Redaktion_1021 23.09.2021 14:26 Seite 26
Literatur Lesungen
Wenn die Welt wieder vorbeischaut
Fädelt in Harlem Geschäfte ein: COLSON WHITEHEAD
Diese großen Stars von nah und fern darf man nicht verpassen: Ohren und Augen auf für neue Leseabenteuerreisen.
K
ann man mit dem Bösen paktieren, ohne sich selbst die Finger zu beschmutzen? Spannende Frage, die der zweifache Pulitzer-Preisträger Colson Whitehead („The Underground Railroad“) natürlich bildstark auflöst. Schauplatz seines neuen Romans „Harlem Shuffle“ ist die 125. Straße im nicht mehr ganz so glamourösen New York. Eine Gegend, in der die Mafia den Ton angibt. Doch auch Ray könnte ein wenig Extra-Geld gebrauchen, schon allein weil er ein umsichtiger Familienmensch ist. Also lässt er sich auf Geschäfte ein. Heraus kommt eine schräge, sich immer wieder verfinsternde Familienkomödie – und eine Hommage ans wilde Harlem. Für München ist das ebenfalls ein ver-
führerischer Deal: Whitehead kommt höchstpersönlich, was aktuell noch keine Selbstverständlichkeit ist. (Literaturhaus, 12.10.) Ebenfalls einen US-Hauch weht es mit Jonathan Franzen hinein, der mit „Die Korrekturen“ zum globalen Lieblingsintellektuellen wurde. Seine Studienzeiten in München hat er allerdings nie vergessen. Und auch sein Deutsch ist weiterhin exzellent. Für die Lesung und Diskussion zum neuen Familienroman „Crossroads“ ist er allerdings nur virtuell zugeschaltet – per Livestream aus Hamburg. Eine Kooperation der Häuser macht es möglich. (Literaturhaus München, 16.10.) Zum Glück gibt’s die ganz Großen in der gerne wieder weltoffenen Stadt ja auch vor der Haustür. Wenn man sich daran erinnert, in was für einen mönchischen Rückzug sich der mittlerweile hoch betagte, innerlich natürlich jugendliche Ex-Hanser-Verleger Michael Krüger in harten Corona-Zeiten begebenen hatte, Trifft den leisen Ton: ist sein Wiedererscheinen in SALLY ROONEY der Schwabinger Boheme natürlich ein Fest. Mit „Im Wald, im Holzhaus“ stellt er
HÖRBUCH
Gagahood
seinen Gedichtband vor, der in der Quarantäne entstand. Und mit Felicitas von Lovenberg spricht er darüber. (Lyrik Kabinett, 12.10.) Nicht allzu weit fahren muss man, um sogar wieder ins Festivaltreiben zu tauchen – bei „Dachau liest“, wo man sich auf Auftritte von Doris Dörrie, Steffen Kopetzky oder eben Judith Hermann freuen darf. Mit „Sommerhaus, später“ trat sie einst ganz nach vorn. Und auch im neuen Roman „Daheim“ kreist sie wieder ums Künstlerinnendasein, ums Erinnern, um die Melancholie und die schönen Schwebezustände. Günter Keil wird ihr als Moderator Geheimnisse entlocken. (Ludwig-Thoma-Haus, 7.10.) Über die Kulturräume hinweg eine Art Verwandte könnte natürlich auch Sally Rooney sein. Mit „Gespräche mit Freunden“ wurde die Irin zu einer der wichtigsten literarischen Stimmen der Zeit und zu einer Ideengeberin für eine großartige Serie. Nun stellt sie – live zugeschaltet – ihren neuen Roman „Schöne Welt, wo bist du“ vor. (Literaturhaus, 13.10.) Mit „Die Sommer“ sorgte Ronya Othmann beim Ingeborg-Bachmann-
Preis für Aufhorchen und gewann prompt den Publikumspreis. Ihr Romandebüt erzählt vom zerrissenen Leben der Tochter einer Deutschen und eines Kurden. (Pasinger Fabrik, 5.10.) Das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen, hat meist auch der liebenswürdige, latent überforderte und daher leicht trottelige Familienvater, der in den Erfolgsromanen von Jan Weiler gegen „Pubertiere“ antreten muss. Jetzt gibt’s schon einen vierten Band der Saga. (Gleis 1 Unterschleißheim, 7.10.) Von einer Familie, die man sich nicht aussuchen kann, und vor allem von Zeitumständen, die kaum zu ertragen sind, berichtet der kluge Kopf Jo Lendle im Roman „Eine Art Familie“. Bewegend! (Literaturhaus, 6.10.) Und zum Schluss ist man dann ganz daheim, wenn man bei Rita Falk die Beine unter den Tisch streckt. Immerhin steht ein „Rehragout-Rendezvous“ mit der erfolgsverwöhnten, verlässlich witzigen Vielschreiberin der „Eberhofer“Provinzkrimis an. Ach ja: Christian Tramitz ist natürlich auch mit dabei! (Circus Krone, verschoben auf Juni 2022)
rupert sommer
statt als Inhalt einer Schublade, in die sämtliche Klischees und Vorurteile gestopft werden. In knackigen Dialogen pinseln Nadim und Lizzie die Absurditäten eines Lebens in diesem Käfig namens Nahostkonflikt. Nadim: „(…) Bevor ich mein Haus betrete, werde ich von Sicherheitsbeamten durchsucht. Ihr habt vermutlich Angst, dass ich mich selber in die Luft sprenge oder, Gott behüte, euren Messias.“ Lizzie: „Ja, in Jerusalem versammeln sich alle Irren.“ Als Hörspiel gewinnt das Buch, verdichtet sich und kontrastiert die Haltungen mit scharfen Schnitten und weil Stimmen in der Lage sind, so viel mehr Gefühlsnuancen zu transportieren als geschriebene Sprache. Lösungen sind hier nicht wirklich das Ding. Mehr so die verzweifelte Good-Will-Demo. Vielleicht, weil die Autorin sich backstage damit abgefunden hat, auf einer ewigen Culture-Clash-Baustelle zu leben. Oder weil sie sich bewusst ist, wie schwer es allen Beteiligten fällt, die eigene Befangenheit zu überwinden. Oder mit Kafka: „Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“ JONNY RIEDER
— Einige Battles auf diesem Planeten erscheinen Außenstehenden so institutionalisiert, dass sie kaum noch hinterfragt werden. In ihrer Betoniertheit erinnern sie eher an ein religiöses Ritual wie Ramadan oder Schabbat als an nicht enden wollende Kriege wie der zwischen Israelis und Palästinensern. Auch die gut gemeinten Auf-einander-zugeh-Versuche beherzter Individuen und Initiativen rütteln eher dekorativ an der Endlos-Loop-Performance – spätestens seit dem Attentat auf Jitzchak Rabin durch einen jüdisch-orthodoxen Faschisten. In Who the Fuck Is Kafka? versuchen Nadim, ein palästinensisch-israelischer Fotograf und Aktivist aus Ost-Jerusalem, und Lizzie, eine jüdisch-israelische Schriftstellerin aus Tel Aviv gemeinsame eine Geschichte zu erzählen. Das Hörspiel nach dem sehr realitätsgemästeten Roman von Lizzie Doron folgt dem universellen „Fuck“-imTitel-sells-Trend. Zugleich punktlandet der Titel das beidseitige Unvermögen, jeweils die eigene „Weh mir!“-Perspektive zu verlassen und sich ebenso als Urheber des Leids der an- Lizzie Doron: Who the Fuck Is Kafka? Hörspiel von Andrea deren Seite zu verstehen. Auch weil es Vertretern keiner Getto mit Corinna Kirchhoff, Felix Knopp u. a., NDR 2016, Seite gelingt, den anderen als Individuum zu betrachten 1 CD, ca. 70 Min., www.der-audio-verlag.de 46