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LITERATUR
Umdenken im Kantschädel
Fürs neue Jahr empfiehlt sich Widerstandskraft, Gelassenheit und Humor. Und dafür braucht man diese guten Vorbilder
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Vieles war zuletzt schwierig. Viele Veranstaltungen waren (und sind leider noch immer) weg. Und doch gibt es Grund zur Hoffnung: „Klufti isch back“. Dafür stehen seit 2003 zwei knorrige Herren: Michael Kobr und Volker Klüpfel aus dem Allgäu. Damals erschien mit „Milchgeld“ der erste Roman mit dem Kasspatzn-g’wamperten Kommissar Kluftinger. Der muss im neuen Roman „Funkenmord“ nicht nur einen
frischen Fall lösen, sondern auch versuchen, mit der Zeit zu gehen. Gemeint sind nicht nur Ernährungserkenntnisse, die eigentlich natürlich schon immer auf der Hand lagen, sondern ein Umdenken im Quadratschädel, was die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern angeht. Klufti will diesmal einen ungelösten Mordfall aufrollen, der längst so kalt ist wie weit hinten im Kühlschrank vergessene Maultauschen. Daheim hängt derweil der Haussegen schief, Ehegattin Erika steckt in der Krise. Also muss Klufti beides sein: Hausmann und Mörderjäger. Auwehzwick! (Muffathalle, 10.1.)
Als sonst so sinnenfroher, erfolgs- und lebensglückverwöhnter Autor muss sich derzeit Hanns-Josef Ortheil wieder neu finden. Er erholt sich von einer schweren Herzoperation, die nicht ohne Komplikationen ablief und die ihn zu langen Klinik- und Reha-Aufenthalten zwang. Allerdings kam rasch das Schreiben zurück: Ortheil setzt, passend zu seinem 70. Geburtstag, im neuen Roman „Ombra“ zuletzt wild durcheinander geworfene Puzzlestücke zusammen. Wie sah das Leben „davor“ aus, was kommt „danach“? Spannende Frage. (Literaturhaus, 25.1.)
Vertraut auf Fakten: MAI THI NGUYEN-KIM
Das Sich-Neuerfinden, In-FrageStellen und Umkreisen gehört zum Wirken und Wüten des einstigen BlackFlag-Frontmanns immer schon dazu. Doch Henry Rollins ist eben nicht nur großflächig tätowierter Punk-Stiernacken, sondern ein sensibler Zeitgenosse, der Stimmungsamplituden oft schneller schwanken hört, als das anderen gelingt. Und er ist ein Mann des Wortes – des wuchtigen, wie des leisen. Für die Lese-Reihe „Good to See You 2022“ meldet er sich zurück. Dabei reflektiert er natürlich auch auf die weltweitweiten Erschütterungen durch ein stacheliges böses Virus, analysiert zeitgemäße Männerbilder, verneigt sich vor Künstlerkollegen und rupft andere. Worauf man sich verlassen kann: Rollins hat Humor. Schadet nie! (Muffathalle, 29.1.) Dazu passt die Comic-Präsentation von Reinhard Kleist, der schon Nick Cave und Johnny Cash neue Bühnen als Graphic-Novel-Helden zimmerte. Mit „Starman – David Bowies Ziggy Stardust Years“ spielt der Zeichner die Jahre des provokanten Tändelns mit sexuellen Identitäten und Geschlechterrollen durch. Es geht um Anerkennung, Selbstbehauptung und einen starken künstlerischen Freiheitswillen. Am DJPult steht Klaus B. Wolf. (Literaturhaus, 19.1.)
Wer einmal live vorgelesen bekommen möchte, wie originell Nick Cave in einem Brief darauf antwortete, dass ihm die Verleihung eines MTV Awards mitgeteilt wurde, muss zur Lesung „More Letters of Note“ mit Anke Engelke und Devid Striesow kommen. Sie führen das Publikum durch eine von Shaun Usher zusammengestellte Sammlung unterhaltsamer, inspirierender und einfach nur irrer Briefe der Weltgeschichte. So kommt unter anderem Richard Burtons Abschieds-Note an Elisabeth Taylor oder Marge Simpsons noch immer bewegender Protestbrief an Barbara Bush zu Gehör. (Prinzregententheater, 9.1.)
Ingo Schulze zuzuhören, fällt nicht schwer. Immerhin ist der Wuschelkopfstar der heimischen Literaturszene ein sprudelnder Geschichtenerzähler, ein Humorist und ein Kauz. Er beehrt Literaturhaus-Chefin Tanja Graf zum Abschluss der „Preis der Literaturhaus“-Lesetour mit einem Ehrenbesuch. In München scheint sich Schulze besonders wohl zu fühlen. 2019 kuratierte er Teile des Literaturfests München und erhielt für seine kluge Auswahl viel Lob. (Literaturhaus, 20.1.)
Zum Schluss (und mit Blick auf zwölf Monate 2022, in denen es weiterhin viel zu diskutieren geben wird) empfiehlt es sich, die Ohren zu spitzen und sich von Mai Thi Nguyen-Kim den Kopf waschen zu lassen. Die promovierte Chemikerin, TV-Moderatorin und YouTuberin gilt laut SZ als „Allzweckwaffe des Wissenschaftsjournalismus“. Ihr Anliegen ist dabei eines, das eigentlich tatsächlich naheliegen sollte: Sie will emotional aufgeheizte Debatten – Corona, Klimawandel, was denn bitte noch alles Fürchterliches? – sachlich runterkühlen und zu den Fakten zurückführen. Von Mai Thi Nguyen-Kim kann man nur lernen. Auf ein friedliches Lesejahr! (Literaturhaus, 23.1.)
RUPERT SOMMER
HÖRBUCH
Ghosts, Max & Dudelsacks
— Der Schotte an sich ist ein spleeniger Sturkopf. Dolly, der erste geklonte Schotte, war konsequenterweise ein Schaf. Dolly trug Kilt und ihr Euter erinnerte nicht nur optisch an einen Dudelsack. Beim Melken dudelte er Mull of Kintyre von Paul McCartney and the Wings. Dolly parfümierte sich ausschließlich mit Macbeth Whisky. Das verlieh ihr ein edelmännlich-vollmauliges Odeur mit Aromen von totem Lachs und morschem Eichenholz. Nicht ganz so spleenig, aber doch ausreichend neben dem Zylinder ist Lord Shnatterman, Hauptfigur dieser HighlandsSaga, die im Jahr 1885 ihren geistreichen Lauf nimmt. Shnatty ist pleite und das Haltbarkeitsdatum seiner Bude Bloodywood Castle längst Geschichte. Fehlt noch, dass der örtliche Geldsack und Diplom-Fiesling Mr. Coolwater ein Schnäppchen wittert. Oops! Schon passiert. Auch das ist megaschottisch: Rettung kommt aus dem Jenseits. Shnattys Vorfahren performen in Tiergestalt: Hund, Kaninchen und Truthuhn. Geht eine Funzel an? Bingo. Augsburger Puppenkiste. Ende der 70s. Einer ihrer unzähligen Masterstrokes. Ausgetüftelt vom begnadeten Urmel- und Don-Blech-Ausdenker Max Kruse (1921-2015). An diese High-End-Lustigness kommt leider niemand ran. Eigener Planet. Ach was, eigenes Cooliversum. So gesehen: Rocky-vs-DragoChallenge für die Hörspiel-Crew. Bei der Besetzung wurde burgensolide gearbeitet, nur Rabbit (Pastewka) mit seiner Kojoten-Allergie scratcht als Nervenflex in der Liga von Jar Jar Binks (Star Wars I) und Rufus-BeckDobby (Harry Potter 2). Hirnspaltig ist zudem die Political Correctness, die zum 19. Jahrhundert so gut passt wie Beamen oder fucking Facebook. Schön und fortschrittlich, dass die amerikanischen Ureinwohner heute „indigene Völker“ genannt werden statt entdeckerhaft „Indianer“, aber vor 150 Jahren wäre niemand auf diese Idee gekommen. Nicht einmal der empathische ÜberGentleman Lord Shnatterman. Und selbst in der Diversity-gepimptesten Family spielen die Pimpfe vermutlich lieber Cowboys und Indianer als Cowboys und „native Americans“ – powered by Karl May, nicht by GeoReportage aus den Reservaten. Genug gerasselt. Alles von Max Kruse verdient Aufmerksamkeit. Und auch bei diesem Schotten-Spuk wird nicht gegeizt mit Leidenschaft, Spleen- und Spielfreude. JONNY RIEDER
GEORGE ORWELL
Reise durch Ruinen: Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945
(C.H.Beck) Im Auftrag des Observer checkt Orwell nach Naziland – angekurbelt von Über-Fragen: Was tun mit den Krauts? Downgraden oder aufpäppeln? Was mit den Displaced Persons, den überwiegend aus Osteuropa verschleppten Zwangsarbeitern? Wer kriegt wie viel zu essen? Wie harmonieren die Winner? Im Nachwort wundert sich Historiker Volker Ullrich, dass Orwell – anders als einige Kollegas – nicht explizit über KZs geschrieben habe und nennt es „eine eigentümliche Leerstelle“. Doch Orwell macht keineswegs auf „die wollten nur spielen“. Sonst hätte er 1984 nicht geschrieben. Mandelamäßig erhaben ist seine Reportage „Rache ist sauer”. Orwell begleitet einen jüdischen Ösi durch ein Lager mit solide vermöbelten SS-Ärschen. Wenig übrig geblieben von der arischen Strahl- und Spannkraft. Der Ösi tritt einem Nazi gegen den kaputten Fuß. Bei allem Verständnis für die Wut des jungen Mannes auf die XXLFaschos, die womöglich seine Familie ausgelöscht haben, bezweifelt Orwell, dass er „wirkliche Befriedigung“ daraus zog, „dass er hier Macht ausüben konnte.“ Eher verhalte er sich wie jemand, der sich das vorgenommen habe, als er noch ohnmächtig war. Klare Absage an das IdiotenPrinzip Rache und Bestrafung. So weitsichtig wie verkannt.
JONNY RIEDER
CARLO LUCARELLI
Der schwärzeste Winter
(Folio) Ein Drama, eine Sozialreportage, ein Krimi und ein historischer Roman – Carlo Lucarelli hat mit seinem vierten De Luca-Krimi wieder ins Schwarze getroffen. Bologna 1944: Die besetzte Stadt im Klammergriff eines eiskalten Winters, ausgeblutet von den Bombenangriffen, in den Ruinen hausen die aus dem Umland vor Hunger geflüchteten Menschen zusammen mit ihren wenigen Tieren. Wehrmacht und SS werden flankiert von Mussolinis „Schwarzen Brigaden“, die äußerst grausam auf Partisanenaktionen reagieren. De Luca ist jetzt wiederwillig Teil der politischen Polizei, die samt Folterkeller in der Technischen Universität untergebracht ist. Als im Zentrum der Stadt drei Leichen gefunden werden, soll er für drei Parteien ermitteln: für die Faschisten, die Nazis und die Kollegen des geheimen „antifaschistischen Polizeipräsidiums“ – ein führender Kopf des Widerstands wird nämlich zu Unrecht beschuldigt. Was nun folgt ist eine Zeitreise in ein dunkles Kapitel italienisch-deutscher Geschichte. Lucarelli hat präzise recherchiert, seine Figuren sind vielseitig gezeichnet, die Örtlichkeiten scharf skizziert. Was den Roman aber besonders ausmacht, ist seine unterschwellig brodelnde Stimmung kurz vor Kriegsende – der Leser fühlt sich wirklich beklemmend nah am Geschehen, obwohl das alles vor fast achtzig Jahren stattgefunden hat. Wir verlosen drei Bücher auf www.inmuenchen.de
RAINER GERMANN
VOLKER KLÜPFEL, MICHAEL KOBR
Morgen, Klufti wird’s was geben
(Ullstein) Vierter Adventssonntag im Hause Kluftinger. „Vegane Plätzchen kommen mir nicht ins Haus“, poltert Klufti. Schnell stibitzt sich der Allgäuer Kultkommissar eine von Erikas legendären Spitzbuben. Die freilich pfeift den liebenswerten Chauvi zurück. Schließlich soll das kleine Butzele, sein japanisches Enkelkind, noch etwas vom Weihnachtsgebäck sehen. Beleidigt gibt er nach. Nicht ohne zu maulen, dass früher ja er ihr „Butzele“ war. „Früher hat’s auch noch g’schneit an Weihnachten“, kontert Erika. Schon hängt der Haussegen schief. Aber so richtig eng wird es, als der alljährliche Kampf mit dem Christbaum beginnt. Beim Anbringen der Christbaumspitze fällt Erika zwei Tage vor Weihnachten von der wackligen Leiter. Zum Glück ist ihr nichts Schlimmes passiert. Doch Erzfreund Dr. Langhammer verfrachtet sie bis Heilig Abend ins Krankenhaus, und provoziert damit ein pfundiges Chaos. Denn üblicherweise schmeißt ja Erika den Laden. Obendrein hat sich Besuch aus Japan ankündigt. Schwiegervater Yoshifumi Sazuka kommt. Und der erwartet das ultimative Allgäuer Weihnachtsfest. So nimmt das Schicksal seinen Lauf. Ein sehr lustiges, slapstickartiges Weihnachtsabenteuer in 24 Kapiteln. LUITGARD KOCH
HARALD WELZER
Nachruf auf mich selbst
(S. Fischer) Der Titel klingt ein wenig eitel, sollte aber nicht davon abhalten, diesem (teils sehr persönlichen) Dark Side of the Moon der Gesellschaftskritik zu lauschen. Es groovt und rockt die Synapsen wie Bregmans „Im Grunde gut”. De facto schrieb Soziologe Welzer einen vorgezogenen Nachruf auf unsere so todessüchtige wie todtabuisierende Gesellschaft. Der Brauch, über die künftige Asche nur Gutes zu sagen, kommt ihm nicht in die Urne. „Die Fiktion des immerwährenden Fortschritts durch immerwährendes Weitermachen muss aufgeklärt werden durch eine Kultur, die das Aufhören lernt. Erwachsenwerden ist der Prozess, in dem man lernt, dass man nicht alles haben kann, von dem man mal geglaubt hat, es haben zu können.“ Aufhören. Nicht weghören. Aufhören mit dem Wachstumswahn, der die Natur in Plastikmüll und Elektroschrott verwandelt. Mit der „Nichts ist unmöglich“-Maxime. Mit dem Selbstoptimierungswahn. „Alle zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne sind auf die grenzenlose Ausbeutung von natürlichen Ressourcen gebaut.“ Es gibt keinen nachhaltigen Kapitalismus. Eben. Besser Aufhören damit, indem wir Aufhören selbst als Abenteuer begreifen, als persönliche und gesellschaftliche Challenge. Danke, Mr. Welzer!
JONNY RIEDER
SUSANNE MAUDET
Dem Tod davongelaufen
(Assoziation A) „Wir wollen leben und werden es wagen“, schreibt Susanne Maudet unmittelbar nach Kriegsende, „weil wir dieses wunderbare, freie, abenteuerliche Leben zurückhaben wollen“. Der französischen Deportierten glückt im April 1945 auf dem Todesmarsch zusammen mit acht mitgefangenen Frauen die Flucht aus den Fängen der Nazis. Zusammen sind sie neun Freundinnen, sechs aus Frankreich, zwei Holländerinnen und eine Spanierin. Die Nazis verschleppen sie in das Konzentrationslager Ravensbrück. Im Frauenaußenlager Leipzig-Schönefeld des KZ Buchenwald müssen sie für den Rüstungskonzern HASAG Panzerfäuste anfertigen. Bei der Räumung des Lagers fassen sie den Entschluss, zu fliehen. Nach acht abenteuerlichen Tagen stoßen sie auf amerikanische Truppen und sind endlich in Sicherheit. Ihr starkes Plädoyer für die Kraft der weiblichen Solidarität verblüfft mit einer allen Gefahren trotzenden Chuzpe und einem unglaublichen Humor, mit dem sie ihre Angst verscheuchen. Beflügelt von euphorischer Vorfreude auf die Freiheit vibriert der Text vor Lebenslust. Die Todesmärsche 1944/45, das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, waren eine neue Dimension des Völkermords in den letzten Kriegsmonaten.
LUITGARD KOCH
AN YU
Unter Wasser atmen
(dtv) Es ist ein Moment des Schocks. Und doch auch eine Art Befreiung. Jia Jia staunt selbst, wie wenig sie der bizarre Tod ihres Mannes, der mit dem Kopf nach unten leblos im Wasser der Badewanne liegt, trauern lässt. Dafür lässt sie ein Detail nicht mehr los. Noch wenige Tage vor seinem Ertrinken hatte er von der Begegnung, einem wirren Traum, erzählt. War es dasselbe Wasserwesen, das sie auf einer kleinen Kritzelzeichnung neben dem Becken entdeckt? Die junge Frau, die offenbar viel zu lange im blattgoldenen Käfig eines wohlanständigen, wohlhabenden Pekinger Bürokratenlebens gefangen war, ist selbst Künstlerin genug, um zu spüren, dass es um mehr geht. Um eine Verbindung in eine Welt, die ihr bislang verschlossen war. Jia Jia macht sich auf die Suche nach dem kleinen Fischmann – und ihre Reise führt sie bis ins Hochgebirge, nach Tibet. Die junge Autorin An Yu wuchs selbst in der chinesischen Hauptstadt auf, studierte dann aber in New York und lebt nun abwechselnd in Paris und Hongkong. Ihr Debütroman „Unter Wasser atmen“ eröffnet Bildwelten, die man mit einer Mischung aus kaum stillbaren Neugierde und verwirrter Unsicherheit immer genauer erkunden möchte. Es geht tatsächlich ums Luftholen. Und um das Eintauchen in Bewusstseinsströme. Dass auf der Leseliste der kosmopolitischen Kulturwandlerin viel von Haruki Murakami gestanden haben dürfte, muss man ihr nicht einkreiden. Im Gegenteil. Vorbilder sollte man gut auswählen, sie begleiten einen lange.