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IMPRESSUM
Was, wenn wir uns geirrt haben?
— Ein Leser schrieb, freundliche Worte fände ich in letzter Zeit nur noch für Tiere. Das könne er nachempfinden, weil es ihm ebenso gehe. Weil wahre Menschen heute selbst mit Diogenes’ Laterne nicht mehr aufzutreiben seien.
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Da bin ich anderer Meinung. Zwar: Vom Marxisten bis zum Technofaschisten, vom Menschenfreund bis zum satani schen Ausbeuter, vom pädagogischen Idealisten bis zum grimmigen Militärmordplaner ist seit jeher niemandem der Mensch, so wie er ist, recht – alle wollen ihn pimpen, erweitern, aufrüsten, „besser“ machen. Richtig gelungen ist das niemandem, nicht mal den Silicon-Valley-Irren, die ihren ersten Sex mit einem Digitalwecker hatten und sich, wären sie 200 Jahre früher geboren, sicher gerne mit einer Dampfmaschine gekreuzt hätten, um zum transhumanistischen Hyperwesen zu werden.
So ist der Mensch geblieben, was er ist: ein prinzipiell lustiges, liebenswertes Weichtier, allerdings mit Neigung zum Streiten. Da mag man einwenden: Das tun andere auch! Stimmt aber nur bedingt. Zwar zwetschern und zwatschern sich auch die Meisen vor unserem Fenster gelegentlich ziemlich derb an, wenn eine mal wieder zu lange braucht, um sich ein Körnchen rauszusuchen. Das ist aber immer gleich wieder vergessen. Zu Grundsatzdiskussionen mit anschließender Gesellschaftsspaltung ist es noch nie gekommen.
Anders der Mensch, der beim „Prinzip“ erst richtig loslegt, am Ende dem Streitgegner eine Gehirnamputation, eine asoziale Verbrechernatur und eine schiefe Nase bescheinigt, Gesellschaftsverträge aufkündigt und unnachgiebige (Ex-)Mitmenschen zu Vieh erklärt (das, was die friedliche Beilegung von Meinungsverschiedenheiten angeht, längst eine höhere Evolutionsstufe erreicht hat).
Lustigerweise ist der Mensch auch das einzige Wesen, bei dem das Leben nicht im Kreis läuft – Frühling, Sommer, Herbst, Winter, dann geht’s von vorne los. Sondern stets weiter strebt, weshalb sich Malheur, Verdruß, Zins und Zinseszins potentiell bis ins Unendliche anhäufen. Drum muß er ab und zu die Bremse reinhauen, sich kurz schütteln und ein paar Sachen über Bord schmeißen.
Warum sich dafür ausgerechnet der Jahresbeginn besonders gut eignen soll? Vielleicht wegen der weihnachtlichen Freßexzesse und Diskussionsorgien: Einen Schritt weiter, mag man erkannt haben, dann zerreißt es noch vor der Familie die Plautze oder beides gleichzeitig. Typisch Mensch, daß auch das übertrieben werden mußte: alles oder nichts, tabula rasa! hieß es, und drei Tage später war der neue Schmarrn der alte.
Drum sollten wir vielleicht in diesem Jahr, das streitgesättigter scheint als so ziemlich alle, die wir gemeinsam erlebt haben, den Eifer drosseln und etwas suchen, was dem Menschen an sich völlig fremd ist: ein gesundes Mittelmaß. Und die Einsicht: Wir (alle) könnten uns geirrt haben.
Dann wird z. B. Sascha Mölders einräumen müssen, daß eine Karriere an ihr Ende kommen kann. Der TSV 1860 wiederum könnte einsehen, daß man Menschen mit einem gewissen Kerbholz nicht einfach hinausschmeißt. Erzautofahrer könnten im Geiste mal aufs Radl steigen und „ihre“ Straßen mit anderen Augen sehen, stramme SUVHasser zugeben, daß eine Parkplatzsuche kein Spaß ist. Impffanatiker dürften sich unvoreingenommen mit Nebenwirkungen beschäftigen, Impfgegner mit historisch belegten Vorzügen der Immunisierung. Philanthropische Weltkommandeure könnten sich fragen, ob sie wirklich so genau wissen, was gut für das ganze Universum ist. Revolutionären Antikapitalisten wäre es gestattet, noch den schlimmsten Blutsauger als normalen Menschen mit Ängsten, Nöten und Herz zu betrachten (notfalls in dem sie sich ihn nach dem Weihnachts essen auf dem Klo vorstellen). Verschwörungsleugner könnten vorsichtig einräumen, daß Weltgeschichte, Wirtschaft und die eigene Familie ein Ge-
strüpp von irrwitzigsten Ränkeschmiedereien sind. Zufallsleugner wiederum müßten anerkennen, daß es manchmal einfach „bumm!“ macht und die Folgen oft umfangreich sind, ohne daß Gates, Putin und die Mafia dahinterstecken.
Man wird sich nie ganz einig, und selbstverständlich liegt die Wahrheit nie in der Mitte, sondern tänzelt ungreifbar im nebulösen Feld der Möglichkeiten herum, weil der Mensch für sie nun mal zu klein ist. Es geht aber gar nicht darum, sie zu packen und für sich zu gewinnen. Sondern zu erkennen, daß es sie vielleicht gar nicht gibt, daß es aber etwas gibt, was viel wichtiger ist, was jedoch in dem Wahn, alles zu wissen und zu bestimmen, völlig aus dem Blick gerät: die anderen, Menschen, Tiere, Pflanzen und so weiter.
In diesem Sinne: ein geruhsames Jahresende und einen schönen Beginn!
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