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Machtambitionen und Konkursverschleppung

Der Kampf um Rohstoffe und ökonomische Kontrolle in Afghanistan

Maximal sechs Monate sollte der Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ursprünglich dauern, als er Ende 2001 im Bundestag beschlossen wurde. Wenn ich im Folgenden von einer Intervention schreibe, dann meine ich damit Krieg, Besatzung und neokoloniale Neuordnung des Landes. An dieser Intervention waren teilweise über 10.000 Bundeswehrsoldaten – und auch einige wenige Soldatinnen – beteiligt. In diesen 20 Jahren kamen etwa 185.000 Zivilistinnen und Zivilisten im Kontext von bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben, ebenso 66.000 afghanische Soldaten und Polizisten. 2,7 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind weltweit auf der Flucht – Millionen mehr suchen im eigenen Land nach einer neuen Heimat. Diese nackten Zahlen geben einen Hinweis auf das kolossale Versagen der westlich Invasoren. Um die Menschen in Afghanistan ging es dabei nie, sondern um die Interessen derjenigen, die versuchten, das Land zu kontrollieren. Im Folgenden sollen die Interessen der NATO-Kriegsallianz nachgezeichnet werden. Wobei die Motivation zum Beginn der Intervention nicht identisch war mit der Motivation im Land zu bleiben, obwohl die Erreichung der ursprünglichen Ziele zunehmend unrealistisch wurde.

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Warum Afghanistan?

Bei der Frage nach Kriegsgründen liegt man mit den Klassikern „Öl und Gas“ oft richtig. Auch in Bezug auf Afghanistan lagen die Motive für eine militärische Intervention schon Monate vor dem 11. September 2001 in der Schublade. Spätestens als die Taliban im Juli 2001 die Bedingungen der USA für den Bau einer Gas-Pipeline aus Turkmenistan durch Afghanistan und an den indischen Ozean definitiv ablehnten, lag die Option einer militärischen Intervention in den Schubladen des Pentagon bereit. Der Gedanke, strategische Pipelineprojekte und die politische Landkarte mit militärischen Mitteln in Einklang zu bringen, war nicht neu und wurde im Jahr 1998 pointiert von Bill Richardson, dem Energieminister Bill Clintons, formuliert: „Wir haben massive politische Investitionen in der kaspischen Region getätigt und es ist uns sehr wichtig, dass sowohl die Pipeline-Landkarte als auch die politische Landkarte aufeinander passen.“ Zu diesem Zeitpunkt galten die Taliban noch als Garanten der US-Interessen in der Region und wurden entsprechend unterstützt, so dass sie im Jahr 2000 fast das gesamte afghanische Territorium unter ihre Kontrolle bringen konnten. Doch ein Pipeline-Projekt, das zur Stationierung von US-Truppen im eigenen Land führen würde, war für die Taliban inakzeptabel. Damit war der Weg vom Verbündeten zum Feinden ein kurzer.

Doch nicht nur in Bezug auf die Rohstoffe des fossilen Zeitalters ist Afghanistan für Großmächte interessant, sondern auch für die zunehmend wirtschaftliche relevante Elektromobilität und den gesamten Bereich der Informationstechnologien. Afghanistan ist generell reich an Rohstoffen, wie der Spiegel am 14. Juni 2010 zusammenfasste. Die „Vorräte an Kupfer, Lithium, Eisen, Gold und Kobalt reichen aus, um das von Kriegen und Bürgerkriegen zerstörte Land zu einem der weltweit führenden Rohstoffexporteure zu machen.“ Alleine 700 Millionen Tonnen Erze werden in der Mine Aynak vermutet, mehr an anderen Standorten. Welche politische Dimension dies hat, macht ein Pentagon-Memo klar, das die New York Times ebenfalls 2010 veröffentlichte. Nach diesem hat Afghanistan das Potential, „das Saudi-Arabien des Lithiums“ zu werden.

Neoliberales Experimentierfeld

Um die afghanischen Rohstoffe, aber auch das sonstige ökonomische Potential Afghanistans für internationale Unternehmen nutzbar zu machen, musste die Wirtschaftsgesetzgebung des Landes angepasst werden. Die deutsche Regierung hatte bei der Gestaltung des neuen afghanischen Staatswesens von Anfang mitgemischt. Das begann bereits bei den Petersberger Geprächen Ende 2001, bei denen Hamid Karsai zum Staatschefs des Landes auserkoren wurde. Damit demonstrierte die damalige rot-grüne Regierung unter Schröder und Fischer auch den weltpolitischen Gestaltungsanspruch Deutschlands. Eher unbemerkt von der breiteren Öffentlichkeit wurde dann in Berlin als Teil der „Entwicklungshilfe“ die neue Wirtschaftsordnung Afghanistans ausgestaltet und Afghanistan wurde zu einem Experimentierfeld für neoliberale Reformen. Dadurch konnten internationale Konzerne, ihre Gewinne aus Afghanistan zu 100% aus dem Land transferieren und öffentliche Unternehmen wurden privatisiert.

Neben allen ökonomischen Erwägungen ist Afghanistan schon seit Jahrhunderten für Großmächte interessant aufgrund seiner geostrategischen Lage. So versuchte Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert immer wieder vergeblich das Land unter seine Kontrolle zu bekommen und auch Nazi-Deutschland entsandte Spezialkräften im Zweiten Weltkrieg, um die dortige Bevölkerung gegen Britisch-Indien in Stellung zu bringen. Die Nähe Afghanistans zu Russland, Indien und China, aber auch seine unmittelbare Nachbarschaft zum Iran, machen es auch heute attraktiv, dieses Land als Ausgangsbasis für die Kontrolle der weiteren Region nutzen zu können.

Konkursverschleppung

Doch dass die Kontrolle Afghanistans auch der NATO nicht gelingen würde, war bald absehbar. So wies der US-Geheimdienstkoordinator 2008 darauf hin, dass nur etwa 30 Prozent Afghanistans unter der fragilen Kontrolle der Karzai-Regierung stünden, 10 Prozent würden von Taliban-Formationen kontrolliert und die restlichen 60 Prozent durch diverse lokale Machthaber. Die militärische Bekämpfung dieser oppositionellen Kräfte etwa durch Drohnenangriffe und nächtliche Überfälle kostete unzählige zivile Opfer und die vom Westen eingesetzten afghanischen Machthaber waren sichtbar korrupt und mindestens teilweise in kriminelle Netze verstrickt. Die Frustration, Trauer und Wut in der afghanischen Bevölkerung wuchsen, so dass Talibankräfte, aber auch Vertreter des sogenannten Islamischen Staates, die zuvor in Afghanistan nicht relevant waren, zunehmend Fuß fassen konnten.

Warum dauerte der Abzug der NATO-Truppen aus Afghanistan noch bis 2021, wenn doch schon mehr als zehn Jahre zuvor absehbar war, dass die Intervention gescheitert ist? Die politische Konkursverschleppung hatte mehrere Ursachen. So ging es um den befürchteten Verlust von „Glaubwürdigkeit“, um die Angst, dann keine Begründung mehr für weitere Aufrüstung zu haben (Stichwort: Zwei-Prozent-Ziel der NATO). Weitere Militäroperationen wie in Mali oder Libyen wären politisch schwerer durchsetzbar gewesen. Schlussendlich war es nicht so einfach die eigene Erzählung vom Einsatz für Demokratie und Frauenrechte als gescheitert zu erklären. FRIEDENS- UND KLIMABEWEGUNG GEHÖREN ZUSAMMEN: XR PEACE BLOCKIERT DIE ATOMWAFFEN IN FARSLANE, SCHOTTLAND (05/2021).

UNTERKÜNFTE FÜR AFGHANISCHE BINNENFLÜCHTLINGE IN MAZAR-I-SHARIF.

Verlierer und Gewinner

20 Jahre NATO-Intervention führten zu Verlierern auf allen Seiten, bei der Bevölkerung des Landes, aber auch bei den truppenstellenden Ländern. Zu den wenigen echten Profiteuren der NATO-Intervention gegen Afghanistan und des sogenannten „Krieges gegen den Terror“ gehört die Rüstungsindustrie. Nachdem diese in den 1990er Jahre zunehmend weniger Nachfrage verzeichnete, steigerten sich die Rüstungsausgaben global nach dem Jahr 2000 drastisch. Sie wuchsen von etwas über 1.000 Milliarden Dollar auf fast 2.000 Milliarden Dollar im Jahr 2021. Davon profitierte auch die deutsche Rüstungsindustrie und die Bundeswehr konnte in 20 Jahren Afghanistan-Präsenz zu einer „Armee im Einsatz“ umgebaut werden. Nachdem anfänglich noch ein deutscher Präsident wegen allzu offener Worte über den Kampf für deutsche Interessen in Afghanistan zurücktreten musste, gibt es zwischenzeitlich zwar immer noch keine Militärbegeisterung in Deutschland, aber eine Gewöhnung daran, das Militär zur „Lösung“ internationaler politischer Probleme einzusetzen. Die Normalisierung von Militär als Mittel der Außenpolitik ist eine gefährliche Entwicklung. Die Gefahr der Eskalation steigt, zumeist werden reaktionäre Kräfte nicht geschwächt, sondern gestärkt, und zivile Opfer bezahlen den Preis für kurzsichtige Machtpolitik. Aber vor allem verstellt die militärische Option den Blick auf das wirklich Nötige. Es ist jetzt überlebensnotwendig, die Menschen in Afghanistan mit humanitärer Hilfe zu unterstützen, sonst überstehen Millionen von ihnen den Winter nicht. Die Geflüchteten auf dem Weg nach Europa (egal ob auf dem Balkan oder an der polnischen Grenze) brauchen Zuflucht und die Evakuierung aus Afghanistan ist schon seit längerem wieder zivil möglich. Doch gab es bisher genau einen zivilen Rettungsflug nach Deutschland. Es ist höchste Zeit, endlich die Menschen in Afghanistan in den Mittelpunkt zu stellen – mit ziviler Kooperation.

Claudia Haydt ist Mitglied im Vorstand der Informationsstelle Militarisierung (IMI e.V.), die sich seit 25 Jahren kritisch mit der deutschen Militärpolitik auseinandersetzt.

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