Esskulturen im multikulturellen Kontext - Teil 2

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Nr. 2 Februar 2007

E r n ä h r u n g s l e h re u n d - p ra x i s Ess-Kulturen Ernährung im multikulturellen Kontext verstehen – Teil 2 Ingrid Katharina Geiger, Heidelberg

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Während ‚globale Nomaden’ die Food-Innovationen in den Metropolen rund um den Globus kosten, entstehen – u. a. durch Zuwanderung – in unserem globalisierten Alltag facettenreiche Ess-Kulturen. Das sog. Mehrperspektiven-Modell zu Ess-Kulturen im multikulturellen Kontext unterstĂźtzt Fachkräfte bei der EntschlĂźsselung von EssKulturen und stärkt die erfolgskritische kultur- und diversity-sensible Kundenorientierung. DarĂźber hinaus fĂśrdert das Modell die Reflexion bestehender professioneller Annahmen und Leistungen im Ernährungsbereich. Eine erweiterte und vertiefte Sicht lässt neue Zugänge sowohl fĂźr die Arbeit mit Zugewanderten als auch mit der alteingesessenen BevĂślkerung erschlieĂ&#x;en.

í˘¸ Die soziale Perspektive

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Die soziale Perspektive verweist auf das Familienkonzept und die ZugehĂśrigkeit zu Communities oder Milieus sowie auf gesellschaftliche Unterschiede, die sich sowohl auf die Tischgemeinschaften als auch das Essverhalten auswirken kĂśnnen. Der Esstisch ist in vielen Familien der Ort, wo die Mitglieder ihre zugeschriebene oder erworbene familiäre Rolle ausĂźben. Dabei wirken Faktoren wie Generation, Gender (soziales Geschlecht) und Seniorität (z. B. die älteste Tochter). Diese kĂśnnen sich auf die Tischgemeinschaft, die Sitzordnung, die Aufgabenteilung, die Essenszuteilung auswirken [17]. Nicht selten werden noch die Ahnen mit Speisen bedacht. Sie werden unter Umständen als Instanzen betrachtet, die das Wohlverhalten ihrer Nachkommen positiv sanktionieren. Im weiteren sozialen Feld orientiert sich Essverhalten oftmals an den subtil konstruierten „feinen Unterschieden“ [20]. Speisen zeugen von der Einordnung in einem sozialen Milieu. Beispielsweise bilden der Verzehr von Hummer und vor allem seine korrekte Handhabung zu Tisch ein beliebtes „Spiel“ zur sozialen Unterscheidung. Ernährungs-Umschau 54 (2007) Heft 2

Vor diesem Hintergrund erbringen Migranten oftmals sowohl eine allgemeine als auch eine spezifische Anpassungsleistung, denn der Integrationsprozess ist auch mit einer Angleichung an Milieus oder Berufsgruppen verbunden. Entsprechend teilen viele Arbeitnehmer ausländischer Herkunft mehr Esskultur mit ihren deutschen Kollegen als mit ihren Landsleuten im diplomatischen Dienst. Sozial motivierte Speisepräferenzen sind oftmals erstaunlich resistent gegenßber Informations- und Beratungsarbeit. Deshalb stellt sich fßr Fachkräfte im Ernährungsbereich nicht nur die Frage, ob ihr Angebot ausreichend auf die Zielgruppe (Familien- und Rollenkonzept, Milieu und Diversity) zugeschnitten ist [21]. Eine Wßrdigung der mehrfachen Anpassungsleistung kann bei Migranten ein wichtiger TßrÜffner sein.

rung) wird es immer geben. Bei neu Zugewanderten sind die Barrieren zu gesundheitsbezogenen Angeboten zunächst besonders hoch, z. B. Sprachbarrieren, InformationslĂźcken, interkulturelle Missverständnisse etc. [6]. Viele Migranten schwanken zwischen RĂźckkehr oder Verbleib, auch wenn durch den rechtlichen Status eine gewisse Eindeutigkeit geschaffen wurde. Migranten, die einen befristeten Aufenthalt beabsichtigen, sind weniger zugänglich fĂźr Ernährungsfragen. Doch in vielen Fällen wird aus dem geplanten temporären Aufenthalt ein ganzes Arbeitsleben. Fachkräfte im Ernährungsbereich benĂśtigen fĂźr die Arbeit in multikulturellen Zusammenhängen eine ausgeprägte Migrationskompetenz und eine groĂ&#x;e Sensibilität im Umgang mit schwer entscheidbaren Fragen wie RĂźckkehr oder Verbleib.

í˘š Die migrationsspezifische Perspektive

ě?… Die kulturelle Perspektive

Aus der migrationsspezifischen Perspektive richtet sich das Augenmerk auf das zeitnahe Zuwanderungsgeschehen, die RĂźckkehr- bzw. Verbleiborientierung und die rechtliche Situation. Zuwanderung (wie auch Abwande-

Die kulturelle Perspektive lenkt einerseits den Blick auf die facettenreiche Ess-Kultur im multikulturellen Zuwanderungskontext und das darunter liegende Netzwerk aus Bedeutungen [22]. Andererseits lädt die kulturelle Perspektive Fachkräfte im Ernäh-

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Ernährungslehre und -praxis

rungsbereich ein, die professionellen Annahmen zu überdenken und auf das multikulturelle Geschehen stets neu zu justieren, d. h. die kulturelle Perspektive bildet eine Meta-Ebene [23, 8] (vgl. Abb. 3, Teile 1). Aus der Meta-Perspektive werden nicht nur die „fremden“, sondern auch die eigenen kulturellen Annahmen thematisiert. Die kulturelle Perspektive fordert eine Wissensbasis etwa über Herkunftskulturen, Migration, Multikultur, Integration und Diversity und ihren Einfluss auf die Ernährung. So kann relevant sein, wie muslimische Migrantenfamilien aus der Türkei das Fest des Fastenbrechens („Zuckerfest“) feiern. Der damit verbundene „kulturspezifische“ Ansatz stößt in einer zunehmend diversen Gesellschaft relativ schnell an seine Grenzen [6]. Deshalb ist die Entwicklung einer Kultur-, Migrations- und DiversityKompetenz, die von einer fragenden Haltung und dem Vergleich getragen wird, wichtig für die Professionalität. Unter Nutzung des MehrperspektivenModells wird die spezifische Logik des Essverhaltens in der Multikultur umsichtig „entschlüsselt“. Dabei können auch neue professionelle Einsichten gewonnen werden. Diese führen zu einer fruchtbaren Weiterentwicklung der fachlichen Annahmen. Schlüsselfragen helfen, sich der „fremden“ Esskultur zu nähern und die eigene Ernährungslogik zu reflektieren (Tab. 1).

Konsequenzen des holistischen Ansatzes Das Mehrperspektiven-Modell zur Entschlüsselung von Ess-Kulturen im multikulturellen Kontext ist ein Instrument, das von allen Ernährungsfachkräften genutzt werden kann. Es lässt Konsequenzen für die Forschung, für Fachkräfte, für die Beratungsarbeit und für das Management erschließen. ■ Für die Forschung im Bereich der Ernährung ist eine verstärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich. Die Ergebnisse der Migrationsforschung, der kulturvergleichenden Anthropologie oder der Sozialpsychologie können helfen, ernährungswissenschaftliche Arbeiten stärker auf die Belange einer heterogenen Zuwanderungsgesellschaft auszurichten und mit den Ergebnissen die praktische Ernährungsarbeit zu unterstützen. ■ Fachkräfte in der Lebensmittelproduktion, in Küchen und Kantinen oder

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in der Diätpraxis können den mehrperspektivischen Ansatz zur Esskultur anwenden, um die Inanspruchnahme der Produkte und Leistungen durch Zugewanderte oder Minderheiten zu prüfen. In vielen Fällen kann eine Inanspruchnahme in der Zusammenarbeit mit Migrantenorganisationen oder durch den Einsatz von muttersprachlichen Fachkräften erhöht werden. ■ Für den Erfolg von Beratung ist die Anschlussfähigkeit an die spezifische Situation der Klientel wesentlich. Beratende im Ernährungsbereich können mit dem Mehrperspektiven-Modell die spezifischen Hintergründe des Essverhaltens ganzheitlich ermitteln und – darauf aufbauend – gesundheitsförderliche und gleichzeitig kultursensible Optionen erschließen. ■ Das Management von Organisationen (z. B. Krankenhäuser, Altenheime, Gefängnisse) und Unternehmen (Lebensmittelindustrie, Kantinenversorgung) setzt das MehrperspektivenModell ein, um die Prozesse der Leistungserbringung zu prüfen. Dabei wird geklärt, ob die Ausrichtung „kulturfrei“, kultur- bzw. religionsspezifisch, trans- oder interkulturell oder diversity-sensibel ist oder sein soll [6,

7]. Qualitätsmanager sollten auch die Frage nach der Zertifizierung nach religiösen Kriterien nicht scheuen (auch McDonald lässt Restaurants bei Bedarf zertifizieren).

Literatur 1. Werle, L. & Cox, J.: Ingredienzen. Das große Buch der Zutaten. Könemann, Köln (2000). 2. Appadurai, A.: Globale ethnische Räume. Bemerkungen und Fragen zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie, in: Beck U (Hrsg.) Perspektiven der Weltgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main: 11–40 (1998). 3. Beck, U. (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main (1998). 4. Bade, K.J.; Oltmer, J.: Normalfall Migration. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (2004). 5. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Migration, Asyl und Integration in Zahlen. 14. Aufl. Nürnberg (2006). 6. Geiger, I.K.; Razum, O.: Migration – Herausforderungen für die Gesundheitswissenschaften. In: Hurrelmann, K.; Laaser, U.; Razum, O. (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. Juventa, Weinheim und München: 719–746 (2006). 7. Geiger, I.K.: Managing Diversity in Public Health. In: Razum, O.; Zeeb, H.; Laaser; U. (Hrsg.), Globalisierung – Gerechtigkeit – Gesundheit. Einführung in International Public Health. Hans Huber, Bern: 163-176 (2006). 8. Schiffauer, W.: Migration und kulturelle Differenz. Studie für das Büro der Ausländerbeauftragten des Senats von Berlin. Berlin (2003).

Tab. 1: Ess-Kulturen im multikulturellen Kontext verstehen – Schlüsselfragen ■ Was muss bei der Erzeugung und Verarbeitung von Lebensmitteln sowie bei der Zubereitung von Speisen beachtet werden? ■ Wer ist zuständig für die Beschaffung von Lebensmitteln? Wo wird eingekauft? ■ Welche Qualitätskriterien werden bei der Auswahl der Lebensmittel angelegt? ■ Welche Kriterien erfüllen „richtige“ bzw. „schlechte“ oder „gesunde“ Speisen (nicht)? ■ Wie sieht das Körperkonzept von Männern und Frauen in verschiedenen Altersgruppen aus? ■ Wie wird der Zusammenhang zwischen Ernährung und Gesundheit konstruiert? ■ Was wird als „Essen wie Zuhause“ angesehen; welchen Stellenwert hat es auf dem Speiseplan? ■ Welche Speisen erinnern (nicht) an erfreuliche bzw. schwere Zeiten? ■ Welche Speisen dokumentieren die Zugehörigkeit zu einer Community oder zu einem Milieu bzw. die Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft? ■ Welche Speisen werden als die der „Anderen“ gesehen? ■ Welche Speisen symbolisieren (Miss-)Erfolg und einen hohen bzw. niedrigen Status? ■ Wer darf die Speisen (nicht) zubereiten? Welches Geschirr darf (nicht) benutzt werden? Welche Zutaten dürfen (nicht) enthalten sein? ■ Wer teilt mit wem (nicht) die Tafel? Wer darf wem Speise (nicht) reichen? ■ Was gilt an Fest- und Feiertagen? Was gilt an Fastentagen? ■ Welche Ausnahmen werden gemacht? Wie wird mit Verstößen umgegangen? ■ Wie werden Multikulturalität und Migration sowie Diversity in der professionellen Leistungserbringung berücksichtigt?

Ernährungs-Umschau 54 (2007) Heft 2


Ernährungslehre und -praxis

9. Stehle, P.; Oberritter, H.; Büning-Fesel, M.; Heseker, H.: Grafische Umsetzung von Ernährungsrichtlinien – traditionelle und neue Ansätze. in: Ernährungs-Umschau 52, Heft 4: 128-135 (2005). 10. Sich, D.; Diesfeld, H. J.; Deigner, A.; Habermann, M. (Hrsg.): Medizin und Kultur. Eine Propädeutik für Studierende der Medizin und Ethnologie. Peter Lang, Frankfurt am Main (1993). 11. Razum, O.; Geiger; I.: Migranten. In: Schwartz, F.W.; Badura, B.; Busse, R.; Leidl, R.; Raspe, H.; Siegrist, J.; Walter, U. (Hrsg.), Das Public Health Buch. Gesundheit und Gesundheits¬wesen. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Urban & Fischer, München: 686-694 (2003). 12. Menzel, P.; D’Aluisio, F.: So isst der Mensch. Familien in aller Welt zeigen, was sie ernährt. Gruner + Jahr, Hamburg (2005). 13. Bausinger, H.: Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? Beck, München (2000). 14. Frick, K.; Sigrist, S. 2005: Food Nations. Die beliebtesten Landesküchen und deren Bedeutung für das Image einer Nation. Studie Nr. 21, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon/Schweiz. 15. aid. Ausländer in Deutschland, Heft 2, 19. Jg., Juli (2003). 16. Mitzscherlich, B.: „Heimat ist etwas, was ich mache …“ Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Beheimatung. Pfaffenweiler (1997). 17. Müller, K. E.: Nektar und Ambrosia. Kleine Ethnologie des Essens und Trinkens. C.H. Beck, München (2003). 18. Douglas, M.: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu. Berlin: Dietrich Reimer, Berlin (1985) [Original: 1966: Purity and Danger]. 19. Dumont, L.: Homo Hierarchicus. The Caste System and Its Implications. Complete Revised English Edition. Chicago and London: The University of Chicago Press (1980). 20. Bourdieu, P.; Elias N., Epskamp, H.; Fiedler G.: Die Soziologie des Essens. CD. Tonkombinat (2002). 21. Bauer, U.; Bittlingmayer, U. H.: Zielgruppenspezifische Gesundheitsförderung. In: Hurrelmann, K.; Laaser, U.; Razum, O. (Hrsg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften. 4., vollständig überarbeitete Auflage. Juventa: Weinheim und München: 781-818 (2006). 22. Counighan, C.; Van Esterik, P. (Hrsg.): Food and Culture. A Reader. Routledge, New York and London (1997). 23. Baecker, D.: Wozu Kultur? Suhrkamp, Frankfurt am Main (2000).

Die Autorin: Ingrid Katharina Geiger

Int. Management Consultant, MBA Ploeck 32 a, 69117 Heidelberg E-Mail: info@ingridgeiger-mba.com Ernährungs-Umschau 54 (2007) Heft 2

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