«versus» magazine 01/14

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versus — magazine —


Tell me a story


Editorial

Sind gute Geschichtenerzähler Künstler oder Handwer-

Weil das so ist, ist Storytelling essenziell für den Ge-

ker? Wohl beides. Es ist fraglos eine Kunst, aus dem

schäftserfolg. Ist die Geschichte stimmig und relevant

Nichts eine Scheinwelt zu erschaffen, den Zuhörer auf

für die Zielgruppe, verkauft sie Marken, Unternehmen,

eine Fantasiereise mitzunehmen, ihn mit Worten oder

Produkte, Dienstleistungen. Entscheidend für den Erfolg

Bildern an sich zu fesseln. Es ist aber auch Handwerk mit

sind drei Dinge. Erstens die kreative Idee – also der

dabei: Dramaturgie kennt präzise Regeln.

künstlerische Aspekt. Zweitens die Inszenierung in allen Kanälen – quasi der handwerkliche Part. Und drittens

Was uns faszinierte bei der Erstellung dieses Magazins zum Thema Storytelling: Wir Menschen tendieren

Spass, beides miteinander zu verknüpfen. Letzteres wünsche ich Ihnen bei der Lektüre.

dazu, fast alles, was wir tun, mit einer Geschichte zu unterlegen. Der Grund ist simpel – Geschichten erklären uns, weshalb etwas ist, wie es ist. Komplexe Zusammenhänge erfassen wir leichter, wenn sie in einer Story erklärt werden. Geschichten sparen uns also Hirnleistung! Und die Geschichte muss gar nicht wahr sein – gut erfun-

Viel Vergnügen!

den reicht bisweilen auch.

Alfredo Trasatti

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Making of

Beromünster 31. März bis 2. April 2014

Abgeschieden im Kunsthaus KKLB – die Abkürzung steht für Kunst und Kultur im Landessender Beromünster –, entwerfen vier Magazinmacher ein neues Printprodukt: «versus». Das Bild zeigt den gut gesicherten alten Kommandoraum, aus dem der jahrzehntelang stärkste Sender der Welt gesteuert wurde. FOTO:

Herbert Zimmermann

«Der Wetz ist ein wirklich quirliger Typ. Kaum zu fassen. Geschweige denn, ihn zu reduzieren. Genau darin lag die Heraus­forderung bei der Titelgeschichte. Eigentlich war das die Herausforderung für das ganze Magazin: für etwas noch Unbestimmtes eine passende Form finden.» Simon Fallegger, Redaktor

«Das Magazin muss reflektieren, unterhalten, unsere Kompetenz beweisen und inspirieren. Ein hoher Anspruch. Um die Grundidee zu entwickeln, gaben wir uns drei Tage Zeit. Wir nabelten uns komplett ab vom Agenturalltag.» Michael Frischkopf, Publishing Director

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Making of

«Hier im KKLB treffen verschiedenste Kunstformen direkt aufeinander ­ und erzeugen so für die Besucher eine äusserst kreative Spannung – ein ­faszinierender Clash. Kreativ sein heisst auch, andere Meinungen zu­zulassen und den Diskurs darüber nicht zu scheuen. Mal ‹versus› zu sein.»

«Ich hatte von Beginn weg eine Ahnung, wie das Magazin werden soll. Wie aus dieser unbewussten Ahnung schliesslich ein Magazin wurde, ist im Rückblick ein erstaunlicher und wunderbarer Prozess.»

Guido Von Deschwanden, Creative Director

Peter Kruppa, Art Director

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Inhalt

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— 28 — — 42 —

— 46 — — 11 — Fotos: Jolanda Flubacher Derungs; Beat Schweizer; Herbert Zimmermann; Keystone / Getty; ZVG

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Inhalt

Wetz erklärt die Welt

8 Regeln für die Ewigkeit Unternehmen müssen Geschichten erzählen. Was es dabei zu beachten gilt, haben wir für Sie zusammengefasst.

S. 8

Kunst macht nur Sinn, wenn eine Geschichte dahintersteht. Sagt Künstler Wetz.

Marken, aufmerken!

Ein Porträt.

S. 28

Dramatisch gut

Moderne Markenführung bietet dem Kunden Inhalte und erhält Kundenbindung und Loyalität zurück. Neudeutsch nennt sich das

Im Interview erklärt Schriftsteller Lukas Hartmann,

Branded Content. Weshalb und wie es funktioniert.

worauf er beim Bücherschreiben achtet. Und was viele seiner

S. 13

Figuren mit ihm gemeinsam haben.

S. 42

Emotionen brauchen Platz. Wirklich?

Hänsel und Gretel reloaded

Kampf der Argumente: Emotional aufgeladene Inhalte entfalten im Grossformat ihre stärkste ­Wirkung, meint Redaktor Andreas Turner. Art Director Peter Kruppa ist anderer Meinung.

Wie viele Arten gibt es, ein Märchen anders

S. 16

zu erzählen? Wir stellen einige vor und nennen es «alternatives Storytelling».

S. 46

Storytelling im Cyberspace

Qualität oder Ramsch?

Welche Spielregeln müssen wir beachten, damit Storytelling auch in den Social Media-Kanälen gelingt? Ein Doppelinterview mit den Experten Prof. Dr. Axel Vogelsang und Michael Schär.

S. 18

Kampf der Argumente, Teil 2: Es braucht Profis,

Erzähl mir was!

um Inhalte attraktiv darzustellen, meint Redaktor Gaston Haas. Dank dem Internet verlassen diese endlich den Elfenbeinturm, meint Kollege Bruno Habegger.

Dr. Hermann Sottong, Literatur- und Theater-

S. 52

wissenschaftler sowie Psychologe, analysiert Geschichten. Und verhilft damit Marken, Menschen und Unternehmen zu neuer Stärke. Wie macht er das?

Ein Medienhaus für Ihre Inhalte

S. 22

Auf den Punkt gebracht

Die Kernkompetenz von Infel Corporate Media besteht darin, Unternehmen, Marken und Botschaften in Form von Storytelling zu inszenieren.

Die Arbeit von Wortakrobat und Musiker Manuel Stahlberger

Ein Porträt des Herausgebers dieses Magazins.

beginnt im Chaos und endet – auf dem Punkt.

S. 54

Das Protokoll einer ungewöhnlichen Denkarbeit.

S. 24 —7—


8 Storytelling

Wenn Unternehmen Geschichten erzählen

Regeln FREI NACH

Prof. Dr. Dieter Georg Herbst

—8—


Storytelling

Gute Geschichten brauchen Zeit. Ändern Sie Ihre Geschichten nicht mit jeder Broschüre und jeder neuen Anzeige. Variieren Sie das Grundthema über Jahre hinweg.

Gute Geschichten sind widerspruchsfrei. Alle «Geschichtenerzähler» in Ihrem Unternehmen halten sich an ein vorgegebenes Konzept. Dieses gibt die Richtung vor, lässt aber genügend Freiraum.

Gute Geschichten haben Persönlichkeit. Bringen Sie die Persönlichkeit des Unternehmens zum Ausdruck. Orientieren Sie sich an der Markenidentität.

Gute Geschichten sind einzigartig. Suchen Sie die Differenzierung zur Konkurrenz. Schärfen Sie so Ihr Profil.

Gute Geschichten haben ein Ziel. Je fokussierter Sie erzählen, desto leichter können Sie das Verhalten Ihrer Bezugsgruppen beeinflussen.

Gute Geschichten sind einfach. Liefern Sie die Schlüsselinformationen. Das menschliche Gehirn kann diese leicht aufnehmen, verarbeiten und speichern.

Gute Geschichten sind bedeutend. Inhalt und Form müssen für Ihre Bezugsgruppen relevant sein.

Gute Geschichten haben Gefühl. Emotionen erhöhen die Kommunikationswirkung. Im besten Fall finden Sie Formen des Geschichtenerzählens, die mehrere Sinne ansprechen.

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Frisch vom Storyteller

01

02

Wort für Wort

Satirefutter und Online-Enten

das Bewegen des Auges und das

Das Internet ist vollgestopft mit

Wörter einzeln am Leser vorbei. Bis zu

Fokus­sieren auf diese Achse verloren.

Informationen. Ob diese auch stimmen,

1000 Wörter pro Minute. Das spart Platz

Ein durchschnittlicher Leser schafft

steht auf einem anderen, äh, Blatt. User

und Zeit. Die Technologie dazu heisst

auf einer Buchseite übrigens 250 Wörter

bewerten Einträge oft reflexartig als

Spritz und könnte in einer Welt von

pro Minute (wpm).

wahr. Satirische Webmagazine wie der

Wie im Daumenkino fliegen die

Informationsflut und kleinen mobilen

Tönt gut. Wir haben uns intern

deutsche «Postillon» und die österreichi-

Geräten wie Smartphones oder Smart-

gefragt, ob Spritz in der Praxis hält, was

sche «Tagespresse» machen sich dies zu

watches die Zukunft des Lesens sein. Der

es in der Theorie verspricht. Hier das

Nutze. Mit mehr oder weniger offensicht-

Trick dabei: Spritz fixiert die Blickachse

Testergebnis. //

lichen Falschmeldungen wie «Mit 0:4

genau dort, wo unser Auge natürlicher-

gestraft genug: Landgericht München II

weise hinschauen würde, um das Wort

erlässt Uli Hoeneß die Haftstrafe»

erkennen zu können. Normalerweise

Ausprobieren:

bringen sie leichtgläubige Zeitgenossen

gehen 80 Prozent der Zeit beim Lesen für

www.spritzinc.com/

regelmässig zur Weissglut. Dabei sind die Artikel nicht bloss amüsante Zeitungsenten, sondern auch der Beweis dafür, dass beim Surfen im Netz der gesunde

Matthias Bill, Redaktor und Kommunikationsberater

«Mit etwas Übung klappt es bei 700 Wörtern pro Minute wunderbar. Wäre interessant, das Prinzip mal bei 800, 900, 1000 wpm zu testen.»

Menschenverstand oft nicht mit an Bord ist. Wie etabliert «Postillon» & Co. mittlerweile sind, zeigte sich am 3. Januar 2014. Das Online-Magazin nahm die zwar echte aber nicht von Ironie befreite Nachricht vom Wechsel des CDU-Politi-

Diana Lischer, Editorial Designerin

«Bis 400 wpm schläft man fast ein. 450 wpm war mir irgendwie zu schnell, 550 wpm fand ich komischerweise wieder angenehm. Bei 700 wpm verstehe ich zwar noch, worum es geht, aber ich kann nicht mehr alle langen Wörter erfassen.»

kers Pofalla in den Vorstand der Deutschen Bahn auf und datierte die Meldung auf den 1. Januar vor. Prompt meinte die Webgemeinde, seriöse Medien seien auf eine «Postillon»-Ente reingefallen. //

www.der-postillon.com

Janine Radlingmayr, Redaktorin und Kommunikationsberaterin

«Als trainierte Vielleserin schaffe ich die 700 wpm. Ich muss aber sagen, dass das Lesen so keinerlei Spass mit sich bringt und einzelne Wörter verschluckt werden.» Franziska Neugebauer, Editorial Designerin

«Für mich ist 350 am angenehmsten. Das ist mir nicht zu langsam, aber es ist auch nicht anstrengend, sondern macht Spass zu lesen.» — 10 —

www.dietagespresse.com


Frisch vom Storyteller

03

Für Pharrell war der auffällige

Hey @Pharrell, can we have our hat back? #GRAMMYs

Hut ein Mode-Statement,

2:28 AM – 27 Jan 2014

für Arby’s eine unverhoffte Marketing-Gelegenheit.

@Arbys Y′all tryna start a roast beef? 10:23 AM – 27 Jan 2014

Thank you to whoever bought my Grammy hat on @ebay for $44,100. Your donation benefits From One Hand To AnOTHER. 2:09 AM – 3 Mar 2014

@Pharrell You′re welcome. We’re HAPPY to support a great cause & get our hat back. Good luck at the

«Arby’s dürfte seinen Bekanntheitsgrad mit dieser Aktion zünftig gesteigert haben und erst noch sympathisch rübergekommen sein. Pharrell hat dabei mit seiner Twitter-Affinität und viel Wortwitz unentgeltlich an der Markengeschichte mitgeschrieben.»

Ein Hut schreibt Twitter-Geschichte

Matthias Bill, Beratung und Redaktion

Twitter bewiesen, dass man Corporate-Storytelling auch mit

#Oscars tonight! 2:17 AM – 3 Mar 2014

What a pleasant surprise. Thank you @Arbys, our roast beef is now officially well done. 10:03 AM – 3 Mar 2014

Die US-amerikanische Fast-Food-Kette Arby’s hat jüngst auf

Fotos: Keystone / Getty; Getty / Larry Busacca

140 Zeichen und weniger machen kann. Anlass war die Ähnlichkeit ihres Logos mit dem Vivienne-Westwood-Hut von Pharrell Williams, den der Sänger an der Grammy-Verleihung trug. Sie profitierte von der Popularität des Sängers – und des Hutes (selbst ein Twitter-Phänomen). Um die Sache abzurunden, hat Arby’s zu guter Letzt und für einen guten Zweck auch noch gleich den Hut ersteigert. //

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Frisch vom Storyteller

04

05

Eine Zeichnung spricht Bände

Jessica Hagy bringt Lebensweisheiten auf den Punkt – respektive auf den Strich. Eine einfache und wirkungsvolle Art, in Kürzestform Geschichten zu erzählen. Dass sie nicht ausgebildete Designerin, sondern Texterin ist, macht das Ganze umso ungewöhnlicher. Übrigens: Was mit kleinen Kritzeleien im eigenen Blog begann, wurde zu einer wöchentlichen Kolumne auf Forbes.com und später zu einem Bestseller in Jessica Hagy, «So einfach ist das!», Goldmann Taschenbücher

Buchform. Das Beispiel zeigt, dass Online-Inhalte eine enorme virale Kraft entwickeln können, wenn Sie auf das richtige Publikum treffen. Das Bedürfnis, den Inhalt aber auch haptisch zu erfahren und etwas Wertiges in Händen zu halten, scheint trotzdem bestehen zu bleiben. //

A shallow magnitude 4.7 earthquake was reported Monday morning five miles from Westwood, California, according to the U.S. Geological Survey. The temblor occurred at 6:25 a.m. Pacific time at a depth of 5.0 miles. Diese Nachricht ist am 17. März auf der ­Website der «LA Times» erschienen. Geschrieben hat sie aber kein Journalist, sondern der Algorithmus «Quakebot». Drei Minuten nach dem Erdbeben

Fotos: ZvG

war sie online.

Was mit einem Blog begann, wurde zu einem erfolgreichen Business. Die Zeichnungen sind auch zwischen Buchdeckeln erhältlich.

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Frisch vom Storyteller

06

Wieso uns Brands Geschichten erzählen müssen

um diese Botschaft unterhaltsame Geschichten mit dem Engel Franky Slow Down. Einen coolen, kumpelhaften «Dude», der nicht als Vaterfigur rüberkam, sondern der die Kernaussage glaubhaft vertreten und auf sympathische und glaubwürdige Art und Weise ganz easy verkünden konnte: «Hey, nimms locker, slow down – auch auf der Strasse.»

Branded Content ist mit Sicherheit einer

«Content Game» ist seit Jahren mit

der grössten aktuellen Trends in der

Branded Content omnipräsent und

Marketingwelt. Im Kern geht es darum,

integriert sich optimal in den Lifestyle

Themen intelligent um die eigene Marke

ihrer Zielgruppe. Die Positionierung als

aufzubauen und damit informative und

dynamische und mutige Marke festigt

unterhaltsame Inhalte zu kreieren.

Red Bull mit atemraubenden Extrem-

Salopp ausgedrückt: Statt im redaktio-

und Actionsport-Geschichten und trendi-

nellen Umfeld einer Zeitung oder einer

gen Musikevents. Den Energydrink

Website Werbung zu schalten und im

selber muss man auf der Website

besten Fall kurzfristig Aufmerksamkeit

geradezu suchen. Was – mit Verlaub –

zu erhalten, schaffen Unternehmen

einiges sympathischer wirkt, als

selber relevante Inhalte. Im Grundsatz

potenzielle oder bestehende Kunden

geht es also um das Potenzial und die

immerzu aufzufordern: Like, klick und

Relevanz von gutem Storytelling, um die

vor allem: Kauf!

Inhalte müssen berühren Guter Branded Content ist folglich unterhaltsam. Und er berührt! Als die Agentur von Dove dem Unternehmen die Idee zum Spot «Real Beauty Sketches» präsentierte, konnte niemand voraussagen, was bei der Zielgruppe passiert – zumal weder Unternehmen noch Produkte darin vorkommen sollten. Es brauchte Mut und eine gehörige Portion Zuversicht in das Unbekannte. Etwas, das für viele Unternehmen sehr schwierig ist, aber zunehmend notwendig wird. – Der Film wurde zum meist-

Qualität und Attraktivität von Inhalten. Statt aber einfach Erfolgsgeschichten aus dem Unternehmen überzeugend zu erzählen (was durchaus wichtig ist und nach wie vor praktiziert werden muss), hat Branded Content nicht prioritär mit dem Unternehmen oder dessen Produkten zu tun. Im Gegenteil. Eine Faustregel besagt: «If it feels like marketing, no one will spread it for you!» Branded Content lebt von journalistisch und gestalterisch attraktiv aufbereiteten Inhalten, von unterhaltenden und informativen Storys, passend zum persönlichen Interesse der Zielgruppe. So erreichen Unternehmen heute Kundenbindung und deren

Fotos: ZvG

Loyalität.

Wo bleibt das Unternehmen? Bei Branded Content stehen also weder das Unternehmen und dessen Produkte noch die Werbe- und PR-Botschaften im Vordergrund – sondern Geschichten und Inhalte. Das bedeutet aber nicht, dass der Absender unsichtbar wird. Im Gegenteil. Als vielbeachtetes Vorzeigebeispiel dient hier Red Bull: Die Nummer eins im

Inhalte müssen unterhalten Branded Content ist dann gut gemacht, wenn er die Marke (eben den Brand) mit einer Botschaft, die von der Zielgruppe bereitwillig geteilt wird, stützt. Es gilt daher, Information so aufzubereiten, dass sie an die Interessen und Werte der Zielgruppe angepasst ist und ihrer Auffassung von Unterhaltung entspricht. Was natürlich nur funktioniert, wenn die Bedürfnisse der Zielgruppe hinlänglich bekannt sind. Wertvolle Einsichten liefern hier Interviews im Vorfeld eines Konzepts. Bei der bekannten Kampagne «Slow Down. Take it easy.» der bfu – Beratungsstelle für Unfallverhütung beispielsweise kristallisierte sich bei den Fokusgesprächen heraus, dass es für die optimale Vermittlung der Hauptbotschaft (angepasste Geschwindigkeit am Steuer) generell darum gehen muss, zu entschleunigen. Den Machern war daher wichtig, dass sich ein Lebensgefühl – «Slow Down. Take it easy.» – auf den Strassenverkehr überträgt. Und statt dröge Ratschläge zu erteilen, baute man

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Die starken Emotionen, die Doves «Real Beauty Sketches» hervorrief, waren entscheidend für den Erfolg des Videos.

Der Film brachte die Botschaft des Unternehmens auf den Punkt: Du bist schöner, als du denkst!


Frisch vom Storyteller

geschauten Brand-Video 2013. Er zeigt

ten hatte Franky rund 290 000 Fans.

Frauen, die von einem Zeichner

Damit haben wir nicht gerechnet.

porträtiert werden. Einmal aufgrund

Obwohl Social Media natürlich klar

ihrer eigenen Beschreibung und einmal

zur Zielgruppe passen und die Online-

aufgrund der Beschreibung einer

Strategie von Anfang an eine tragende

anderen Person. Anschliessend werden

Rolle spielte. Auch die hohe Akzep-

den Frauen die beiden oft sehr unter-

tanz in der Bevölkerung in kürzester

schiedlichen Porträts gezeigt. Und immer

Zeit war erstaunlich, aber natürlich

entstand das schönere aufgrund der

sehr erfreulich. Und dass diese dann

Fremdbeschreibung. Die Reaktion der

sogar noch so bereitwillig mittels

Porträtierten auf die Bilder ist sehr

Kleber dokumentiert wurde! Ganz

emotional – und das wiederum berührt

ehrlich? Ich dachte eigentlich, Kleber

Statt Belehrungen vorzutragen, erzählt Engel

den Zuschauer. Wie gesagt: Produkte

auf Autos seien ausgestorben ;-)...

Franky Slow Down Geschichten und vermittelt gleichzeitig

sind keine zu sehen. Aber es gibt hundert

ein Lebensgefühl.

Sympathiepunkte für Dove und einen

Inhalte müssen informieren Guter Branded Content ist aber auch informativ. Coca-Cola zum Beispiel änderte die Kommunikationsstrategie und schaffte ihre herkömmliche Website gänzlich ab zugunsten eines digitalen Magazins mit Infografiken, redaktionellen Geschichten, MeinungsPosts und vielem mehr. Und etablierte sich damit einmal mehr als Trendsetter! Im Gegensatz zu anderen Blogs führt das Unternehmen die «Coca-Cola Journey – Refreshing the world, one story at a time» als Newsroom und investiert in qualifizierte Redaktoren, Fotografen und renommierte Gastbeiträge. // Die klassische Webpräsenz ist überholt: Coca-Cola setzt voll und ganz auf Geschichten.

«Klassische Kommuni­ kation war gestern. Konsumenten er­warten heute Branded Content: von Unternehmen erschaffene Inhalte, die unterhalten, informieren und Kunden­interessen ent­sprechen. Das Ziel: Kunden­bindung und Loyalität.» Claudia Sebald, Redaktorin und Kommunikationsberaterin

Wie ist aber nun das Feedback aus Unternehmenssicht? Wir haben bei Peter Matthys nachgefragt. Er ist seit über sechs Jahren Leiter Kampagnen / Marketing bei der bfu – Beratungsstelle für Unfallverhütung und hat die Kampagne «Slow Down. Take it easy.» mitgestaltet und begleitet: ein schweizerischer «Best Case» in Sachen Branded Content.

Herr Matthys, was war aus Ihrer Sicht besonders eindrücklich bei der Franky-Kampagne? Wie die Marke durch die Decke ging, vor allem auf Facebook! In Spitzenzei-

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Ihr abschliessendes Resümee? Das Ziel der Kampagne war Unfallverhütung bzw. angepasste Geschwindigkeit im Strassenverkehr. Unsere Organisation muss man nicht zwingend kennen. Und trotzdem profitierten wir von einer Imagekorrektur, denn wir hatten ja ein bisschen ein verstaubtes Image. Heute werden wir als moderne, aufgeschlossene Organisation wahrgenommen. Wir werden auch im Ausland immer wieder auf Franky angesprochen, das heisst, die Kampagne ist sogar international bekannt. Selbstkritisch möchte ich aber anmerken, dass sich die Anzahl der Unfälle (noch) nicht signifikant verringert hat. Das Thema konnten wir sicherlich lancieren, die Leute haben darüber geredet und wurden sich der Problematik bewusst(er) – aber ob wir wesentlich dazu beigetragen haben, die Einstellung oder ihr Verhalten zu ändern? Was passiert nun mit Franky? Wie geht es 2014 weiter? Franky hat seinen Job hervorragend erledigt und ist nun im Himmel. Im Ernst: Wir lancieren aktuell eine neue Präventionskampagne: «Stayin’ alive». Bei dieser werden vor allem Motorradunfälle thematisiert. Ohne Franky. Aber wir hoffen natürlich dennoch erfolgreich.

Fotos: ZvG

Boost für Bekanntheitsgrad und Image.


Frisch vom Storyteller

07

Der Anfang vom Ende. Das Ende vom Anfang. Ob Literatur oder simple Schulungsunterlage – die ersten Sätze prägen einen Text. Doch auch einige Enden sind so gut, dass wir sie zum Weltkulturerbe zählen dürfen. Machen Sie den Test und bringen Sie Anfang und Ende zusammen.

Anfänge

Enden

(A) Ein Gespenst geht um in Europa. …

… (1) O grausames, unnötiges Missverstehen! O eigen­sinniges, selbst auferlegtes Verbanntsein von der liebenden Brust! Zwei nach Gin duftende Tränen rannen an der Seite seiner Nase herab. Aber nun war es gut, war alles gut, der Kampf beendet. Er hatte den Sieg über sich selbst errungen. Er liebte den grossen Bruder.

(B) Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde. Und die Erde war wüst und leer, und die Finsternis war über der Tiefe, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. …

… (2) Und Joseph starb, 110 Jahre alt, und sie balsamierten ihn ein, und man legte ihn in einen Sarg in Ägypten.

(C) Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. …

… (3) Studer starrte zur Decke, schwieg eine Zeit lang. Dann sagte er, und seine Stimme war ausdruckslos: «Nüt Apartigs …»

(D) Beim ersten Mal fühlt es sich seltsam an. … (E) Der Gefangenenwärter mit dem dreifachen Kinn und der roten Nase brummte etwas von «ewigem Gstürm» – weil ihn Studer vom Mittagessen wegholte. …

… (4) Proletarier aller Länder, vereinigt euch. … (5) Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. «Wie ein Hund!», sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.

(F) Es war ein klarer, kalter Tag im April, und die Uhren schlugen gerade dreizehn, als Winston Smith, das Kinn an die Brust gepresst, um dem rauhen Wind zu entgehen, rasch durch die Glastüren eines der Häuser des Victory-Blocks schlüpfte, auch wenn nicht rasch genug, als dass nicht zugleich mit ihm ein Wirbel griesigen Staubs eingedrungen wäre. …

… (6) Denke daran, dass ein guter Taucher niemals aufhört zu lernen.

Hier sind die Bücher, aus welchen die Anfänge und Enden stammen: Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei; Die Bibel, 1. Buch Mose (AT); George Orwell: 1984; Franz Kafka: Der Prozess; Friedrich Glauser: Wachtmeister Studer; PADI Tauchschule, Go Dive. .1F ,3E ,6D ,5C ,2B ,4A :gnusöL

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Turner vs. Kruppa

Visuelles Storytelling? Emotional aufgeladene Inhalte entfalten im Grossformat ihre stärkste ­Wirkung, meint Redaktor

Andreas Turner (links). Art Director Peter Kruppa fühlt sich auch im Mäusekino gut unter­halten: «Mein iPhone hält mich nonstop auf Trab.»

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Turner vs. Kruppa

Emotionalität:

«Emotion benötigt Raum. Zumindest grosszügig bemes-

Liebling, wer hat die Geschichten geschrumpft? FOTO:

sene Fläche. In spannende Geschichten mit ihren Bilderwelten will der Mensch eintauchen können, um wirklich mitgerissen zu werden. Für emotionalisierendes Storytelling funktionieren Kleinstformate nicht.» Wenn ich das Meer oder zumindest ein grosses Schwimmbecken vor Augen habe, kann ich eintauchen. Wird mir stattdessen ein Glas Wasser vorgesetzt, schlucke ich leer. Erinnern Sie sich an Ihre Pubertät, als die Gefühle noch kompromisslos waren? Als Teenager konsumierte ich Schallplatten im Klappcover als multimediale Gesamt-

Matthias Jurt

kunstwerke: Musik für die Gehörgänge, Songtexte und Liner Notes zum Mitlesen, das Cover-Artwork zum bewundernden Betrachten. Ich tauchte ein, meine Sinne waren Keine Ahnung, ob’s interessiert, aber mein Leben oszilliert

gefangen. Es war herrlich. Dann kam die CD. Wir bewunder-

zwischen Slapstick und Tragödie. Doch davon später. In

ten die Reinheit der Klänge und vermissten die Fläche. Der

meinem Primärjob als Kundencoach, Phrasenbieger und

iTunes-Folder meines iMac lässt mich die Albumcover ge-

Wortmischer bei Infel Corporate Media sehe ich mich zur-

rade noch erkennen. Songs in der Cloud sind die Bits und

zeit mit zwei gegenläufigen Bewegungen konfrontiert.

Bytes der nackten Audiofiles. Ich höre die gleiche Musik,

Erste Bewegung: Will ich ein Unternehmen in gesättigten

beklage aber einen gewaltigen Verlust. Das grossformatige,

Märkten erfolgreich positionieren und sein Image gezielt

bebilderte Buch, die ausladende Zeit-

stärken, geht nichts über passgenaues Storytelling. Emotio-

schrift lassen mich den emotionalen

nal aufgeladene, mitreissende Geschichten finden ohne

Impact eines Features, einer Repor-

Umschweife ihren Weg in die Köpfe und Herzen der Ziel-

tage sinnlich erleben. Ich kann mei-

gruppe. Vorausgesetzt, ich kann die Storys grosszügig in-

nen Blick schweifen lassen. Die On-

szenieren. Um nicht zu sagen: opulent.

line-Version einer Zeitschrift, übers

Gegenbewegung: Die mobilen Benutzeroberflächen un-

Smartphone geöffnet, lässt mich ge-

serer digitalen Endgeräte sind einem spektakulären

fühlskalt, ich registriere News und

Schrumpfungsprozess unterworfen. Die Miniaturisierung

Informationen, werde dabei aber

sprang direkt vom Laptop zum Smartphone, woraus eine

nicht warm.

Flächenreduktion um den Faktor 10 resultierte. Mindes-

Das Leben lehrt nicht viel. Aber

tens. Mit dem Tablet kam eine kurze Verschnaufpause,

ein bisschen was doch. Zum Beispiel,

doch schon droht die iWatch mit ihren mikroskopischen

dass Gesetzmässigkeiten, die man

Massen. Gesundheitspolitiker warnen bereits vor Augen-

sich selbst ausgedacht hat, nie für alle

krebs.

gültig sind. Beim Ansturm der ersten

Viele Ideen fliegen mir tagtäglich zu, aber ich kann sie

Ausnahme zerbröseln sie geradezu.

nicht festhalten. Sie scheinen immer dann besonders viel-

Es gibt nämlich Leute, die sind der

versprechend zu sein, wenn ich keine Hand für Stift oder

felsenfesten Überzeugung, dass je-

Recorder frei habe. Wenn ich am Lenkgestänge eines Chop-

des Bewegtbild, und sei es ein auch

pers hänge zum Beispiel oder in einer Smokers’ Bar am Tre-

noch so winziges You­tube-Filmchen,

sen, wo die Linke am Bordeaux-Glas und die Rechte an der

die Emotionalität jeder grossflä­

Churchill-Zigarre befestigt ist. Oder während leichter Berg-

chigen Print-Bilderstory locker wett-

touren, bei denen ich grundsätzlich alle viere benötige. Am

macht. Noch bewege ich un­gläubig

besten geht’s noch in meinem Roadster mit sequenziellem

den Kopf, bin also geschüttelt, irgend-

Getriebe, das ich manuell schalten kann, aber nicht muss.

wie aber auch gerührt. //

So bleibt zur Not eine Hand frei fürs iPhone, das ein passables Diktiergerät ist. Während meines letzten Besuchs im grössten Kino Zü-

Andreas Turner, Redaktor und Kommunikationsberater

richs lief die Space-Station-Oper «Gravity». Vierte Reihe, Mitte, Mega-Leinwand. Wir sassen im Epizentrum des Geschehens. Den linken Arm hatte ich um die Schultern meiner Angebeteten geschlungen, damit sie mir nicht entgleiten konnte. So drifteten wir gemeinsam mit Bullock und Clooney durch die Thermosphäre. So nennen Gelehrte die zweitäusserste Schicht der Atmosphäre in knapp 500 Kilometer Höhe über der Erdoberfläche, wo Space Shuttles und Satelliten verkehren. Um die Weltraumstille nicht zu stören, sprach ich leise in mein iPhone:

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Ist der Button zu winzig oder mein Finger zu breit? Egal, nochmal: Klick. I like, I share, iPhone. «Wow, das ist wirklich gigantisch», so mein Kommentar zum Song. «Hab auch ICH entdeckt», die Antwort. «Du bist so grandios.» Ich switche zum Musik­video (und teile «Fett!»), dann zu den Tourdaten. Wieder Switch. Neuer Kommentar: «Sie kommen! Ätsch, hab ICH entdeckt!» «Weiss ich schon längst.» Switch: Ticket online gebucht. «Mega!» Die ganze Platte nochmal im Stream. Grossartig. Paar Wochen später fünf Meter vor mir: riesig! Ich poste ein Foto. Eine neue sensationelle Ent­­deckung. Nach zwei imposanten Stunden kauf ich schliesslich eine LP für meinen grossen Plattenspieler. Peter Kruppa, Art Director


Social Media

«Social Media irritiert, weil sich die Spielformen dauernd weiterentwickeln» Social-Media-Kanäle eröffnen neue Möglichkeiten für crossmediales Storytelling. Die beiden Experten Prof. Dr. Axel Vogelsang und Michael Schär haben sich im Café «Si o No» im Zürcher Kreis 5 bei einem Morgenkaffee über die Spielregeln unterhalten.

Gesprächsmoderation

nutzen wollen, so ist es für den Erfolg der Kommuni-

Fotos

kation entscheidend, zuerst die Spielregeln zu verste-

Michael Frischkopf Matthias Jurt

hen lernen, die momentan auf Youtube herrschen.

Infel: Axel Vogelsang, Sie haben im Rahmen einer Forschungsarbeit für Museen einen praktisch orientierten Führer für den Gebrauch von Social Media geschrieben. Twitter, Flickr, Facebook, Youtube und Museen – geht das zusammen? Axel Vogelsang: Sicher nicht, indem man sich denkt: Wir machen nun Social Media, und dann kommen auch die jungen Leute ins Museum. Wer im analogen Raum nicht die Dinge zeigt, welche die jungen Leute interessieren, dem folgen die auch nicht in den digitalen Raum. Wer Social Media als reines Marketingtool sieht, verkennt den Nutzwert dieser Kanäle. Michael Schär: Wie immer gibt es auch dafür ein Buzzwort, allerdings eines, das für mich Sinn macht: Transmediales Storytelling. Gemeint ist damit nicht, dass die gleiche Geschichte in allen Medien erzählt wird. Gemeint ist vielmehr: Jeder Kanal entfaltet ein Fragment der Geschichte, das für sich stehen kann. Zusammen mit den anderen Fragmenten gibt das dann die ganze Story. Das ist handwerklich anspruchsvoll, weil die einzelnen Fragmente den spezifischen Gegebenheiten der Kanäle Rechnung tragen müssen – sowohl bezüglich der technologischen Möglichkeiten als auch der zielgruppengerechten Syntax und Tonalität. Axel Vogelsang: Das ist ein zentraler Punkt, den Sie hier ansprechen: Wenn wir beispielsweise Youtube

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Und wer macht die Spielregeln? Michael Schär: Die Community. Social Media irritiert uns Kommunikatoren ja unter anderem, weil sich die Spielformen dauernd weiterentwickeln. Auf Youtube haben sich in den letzten Jahren einige spannende Formate entwickelt. Zum Beispiel der sogenannte «Erklärfilm», der aus dem TV übernommen wurde. Es gibt ein Unternehmen in den USA, das Qualitätsmixer herstellt. Unter dem Titel «Will it blend» zeigt es in einem mediumgerechten Erzählstil, was seine Mixer so draufhaben – unter anderem zerhacken sie ein iPhone. Das Unternehmen macht wirklich alles richtig: Erstens ist storytellingmässig das Produkt der Held. Zweitens instrumentalisiert das Unternehmen eine bereits existierende Community, nämlich diejenige der Apple-Jünger. Drittens springen sie auf das Hype-Thema «iPhone» auf, was auch die Gegner anzieht. Das ging viral um die Welt. Axel Vogelsang: Ein schönes, wenn auch etwas älteres Beispiel ist auch das Format des Tagebuchs, neudeutsch Videolog genannt. «Lonelygirl15» beispielsweise ist der Name eines User Accounts auf Youtube. Dahinter steht eine junge Frau, die einen Videolog führt, wie das viele junge Menschen machen. Sie berichtet charmant über ihr Leben, wirkt auch schüchtern, ist attraktiv – und sie hat schon bald eine grosse Followerschaft. Langsam, aber sicher entwickelt sich


Axel Vogelsang arbeitete mehrere Jahre als Art Director in der klassischen Werbung, bevor er 1997 in die Entwicklung und Gestaltung digitaler Medien wechselte. 1999 zog er nach London, wo er den MA Communication Design am Central Saint Martins College / Uni­versity of the Arts absolvierte. Am gleichen College schloss er 2008 seinen PhD im Bereich Kunst und Design ab. Seit 2008 hat er an der Hochschule Luzern – Design & Kunst eine Forschungsdozentur inne. Seine Schwerpunkte sind digitale soziale Netzwerke, Interaktionsdesign und die Veränderung von Leseund Schreibgewohnheiten durch digitale Medien.

Michael Schär ist Leiter Digital Media bei Infel. Der eidg. dipl. Typograf und eidg. dipl. Multimedia-­Koordinator hat langjährige Erfahrung im Konzipieren und Umsetzen von Online- und Multimedia­ projekten.


Social Media

«Wer gut recherchiert und herausfindet, wo es bereits Publikum gibt für seine Themen, hat bessere Karten, beachtet zu werden.» Michael Schär

eine Geschichte, es kommen zusätzliche Charaktere

stimmten Fotografierart beschäftigt. Und plötzlich

hinzu, die Geschichte wird dann auch mysteriös im

gingen die Betrachterzahlen massiv nach oben. Man

Stil von Blair Witch Project. Naja, irgendwann kam

nennt diesen Vorgang passenderweise «Seeding»,

raus, dass alles nur ein Experiment von Filmema-

also «Samen auswerfen». Der Ehrlichkeit und Voll-

chern war, um zu sehen, wie sie das Medium erzähle-

ständigkeit halber muss ich erwähnen, dass die Zah-

risch nutzen können. Spannend war dann der Bruch:

len nicht beim Historischen Museum nach oben

Viele Follower fühlten sich betrogen, andere wiede-

schnellten, sondern in den einzelnen Foren. Ein Lear-

rum blieben – es waren zu Höchstzeiten über 4 Millio-

ning: Hätte man von Beginn weg die Content-Strate-

nen Menschen. Ein sehr schönes Beispiel dafür, dass

gie festgelegt, hätte man die Community direkter aufs

man mediengerecht erzählen muss. In diesem Fall hat

Museum lenken können.

man das Phänomen der Videologs analysiert und

Michael Schär: Genau, zum Beispiel, indem das Mu-

dann ein Szenario und ein Script entwickelt, das die

seum, die Marke halt, immer wieder erwähnt wird.

Regeln des Videologs einhält, inklusive Schauspiele-

Die Kunst ist, den Nutzwert hoch zu halten, aber die

rin. Das kam sehr authentisch rüber.

Botschaften doch immer wieder zu kommunizieren.

Michael Schär: Ein gutes Beispiel dafür, dass serielle

Axel Vogelsang: Wichtig ist, dass ich «echt» bin. Man

Geschichten im Web sehr gut funktionieren. Ich weiss

muss authentische Menschen sprechen lassen.

als Nutzer, was mich erwartet, und bin bereit, zu folgen beziehungsweise Inhalte zu abonnieren.

Axel Vogelsang: Und es zeigt, dass eine grosse Sensibilität herrscht in Bezug auf Marketingbotschaften und wie diese in Social Media transportiert werden. Die Werbeagentur Jung von Matt mit ihrem «supergeil»Spot für Edeka auf Youtube machte das fantastisch. Sie hatten auch Glück, denn letztendlich hat ihnen der Schauspieler Friedrich Liechtenstein mit seinem Video «Der Tourist» eine geniale Vorlage geliefert. Jung von Matt war so schlau zu erkennen, dass die Mischung aus Ironie, Coolness und einer tollen Musik authentisch daherkommt und grosses Potenzial hat.

Ich möchte den Aspekt von Community und Follower diskutieren. Michael Schär, Sie haben vorhin die Apple-Community und das Buzzwort iPhone erwähnt, dank dem ein Mixer weltberühmt wurde. Michael Schär: Das Beispiel steht exemplarisch für zwei Dinge: Erstens gibt es für sehr viele Themen bereits eine Community. Und zweitens: Wer als kleines Unternehmen eine eigene Community aufbauen will, wird fast sicher scheitern. Viele Unternehmen machen diese Erfahrung. Sie beginnen bei null und haben nach einem Jahr 20 Twitter-Follower oder 80 Freunde auf Facebook. Daraus gibt es eine klare Schlussfolgerung: Wer gut recherchiert und herausfindet, wo es bereits Publikum gibt für seine Themen, hat bessere Karten, beachtet zu werden. Axel Vogelsang: Das ist die zentrale Herausforderung: Wie komme ich an mein Publikum? Wir haben dazu eine Studie gemacht mit dem Historischen Museum Luzern; ein sehr kleines Museum, das eine Sonderausstellung zeigte zum Thema «auf ewig dein». Ein Teil davon waren Interviews, bei denen Leute ein Objekt beschreiben, das sie mögen. Und da hat der Kulturblogger Roger Levi mitgearbeitet und die Interviews in entsprechenden Foren untergebracht. Mit mir führte er beispielsweise ein Interview zum Thema «Schnappschüsse». Dieses Interview hat er dann bei einer Community platziert, die sich mit einer be-

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Ich fasse zusammen: Wie komme ich zum Publikum? Euer Ansatz: Es gibt schon ein Publikum zu vielem. Such dir die Communities, geh rein, verknüpfe es mit deinem Anliegen und profitiere davon, dass die Communities als Verstärker, als Multiplikatoren funktionieren. Michael Schär: Die Formen sind vielfältig, und es ist eigentlich banal: Wir haben Text, Bild, Audio, Film, Infografik usw., und wir mixen und re-mixen das Ganze, wir atomisieren es und speisen es ein, unter Beachtung der Spielregeln der jeweiligen Kanäle. Und auf einmal kann man sich – wie bereits erwähnt – als Diskussionsteilnehmer in bestehenden Communities einbringen. Am anderen Ende der Möglichkeiten werden hochwertige Inhalte in einem einzigen Artikel inszeniert – siehe beispielsweise die «long reads» in der «New York Times». In den Communities wird dann der Artikel kommuniziert und referenziert. Die Formen sind fast unbegrenzt: Man kann auch Reportagen anreichern mit kuratiertem Inhalt und anderen die Möglichkeit geben, sich zum Inhalt zu äussern. Axel Vogelsang: Das Fotomuseum in Winterthur hat einen englischsprachigen Blog namens «Still Searching», auf dem renommierte Künstler und Theoretiker über den Status der Fotografie diskutieren. Das ist fantastisch, weil sie sich damit nicht als Museum etablieren, das hin und wieder Bilder ausstellt, sondern als eine Marke, die das Thema zeitgenössische Fotografie im internationalen Kontext besetzt. Aber wenn ich ein internationaler Themenführer bin, bringt mir das doch keinen einzigen Besucher mehr ins Museum. Axel Vogelsang: Die kommen natürlich nicht einfach so von New York ins Museum nach Winterthur. Aber wenn sie sowieso in der Schweiz sind, zum Beispiel an der Art in Basel, dann ist der Abstecher nach Winterthur nicht weit, und solche Museen leben heute ja auch von internationalen Kooperationen. Da ist es sehr wichtig, dass man auf der Landkarte ist. Und schliesslich strahlt das internationale Renommee


Social Media

wieder zurück auf die Institution, die Sponsoren und Gönner.

Michael Schär: Für uns im Corporate Publishing ist es die Herausforderung, einen bestimmten Kanal oder ein neuartiges Format mit den Corporate-Spielregeln des Kunden zu kombinieren. Je mutiger sich der Kunde auf den Kanal und ein Format einlässt, umso herausragender das Ergebnis.

Man kann die Frage auch umgekehrt stellen – ob das Fotomuseum in Winterthur oder eine MediaMarkt-Filiale darunter leidet, weil die Kunden alles digital ansehen und der Besuch nicht mehr lohnt. Axel Vogelsang: Ich glaube das überhaupt nicht. In den 90ern war der Posthumanismus ja schon mal sehr populär, also die Idee, dass man den Körper nicht mehr braucht und alles im Cyberspace stattfinden kann. Stichwort Cybersex. Nun, über diese Vorstellung sind wir hinaus. Was wir im Moment sehen, ist, dass die Menschen ein Bedürfnis nach Authentizität haben, weil eben alles medialisiert ist. Das ist speziell in der Freizeit erkennbar – wir holen uns den Kick mit Extremsportarten, weil wir uns sonst nicht mehr spüren. Deswegen gehen wir ja auch ins Museum. Ich stehe vor einem Bild und stelle mir vor, dass da jemand vor 500 Jahren an seiner Staffelei stand und ähnliche Gefühle hatte wie ich und diese aufs Bild brachte. Michael Schär: Das Digitale kann das Echte nie ersetzen. Spannend ist der Moment, bevor ich die Ausstellung besuche. Was mache ich da? Ich informiere mich online. Und wenn da jemand die Themenführerschaft, die Glaubwürdigkeit, die Relevanz hat, dann entscheide ich mich für einen Museumsbesuch, für ein bestimmtes Restaurant, für einen Besuch in einem Laden. //

«Wenn wir Youtube nutzen wollen, so ist es für den Erfolg der Kommunikation entscheidend, zuerst die Spielregeln zu verstehen lernen, die momentan auf Youtube herrschen.»

Die Links zu den Beispielen:

Axel Vogelsang

www.youtube.com/watch?v=jxVcgDMBU94

iPhone im Mixer: www.youtube.com/blendtec lonelygirl15: www.youtube.com/lonelygirl15 Edeka-Kampagne «supergeil»:

Sonderausstellung «auf ewig dein» des Historischen Museums Luzern: www.historischesmuseum.lu.ch/

«auf ewig dein» in der Suchmaske eingeben Englischsprachiger Blog des Fotomuseums Winterthur:

Blog.fotomuseum.ch NYT Snowfall

www.nytimes.com/projects/2012/snow-fall

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Analyse

Geschichten, die das Unternehmen schreibt Jede Identität ist definiert durch die Vielzahl der Geschichten, die sie umranken. Wer diese Geschichten zu analysieren weiss, kann Marken, Menschen und Unternehmen stärken. TEXT:

Michael Frischkopf

Dr.

tong, «ist die Menge der Geschichten, die man selbst erzählt und die andere über einen selbst erzählen.» Will man also die Identität eines Unternehmens verstehen, muss man sich mit den Geschichten auseinandersetzen, die es umgeben. Wieso also nicht mal die Mitarbeiter un-

Hermann Sottong, Literatur- und Theaterwissenschaft-

ter Versicherung der Verschwiegenheit über ihr Unter-

ler und Psychologe, schreibt keine Geschichten. Er ana-

nehmen erzählen lassen?

lysiert und wertet sie aus – wissenschaftlich und akri-

Doch wie analysiert man Geschichten? Sottong be-

bisch. Sein Ausgangsmaterial sind allerdings keine Thea-

dient sich der Methoden der Literaturwissenschaft. Er

terstücke. Sondern Menschen, die beispielsweise eine

zählt beispielsweise, wie oft und mit welchen Ausdrü-

halbe Stunde frei über ihren Arbeitgeber und das Unter-

cken über Kunden gesprochen wird. Kommen bestimmte

nehmensumfeld sprechen.

bildhafte Aussagen immer wieder vor, etwa «wir haben

Sottong zeichnet diese Geschichten auf – der Plural ist

uns da selbst aus dem Sumpf gezogen»? Gesucht sind

gewählt, weil er für seine Analyse nicht eine, sondern

sich wiederholende Erzählstrukturen oder auch Brüche,

viele solcher Geschichten braucht –, schreibt das Aufge-

die immer an ähnlichen Stellen bei bestimmten Themen

zeichnete mit allen Ähs und Schachtelkonstruktionen

vorkommen. Erstaunlicherweise interessieren Hermann

nieder und versucht schliesslich, aus dem Gehörten

Sottong bei seiner Arbeit Einzelmeinun-

schlau zu werden. Dass ihm diese Menschen überhaupt

gen nicht, vielmehr sucht er nach Ge-

eine halbe Stunde ihrer Zeit und insbesondere ihr Ver-

meinsamkeiten, bildet Cluster. «Mich in-

trauen schenken, hat einen einfachen Grund: Er soll mit

teressiert, was in diesem Unternehmen

seiner Arbeit die Befindlichkeit der Mitarbeiter im Unter-

möglich ist und was nicht. Bei mehreren

nehmen analysieren und seinem Auftraggeber – etwa der

Erzählungen merkt man schnell, dass sich

Unternehmensleitung – helfen, die Firmenkultur zu

diese Strukturen ähneln, dass die Men-

verstehen. Und beispielsweise zu verändern.

schen, die in bestimmten Systemen leben, sich diese Welt, ohne es zu merken,

Wenn Mitarbeiter erzählen Ein Literaturwissenschaftler als Unternehmensberater? Was auf den ersten Blick irritiert, scheint durchaus angebracht. Will eine Firma einen Kulturwandel anstossen, macht es ja Sinn, zuerst den Status quo zu erfassen. In der Regel geschieht diese Erhebung mit einer schriftlichen Befragung der Mitarbeiter. Der Fragebogen – idealtypisch Multiple Choice, mit Antwortskalen zwischen 1 und 5 – wird dann ausgewertet, quantifiziert, interpretiert. Was fehlt, ist Sottong überzeugt, ist allerdings immer die Erklärung, weshalb das Ergebnis so ausgefallen ist, wie es ausgefallen ist. Der Ansatz von Sottong ist radikal anders. «Wir sind alle von Geschichten umgeben, und Identität», so Sot-

beim Erzählen quasi auf ähnliche Weise strukturieren.» Das Ergebnis seiner Analyse kann beispielsweise ein Ablaufschema sein, wie im Unternehmen kommuniziert wird. So

Will man also die Identität eines Unternehmens verstehen, muss man sich mit den Geschichten auseinandersetzen, die es umgeben. Wieso also nicht mal die Mitarbeiter über ihr Unternehmen erzählen lassen?

wird aufgezeigt, dass Regeln bewusst ignoriert und umgangen werden (siehe Grafik links). «Wir erkennen anhand der Geschichten, was die Mitarbeiter für möglich und unmöglich halten, was sie beispielsweise in der Führung für gewünscht und unerwünscht halten.» Da sich ein Mitarbeiter der Organisation entsprechend verhält, wird er gewisse Dinge tun und andere lassen – eben der Unternehmenskultur entsprechend, in der er sich be-

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Analyse

Vorgegebener Weg

Kunde

durch die Hierarchie

Vorgegebener Weg durch die Prozesslinie

Mitglied einer Firma mit einem bestimmten Ziel

Eine klassische Bypass-Kommunikation. Die wahren Machtverhältnisse sind anders als im Organigramm – hier grün eingezeichnet – dargestellt. Bei den Mitarbeitern hat sich stattdessen etabliert, ihr Ziel auf indirektem Weg anzuvisieren.

wegt. Im konkreten Beispiel fand Sottong anhand der

spiel könnte es sein, dass die hohe Kaderperson aus der

Geschichten heraus, dass die tatsächlichen Machtver-

anderen Abteilung zurückgebunden werden muss oder

hältnisse nicht dem Organigramm entsprechen und die

dass der direkte Vorgesetzte eine schwache Reputation

Mitarbeiter anders miteinander agierten, als sie sollten:

hat und ersetzt werden sollte. Im zweiten Beispiel ist

Um ein Problem zu lösen, wenden sich die Mitarbeiter

vielleicht die eigentliche Prozesslinie ineffizient, und das

gewohnheitsmässig nicht an den nächsten Vorgesetzten,

Unternehmen muss sich anders organisieren.

sondern umgehen ihn und versuchen, via eine vertraute, höher gestellte Kaderperson aus einer anderen Abteilung auf den übernächsten Vorgesetzten einzuwirken. Der direkte Vorgesetzte wird ausgehebelt. Oder, anderes Beispiel: Wollen die Mitarbeiter mit dem Kunden kommunizieren, haben sie es sich zur Regel gemacht, sich nicht an den vorgegebenen Weg durch die Prozesslinie zu halten. Sie wenden sich direkt an den Kunden. Äusserungen – die mehrmals ähnlich fallen – könnten etwa sein: «In den internen Sitzungen werden die guten Ideen so lange zerredet, bis sie nichts mehr taugen. Erfolgreiche Projekte realisieren wir, indem wir direkt auf den Kunden zugehen.» Solche Erkenntnisse sind wertvoll für den Auftraggeber. Nur so erkennen die Verantwortlichen, wo sie ansetzen müssen, damit sie ihr Ziel erreichen. Im ersten Bei-

Wenn sich die Organisation nach aussen kehrt Doch nicht nur für die Erforschung der Firmenidentität ist die Methode von Sottong prädestiniert. Auch Produkte und Dienstleistungen haben eine eigene Identität. Idealerweise erzählen Unternehmen nach innen und aussen dieselbe Geschichte, so Literaturwissenschaftler Sottong. «In der Dienstleistungsbranche beispielsweise treffen Menschen aus der Organisation mit Kunden zusammen. Der Kunde erlebt die Marke jedes Mal aufs Neue.» Die Geschichte, die ein Unternehmen nach aussen kommuniziert, wird der Kunde weitererzählen. Entsprechend wichtig ist es für Sottong, dass ein Unternehmen sich seiner Identität bewusst wird – also der Geschichten, die es erzählt, ebenso wie der Geschichten, die Kunden über es erzählen. //

— 23 —


Poesie

Der VerDichter

Die Arbeit von Wortakrobat und Musiker Manuel Stahlberger beginnt im Chaos und endet – auf dem Punkt. Das Protokoll einer ungewöhnlichen Denkarbeit. TEXT:

Michael Frischkopf Jolanda Flubacher

FOTOS:

15.00 Uhr Willkommen in der Provinz

Manuel Stahlberger ist ein ernster Mann, der – das wird mir später klar werden – seinen Weg mit grosser Ernsthaftigkeit geht. Wie er im Tourbus vor dem Kulturlokal «Kino Rex» mitten in der Zürcher Oberländer Provinz vorfährt und vor verschlossenen Türen steht, wirkt er aber vor allem verlo-

16.00 Uhr Kabelsalat

Der abgedunkelte Saal ist schmuck, aber klein. Platz für

ren. In etwas mehr als fünf Stunden tritt er mit seinem ers-

rund 300 Zuschauer. Auf der Bühne liegen Kabel herum wie

ten Soloprogramm «Innerorts» auf. Mehr Zeit als nötig, um

Gedanken, die es noch zu ordnen gilt. Auch der rote und der

die Bühne herzurichten. Und von ihm zu erfahren, wie er

blaue Scheinwerfer, zwei Requisiten, leuchten an den fal-

seine Gedanken strukturiert, so dass am Schluss derart prä-

schen Ort und müssen noch präzise ausgerichtet werden.

zis formulierte Geschichten entstehen.

Stahlberger und Techniker arbeiten unaufgeregt vor sich hin, ein eingespieltes Team.

Wann hast du gemerkt, dass du besser mit Worten umgehen kannst als viele Menschen um dich herum? Ich habe das Gefühl, ich kann das gar nicht besser. Du verdienst Geld damit. Mit 20 habe ich mit einem Kollegen aus einem Jux heraus beschlossen, an einem Sommerfest die Abendunterhaltung zu bestreiten. Wir spielten einen Abend lang, wir wären Liedermacher. Eine unüberlegte Sache. Ich konnte nicht mal Gitarre spielen. Doch wenn man etwas überhaupt nicht kann, ist das Feld ja sehr weit. Und da bekam ich Spass am Reimen. Der Inhalt war zuerst gar nicht wichtig, eher die Faszination, dass ich das kann. Unser Auftritt sprach sich herum. Auf einmal konnte ich damit Geld verdienen. Allerdings hielt ich mich eher mit Auftragsarbeiten über Wasser, zum Beispiel dem Zeichnen von Karikaturen. Ziemlich radikal. Ich habe Glück, dass ich die Verbissenheit hatte, mein Ding durchzuziehen. Es ist das, was ich will.

Wie lange gärt bei dir eine Idee, bis du sie aus deinem Kopf lässt und niederschreibst? Ich schreibe Sätze, Stimmungen in ein Buch. Meist liegen die Fragmente recht lange herum. Ich muss mir dann wirklich vornehmen, die Fragmente zu sichten und den Faden wieder aufzunehmen und daraus ein Lied zu machen. Wie schnell bist du bei der Komposition von Text und Musik? Es ist in der Regel ein langsamer Prozess. Es gibt aber Ausnahmen, bei denen die Lieder sehr schnell da sind – solche Lieder halten oft lange. Ich verwende viel Energie darauf, Bilder und Lieder entstehen zu lassen. Ich mache mir dann bewusst, dass dies ja mein Beruf ist und ich mir die Zeit nehmen darf. Und wann entscheidest du dich: jetzt ist es gut? Die Ausgangslage für meine Arbeit sind in der Regel banale Alltagssituationen. Die Herangehensweise, die Perspektive, die ich wähle für die Erzählung, wie ausführlich oder reduziert ich erzähle, da muss ich auf mich vertrauen, mich neu herausfordern und überraschen. Ich kann das an einem Beispiel illustrieren: Es gibt ein Lied, das ich unterdessen sehr gerne singe – es

— 24 —


S Matterhorn will nümme Matterhorn heisse und s Wisshorn findet Wisshorn scheisse. Und de Rande hät sin Name no nie verstande. Piz Corvatsch sonen Quatsch seit de Piz.

Er nennt sich jetzt Fritz. Und de Säntis heisst Chrigi. Und d Rigi heisst Müller, da isch chli normäler. Und de Napf heisst jetzt Chäller.


Poesie

geht um einen Nachbarn namens Herr Anderegg, der sich in die Luft sprengt, weil er seinen Alltag nicht aushält. Ein Grundthema, das ich bereits vor Jahren einmal mit meiner Band behandelt und, wie ich dachte, sogar «abgehandelt» hatte. Irgendwie liess es mich aber nicht los. Als ich das Material zusammenstellte für mein erstes Soloprogramm, entdeckte ich das Thema aufs Neue. Es entstand daraus der «Herr Anderegg». Man muss sich das vorstellen: Zuerst hatte der Text nicht mal eine Melodie, und ich habe ihn vorgelesen, aufgrund der Resonanz des Publikums habe ich dann eine Musik dazu komponiert, diese dann wieder verworfen, weil ich dachte, sie sei nicht zeitgemäss. Schliesslich habe ich die Komposition doch aufgenommen. So arbeite ich. Ich habe keinen Masterplan.

17.00 Uhr Soundcheck

Nicht, dass der Kabelsalat verschwunden wäre. Doch da Manuel Stahlberger bei seinem Auftritt mehrere Medien nutzt, müssen zuerst diese funktionieren. Fast etwas überroutiniert zischt, schmalzt und spricht Stahlberger ins Mikrofon. Schlägt auf der E-Gitarre einige Akkorde, wechselt

«Innerorts» ist das erste Solo­programm von Manuel Stahlberger. Er präsentiert hier ein Repertoire von Songs, gezeichnetem Kabarett und tonlosen Liedentwürfen. Im Zentrum stehen Manuel Stahlbergers karge, aber prächtige Texte. Es sind Texte über das Scheitern herziger Buben in der bösen Welt und über Partnerschaftsannoncen auf Abkürzungs­kauderwelsch. Texte über den George Clooney von Altstätten, umgeschulte Pfarrer im Fernsehen, Wurmfutter und über den Langsam­ verkehr in der Begegnungszone. Seine verschachtelt gereimte Poesie unterlegt Stahlberger mit kleinen musi­ ka­lischen Gesten, aus denen zwischendurch grosser Pop entsteht. Und in gelegentlichen Bilderschauen variiert er virtuos die Bedeutungen ver­ schiedener Piktogramme, die Elemente von Schweizer Kantonswappen und die Lebens­stationen von Jesus.

Klangfarbe und prüft Effekte. Auch dem minimalistischen Synthesizer entlockt er Töne und Loops, immer im Dialog mit dem Techniker, der nun zum Tonmeister geworden ist. Zwischen den beiden liegt eine Distanz von 15 Metern, doch sie bringen es fertig, die Stimme zu erheben, ohne zu schreien. Schliesslich sind die Frequenzen der einzelnen Kanäle fertig eingestellt, und Stahlberger greift zur Gitarre, der Synthesizer bringt einen minimalistischen Drumloop. Und Stahlberger singt. Vom St. Galler Neumarkt, einem Einkaufszentrum mit zwei Ein- und Ausgängen. Und wie man, je nachdem, welchen Bus man nehmen will, mit Vorzug an den Kassen beim Ost- oder Westeingang ansteht. Weil man so Zeit spart.

Über dich liest man in den Zeitungen zum Beispiel: Seine Songs und Texte überzeugen durch eine vordergründige Einfachheit, die sich auf den zweiten Blick immer wieder als doppelbödig und abgründig herausstellt. Würdest du sagen: Gut getroffen? Das versuche ich genau. Es gibt allerdings immer wieder Texte, bei denen ich erst im Nachhinein merke, dass da noch eine zweite Ebene aufgeht. Zum Beispiel, weil das Publikum an einer bestimmten Stelle reagiert. Da hintersinne ich mich, weshalb dem so ist. Wie bestimmst du, was in ein Programm gehört? Beim Soloprogramm war der Aufwand gross. Ich habe immer wieder Dinge verworfen, bis es mir passte. Am Anfang musste ich vor allem sicherstellen, dass ich genügend Material habe, dem ich vertrauen kann. Wie meinst du das? Ich bin kein Bluffsack. Ich kann nicht mit Körpereinsatz etwas wettmachen, von dem ich spüre, dass es nicht stabil ist. Stabil bedeutet, dass ich mich hinter dem Material zurücknehmen und einfach das Material prä-

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Mit seiner Band hat Stahlberger jüngst ein neues Album eingespielt. Der Schweizer Ableger der Zeitung «Die Zeit» kommentierte es so: «Das beste Schweizer Popalbum der letzten Jahre.»


Poesie

sentieren kann. Da gab es gewisse Lieder, von denen

nicht aufrütteln. Ich will sicher unterhalten, das ist mir

ich spürte, dass die nicht «verheben». Bei denen ich

wichtig, aber die Lieder sollen von komischen Zwi-

dauernd Wörter verändere oder ersetze. Es ist meist so,

schenwelten erzählen. Ich messe den Erfolg meiner

dass mir da einfach nicht wohl ist. Ich freue mich

Auftritte auch nicht an der Zahl der Lacher, die ich

während des Programms nicht auf das Lied, ich glaube

provoziere. Es ist aber sehr spürbar, ob das Publikum

mir selbst nicht beim Präsentieren. Es kommt wirklich

bei der Sache ist oder nicht – das ist mir wichtig. Eigentlich machst du vor allem das, was dich selber interessiert. Du willst authentisch bleiben. Ja. Und ich vertraue darauf, dass es auch andere interessieren könnte. Ich kann seit fast zwei Jahrzehnten machen, was ich am liebsten mache. Früher war das Feld natürlich offener, nun habe ich meinen Stil eher gefunden und freue mich über Fortschritte innerhalb dieses Rahmens – wenn ich Dinge mit weniger Worten ausdrücken kann als früher zum Beispiel. Meine aktuelle Platte mit der Band etwa ist das Beste, das ich im Moment kann musikalisch und textlich. Früher machte ich dem Reim zuliebe auch inhaltliche Umwege und dichtete noch eine Strophe dazu, um den einen Reim zu legitimieren – es war die Suche nach dem perfekten Reim. Heute lege ich mehr Wert auf verdichtete Geschichten. Und wenn sich eine Geschichte oder das Thema erschöpft hat? Dann suche ich nach etwas Neuem. Das gibt mir mehr Bestätigung, als unbedingt Erfolg zu haben. Klar – ich denke auch daran, dass mein Material aufgeführt werden soll. Aber ich mag die pfannenfertigen Sachen nicht so sehr. Da fühlt sich das Publikum zwar unterhalten, doch es schwingt nichts nach. Ich halte es lieber so: machen, aufnehmen, rausgeben, loslassen. Weitergehen. //

vor, dass die Leute gewisse Lieder lustig finden, mir aber die zweite Ebene fehlt, das abgründige Element. Das Lied ist mir dann zu oberflächlich. Dann lass ich es weg oder suche nach dieser zweiten Ebene. Aber wenn das Publikum lacht, weil es sich unterhalten fühlt – das ist doch gut. Es gibt das ja auch, dass ich merke, dass das Publikum ein Lied mag und ich erst dadurch merke, was es alles leistet. Aber oft sind es nicht mal die Lieder, die mich irritieren. Es ist eher so, dass ich finde, dieses Thema habe ich vor einiger Zeit auch schon mal besser behandelt. Und dann lasse ich es beispielsweise weg. Wer spiegelt dich? Ich habe häufig mehr Material, als ich am Schluss verwende. Ich kann Dinge über vier Zeilen erzählen, versuche es dann aber, mit eineinhalb zu schaffen. Wie ich entscheide, was wegkommt? Das kann ich nicht sagen. Der Text liegt dann so vor mir, und ich finde einen einfacheren Weg, mich auszudrücken. Ich verirre mich aber auch in meinen Texten, und da spielt meine Freundin eine wichtige Rolle als externes Korrektiv.

18.00 Uhr Abschluss.

Die Kabel liegen noch immer herum. Doch nun hat alles Struktur. Links – vom Publikum aus gesehen – leuchten halbverdeckt der rote und der blaue Scheinwerfer auf ein silbern glitzerndes Stück Vorhang. Davor ein Holzstuhl, zu dem sich ein Salontischchen gesellt, auf dem ein Computer steht. Auf dem Holzstuhl wird Manuel Stahlberger später sitzen und mit durchaus leichter Komik immer wieder auf

20.15 Uhr Vorstellung

eine Taste drücken und so die Präsentation seiner Bilder vorantreiben. Und knochentrockene Kommentare äussern. Dominiert wird die Bühne von der Leinwand, rechts daneben stehen der kleine Synthesizer und der Mikrofonständer, daneben Gitarre und deren Effektpedale am Boden. Hier wird Stahlberger singen und rezitieren. Wieso diese Aufzählung? Weil sich die Reduktion aufs Wesentliche, das Weglassen von Schmuck und Tand, nicht nur in den Texten zeigt, sondern auch auf der Bühne. Vergiss den Zufall. Alles ist genau da, wo es sein soll.

Deine Lieder laufen selten auf eine Schlusspointe hinaus. Ich mag offene Enden. Ich provoziere eine Unsicherheit, weil in meinen Liedern oft nicht alles so ist, wie es scheint. Es gibt oft keinen sicheren Boden. Manchmal verkehrt sich alles ins Gegenteil. Was willst du bewirken mit deinem Auftritt? Mich freut es, wenn jemand mehr hinter meiner Geschichte sieht als das Vordergründige. Ich will aber

Mit Band: www.stahlberger.ch Soloprogramm: www.manuelstahlberger.ch/live

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Kunst

«Das Fertige ist langweilig» Künstler, Macher, Geschichtenerzähler: Wetz ist vieles und sein Kosmos gigantisch. Diesen breitet er vor den Besuchern seiner Ausstellung im ehemaligen Landessender Beromünster aus. Er beweist, dass eine weisse Wand spannender sein kann als das schönste Kunstwerk der Welt. TEXT:

Simon Fallegger Herbert Zimmermann

FOTOS:

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Kunst

«Wir sind in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Trotzdem ist unser Vater immer mit uns zu Bruder Klaus nach Flüeli-Ranft gefahren, um sich zu bedanken, dass es uns gut geht. Später ging es uns finanziell tatsächlich besser, wir gehörten plötzlich zu den Neureichen. Anders als die normalen Reichen haben wir aber nicht auf einmal Schnitzel gegessen anstelle von Cervelat, sondern einfach mehr Cervelat.» Wetz: «Landesvater im Landessender»

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Kunst

«Man sollte viel öfter einfach wieder mal kindisch sein und ‹stämpfele›. Das habe ich im Leben draussen auch immer wieder gemacht. Wenn man nur immer nett fragt und dann das Nein akzeptiert, wird man nie ein bekannter Künstler. So wie Eva Wandeler, die lässt Kinder­ träume wahr werden: Flecken auf dem Molton. Da war man als Kind jeweils ganz stolz drauf.»

Eva Wandeler: «Tool # 26»

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Kunst

«Auf einmal kamen Asiaten, die haben meine GeschichtenKisten gekauft, massenweise. Und der Witz an den Geschichten-Kisten ist, dass man die Geschichten kennen muss, sonst ist das Werk völlig sinnlos. Die Asiaten hatten allerdings keine Ahnung, was sie da kauften. Schon eigenartig.»

Wetz: «Ruedis Frau Raihya hat Heimweh»

Madeleine Staubli: «from pussy riot with love»

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«Es ist ein Luxus, wie viel Platz wir haben. Wir könnten noch hunderte von Kunstwerken aufnehmen. Theoretisch könnten wir sogar ein Shoppingcenter aufstellen. Wir haben so viele Bewerbungen von Künstlern. Wenn ich etwas Neues aufnehme, achte ich deshalb nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Aktualität.»


Kunst

«Der Künstler hat aus unterschiedlichen Materialien Tiere kreiert. Seitdem haben wir unseren eigenen Zoo hier. Im Herbst starten wir damit eine Werbekampagne: ‹Besuchen Sie unseren Zoo Beromünster›.»

Stefan Bucher-Twerenbold: Tier «Nr. 360»

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Kunst

«Sipho Mabona hat diesen Mut zum Sinnlosen. Genau wie ich. Ich wusste doch auch nicht, ob der Elefant überhaupt irgendjemandem etwas bringt. Aber plötzlich hat sich die Weltpresse dafür interessiert! Jemand hat ausgerechnet, dass die Bericht­ erstattung zehn Mal mehr Geld gekostet hat als der Elefant selber. Wahnsinn.»

Sipho Mabona: «White Elephant»

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Kunst

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Kunst

«Das Werk von Roman Signer hätten wir uns nicht leisten können. Darum habe ich ihm einen Brief geschrieben. Seitenlang und von Hand. Ich habe ihm erklärt, dass wir gar nicht anders können, als sein Werk hier bei uns zu haben. Und ihn gefragt, ob er sich an den Kosten für den Kauf beteiligen könnte. Dann hat er mir locker zurück­geschrieben, er finde das eine super Idee: ‹Meine Frau Aleksandra und ich würden euch das Werk gerne schenken.›»

Roman Signer: «Beim Radiosender Beromünster 2008»

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Kunst

«Die Kuh Lotti ist mit Abstand mein ­bekanntestes Kunstwerk. Allerdings kann man unter der Bekanntheit auch ­leiden. Ich wurde mal in einem Auditorium überschwänglich ­angekündigt mit: ‹Und hier der Künstler Wetz, dessen Werk Lotti alle kennen!› Das löscht einem doch ab, man hat so viele schöne Arbeiten und wird dauernd auf eine Kuh reduziert.»

K

unst macht nur Sinn, wenn eine Geschichte dahintersteht.» Das sagt einer, der es wissen muss, macht er doch den ganzen Tag nichts anderes als Kunst – und Geschichten erzählen. Und beides macht er mit grossem Erfolg. Mit dem Luzerner Künstler Wetz, alias Werner Zihlmann, hat sich ein bunter Vogel im ehemaligen Landessender Beromünster eingenistet. Dort führt er das Gesamtkunstwerk «Kunst und Kultur im Landessender Beromünster» (KKLB), wo er seine Werke und die von Künstlerkollegen ausstellt. Wer eine seiner Führungen mitgemacht hat, wird anderen davon erzählen und ein halbes Jahr später wieder vorbeischauen. Eben weil Wetz seine Kunst mit Inhalten füllt und immer wieder neue Werke und Geschichten dazukommen. Auch wenn es nur die zu einem Schwamm ist, der neben einem zerknüllten Putzlappen auf einem kleinen Holzsockel steht und die Ausstellung ziert. Die Kunst selbst spielt bei ihm nicht die Hauptrolle, sondern ist Träger von Inhalten, die die Besucher zum Denken und auch zum Mitdenken anregen sollen. Wetz beweist sogar, dass seine Ausstellung auch ohne Kunst funktioniert. Am Tag nachdem er den Landessender übernommen hatte, führte er bereits erste Besucher durch die leeren Räume. Von Kunst noch keine Spur. Er sinnierte vor den Zuhörern lediglich, was er in den Räumen machen und was sie in Zukunft vielleicht sehen könnten. «Das Fertige ist langweilig», sagt Wetz. «Die Menschen wollen sehen, wie sich etwas entwickelt.» Dieser Blick in die Zukunft war nicht gratis. Wetz verlangte Eintritt dafür, und die Leute bezahlten ihn.

Wetz: «Kuh Lotti»

— 39 —


Kunst

Da sie neugierig waren, was sich in der Zwischenzeit ver-

Wetz hat das Künstlersein nicht gesucht, zumindest

ändert hatte, kamen sie ein paar Monate später wieder –

nicht bewusst. Er ist in einfachen Verhältnissen aufge-

und haben wieder Eintritt bezahlt: Storytelling als Basis

wachsen – seine Eltern hatten ein Dachdeckergeschäft

für ein erfolgreiches Marketing.

und einen kleinen Bauernhof mit Selbstversorgung bei

Dass Wetz diese ersten Führungen nicht kostenlos an-

Wolhusen. Jeden Morgen lief er zur Schule ins Dorf, für

bot, war für ihn selbstverständlich. Genauso selbstver-

ihn eine Grossstadt. Dort wurde ihm immer wieder be-

ständlich wie der Umstand, dass man bei seinen Vernis-

wusst, dass er anders war als seine Mitschüler, einfacher

sagen Eintritt bezahlt. «Kunst hat einen Wert, und das

halt, «vo hende vöre». «Die Bäckerstocher roch nach fei-

soll honoriert werden.» In ihren Ursprüngen in den Pari-

nem Brot und ich nach Bauernhof.» Die anziehende Kon-

ser Kultursalons waren Vernissagen reine Verkaufsver-

junktur liess die Familie Zihlmann wohlhabender wer-

anstaltungen, bei denen eine klare Hierarchie herrschte,

den. Plötzlich war es Wetz, der als Erster in der Klasse

wer wann Zutritt erhält und dadurch ein Vorkaufsrecht

einen Fernseher zuhause hatte. «Nur haben wir natürlich

hat. Als Wertschätzung bekamen die Käufer Getränke

niemandem gesagt, dass wir bei uns hinten gar keinen

und Häppchen. Dieser Verkaufsaspekt ist heute weitest-

Empfang hatten.» Er und seine Geschwister machten

gehend verschwunden, und bei Wetz stösst es auf Unver-

aber selber Fernsehen – wobei Wetz sein Talent fürs Ge-

ständnis, dass Vernissagebesucher in Massen angelockt

schichtenerzählen entdeckte. Und aus einem einfachen

und sogar noch «gratis durchgefüttert werden». «Die

Typ wurde ein Typ mit Selbstvertrauen.

Uraufführung im Theater ist auch nicht gratis.»

bauzeichner. Seine Brüder waren alle Handwerker, und

verfügbaren Räumlichkeiten innerhalb des KKLB für Fir-

sein Vater wollte eine Art Familien-Generalunterneh-

men- oder Privatanlässe buchen möchte, kann dies zu

mung gründen – mit Wetz als Zeichner, der die Vor-

einem moderaten Preis tun. Bedingung ist aber, dass

schläge zu Papier bringt und damit umsetzbar macht.

man eine Führung durchs KKLB bucht und sich das Ge-

Während der Ausbildung erteilte ihm der Chef den Auf-

samtkunstwerk erklären lässt. Mit Wetz als Guide kostet

trag, eine Weihnachtskarte für sein Architekturbüro zu

die Führung doppelt so viel. Diese dauert 90 Minuten –

gestalten. Er gab ihm eine Woche Zeit. Nach einer Woche

darunter gibt es sie nicht. Das musste auch Daniel Vasella

zeigte Wetz dem Patron nicht eine Version, sondern 320.

erfahren. Vasella wollte das KKLB ausländischen Gästen

Seine Kreativität war augenscheinlich und der Ausstoss

zeigen, hatte aber nur eine halbe Stunde Zeit. Da habe

beeindruckend, weshalb ihn der Chef schon während

Wetz ihm gesagt: «Schauen Sie, Herr Vasella, das geht lei-

der Lehre an die Kunstgewerbeschule Luzern schickte.

der nicht. Das KKLB kann man nicht in einer halben Stunde erklären.» So konsequent wären wohl wenige.

«Wir tun hier nichts Wichtiges. Im Gegenteil: Wir machen sogar sinnloses Zeug. Aber wir machen es professionell.»

Nach der Schule absolvierte er eine Lehre zum Hoch-

Wetz ist ein konsequenter, gradliniger Mann. Wer die

Umgeben von kunstvoller Materie, realisierte er, dass er seiner Grossmutter während Jahren Unrecht getan

Die Abkürzung «KKLB» ist übrigens ein kleiner Sei-

hatte. Die hatte nach einem erlittenen Schädelbruch da-

tenhieb gegen das ungleich gewichtigere Kultur- und

mit begonnen, wirre Kunstwerke zu schaffen. Ein Eich-

Kongresszentrum (KKL) im nahen Luzern. Wetz bietet

hörnchen zum Beispiel, das auf einer Bohrmaschine mit

sozusagen einen «Plan B» zum mit Millionen subventio-

Propeller durch die Luft fräst. «Wir haben einfach immer

nierten Prestigebau in der Kantonshauptstadt.

gemeint, die spinnt. Dabei war das im Prinzip ‹Art brut›.»

Dass nicht immer die Kunst im Vordergrund steht,

Davon begeistert und inspiriert, absolvierte er ein Prakti-

sondern eben auch die Geschichten, ist in Wetz’ Sinn.

kum in einer psychiatrischen Klinik und erhielt das An-

«Wir tun hier nichts Wichtiges. Im Gegenteil: Wir ma-

gebot, gleich die Ausbildung zum Psychiatriepfleger zu

chen sogar sinnloses Zeug. Aber wir machen es professi-

machen. Das tat er auch und nutzte die Gelegenheit, mit

onell.» Damit hebt er sich von den Ausstellern ab, die ih-

den psychisch Kranken künstlerisch zu arbeiten. Daraus

rer Kunst einen bisweilen künstlich gesuchten, tieferen

resultierten eine Ausstellung und ein Stipendium für die

Sinn vermitteln wollen. Die Kunst intellektuell aufladen,

Hochschule der Künste in Berlin. Dort war er dann der

bis sich die Besucher ob der Bedeutungsmächtigkeit ge-

einzige Handwerker unter lauter «Akademikersöhnli».

langweilt und dezent gähnend abdrehen. Abheben will

Ein einfacher, gschaffiger Kerl, der bereits um halb sechs

er sich auch von Ausstellungen, in denen Besucher auf

Uhr morgens im Atelier war. Das machte ihn für seine

sich alleine gestellt sind. «Die laufen dann jeweils durch

Professoren interessant. Er war darauf bedacht, das Ein-

die Gänge wie in einem Shoppingcenter, schnurstracks

fache und Naheliegende in seine Bilder und Skulpturen

wieder dem Ausgang entgegen. Und wenn sie draussen

einfliessen zu lassen. «Kunst muss man nicht erfinden –

sind, haben sie keine Ahnung, was sie damit anfangen

Kunst muss man finden», ist einer seiner Lieblingssätze.

sollen, und sind enttäuscht.» Wetz aber gibt dem Ganzen

Wetz lässt sehr viel Autobiografisches in seine Aus-

mit seinen Storys eine Leichtigkeit. Im Prinzip geht es

stellung einfliessen. In der 18 Meter hohen und komplett

ihm darum, dass die Leute einfach den Alltag vergessen

überladenen «Kunsthalle 4» fräst das Eichhörnchen sei-

und wieder mal etwas durchatmen. Im Gegensatz zu an-

ner Grossmutter zur Lieblingsmusik seiner Mutter durch

deren Ausstellern verzichtet er auch darauf, die Räume

die Luft – und der aufgestellte Tierschädel ist der von

zu heizen. «Die Leute werden nur unnötig eingelullt und

«Lehni», dem verstorbenen Pferd der Familie Wetz.

schnell müde. In kalten Räumen sind sie viel aufmerksa-

Wieso interessieren sich die Besucher dafür? «Dahinter

mer.»

stecken echte Geschichten, die sie automatisch mit ih-

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Kunst

rem eigenen Leben in Verbindung bringen.» Der Name «Wetz» ist übrigens nicht eine Abkürzung von Werner Zihlmann, wie man vermuten könnte. Auch die Tatsache, dass es sich dabei um die Luzerner Schreibweise des Wortes «Witz» handeln könnte, ist für ihn ein netter Nebenaspekt. Als Kind kam er häufig fast zu spät zur Schule, weil er jeden Tag zuerst zu seinen Enten «wetzen»

«Wir haben immer gemeint, die Grossmutter spinnt. Dabei hat sie im Prinzip ‹Art brut› gemacht.»

meindeversammlung Beromünster musste dem «Verkauf» aber noch in Form einer Zonenplanänderung zustimmen. Das tat sie mit überwältigender Mehrheit. Wie bringt man die Swisscom und eine ganze Gemeinde dazu, einem Projekt zuzustimmen, bei dem eigentlich noch alles unklar ist? «Ich habe ihnen offen gesagt, dass ich noch nicht genau weiss, was ich machen werde – aber

musste, um deren Eier einzusammeln. Das trug ihm den

dass es gut wird. Es bringt nichts, den Leuten etwas

Spitznamen Entenwetz ein.

vorzuspielen, man muss authentisch sein.»

Sein Durchbruch als Künstler kam 1994, als er im Na-

Wetz ist nicht nur authentisch, er ist auch ein Macher.

turmuseum Luzern mit der Ausstellung «Sieben Hühner

Oft genug musste er Menschen für seine Anliegen gewin-

und ein Schafsquadrat – endlich mal nichts lernen» voll

nen und Geld dafür auftreiben. Einmal wurde er in der

ins Schwarze traf. Kamerateams des Schweizer Fernse-

Chefetage einer Bank vorstellig, um Geld für ein Projekt

hens und des ZDF waren vor Ort und trugen die Bilder,

zu beschaffen. Er war mitten im Gespräch, als ihn der

unter anderem von «Kuh Lotti», bis nach Japan. Plötzlich

Lärm der Bauarbeiten zu stören begann, der durch die

war er ein gefragter Mann und stellte hier und dort aus.

geschlossenen Fenster von der Strasse hoch in den Raum

«Zeitweise kam ich mir vor wie ein Zügelunternehmer –

drang. Er liess sich bei den Bankern kurzerhand für einen

einpacken, auspacken, einpacken.» Er sehnte sich nach

Moment entschuldigen und eilte zu den Bauarbeitern. Er

einem festen Ausstellungsort und fand ihn für ein paar

drückte ihnen eine 50er-Note in die Hand und bat sie,

Jahre in Uffikon – danach in Beromünster.

ihre Znünipause vorzuziehen. Er führe gerade ein sehr

2010 durfte er sich im ehemaligen Landessender ein-

wichtiges Gespräch, und das sei bei dem Lärm nicht

richten, einem Ort, der Radiogeschichte geschrieben hat.

möglich. Die Bauarbeiter gingen in die Pause und Wetz

Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Gelände zu

zurück zum Gespräch. Wieder im Raum, hatten sich die

einem Hochsicherheitstrakt ausgebaut, mit Bewegungs-

Sponsoren bereits entschieden, ihm das benötigte Geld

meldern, Flutlichtanlagen und Verteidigungsbunker.

zu sprechen. Sie hatten die Szene vom Fenster aus beob-

Rund um die Landessendersiedlung wurden Gebäude

achtet und waren beeindruckt von Wetz’ Art, Probleme

abgerissen, um die freie Sicht auf mögliche Eindringlinge

anzupacken.

zu gewährleisten. Denn für Menschen europaweit war

Das erfahrene Vertrauen gibt er anderen zurück. Auch

der Sender die einzige Quelle für eine neutrale Berichter-

aus der Überzeugung heraus, dass man nichts falsch ma-

stattung. Im Beitrag eines deutschen TV-Senders zeigt

chen kann, wenn man die Dinge nicht zu ernst nimmt. Er

sich, wie viele deutsche Senioren beim Stichwort «Bero-

stellte dem Luzerner Origami-Künstler Sipho Mabona

münster» auch heute noch automatisch an den Radio-

den grössten und begehrtesten Ausstellungsraum im

sender denken und eine eigene Erinnerung daran haben.

KKLB zur Verfügung. «Du kannst darin machen, was du

In den 1960er Jahren versuchte die algerische Regierung,

willst.» Sipho Mabona kam in den Raum und sagte:

die Berichterstattung mittels eines Störsignals zu unter-

«Dann falten wir hier doch einen lebensgrossen Elefan-

binden. Die Leistung des Senders Beromünster musste

ten.» Wie der Elefant selbst war auch dessen Erfolg riesig.

daraufhin massiv erhöht werden. In der Folge gaben die

Doch es stellte sich die Frage, was man mit dem Koloss

Kühe in der Umgebung keine Milch mehr. Die Wirkung

anstellen sollte, der durch keine Türe passt. Bis in alle

der Strahlung zeigt sich auch in einem Video des Schwei-

Ewigkeit stehen lassen? Kaum. Einstampfen? Viel zu

zer Künstlers Roman Signer. Darin wird eine Neonröhre

schade.

von einem Ballon über den Boden beim Turm ge-

Mittlerweile ist eine Lösung gefunden, denn ein Aus-

schleift – und leuchtet, ohne am Strom angeschlossen zu

steller aus Südafrika hat Interesse daran gezeigt. Wetz

sein. Die Geschichte des Senders fliesst immer auch in

wird die Wand des Raums aufbrechen, um den Elefanten

die Führung mit ein. Wohl eines der wenigen Dinge, die

anschliessend in einem Plexiglas-Container nach Über-

für Wetz vor dem Einrichten der Kunstausstellung klar

see zu verschiffen. Den Transport und damit auch die

waren. Denn für ihn ist der Ort ein «zweites Rütli», des-

Wiederherstellung der Wand finanziert der Spediteur,

sen Übernahme mit einer grossen Verantwortung ver-

der die werbewirksame Aktion durchführt. Wetz erzählt

bunden ist. Er thematisiert den Sender in der Führung

dies vor der grossen weissen Wand stehend, gestikulie-

ganz herkömmlich – mit Videos und Fakten aus der akti-

rend, aufzeigend. Und man realisiert, dass es viel span-

ven Zeit. Aber auch etwas versteckt, indem er Räume,

nender ist, sich den Tiertransport vorzustellen, als den

Apparaturen und Armaturen in die Kunstausstellung mit

Elefanten abreisebereit im Container zu sehen. Für eine

einbezieht. Hier ist oft nicht klar: Was ist schon Kunst

spannende Fortsetzung in Beromünster ist also gesorgt.

und was ist noch Sender? Manchmal geben Besucher ei-

Zum Schluss bleibt noch aufzulösen, was es mit dem

gene Geschichten über den Landessender zum Besten

Schwamm und dem Putzlappen auf sich hat, die in der

und munitionieren Wetz so mit neuen Anekdoten auf,

Ausstellung auf einem Sockel stehen. Der Hintergrund

die er in zukünftige Führungen mitnimmt.

ist schnell erzählt: «Eigentlich muss ich etwas nur mit ‹Wetz› anschreiben, und dann ist es Kunst. Ich darf das.»

Den Sender hat er für den symbolischen Betrag von

Einfach und selbstbewusst. //

fünf Franken von der Swisscom übernommen. Die Ge-

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Dramaturgie

«Mein Antrieb ist die Neugierde» Schriftsteller Lukas Hartmann, 69, schreibt seit mehr als vierzig Jahren – für Kinder, für Erwachsene, für Radio, Theater und jüngst gar für eine Operninszenierung. Wie gestaltet er seine Figuren, wie entwickelt er Geschichten? INTERVIEW:

Michael Frischkopf Beat Schweizer

FOTOS:

Lukas Hartmann, Sie haben vor vier Jahren den Ersten Grossen Literaturpreis von Stadt und Kanton Bern für Ihr Gesamtwerk erhalten. Was geht einem durch den Kopf, wenn man einen Preis für sein Gesamtwerk erhält? (Lacht.) Vielleicht, dass es der Jury lieber wäre, wenn ich nicht mehr weiterschreiben würde – das tönt ja fast nach einem Abschluss ... Ich nehme das allerdings nicht so wahr. Die Ehrung hat mich gefreut, und ich fahre weiter mit meiner Arbeit, zum Teil auch auf neuen Wegen. Ich habe kürzlich mit einer befreundeten Autorin das Märchen «Das kalte Herz» von Wilhelm Hauff in ein Opernlibretto verwandelt. Die Vorstellungen in der Berner Reithalle waren allesamt ausverkauft. Das hat mich gefreut, da ich hier Neuland betreten habe. Neuland betraten Sie auch Mitte der 70er Jahre, als Sie zum ersten Mal Hörspiele und Theaterstücke publizierten. Was wussten Sie damals über Ihre Arbeit, die Sie ein ganzes Leben begleiten würde? Ich wusste nur, dass ich unbedingt schreiben wollte. Ich wuchs allerdings in einem Milieu auf, in dem man das nicht allzu laut sagen durfte. Ein Leben als Autor erschien den Eltern brotlos, ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Ich brauchte dann tatsächlich Jahre, bis ich einen Verlag fand, der an mich glaubte. Rückblickend muss ich sagen: So etwas ist nicht schlecht, es testet den Drang, das zu tun, was man tun will. Und ich habe einfach nicht nachgelassen.

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Und weshalb wollten Sie unbedingt schreiben? Lesen war eine grossartige Entdeckung für mich, denn ich flüchtete so aus meiner manchmal tristen Umgebung. Ich habe bereits mit zwölf Jahren erste Geschichten geschrieben und mir dadurch eine eigene Welt aufgebaut. Ich konnte mich so verwirklichen, auch wenn mir das damals natürlich nicht bewusst war. Was wussten Sie damals über das Schreiben, über das Entwickeln von Geschichten? Ich ging intuitiv vor und orientierte mich an Vor­ bildern. Meine erste Geschichte etwa war eine Imitation von Robinson Crusoe – mich faszinierte dieses Urmotiv des «Einzelnen, der auf sich alleine gestellt überlebt». Aber auch das war mir damals nicht bewusst. Ich habe eine These: Wer schreibt, muss die ­Auseinandersetzung mit der menschlichen Psyche lieben. Das stimmt, und an erster Stelle steht die Auseinandersetzung mit sich selbst. Nur so entwickelt ein Autor Empathie, und Empathie ist eine Grundvoraussetzung, um Geschichten entwickeln zu können. Wer Geschichten entwirft, muss sich in andere Existenzen einfühlen können. Goethe sagte einmal: «Ich kann mir kein Verbrechen vorstellen, das nicht auch ich hätte begehen können!» Mich interessiert es, widersprüchliche Menschen zu schildern.


«Ich muss mich den Figuren annähern. In der Vertrautheit, die entsteht – vielleicht halt auch mit den nicht so liebenswürdigen Seiten –, entdecke ich immer auch ein Stück von mir.»

«Ich bin als Kind zwischen zwei Welten gependelt und habe gemerkt, dass ich dazu tendiere, diese zwei Welten miteinander zu versöhnen, eine Brücke zu finden. Viele meiner Figuren müssen sich orientieren zwischen dem Eigenen und dem Fremden.»


Dramaturgie

Lukas Hartmann ist 1944 in Bern geboren; Ausbildung zum Primar- und Sekundarlehrer, Weiterstudium in Germanistik und Psychologie; Jugendberater, Redaktor bei Radio DRS, Lehrer für Journalismus, Leiter von Schreibwerk­stätten. Medienberater. Reisen durch Indien, Südamerika, Afrika. Aufenthalt im Istituto svizzero in Rom. Heute freier Schrift­steller in Spiegel bei Bern.

Was treibt Sie an? Neugierde. Mich interessieren Existenzen, die letztlich mit meiner Kindheit zu tun haben. Das ist übrigens bei vielen Schriftstellern so. Ich muss mich den Figuren annähern. In der Vertrautheit, die entsteht – vielleicht halt auch mit den nicht so liebenswürdigen Seiten –, entdecke ich immer auch ein Stück von mir. Das ist umso faszinierender, als ich mir dessen zu Beginn der Arbeit noch gar nicht bewusst bin. Ich finde es erst im Lauf des Schreibprozesses heraus.

Welten gependelt und habe gemerkt, dass ich dazu tendiere, diese zwei Welten miteinander zu versöhnen, eine Brücke zu finden. Meine Mutter war eine Bauerntochter aus Köniz, mein Vater stammt aus ärmlichem Milieu – ein Schuhmacherbetrieb – aus der Stadt Bern. Meine Mutter ist also ganz auf dem Land aufgewachsen und erst mit der Heirat in die Stadt gezogen. Diese Stadt war ihr allerdings völlig fremd. All diese gesellschaftlichen Codes, von denen sie nichts wusste, die sie entziffern und neu lernen musste: Sie wusste nicht, wie man heizt. Sie wusste

Welches prägende Erlebnis spiegelt sich beispielsweise in Ihren Figuren? Zum Beispiel das Eigene und das Fremde. Meine Protagonisten werden davon oft erfasst, aufgewühlt, verändert. Ich selbst bin als Kind zwischen zwei

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auch nicht, wo man Brot einkauft, schliesslich buk man zuhause das Brot selbst! Sie kam sich völlig fremd vor, es war ihr auch unglaublich langweilig. Dabei war der elterliche Bauernhof nur vier Kilometer entfernt! Sie hat mir dann später erzählt, wie sie


Dramaturgie

nachts geweint habe. Sie ist mit mir fast jeden Tag ausgebrochen aus der engen Mietwohnung, raus aufs freie Land. Und ich habe das natürlich gespürt, obwohl ich erst drei, vier Jahre alt gewesen bin. Das Heimkommen am Abend, zurück in die Enge der Stadt! Ich habe das Unglück meiner Mutter eingesogen, und vielen meiner Figuren geht es so. Die müssen sich orientieren zwischen dem Eigenen und dem Fremden.

Wobei das Fremde nicht zwingend nur Angst auslösen muss. Das Fremde ist natürlich ambivalent. Es kann Angst auslösen, aber auch faszinieren. Das habe ich in meinem Leben ebenfalls ausgeschöpft. Ich brauchte übrigens sehr lange, bis ich diesen thematischen Urkern bei mir selbst entdeckt habe. Suchen wir dazu ein Beispiel aus Ihrem Werk. Im Buch «Räuberleben» existiert die Figur des Schreibers Grau, der bürgerlich lebt, aber von Zigeunern gleichermassen fasziniert und angewidert ist. Das ist eine solche Figur, genau. Was ist zuerst da: Geschichte oder Romanfigur? Ich recherchiere meine Geschichten sehr genau, steige oft in Archive. Dort finde ich dann Figuren oder mehrere ähnliche Geschichten mit Figuren, die ich dann so forme, dass sie zusammenpassen. Es ist ein Amalgieren, ein Verschmelzen, und natürlich bringe ich viel Eigenes hinein. Ich weiss, dass ich Figuren schaffen muss, die ein Identifikationspotenzial bieten. Wie wichtig ist Ihnen dieser dramaturgische Aspekt Ihrer Arbeit? Er ist mir sehr wichtig. Eine Geschichte ist ja inszeniert. Sie wandert von Szene von Szene. Tatsächlich zeichne ich mir bisweilen «szenische Inseln» auf Packpapier auf und versuche, diese zu verbinden. Dabei gilt es, vieles zu beachten. Ich muss Figuren sich entwickeln lassen, und ich muss Konflikte finden. Diese müssen sich zuerst andeuten, dann verdichten, schliesslich ausbrechen und gelöst werden. Das macht die Spannung aus. Man kann ja nicht einfach unendlich Action auf Action türmen wie in schlechten Krimis. Es braucht zwischendurch auch Latenzphasen, während deren etwas bearbeitet wird, besprochen, nachgedacht usw. Sie bauen eine Geschichte, wie ein Architekt ein Haus baut. Jede Geschichte braucht eine stabile Architektur. Im Buch «Räuberleben» nehmen Sie das Ende vorweg. Der Zigeuneranführer Hannikel wird gleich zu Beginn getötet, das Buch rollt den

Fall auf. Welche dramaturgischen Gedanken stecken dahinter? Spannung entsteht auf verschiedene Arten. Spannung kann zum Beispiel entstehen, wenn eine Geschichte aus den Gesichtswinkeln der einzelnen Protagonisten nochmals erlebt wird. Das habe ich probiert. Zu Beginn wird Hannikel hingerichtet – ein Ereignis, das ich aus der Sicht des Schreibers Grau schildere, der dabei fast ohnmächtig wird, weil er die Hinrichtung verabscheut. Am Schluss kommt dasselbe Ereignis nochmals vor, diesmal erzählt aus der Perspektive des Sohnes von Hannikel. Natürlich ist die Hinrichtung für den Knaben ganz schlimm. Ich hätte die Geschichte auch chronologisch erzählen können, doch wäre schnell klar geworden, dass Hannikel gefasst und hingerichtet wird. Trotzdem wollte ich die Geschichte erzählen – entsprechend habe ich eine andere dramaturgische Wahl getroffen. Wieso wollten Sie diese Geschichte erzählen? Ich wollte schon lange mal eine Räubergeschichte schreiben. In früheren Zeiten waren Räuber meist ausgegrenzte Menschen. Oft Sinti oder Roma, die keine eigene Stimme hatten. Erst im 19. Jahrhundert begannen die Sinti, ihre Geschichten aufzuschreiben, für noch frühere Berichte muss man sich ihrem Schicksal indirekt annähern. In den früheren Archiven sind zwar Verhörprotokolle zu finden, aber die sind allesamt manipuliert. Es ist immer die Tendenz da, die Sinti schlecht darzustellen. In den Archiven habe ich dann tatsächlich die Geschichte des Hannikel gefunden. Als Dramaturg benötigte ich dann auch einen Gegenspieler. In der Person des Oberamtmanns Schäffer, auch ihn fand ich in den Archiven, erschuf ich den klassischen Sheriff. Das klassische Westernschema. Genau. Aber war der Verbrecher tatsächlich so böse? Und war der Sheriff tatsächlich nur auf Gerechtigkeit aus? Ich entwickelte beide Figuren weiter, bis sie genügend ambivalent waren. Das fasziniert mich. Historische Vorlagen und Figuren verschmelzen und zuspitzen, den damaligen Alltag beschreiben, einen Spannungsbogen erfinden. Wie lange schrieben Sie an diesem Buch ­«Räuberleben»? Ein schwieriger Prozess mit schwierigen Entscheiden. Die Recherche dauerte drei viertel Jahre. Das Schreiben und die dramaturgische Arbeit dauerten nochmals ein Jahr – ich entwarf mehrere Fassungen. Und wann entschieden Sie, dass die letzte Fassung die beste ist? Ich hatte den Verdacht, dass ich die Geschichte nicht mehr verbessern kann. // www.lukashartmann.ch

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«Eine Geschichte ist ja inszeniert. Sie wandert von Szene von Szene. Tatsächlich zeichne ich mir bisweilen ‹szenische Inseln› auf Packpapier auf und versuche, diese zu verbinden.»


Alternatives Storytelling

Hänsel. Gretel. Böse Hexe. Vor einem grossen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau

und seinen zwei Kindern …

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Alternatives Storytelling

211 Märchen der Brüder Grimm, sortiert nach Wortmengen (so oft kommen vor ...): PERSONEN

Frau Mann 110

Gott 83

König 73

110

Teufel 20

Königin 33

KULISSEN

Schloss 79

Dorf 24

Haus 117

Stadt 47

Wald Welt 91

90

SYNONYME

Königssohn 25

Hexe 20

Bräutigam 16

Prinz 5

Zauberin 4

Gemahl 17

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Alternatives Storytelling

Hänsel und Gretel im Ablaufschema. Funktioniert natürlich nur, wenn man das Märchen bereits kennt. Doch die Darstellungsform eröffnet neue Einsichten, wie die Geschichte erzählt wird.

Lustig: Otto Walkes singt Hänsel und Gretel in verschiedenen Versionen http://youtu.be/VhNt1wql2fs Blutig: Hänsel und Gretel als Horrormovie http://youtu.be/79Eqh4bNL0o Pompös: Engelbert Humperdinck schrieb eine Oper, die Gruberova sang http://youtu.be/Fz-zQBvTbiU Kindlich: Das Kikaninchen erzählts http://youtu.be/ialxvH2OyjM Politically incorrect: Murat & Aische auf der Suche nach total korrekter Dönerbude http://youtu.be/SF6Fr1AaNbg

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Infografik: Golden Section Graphics

Ein Märchen neu erzählt ...

... Im Youtube-Wald verirren sich nicht nur Hänsel und Gretel.


Alternatives Storytelling

«Wir haben 211 Märchen analysiert» Die Berliner Agentur Golden Section Graphics ist spezialisiert darauf, komplexe Fakten einfach verständlich aufzubereiten. Jan Schwochow, Hänsel und Gretel als Infografik. Wie kam es dazu? Wir haben anlässlich des 200-JahreJubiläums der Brüder Grimm deren Märchen analysiert. Wir haben uns gefragt: Geht das überhaupt? Daraus sind dann eine Reihe von Infografiken entstanden. Diejenige über Hänsel und Gretel erklärt die Geschichte auf einer halben Seite. Zentral an einer Infografik ist das recherchierte Rohmaterial. Wie sind Sie bei den Märchen vorge­ gangen, welche Art von Fakten hat Sie interessiert? Zunächst ist wichtig zu erwähnen, dass wir uns an die Originaltexte gehalten haben. Das Grundlagenmaterial muss stimmen. Wir haben 211 Märchen analysiert: auf Archetypen wie den Frosch, den König, die Hexe ebenso wie auf Wörter und Ereignisse, die immer wieder vorkommen. Das «Verbrennen» oder die «Goldstücke» beispielsweise sind typisch für diese Gattung. Oder die Sache mit der Zahl Drei: Es gibt die drei Brüder, wobei die ersten beiden immer denselben Fehler machen und der jüngste dann schlauer handelt. Solche Regelmässigkeiten sind interessant.

... die Zusammenfassung Jan Schwochow ist Geschäftsführer und Creative Director von Golden Section Graphics, welche auf die Herstellung von Infografiken spezialisiert ist. Infel Corporate Media pflegt eine strategische Partnerschaft mit der Berliner Agentur.

uns ja in der Regel vor, was wir zu vermitteln haben. Geht es um die Inszenierung und den Spannungsbogen, ist die Balance wichtig: Zu wenige Fakten machen die Infografik banal, allerdings kann ich auch nicht jedes Detail erklären. Bei Hänsel und Gretel gingen wir davon aus, dass das Märchen bekannt ist. Wir haben uns auf das Herausschälen der Dramaturgie konzentriert. Und da gewinnt man sicher einige Erkenntnisse, die einem vorher nicht so bewusst waren. //

Foto: zvg

Wann wussten Sie, dass Sie genügend Informationen beisammen haben? Primäre Aufgabe der Infografik ist die Information, der Auftraggeber gibt

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Eine arme Holzhackerfamilie ist dem Verhungern nahe. Die Frau überredet ihren Mann, die Kinder Hänsel und Gretel im Wald auszusetzen. Die Kinder hören zufällig das Gespräch mit. Gretel weint, doch Hänsel wendet eine List an: Er markiert den Weg mit Steinen. Als die Eltern ihre Kinder im Wald zurücklassen, finden die Geschwister so den Weg nach Hause. Beim zweiten Versuch gelingts: Weil Hänsel nur noch Brotkrümel zur Verfügung stehen, die von Vögeln gefressen werden, verirren sich die Kinder im Wald. Dort finden sie am dritten Tag ein Häuschen aus Brot mit einem Dach aus Kuchen und Fenstern aus Zucker. Die Hausbesitzerin ist eine böse Hexe, die Kinder frisst. Sie sperrt Hänsel in einen Stall und will ihn mästen. Gretel muss Hausarbeit verrichten. Als die Hexe Hänsel schlachten will, gelingt es Gretel mit einer List, die Hexe in den Ofen zu stossen, wo sie elendiglich verbrennt. Gretel befreit Hänsel. Die Kinder stopfen sich die Taschen voll mit Edelsteinen und finden den Weg nach Hause. Der Vater freut sich, die Mutter aber ist inzwischen gestorben. Dank der Juwelen hat nun die Not ein Ende.


Alternatives Storytelling

In einem Satz

Die von ihren Eltern ausgestossenen Geschwister Hänsel und Gretel verirren sich im Wald, wo sie an eine menschenfressende Hexe geraten und sich nach Wochen der Gefangenschaft mit Gretels List befreien, danach kehren sie reich und glücklich nach Hause zum gramvoll gebeugten Vater zurück.

«Das Publikum hat die Wahl» Dominic Deville ist Autor, Musiker, Kindergärtner und Kabarettist. In seinem Programm «Kinderschreck» erzählt er dem Publikum klassische Märchen und lässt ihnen dabei die Qual der Wahl, wie sich die Figuren darin verhalten sollen. Dominic Deville, als Kindergärtner sind Sie Experte in Sachen Kinder­ geschichten. Welche Art von Geschichten wollen Kindergartenkinder hören? Dieselben wie wir Erwachsenen, einfach kindergerecht umgesetzt. Bei uns sind es «Herr der Ringe», «Star Wars» und so weiter, bei den Kindern solche, die eindimensionale Figuren haben. Allen Geschichten ist gemeinsam, dass das Gute und das Böse klar ausformuliert und erkennbar sind. Es ist immer noch oft einfach schwarz und weiss.

Wasser beispielsweise steht für das Unbewusste, Feuer für das Zerstörerische. Die Entscheidung geht dann so: ­ Soll Gretel die Hexe ins Feuer stossen oder ins Wasser werfen? – Entsprechend entwickelt sich das Märchen weiter.

Und wofür entscheidet sich das Publikum? Kommt darauf an – ich manipuliere da durchaus ein bisschen. Die Handlungsstränge habe ich vorher natürlich fixiert. Wobei das Publikum fast immer ein bitterböses Ende wählt! //

Wieso funktionieren die immer gleichen Märchen seit Generationen so gut? Die Archetypen stimmen. Figuren wie der Drache und die Hexe bedienen Urängste. Das wird auch so bleiben.

FOTO: ZVG

In Ihrem Programm lassen Sie das Publikum entscheiden, wie sich die Märchenfiguren in der Geschichte verhalten sollen. Welche Wahl haben denn Hänsel und Gretel bei Ihnen? Bevor ich Publikum und Märchen aufeinander loslasse, erkläre ich kurz die Symbolik. Das Publikum hat dann die Wahl zwischen zwei Symbolen.

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Alternatives Storytelling

Die Hexenjäger aus dem Knusperhäuschen Die Geschichte von Hänsel und Gretel wird in hunderten von Varianten erzählt. Mal lustig, mal düster, mal blutig. Nichts für Unternehmen: Ihre Geschichten sind keine Märchen, jedoch nicht weniger bedeutungsvoll. Was ist eigentlich aus Hänsel und Gretel geworden? Wie

häuschen, ein Motiv aus dem Schlaraffenland, steht für

verkraften zwei Kinder ihre Erlebnisse im Knusperhäus-

das unbedarfte, pralle Leben, das unvermittelt in der

chen, wie verläuft das Leben der Geschwister danach?

Gefangenschaft endet.

Blutig. Sehr blutig. Im deutsch-amerikanischen FantasyAction-Film «Hänsel und Gretel: Hexenjäger» arbeiten Hänsel und Gretel als Kopfgeldjäger und bringen Hexen zur Strecke. Die Story führt zum Showdown im Knusperhäuschen, dem schaurigen Ort ihrer Kindheit.

Eine Geschichte im Wandel Das Beispiel zeigt: Geschichten enthalten Motive, Protagonisten, Dialoge und Szenen, die sich fast beliebig erweitern, erneuern und umdeuten lassen. Die Urfassung von Hänsel und Gretel aus der Sammlung der Brüder Grimm entstand 1810 nach verschiedenen mündlichen und schriftlichen Erzählungen aus ganz Europa. Die Geschichte wandelte sich im Lauf der Jahrzehnte, wohl dem Zeitgeist entsprechend schickte später nicht die Mutter, sondern die Stiefmutter Hänsel und Gretel fort. Das Märchen ist zudem dem Erzählmuster nach verwandt mit «Der kleine Däumling» von Charles Perrault, in dem etwa ebenfalls die Motive der hungernden Familie, des Menschenfressers und des ausgesetzten Kindes, das den Weg nach Hause markiert, vorkommen. Die Erzählforschung belegt, dass die Motivik der Märchen Volkes Seele entspringt; viele der Geschichten finden sich in Varianten im Erzählgut der Menschen aller Kontinente wieder. «Jedes Märchen ist ein Zauberspiegel», schrieb einst der Kinderpsychiater Bruno Bettelheim: «In ihm spiegeln sich gewisse Aspekte unserer inneren Welt und der Stufen, die wir in unserer Entwicklung von der Unreife zur Reife zurücklegen müssen.» Eine mögliche Deutung Hänsel und Gretel lässt sich als eine symbolische Geschichte über das Erwachsenwerden deuten. Die menschenfressende Hexe ist ein Dämon, vielleicht sogar dieselbe Person wie die kinderverstossende Mutter – darauf deutet der gleichzeitige Tod hin. Der enthaltene Mutterkonflikt wird von den Kindern überwunden; sie befreien sich selbst und kehren mit Juwelen zurück. Das Knusper-

Erzählen Sie keine Märchen! Märchen sind eine besondere Form des Storytellings, mit offensichtlich erfundenen Erzählmotiven und einer konstruierten Geschichte. Nicht von ungefähr soll man im Alltag keine «Märchen» erzählen – auch wenn im Märchen anders als in der Lüge ein Quantum Wahrheit steckt. In seinen tieferen Schichten, unter der einfachen Erzählweise mit wenigen, archetypischen Menschen und Tieren, dem plötzlichen Auftreten eines Wunders, eines Zaubers oder einer List, einem einfachen, leicht nacherzählbaren Plot, formelhaften Wendungen, Symbolen: Unter all diesen Zutaten eines Märchens verstecken sich leicht verständliche, eingängige Botschaften, für die gerade Kinder empfänglich sind. Ähnliches bewirken gut erzählte Unternehmensgeschichten. Wenige Protagonisten, ein einfacher Aufbau, eine kurze, einfache Erzählformel für die Wiederverwertung: Der Lesende und Betrachter öffnet sich wie die Kin- Das Ende von Hänsel und derseele für das Märchen den Unter- Gretel lautet: «Mein Märchen ist nehmensgeschichten, nimmt die darin aus, dort läuft eine Maus, wer sie fängt, darf sich eine grosse, festgeschriebenen Botschaften und grosse Pelzkappe daraus Moralvorstellungen in sich auf. machen.» Es handelt sich um Aber bitte keine Märchen erzählen! eine typische, märchenhafte Sondern spannende, emotionale In- Schlussformel. Sie lässt den halte mit fein verwobenen Informatio- Zuhörer und Lesenden zurück nen zur gezielten Wahrnehmung. in die reale Welt plumpsen, Denn so landet die böse Hexe Konkur- führt ihm mit dem Paradoxon renzia mit einem Schwung im Feuer- der riesenfelligen Maus die Unwirklichkeit der Geschichte ofen! // vor Augen. Gute Nacht, süsse Schlummermärchenträume!

Der letzte Satz

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Haas vs. Habegger

Skeptiker unter sich:

Bruno Habegger (r.) und Gaston Haas diskutieren die Chancen der «alten» und der «neuen» Formen des Journalismus.

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Haas vs. Habegger

Qualitätsjournalismus:

Vom Finden der Perlen im Schweinetrog FOTO:

Matthias Jurt

Das Virus sei erstmals 1995 aufgetaucht, mitten in der U-Bahn von Stockholm, behaupten einige. Kurze Zeit später habe die Medienpest (man könne es nicht anders ausdrücken) die Schweiz erreicht. Seitdem verneble die Pendlerzeitung Morgen für Morgen, Abend für Abend die Gehirne von Millionen Lesern mit farbenfrohem Shorttrash. Andere sehen die Ursünde im Internet. 2010 konsumierten fast drei Viertel der Internetnutzer in der Schweiz News im Netz. Kostenlos natürlich. Ausserdem hätten 2013 acht von zehn Schweizern einen Internetzugang gehabt; da brauche es noch einen PC, eine Portion Schamlosigkeit – voilà, fertig sei der Blogger, ähh der Onlinejournalist. Aber das Schlimmste an der ganzen verchachelten Situation sei, so sagen Dritte, dass sich kein Schwein an dieser Situation zu stören scheine. Mal abgesehen von ein paar Exoten, die Artikel mit mehr als tausend Buchstaben auf Anhieb entschlüsselten. Der Rest sei leider nicht Schweigen, sondern Infotainment-Schrott auf allen Kanälen. Lümmelsprache, viele bunte Bildchen, Gifs im Endlosloop, jederzeit kostenlose Inhalte online wie offline, dazu

Redaktionen, denen kontinuierlich Budgets entzogen werden, m ­ üssen sich zwangsläufig mit Newsramsch über Wasser halten. Verlage, denen nichts einfällt, braucht es nicht länger. Das geschmähte Internet hat die Kraft, klugen ­Menschen eine Plattform zu bieten: Selbstver­mark­ tung, Selbstpublishing, Selbstjournalismus. Journalisten ermöglicht es neue Geschäfts­mo­delle. Das holländische Start-up blendle.nl ist «iTunes für Journalismus». Der Leser bezahlt jeden Artikel einzeln. Und kann sein Geld zurück­fordern, wenn er glaubt, für Ramsch bezahlt zu haben. Das verändert den Journalismus, der Elfenbeintürme verlassen, Zuckerbrot und Peitsche gegen echten Respekt für seine Leserinnen und Leser eintauschen muss. Denn die wahre Perle, das sind kluge Menschen, die mit ihren Geschichten das Dunkle aus der Welt leuchten.

und ich habe die Schöpfungen

Bruno Habegger, Redaktor und Kommunikationsberater

Schweinetrog suchen, sie polieren

selbsternannte Netzpublizisten – das die Zutaten des Todes-

ganzer Generationen auf dem Schirm. Ich kann jederzeit die Erklärung der Welt downloaden – oder mir gleich selber eine basteln. Demokratisierung

des

Wissens

nennt sich das. Die Jünger dieser Revolution versichern uns, dass diese Freiheiten die Welt verständlicher und letztlich sicherer machten. Denn: Demokratie ist immer gut, und was gratis und schrankenfrei ist sowieso. Mit Verlaub: Das ist dummer Chabis. Die grenzenlose Freiheit macht nicht frei. Und was nichts kostet, ist oft genug nichts wert. News kann heute jeder: die missglückte Gesichts-OP («blankes Entsetzen»), ein ungeschickter Witz («schwere Vorwürfe»), ein totes Bärenjunges – die hyperventilierende Emotionalitätsgurgel bläst täglich Mücken zu Elefanten auf und treibt die Dickhäuterherden anschliessend durch die medialen Dörfer. Auflage und Klickraten sind kein alleinstehendes Qualitätsmerkmal, sorry, liebe Verlagsmanager. Trash bleibt Trash, auch wenn ihn viele gut finden. Wir sind «overnewsed», aber «underinformed». Deshalb brauchen wir dringend zuverlässige Orientierungshilfen. Wir brauchen Journalisten, die die Perlen im und in neuem Glanz präsentieren. Klug, frech, mutig, originell sollen

die Artikel sein, professionell recherchiert, möglichst viele

­tranks für Qualitätsjournalisten. Ich fürchte, dass viele dieser Kassandra-Stimmen richtig

Facetten berücksichtigend, die Dinge von neuen Perspekti-

liegen. Es geht tatsächlich bergab mit dem Journalismus.

ven her beschreibend. Wer es schafft, beim Leser Neugierde

Aber das liegt nicht (nur) daran, dass Verlage Gratisblätter

und Begeisterung zu schaffen, ihn zu fesseln, hat schon fast

drucken. Es liegt auch nicht (nur) daran, dass das Internet

gewonnen. Weil begeisterte Leser treue Leser sind. Ob das

(fast) alles gratis zugänglich macht. Und natürlich sind auch

online geschieht oder auf Papier, ist nebensächlich.

die selbsternannten Schreibtischtäter in Blogs und Foren

Alleine ist und war diese Aufgabe nie zu leisten. Dazu

unter dem Strich zu harmlos, um die Verantwortung für sich

braucht es – eben – Redaktionen. Gemeinschaften von

reklamieren zu dürfen.

Rechercheuren, Journalisten, Fotografen, Grafikern, Infor-

Die Ursachen für die Misere sind komplizierter und hän-

manten, Sympathisanten, die ein Thema auf hohem Niveau

gen mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen. Die

gestalten. Es braucht unabhängige, unbequeme, infor-

hat in den achtziger Jahren mit der digitalen Revolution

mierte und idealistische Profis, für die Google-Recherchen

einen ungeheuren Schub erhalten. Aus den Garagenlabors

den Anfang, nicht das Ende der Story markieren. Redaktio-

von Jobs, Gates & Co. sind in kürzester Zeit Weltkonzerne

nen kosten Geld, Mut, Energie und Idealismus. Wer diese

geworden. PC, Google oder Amazon – sie alle verändern un-

Investitionen wagt, wird mit Qualität und Treue belohnt.

sere Sicht auf die Welt und auf uns selber grundlegend. Das

Das mag dauern. Aber es wird kommen. //

ist gigantisch. Nie hatten so viele Menschen so einfach Zugang zu so viel Information wie heute. Ein Klick, ein Copy, ein Paste,

— 53 —

Gaston Haas, Redaktor und Kommunikationsberater


Infel Corporate Media

Ein Medienhaus für Ihre Geschichten Loyalität ist eine labile Sache. Selbst Unternehmen mit

In Häusern begegnet man sich. Es findet ein Aus-

einer hohen Kundenbindungsrate verlieren alle fünf

tausch statt. Unser gemeinsames Contenthaus ist die

Jahre einen hohen Anteil ihres Kundenstamms. Was tun?

Drehscheibe für Inhalte, die auf Ihre Kunden wirken.

Auf glaubwürdige Inhalte setzen. Sie stärken Beziehun-

Und sie mit Ihnen verbinden. Das macht Sinn, denn Ver-

gen und verleihen Strahlkraft.

bundenheit schafft Loyalität. Und loyale Kunden sind

Infel Corporate Media schafft hochwertige Inhalte

wertvolle Kunden.

und inszeniert sie medien- und zielgruppengerecht. Es ist unsere Kernkompetenz, Unternehmen, Marken und Botschaften in Form von Storytelling zu verkaufen. Bildlich gesprochen: Infel «baut» für Ihr Unternehmen ein Contenthaus, in dem sich Leser, Zuschauer und Zuhörer wohlfühlen. Gemeinsam mit Ihnen schaffen wir ein starkes Fundament, auf dem sich Ihre Inhalte zu einem festen Haus zusammenfügen, das Ihre Werte repräsentiert. So binden Sie Mitarbeitende, aber auch Kunden und Geschäftspartner enger an sich. Ob auf digitalen Plattformen oder Papier: Die Spezialisten von Infel Corporate Media sind die Architekten Ihrer Inhalte. Textlich, gestalterisch, multimedial und in vielen Kanälen.

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Authentische Geschichten bewegen und ber端hren uns.


Kurze Entscheidungswege, klare Schnittstellen, kompetente Mitarbeitende – Infel Corporate Media weiss, wie Inhalte inszeniert werden.


Infel Corporate Media

Spezialisten arbeiten Hand in Hand Das Team von Infel Corporate Media schafft relevante, involvierende Inhalte. Dafür arbeiten Spezialisten verschiedener Fachgebiete eng zusammen.

Beratung / Konzeption Der digitale Wandel schafft neue Möglichkeiten, Inhalte crossmedial zu inszenieren und zu verteilen. Wir beherrschen das Zusammenspiel von Design und Inhalt. Durchdachte Konzepte geben Ihren Publikationen eine Dynamik, die bei Ihren Dialoggruppen ankommt. Text / Redaktion und Projektmanagement Wir sind Ihre Redaktion. Unsere Kommunikationsprofis, Redaktoren und Fachspezialisten verstehen ihr Handwerk. Sie recherchieren, schreiben, redigieren und stimmen Inhalte mit Ihren Unternehmensbotschaften und Kommunikationsplänen ab. Wir beherrschen in Print und Online die journalistischen Techniken. Unser dicht geknüpftes Netz an Freelancern ist auch über die Grenzen der Schweiz hinaus gespannt. Selbstverständlich sind wir auch Ihr direkter Ansprechpartner für komplexes Projektmanagement.

Digital Media Die digitale Umsetzung von Inhalten setzt ein besonderes Verständnis für Programmiersprachen, Design und mehrschichtige Inhalte voraus. Unsere Spezialisten konzipieren und realisieren Lösungen für alle digitalen Kanäle und entwickeln attraktive Rich-Media-Inhalte. Bild / Fotografie / Infografik Bildkonzeption, Bildsuche / Fotografenbriefing, Bildauswahl: Die Bildredaktion von Infel weiss um die Wirkung inhaltsstarker Bildsprache. Für die Bildumsetzung greifen wir auf ein grosses Netz an nationalen und internationalen Fotografen zurück. Media Services Grosse Corporate-Media-Projekte mit hoher Auflage, vielen Sorten und Sprachvarianten verlangen unseren Media-Services-Spezialisten alles ab. Aber auch kleinere Arbeiten begleiten sie mit Herzblut von der Offerte bis zur Abrechnung. Sie übernehmen die Verantwortung für sämtliche Produktionsschritte, koordinieren Übersetzung, Korrektorat, Druckvorstufe und Druck – transparent und effizient.

Design Jedes Unternehmen kennt eigene Werte, jede Publikation hat eigene Inhalte. Unser Designteam aus Creative Director, Art Directors, Editorial Designern, Polygrafen und Webdesignern gibt beidem Gestalt, macht die Geschichten und Botschaften von Unternehmen erlebbar. Im Print und in digitalen Medien.

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Gute Inhalte verkaufen – das ist auch bei diesem Magazin nicht anders. Haben wir Sie inspiriert? Dieser Call to Action geht an Sie: Gerne setzen wir mit Ihnen Ihr nächstes Kommunikationsprojekt um.

Rufen Sie mich an, ich freue mich auf Sie.

+41 44 299 41 00 trasatti@infel.ch Alfredo Trasatti, Inhaber und CEO


versus — magazine — IMPRESSUM No. 01 / 2014

AUTOREN:

Michael Frischkopf (Chefredaktion), Matthias Bill, Simon Fallegger, Gaston Haas, Bruno Habegger Claudia Sebald, Andreas Turner GESTALTUNG:

Guido Von Deschwanden (Creative Director), Peter Kruppa, Sebastian Mutti BILDREDAKTION:

Diana Ulrich (Leitung), Matthias Jurt FOTOGRAFIE:

Jolanda Flubacher, Matthias Jurt, Beat Schweizer, Herbert Zimmermann

HERAUSGEBERIN:

Infel Corporate Media, Militärstrasse 36, Postfach 3080, 8021 Zürich Telefon +41 44 299 41 41, welcome@infel.ch www.infel.ch

LITHOGRAFIE:

nc ag, In der Luberzen 25, 8902 Urdorf DRUCK:

Vogt-Schild Druck, Gutenbergstrasse 1, 4552 Derendingen PAPIER:

Antalis AG, Industriestrasse 20, 5242 Lupfig GEDRUCKT AUF:

Olin smooth high white PERFORM ANCE

neutral Drucksache No. 01-14-298702 – www.myclimate.org © myclimate – The Climate Protection Partnership

WIR DANKEN HERZLICH UNSEREN PARTNERN:


Branded Content Spritz! Pharrell Williams 8 Regeln für gute Geschichten Wetz Storytelling in Social Media Lukas Hartmann Stahlberger Hänsel, Gretel, böse Hexe Dr. Hermann Sottong

— magazine —


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