2 minute read

Gelesen, Gesehen

Der Stoff, aus dem wir sind

Mit diesem Buch will Fabian Scheidler den dunklen „Schleier, den die technokratische Ideologie über die Welt und das menschliche Dasein geworfen hat“, lüften und damit die tödliche Logik hinter Klima- und Umweltkatastrophe freilegen.

Advertisement

Dazu entführt er seine Leser*innen auf eine Exkursion in 400 Jahre Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften und der Zivilisation, nicht trocken Wissenschaftsgeschichte, immer gespickt mit praktischen Beispielen. Faszinierend knapp zwei Seiten zu Corona, in denen er den Natur-fressenden Raubbau des Menschen überzeugend als maßgeblich für die Ausbreitung solcher Pandemien skizziert.

Der Stoff, aus dem der Schleier ist, setzt sich zusammen aus einem mechanistischen Weltbild und Herrschaft des Geldes. Am Beginn der 400 Jahre steht der Versuch vor allem der Physik, zu zeigen, dass die Natur berechenbaren – und beherrschbaren – Gesetzen folgt. Vorherrschend wird das Bild einer Lego-Welt mit beliebig austauschbaren und neuer Nutzung zuzuführenden Bausteinen, die Natur als bloßes Objekt. Und zeitgleich die Entstehung es kapitalistischen Weltsystems mit Eröffnung der ersten Aktiengesellschaft und der ersten dauerhaften Wertpapierbörse.

Inzwischen hat die Verbindung von endloser Geldvermehrung, staatlichem Expansionsdrang und rasanter technischer Entwicklung die kapitalistische „Megamaschine“ zum dynamischsten und aggressivsten System der Weltgeschichte gemacht. Rational und wissenschaftlich begründet ist das alles mitnichten. Vor knapp hundert Jahren wurde durch die Erkenntnisse der Quantenphysik und der modernen Biologie die Idee einer Welt als zusammensetzbarer maschinenartiger Existenz widerlegt. Zum Vorschein gekommen ist eine Welt, die „ein unauftrennbares Gewebe ist, in dem es keine Einzelteile, sondern nur Beziehungen“ gibt, eine Welt, die auf Verbundenheit, Selbstorganisation, Empathie und Kreativität beruht. Gesellschaftliches Leben, das der Katastrophe etwas entgegensetzen will, muss diese Beziehungen durch einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft teilen. Eine sehr lohnende, spannend vielseitig Lektüre.

Fabian Scheidler: Der Stoff, aus dem wir sind. Piper Verlag, München 2021, 304 S., gebundene Ausgabe 20,- €, ISBN 9783492070607

Hommage an Hans-Peter Dürr

Im Mai 2021 zeigte das International Uranium Filmfestival mit Unterstützung des Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro 34 „atomare“ Filme und machte sie kostenlos online zugänglich.

Schwerpunkt dabei war eine Retrospektive der besonders relevanten Filmen der letzten Jahre. Brasilien- und Lateinamerika-Premiere feierte Claus Biegerts Film „Vom Sinn des Ganzen: Das Netz des Physikers Hans-Peter Dürr“. Am 15. Oktober 2020 war der Dokumentarstreifen Eröffnungsfilm des 10. International Uranium Film Festvals in Berlin.

Der Physiker Hans-Peter Dürr (1929-2014), Nachfolger von Werner Heisenberg am Max-Planck-Institut in München, lebte im Spannungsfeld zwischen den Physikern Edward Teller und Josef Rotblat. Teller und Rotblat gehörten zum „Manhattan Project“ in Los Alamos, wo unter der Leitung von Robert Oppenheimer jene Bomben konstruiert wurden, mit denen die USA 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Beide gingen entgegengesetzte Wege: Teller wurde als „Vater der Wasserstoffbombe“ bekannt, Rotblat erhielt den Friedensnobelpreis für die Gründung der „Pugwash-Bewegung“. Dazwischen steht Dürr: Als Doktorand bei Teller, ohne dessen Hintergründe zu kennen, später glühender Verehrer von Rotblat und Anhänger von Pugwash. Von Werner Heisenberg zum Nachfolger ernannt, leitet er das Max-Planck-Institut für Astrophysik und mischt gleichzeitig in der Friedensbewegung mit. Er macht sich Feinde - und viele neue Freunde.

Hans-Peter Dürr stand der deutschen IPPNW sehr nahe, war unserem Gründungsmitglied Horst-Eberhard Richter sehr verbunden und hielt Vorträge auf unseren Friedenskongressen. Zu Wort kommt in dem Film auch die IPPNW-Vorsitzende Angelika Claußen. Claus Biegert ist Journalist, Filmemacher und Autor. Er hat mit seinen Werken die Umwelt- und die Anti-Atombewegung unterstützt. Beim World Uranium Hearing 1992 in Salzburg war er Mitbegründer des „Nuclear Free Future Award“, den die IPPNW seit Jahren unterstützt.

Claus Biegert: Vom Sinn des Ganzen: Das Netz des Physikers Hans-Peter Dürr, Deutschland 2020. www.biegert-film.de, freier Zugang zum Uraniumfilmfestival unter: https://vimeo.com/showcase/uranium2021

This article is from: