IN MÜNCHEN 01/2022 - Stadtleben, Kultur und Programm von 1.01. bis 31.01.2022

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Redaktion_0122 16.12.2021 14:46 Seite 25

Literatur Lesungen

Umdenken im Kantschädel Fürs neue Jahr empfiehlt sich Widerstandskraft, Gelassenheit und Humor. Und dafür braucht man diese guten Vorbilder

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ieles war zuletzt schwierig. Viele Veranstaltungen waren (und sind leider noch immer) weg. Und doch gibt es Grund zur Hoffnung: „Klufti isch back“. Dafür stehen seit 2003 zwei knorrige Herren: Michael Kobr und Volker Klüpfel aus dem Allgäu. Damals erschien mit „Milchgeld“ der erste Roman mit dem Kasspatzn-g’wamperten Kommissar Kluftinger. Der muss im neuen Roman „Funkenmord“ nicht nur einen

Vertraut auf Fakten: MAI THI NGUYEN-KIM

frischen Fall lösen, sondern auch versuchen, mit der Zeit zu gehen. Gemeint sind nicht nur Ernährungserkenntnisse, die eigentlich natürlich schon immer auf der Hand lagen, sondern ein Umdenken im Quadratschädel, was die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern angeht. Klufti will diesmal einen ungelösten Mordfall aufrollen, der längst so kalt ist wie weit hinten im Kühlschrank vergessene Maultauschen. Daheim hängt derweil der Haussegen schief, Ehegattin Erika steckt in der Krise. Also muss Klufti beides sein: Hausmann und Mörderjäger. Auwehzwick! (Muffathalle, 10.1.) Als sonst so sinnenfroher, erfolgsund lebensglückverwöhnter Autor muss sich derzeit Hanns-Josef Ortheil wieder neu finden. Er erholt sich von einer schweren Herzoperation, die nicht ohne Komplikationen ablief und die ihn zu langen Klinik- und Reha-Aufenthalten zwang. Allerdings kam rasch das Schreiben zurück: Ortheil setzt, passend zu seinem 70. Geburtstag, im neuen Roman „Ombra“ zuletzt wild durcheinander geworfene Puzzlestücke zusammen. Wie sah das Leben „davor“ aus, was kommt „danach“? Spannende Frage. (Literaturhaus, 25.1.)

Das Sich-Neuerfinden, In-FrageStellen und Umkreisen gehört zum Wirken und Wüten des einstigen BlackFlag-Frontmanns immer schon dazu. Doch Henry Rollins ist eben nicht nur großflächig tätowierter Punk-Stiernacken, sondern ein sensibler Zeitgenosse, der Stimmungsamplituden oft schneller schwanken hört, als das anderen gelingt. Und er ist ein Mann des Wortes – des wuchtigen, wie des leisen. Für die Lese-Reihe „Good to See You 2022“ meldet er sich zurück. Dabei reflektiert er natürlich auch auf die weltweitweiten Erschütterungen durch ein stacheliges böses Virus, analysiert zeitgemäße Männerbilder, verneigt sich vor Künstlerkollegen und rupft andere. Worauf man sich verlassen kann: Rollins hat Humor. Schadet nie! (Muffathalle, 29.1.) Dazu passt die Comic-Präsentation von Reinhard Kleist , der schon Nick Cave und Johnny Cash neue Bühnen als Graphic-Novel-Helden zimmerte. Mit „Starman – David Bowies Ziggy Stardust Years“ spielt der Zeichner die Jahre des provokanten Tändelns mit sexuellen Identitäten und Geschlechterrollen durch. Es geht um Anerkennung,

Selbstbehauptung und einen starken künstlerischen Freiheitswillen. Am DJPult steht Klaus B. Wolf. (Literaturhaus, 19.1.) Wer einmal live vorgelesen bekommen möchte, wie originell Nick Cave in einem Brief darauf antwortete, dass ihm die Verleihung eines MTV Awards mitgeteilt wurde, muss zur Lesung „More Letters of Note“ mit Anke Engelke und Devid Striesow kommen. Sie führen das Publikum durch eine von Shaun Usher zusammengestellte Sammlung unterhaltsamer, inspirierender und einfach nur irrer Briefe der Weltgeschichte. So kommt unter anderem Richard Burtons Abschieds-Note an Elisabeth Taylor oder Marge Simpsons noch immer bewegender Protestbrief an Barbara Bush zu Gehör. (Prinzregententheater, 9.1.) Ingo Schulze zuzuhören, fällt nicht schwer. Immerhin ist der Wuschelkopfstar der heimischen Literaturszene ein sprudelnder Geschichtenerzähler, ein Humorist und ein Kauz. Er beehrt Literaturhaus-Chefin Tanja Graf zum Abschluss der „Preis der Literaturhaus“-Lesetour mit einem Ehrenbesuch. In Mün-

HÖRBUCH

Ghosts, Max & Dudelsacks — Der Schotte an sich ist ein spleeniger Sturkopf. Dolly, der erste geklonte Schotte, war konsequenterweise ein Schaf. Dolly trug Kilt und ihr Euter erinnerte nicht nur optisch an einen Dudelsack. Beim Melken dudelte er Mull of Kintyre von Paul McCartney and the Wings. Dolly parfümierte sich ausschließlich mit Macbeth Whisky. Das verlieh ihr ein edelmännlich-vollmauliges Odeur mit Aromen von totem Lachs und morschem Eichenholz. Nicht ganz so spleenig, aber doch ausreichend neben dem Zylinder ist Lord Shnatterman, Hauptfigur dieser HighlandsSaga, die im Jahr 1885 ihren geistreichen Lauf nimmt. Shnatty ist pleite und das Haltbarkeitsdatum seiner Bude Bloodywood Castle längst Geschichte. Fehlt noch, dass der örtliche Geldsack und Diplom-Fiesling Mr. Coolwater ein Schnäppchen wittert. Oops! Schon passiert. Auch das ist megaschottisch: Rettung kommt aus dem Jenseits. Shnattys Vorfahren performen in Tiergestalt: Hund, Kaninchen und Truthuhn. Geht eine Funzel an? Bingo. Augsburger Puppenkiste. Ende der 70s. Einer ihrer unzähligen Masterstrokes. Ausgetüftelt vom begnadeten Urmel- und Don-Blech-Ausdenker Max Kruse (1921-2015). An diese High-End-Lus-

Erproben neue Kluftinger-Lebensentwürfe: MICHAEL KOBR und VOLKER KLÜPFEL

chen scheint sich Schulze besonders wohl zu fühlen. 2019 kuratierte er Teile des Literaturfests München und erhielt für seine kluge Auswahl viel Lob. (Literaturhaus, 20.1.) Zum Schluss (und mit Blick auf zwölf Monate 2022, in denen es weiterhin viel zu diskutieren geben wird) empfiehlt es sich, die Ohren zu spitzen und sich von Mai Thi Nguyen-Kim den Kopf waschen zu lassen. Die promovierte Chemikerin, TV-Moderatorin und YouTuberin gilt laut SZ als „Allzweckwaffe des Wissenschaftsjournalismus“. Ihr Anliegen ist dabei eines, das eigentlich tatsächlich naheliegen sollte: Sie will emotional aufgeheizte Debatten – Corona, Klimawandel, was denn bitte noch alles Fürchterliches? – sachlich runterkühlen und zu den Fakten zurückführen. Von Mai Thi Nguyen-Kim kann man nur lernen. Auf ein friedliches Lesejahr! (Literaturhaus, 23.1.) RUPE RT SO MME R

tigness kommt leider niemand ran. Eigener Planet. Ach was, eigenes Cooliversum. So gesehen: Rocky-vs-DragoChallenge für die Hörspiel-Crew. Bei der Besetzung wurde burgensolide gearbeitet, nur Rabbit (Pastewka) mit seiner Kojoten-Allergie scratcht als Nervenflex in der Liga von Jar Jar Binks (Star Wars I) und Rufus-BeckDobby (Harry Potter 2). Hirnspaltig ist zudem die Political Correctness, die zum 19. Jahrhundert so gut passt wie Beamen oder fucking Facebook. Schön und fortschrittlich, dass die amerikanischen Ureinwohner heute „indigene Völker“ genannt werden statt entdeckerhaft „Indianer“, aber vor 150 Jahren wäre niemand auf diese Idee gekommen. Nicht einmal der empathische ÜberGentleman Lord Shnatterman. Und selbst in der Diversity-gepimptesten Family spielen die Pimpfe vermutlich lieber Cowboys und Indianer als Cowboys und „native Americans“ – powered by Karl May, nicht by GeoReportage aus den Reservaten. Genug gerasselt. Alles von Max Kruse verdient Aufmerksamkeit. Und auch bei diesem Schotten-Spuk wird nicht gegeizt mit LeidenJO N N Y RIE DE R schaft, Spleen- und Spielfreude.

Max Kruse: Lord Schmetterhemd. Hörspiel-Box 1 (von 3). Regie: Tommy Krappweis. Stimmen: Pascal Breuer, Dana Geissler, Stefan Günther, Oliver Kalkofe, Götz Otto, Kai Taschner u. a., EDEL 2021, 3 CDs, ca. 3 Std., www.pop.de 35


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