen und die Rechtsanwälte, die sie vor Gericht vertreten, während der Verfahren. Verständlich und detailliert geben Expert*innen in Gesprächen Einblicke in die Vorgänge vor Gericht, ihre Archivarbeit sowie die Geschichte der Prozesse gegen KZ-Verbrecher in der Bundesrepublik. Erst 1963 fand auf Initiative des jüdischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer mit dem Auschwitzprozess in Frankfurt zum ersten Mal ein Versuch statt, die „kleinen Rädchen“ im Getriebe des industriellen Massenmordes zur Rechenschaft zu ziehen. Seine „Rädchentheorie“ lehnte die deutsche Justiz jedoch ab – erst mit den Prozessen zum 11. September wurden Präzedenzfälle geschaffen, die es möglich machten, Mittäter an Massenverbrechen in Bauers Sinne zu verurteilen. Regisseurinnen Sabine Lamby, Cornelia Partmann und Isabel Gathof lassen uns in ihrem einfühlsam gefilmten Film nachvollziehen, wie tief die Verbrechen (und die Verbrecher) der Nazizeit in der deutschen Gesellschaft verwurzelt sind, und warum es auch nach über 70 Jahren immer noch sinnvoll und noch unabdingbar ist, dafür zu kämpfen, dass diese Taten so lange wie möglich juris-
tisch verfolgt werden. D Eva Szulkowski Start am 2.2.2023
„Eine verspielte, leichtfüßige Erzählung.“
Variety
Offizielle Auswahl 60. New York Film Festival
2022
Offizielle Auswahl Toronto Int. Film Festival
2022
Offizielle Auswahl San Sebastian Film Festival
2022
Offizielle Auswahl BFI London Film Festival
2022
Offizielle Auswahl Mostra Int. Film Festival São Paulo
2022
www.grandfilm.de
Ein Schweizer Sommer der Anarchie.
U RUH N
Ein Film von Cyril Schäublin
IN DEr NACHT DES 12.
Polizeifilm
Schon zu Beginn von Dominik Molls Film IN DER NACHT DES 12. erklärt eine Texttafel, dass es um einen unaufgeklärten Mord auf der Basis eines wirklichen Falls gehen wird. Die Sicherheit vermittelnde Form des Krimis, an dessen Ende mit der Aufklärung der Tat die Ordnung wieder hergestellt ist, wird ausdrücklich von Molls ungewöhnlichem Polizeifilm zurückgewiesen.
Eine junge Frau, Clara, ist auf dem Heimweg von einer Freundin von einem Unbekannten mit Benzin übergossen und lebendig verbrannt worden. Der brutale Mord schockiert auch die Polizisten Yohan (Bastian Bouillon) und Marceau (Bouli Lanners). Sie verdächtigen Claras Sex-Bekanntschaften, von denen es mehr gibt, als Claras beste Freundin zunächst verrät. Nanie macht sich dadurch selbst verdächtig, aber sie fürchtet vor allem eine Vorverurteilung ihrer Freundin. Alle Beziehungen von Männern zu Clara sind von Gewalt kontaminiert, auch die der Polizisten. Im Revier reagiert die zunächst ausschließlich männliche Belegschaft zwar schockiert auf die Bilder der verbrannten Toten, ein Witz über ein Missgeschick bei der letzten Grillparty löst das Entsetzen aber schnell wieder auf. Der jüngste Freund von Clara beginnt im Verhör zu kichern, als er Details erfährt, ein Verdächtiger war wegen Gewalt gegen Frauen im Gefängnis, wieder ein anderer stalkte Clara. Aber der Mord selbst lässt sich keinem der Männer nachweisen. Die fehlende Auflösung trotz jahrelanger, sorgfältiger Polizeiarbeit führt dazu, dass sich etwas anderes enthüllt: die latente Drohung männlicher Gewalt, die ständiger Bestandteil des Geschlechterverhältnisses ist. Sie wird zu einem Grundton des Films, der so eine fundamentale Verunsicherung erzeugt. In Molls Filmen gibt es oft ein dunkles Element, das eine permanente Bedrohung anzeigt oder ein Unglück ankündigt. In diesem kühlen, rationalen Polizeifilm ist dies nicht ein düsteres Omen wie in LEMMING oder eine exzessive Leidenschaft wie in DIE VERSCHWUNDENE, sondern die andauernde Ungewissheit und das alltägliche Potential zur Gewalt von Männern im Umgang mit Frauen, aber auch in ihren Gesprächen untereinander. D Tom Dorow
Originaltitel: La nuit du 12 D Belgien/Frankreich 2022 D 114 min D R: Dominik Moll D B: Dominik Moll, Gilles Marchand D K: Patrick Ghiringhelli D S: Laurent Rouan D M: Olivier Marguerit D D: Bastien Bouillon, Bouli Lanners, Anouk Grinberg, Sylvain Baumann D V: Neue Visionen Filmverleih
Start am 12.1.2023
Dominik Moll has made an intense crime thriller – about a case with no resolution.
Deutschland 2022 D 111 min D R: Hanna Doose D B: Hanna Doose D K: Markus Zucker D S: André Nier D M: Kangding Ray D D: Bibiana Beglau, Gina Henkel, Katarina Schröter, Alexander Fehling, Godehard Giese D V: MFA+
In her second feature film, Hanna Doose brings together a group of forty-somethings with a shared past in a siuation that reopens old conflicts and forces them to break through the years of silence.
19–25 Jan 2023 Sputnik Kino City Kino Wedding Acudkino
WANN KOmmST DU mEINE WUNDEN KÜSSEN?
Tiefe Gefühle
Regisseurin Maria (Bibiana Beglau) macht sich von Berlin auf zum elterlichen Hof im Schwarzwald, weil ihre Schwester an Krebs im Endstadium leidet. Den Hof bewirtschaften inzwischen Laura (Gina Henkel) und Jan (Alexander Fehling), die als Schauspielerin und DJ früher Marias engste künstlerische Verbündete waren und sich im Landleben größere Freiheit erträumt haben. Doch der Hof fordert viel Kraft, dazu kommt die Sorge um Marias Schwester Kathi (Katarina Schröter), die versucht, ihre Krankheit mit schamanischen Ritualen im Winterwald zu kurieren. Marias Auftauchen löst eine Welle von Konfrontationen aus, in denen nach und nach Bruchstücke der gemeinsamen Geschichte sichtbar werden. Immer mehr Informationen über die Vergangenheit werden ausgegraben, immer mehr verschiedene Interpretationen und Versionen der Geschichte tauchen auf, die die vier durch tiefe Gefühle und heftige Verletzungen aneinanderbindet. Der Film ist ohne Drehbuch entstanden, Regisseurin Hanna Doose hat die Grundzüge der Geschichte festgelegt und die Szenen mit den Schauspielern in Improvisationen am Set entwickelt. Diese Arbeitsweise merkt man dem Film an. Die Figuren wirken dadurch sehr lebendig und authentisch, der Geschichte hätte ein stärkerer dramaturgischer Zugriff wahrscheinlich an manchen Stellen gutgetan. In der Überfülle an Plot verliert sich mitunter, worum es eigentlich geht. „Nichts ist gefährlicher für unsere Herzen als der Staub“ sang die Hauptfigur in Dooses erstem Film STAUB AUF UNSEREN HERZEN, das könnte hier auch das Motto sein. Die Konfrontation mit der Vergangenheit wirkt als Katalysator für Veränderung und zwingt zu neuem Aufbruch. D Susanne Stern
Start am 2.2.2023 Kino Intimes www.britishshorts.de
BABYLON
BABYLON, der neue Film von Damien Chazelle (LA LA LAND, WHIPLASH) entlehnt seinen Titel sicher nicht zufällig dem legendären Buch „Hollywood Babylon“ von jedermanns Lieblingssatanisten Kenneth Anger. Das starbesetzte Sündenpfuhl-Drama (Brad Pitt, Margot Robbie, Olivia Wilde) über den Übergang der Stummfilm- und den Übergang in die Tonfilmepoche in Hollywood soll, so raunt es nach ersten Andeutungen nach Probescreenings in den USA, ein „wilder Ritt“ der „Ausschweifung“ sein. Wir werden sehen.
Start am 19.1.2023
Originaltitel: Babylon D USA 2022 D 189 min D R: Damien Chazelle D D: Brad Pitt, Margot Robbie, Tobey Maguire, Samara Weaving, Flea, Olivia Wilde, Jean Smart, Spike Jonze, Katherine Waterston, Max Minghella
EIN mANN NAmENS OTTO
EIN MANN NAMENS OVE (2015) war in Schweden einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Er erzählt vom grantigen Ove, der sich nach dem Tod seiner geliebten Frau eigentlich umbringen möchte – aber immer kommt etwas dazwischen: Die Nachbarin braucht Hilfe beim Heizungsentlüften, und jemand muss sich um die streunende Katze kümmern. Vor allem ist da die gut gelaunte und hochschwangere Iranerin Parvaneh, die sich von Oves Grummelei nicht abschrecken lässt und ihn resolut in ihre Projekte einspannt. Im Remake heißt Ove Otto und wird von Tom Hanks
gespielt. Start am 2.2.2023
WAr SAILOr
WAR SAILOR ist die bislang teuerste norwegische Filmproduktion aller Zeiten. Der Film spielt im zweiten Weltkrieg und handelt von den Handelsmatrosen Alfred Garnes und Sigbjørn (Wally) Kvalen, die im Atlantik um ihr Überleben kämpfen. Jederzeit kann ihr Frachter von deutschen U-Booten angegriffen und ausgeraubt werden. Auch die Nachrichten, die sie aus der Heimat erreichen, sind erschreckend. In Bergen, wo Alfreds Frau mit drei Kindern auf ihn wartet, hat die britischen Luftwaffe irrtümlich eine Grundschule und Wohnhäuser bombardiert.
Start am 9.2.2023
Originaltitel: Krigsseileren D Norwegen/Deutschland/Malta 2022 D 150 min D R: Gunnar Vikene D D: Kristoffer Joner, Pål Sverre Hagen, Ine Marie Wilmann, Henrikke Lund Olsen
ArBOrETUm
Kurz nach der Jahrtausendwende warten die besten Freunde Erik und Sebastian in einem Thüringer Kaff nahe der ehemaligen Grenze darauf, dass endlich „etwas Großes“ passiert. Sie haben schon einen Plan, der Stadt zu zeigen, wer sie sind, aber bis sie den umsetzen, zocken sie Videospiele, werden von den örtlichen Faschos schikaniert und üben das Schießen mit dem NVA-Gewehr von Eriks Vater. Hauptsache, nicht im Saufalltag unterzugehen, mit dem die erwachsenen „Schafe“ ihre Traumata bekämpfen. Doch dann lernt Erik ein Mädchen kennen, Elli, die weg will, sobald sie 18 ist. Start am 9.2.2023
BIGGEr THAN US
Mit 12 Jahren hat Melati Wijsen eine Kampagne gegen Einweg-Plastik in Indonesien ins Leben gerufen. Mit 18 beschließt sie, die Welt zu bereisen, und andere junge Aktivist*innen zu treffen. Mit ihr zusammen besucht der Dokumentarfilm Mohammed, der in Libanon eine Schule für Geflüchtete aufgebaut hat, Mary, die sich auf Lesbos in der Flüchtlingshilfe arbeitet, Memory, die sich in Malawi für eine Anhebung der Alters, in dem Mädchen heiraten dürfen, auf 18 Jahre einsetzt und Rene der mit 12 begann, über das Leben in den Favelas zu schreiben.
Start am 16.2.2023
WANN WIrD ES ENDLICH WIEDEr SO, WIE ES NIE WAr
Sonja Heiss (HEDI SCHNEIDER STECKT FEST) hat den autofiktionalen Roman von Joachim Meyerhoff verfilmt: Der kleine Joachim wächst als Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig-Holstein inmitten von 1.500 Patient*innen auf – die meisten Kinder, aber auch einige Erwachsene sind darunter, die hängengeblieben sind. Joachim kommt gut mit ihnen zurecht, weit schwerer tut er sich mit der eigenen kriselnden Familie. Der Film folgt dem Protagonisten im Alter von sieben, 16 und schließ-
lich 25 Jahren. Start am 23.2.2023
Frankreich 2021 D 96 min D R: Flore Vasseur Deutschland 2023 D 116 min D R: Sonja Heiss D D: Laura Tonke, Devid Striesow
ein film von SABINE LAMBY CORNELIA PARTMANN ISABEL GATHOF
Gerechtigkeit verjährt nicht
Im Verleih von
Originaltitel: Tytöt! Tytöt! Tytöt! D Finnland 2022 D 100 min, FSK: 12 D R: Alli Haapasalo D B: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen D K: Jarmo Kiuru D S: Samu Heikkilä D D: Aamu Milonoff, Eleonoora Kauhanen, Linnea Leino, Mikko Kauppila, Amos Brotherus D V: Edition Salzgeber
GIrLS! GIrLS! GIrLS!
Freundinnen-Freitage
Die Freundinnen Mimmi (Aamu Milonoff) und Rönkkö (Eleonoora Kauhanen) stehen mit ihren 17, 18 Jahren an der Schwelle zum Erwachsenwerden. An drei aufeinanderfolgenden Freitagen schütteln verschiedene Erlebnisse ihre Gefühle gründlich durch. Mimmi, deren Mutter sie vernachlässigt und die vor Wut schon mal mit dem Hockeyschläger ausholt, verliebt sich in die leistungsorientierte Eisläuferin Emma (Linnea Leino), die sie beim Jobben im Smoothie-Laden kennenlernt. Rönkkö dagegen spürt beim Sex nichts – und das muss sich dringend ändern! Die in dunklen und Pastellfarben im finnischen Winter inszenierte Coming-of-Age-Story dreier Teenagerinnen ist der dritte Spielfilm der 1977 in Helsinki geborenen Alli Haapasalo, die sich als Regisseurin oft starken weiblichen Figuren widmet. In GIRLS! GIRLS! GIRLS! (Drehbuch: Ilona Ahti, Daniela Hakulinen) rückt sie drei unterschiedliche junge Frauen in den Fokus, die sich unbekümmert, frei und selbstbewusst ihren Raum nehmen. Offen, detailliert und auf so frische und witzige Art wie sie Smoothies mit sprechenden Namen mixen, reden die Heldinnen über ihre sexuelle Orientierung und über weibliche Lust. Haapasalo nähert sich feinfühlig, ernsthaft und dennoch mit Humor der Lebens- und Gedankenwelt der drei. Mimmi, Rönkkö und Emma dürfen Fehler machen, Wut rauslassen, sich ausprobieren und scheitern, ohne dass sie jemand dafür verurteilt. Der Feminismus im Film, der mit seinem 4:3-Format an Apps wie Instagram erinnert und mit Songs des weiblichen finnischen Rap-Duos SOFA unterlegt ist, bildet die selbstverständliche Grundlage der Geschichte der Teenagerinnen, die ihre eigenen Ziele und Träume auch gegen Widerstände verfolgen und sich trauen, Grenzen zu setzen. GIRLS GIRLS GIRLS ist ein Film von Frauen über Frauen – für alle Geschlechter und
Altersgruppen. D Stefanie Borowsky Start am 23.2.2023
A variety of experiences shake up the feelings of friends Mimmi and Rönkkö on three consecutive Fridays. Originaltitel: Så jävla easy going D Schweden/Norwegen 2022 D 91 min, FSK 12 D R: Christoffer Sandler D B: Christoffer Sandler, Lina Åström, Jessika Jankert, Linda-Maria Birbeck D K: Nea Asphäll D S: Jens Christian Fodstad, Robert Krantz D M: Gustaf Spetz D D: Nikki Hanseblad, Melina Paukkonen, Shanti Roney, Emil Algpeus D V: Edition Salzgeber
SO DAmN EASY GOING
Gefühlskarussell
Joana scheint auf den ersten Blick eine durchschnittliche Jugendliche zu sein. Bis sie eines Tages ihre Medikamente nicht bekommt, weil die letzten Rechnungen noch nicht bezahlt wurden. Ab da entwickelt sich ein echtes Gefühlskarussell, denn ohne ihre ADHS-Tabletten dreht sich für Joana die Welt noch schneller als sowieso schon – und gerade da bemerkt sie die Neue in der Schule, Audrey, die Joana zusätzlich den Kopf verdreht. Wie also an Geld für neue Medikamente kommen und dabei nicht total anstrengend für alle anderen werden? Kurz gesagt: Joana versucht „einfach normal“ zu sein – und das ist sie hier auch. SO DAMN EASY GOING erzählt unaufgeregt, wie vielfältig Normalität aussehen kann: Da ist der Junge von nebenan, der beim Sex zu viel flucht, aber mit seinem Marihuana-Vorrat vielleicht die nötige Geldspritze für Medikamente geben kann. Und es gibt auch den Vater, der um Joanas Mutter trauert und zu Hause gegen seine Depressionen Tierquiz-Sendungen schaut, während die Rechnungen sich türmen. Mit viel Leichtigkeit und warmherzigem Witz zeichnet Christoffer Sandler in diesem Coming-of-Age-Film fast wie nebenbei ein Bild von ADHS, das die Klischees von hyperaktiven Kippel-Kindern unterläuft, indem er gerade keine Krankheitsgeschichte erzählt. Seine Aufnahmen pulsieren, und oft sind die Übergänge zwischen ADHS und Teenage-Angst fließend: Egal, ob Joana ins eiskalte Wasser im skandinavischen Winter springt, um ihre Gedanken zu ordnen, oder versucht, ihre zitternden Hände vor Gleichaltrigen in der Sauna zu verbergen – am Ende geht es um den Mut, sie selbst zu sein. Dass dabei eine Liebe zwischen zwei Mädchen entsteht, ohne Vorurteile von außen, lädt zum
Träumen ein. D Anna Hantelmann Start am 12.1.2023
When Joana has to get by without her ADHS pills due to the accumulation of unpaid bills, the teen‘s world spins faster than it already does – and just then she notices the new girl in school.
Originaltitel: Where Is Anne Frank? D Belgien/Luxemburg 2021 D 99 min, FSK (beantragt): 6 D R: Ari Folman D K: Tristan Oliver D S: Nili Feller D M: Ben Goldwasser, Karen O D V: farbfilm Verleih
Wo ist Anne FrAnk
Aus der Geschichte lernen
Der israelische Regisseur Ari Folman widmet sich in seinem Animationsfilm WO IST ANNE FRANK? dem bewegenden, vielfach verfilmten Schicksal des jüdischen deutsch-niederländischen Mädchens Anne Frank. Der Film entstand auf Initiative des von Annes Vater Otto gegründeten Anne Frank Fonds mit dem Ziel, in Zeiten des wachsenden Antisemitismus und Rassismus die junge Generation zu erreichen. Nachdem Anne zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 ein Tagebuch geschenkt bekommen hat, entscheidet sie, ihre Einträge in Briefform an Kitty zu richten, eine imaginäre beste Freundin, die gut zuhört und der sie alles anvertrauen kann. Viele Jahre später bricht ein starkes Gewitter über Amsterdam herein. Im Anne Frank-Haus, dem weltbekannten Museum, in dem Annes Tagebuch ausgestellt ist, zerspringt das Glas, das es schützt. Aus dem Buch heraus erwacht Kitty zum Leben, die sich wundert, dass Anne und ihre Familie nicht da sind. Auf der Suche nach Anne streift Kitty samt Tagebuch durch das heutige, winterlich-düstere Amsterdam, in dem Geflüchtete in Zelten nahe den Grachten hausen. Kitty freundet sich mit Peter an, der eine illegale Unterkunft für Geflüchtete betreibt, und mit dem vor Krieg geflüchteten Mädchen Awa. Mithilfe des Tagebuchs, das mittlerweile die ganze Stadt sucht, reist Kitty immer wieder in Annes Leben zurück, spricht mit ihr – und erfährt nach und nach, was nach ihrem letzten Brief mit Anne passiert ist. In WO IST ANNE FRANK?, für dessen 2D-Animation Lena Guberman verantwortlich zeichnet, schlägt Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) eindrücklich eine Brücke zwischen Kindern wie Anne, die während des Nationalsozialismus ihr Land verlassen mussten, und geflüchteten Kindern heute. D Stefanie Borowsky
¢ Start am 23.2.2023
In the animated film WHERE IS ANNE FRANK? Ari Folman (WALTZ WITH BASHIR) creates a connection between children like Anne, who had to leave their country during National Socialism, and the refugee children of today. Deutschland/Luxemburg/Polen 2021 D 92 min, FSK: 6 D R: Barbara Kronenberg D B: Barbara Kronenberg D K: Konstantin Kröning D S: Rune Schweitzer, Paul Maas D M: André Dziezuk D D: Romy Lou Janinhoff, Jonas Oeßel, Hildegard Schroedter, Luc Feit, Anja Schneider D V: farbfilm Verleih
Mission Ulja FUnk
Tolle Heldin
Die 12-jährige Ulja (Romy Lou Janinhoff), jüngstes Kind einer russlanddeutschen Familie, liebt das Weltall. Sie kennt sie sich nicht nur bestens mit Himmelskörpern aus, sondern hat sogar einen entdeckt: Den Meteoriten VR-24-17-20, der in Weißrussland auf die Erde treffen soll. Als sie im Kindergottesdienst ihrer Freikirche davon erzählt, ist die Gemeinde nicht begeistert von ihren wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vor allem ihre sehr gläubige Oma Olga (Hildegard Schroedter) ist schockiert und betet zu Gott, dass er ihre Enkelin „auf den rechten Weg“ führen möge. Doch der einzige Weg, den Ulja gehen möchte, ist der zum Landeplatz ihres Meteoriten. Weil sie sehr zielstrebig und erfindungsreich ist, tritt sie zusammen mit ihrem Mitschüler Henk (Jonas Oeßel) die Reise durch Polen nach Weißrussland an. Versehentlich entführen sie dabei Oma Olga – und bald sind ihnen auch Uljas Eltern und ihre Glaubensgemeinschaft auf den Fersen. MISSION: ULJA FUNK ist der erste lange Spielfilm von Regisseurin Barbara Kronenberg, die auch die Geschichte geschrieben hat. Der Film, der schon einige Preise gewonnen hat, wurde mit einer großen Crew aus verschiedenen Ländern realisiert. Man muss bei dieser turbulenten Komödie oft richtig laut lachen, viele Späße sind aber auch ganz schön heftig (zum Beispiel, wenn der betenden Oma einfach das Kreuz auf den Kopf fällt und sie ohnmächtig wird!). Ulja ist auf jeden Fall eine tolle Heldin: Sie erinnert ein bisschen an Wednesday Addams, die gerade mit der nach ihr benannten Netflix-Serie viele Herzen erobert hat. Auch sie lacht selten, hat starke Nerven und lässt sich von nichts und niemandem verbiegen. Gerade weil sie so nerdig und eigensinnig ist, begleitet man sie sehr gerne, während sie sich langsam mit Henk anfreundet, mit ihrer Familie streitet und unaufhaltsam
ihren Träumen nachgeht. D Eva Szulkowski ¢ Start am 12.1.2023
12 year old Ulja, the youngest child in a Russian-German family, loves outer space. When she discovers that meteorite VR-24-17-20 is meant to hit Earth in Belarus, she hits the road with her classsmates.