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Gelesen, Gesehen

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„Das staatliche Gesundheitswesen ist bereits zusammengebrochen“

Interview mit dem afghanischen Arzt Ataullah Zulfacar

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Das afghanische Gesundheitssystem ist kollabiert, berichtet der Internist und Notfallmediziner Ataullah Zulfacar. Seit 1983 setzt er sich mit dem von ihm mitbegründeten Ärzteverein für Afghanische Flüchtlinge für die Gesundheitsversorgung in der krisengeplagten Region ein. Auch jetzt versucht die Initiative vor Ort Binnenflüchtlinge im Osten und Norden Afghanistans zu versorgen.

Was sind aus Ihrer Sicht derzeit die drängendsten Probleme im Gesundheitswesen in Afghanistan?

Die Lage ist katastrophal. Sie war noch nie wirklich gut, aber in den letzten 20 Jahren hat es durchaus Verbesserungen gegeben, vor allem im Vergleich zu vor 2003, bevor die ISAF (Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe) ihre Arbeit aufgenommen hat.

Nun steht das gesamte Gesundheitssystem vor einem Kollaps. Da alle internationalen Gelder gestoppt wurden, seit die Taliban wieder an der Macht sind, ist der gesamte Geldfluss quasi zum Erliegen gekommen. Es herrscht extreme Armut, aufgrund von Dürren in diesem Sommer ist die Versorgung mit Nahrungsmitteln schlecht und COVID-19 grassiert. Die Reserven an Medikamenten und medizinischer Ausrüstung gehen zur Neige. Humanitäre Hilfe ist dringend notwendig, wenn nicht über staatliche Zuwendungen, dann über Spenden für Hilfsorganisationen, die noch im Land sind.

Welche Möglichkeiten haben Kranke derzeit überhaupt noch?

Bislang war die Behandlung bei Krankheiten in staatlichen Einrichtungen in der Theorie eigentlich frei. In der Praxis stimmte das nicht, man musste meist trotzdem etwas zahlen oder gute Beziehungen haben, um zum Beispiel ein Bett im Krankenhaus zu bekommen. Schon Monate vor der Machtübernahme haben die dort tätigen Gesundheitsmitarbeitenden ihr Geld nicht mehr bekommen. Nun gibt es zusätzlich eine große Fluchtbewegung unter den gebildeten Menschen, darunter auch viel medizinisches Personal. Das staatliche Gesundheitswesen ist also bereits zusammengebrochen. Bei privaten Einrichtungen lief es schon vorher besser und sie sind auch jetzt die letzte verbliebene Möglichkeit, hier ist noch alles einigermaßen intakt.

Während der letzten Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 war Frauen und Mädchen jeglicher Kontakt zu fremden Männern verboten. Sie durften also auch keinen Arzt aufsuchen. Zusätzlich war Frauen unter den Taliban eine Schul- und Ausbildung verboten, es gab also auch kein weibliches Gesundheitspersonal. Wie ist die Situation jetzt?

Besonders die Sterblichkeit von Schwangeren und Kindern war in den letzten 20 Jahren zurückgegangen, jetzt steigt sie wieder deutlich, denn die Frauen haben Angst. Für Krankenschwestern und Hebammen gibt es nach unseren Informationen aktuell keine Restriktionen durch die Taliban.

Auch in unserem Hilfsprojekt in Nord-Afghanistan arbeiten Hebammen mit. Wir haben uns bei den für diesen Bereich zuständigen Taliban erkundigt und uns eine Erlaubnis eingeholt, dass auch die weiblichen Helferinnen weiterarbeiten dürfen. Auch das Ausbildungsprogramm für Hebammen soll weitergeführt werden, es dauert zwei bis vier Jahre.

MASAR I-SHARIF: AFAF VERSORGT BINNEN FLÜCHTLINGE IN EINER MOBILEN KLINIK.

Vorrausetzung ist, dass auch die Lehrerinnen weiblich sind, auch bei der Ausbildung soll es eine strikte Trennung von Männern und Frauen geben. Theoretisch wäre die dringendste Versorgung damit gewährleistet. Das Problem ist, dass es nur noch private Ausbildungsstätten gibt, die nur von Leuten mit Geld bezahlt werden können. Viele sind deshalb nicht mehr in der Lage ihre Töchter auf diese Schulen zu schicken.

Ein Beispiel ist auch das Kawun-Institut in der Provinz Balkh, eine privaten Hochschule: Hier machen derzeit 300 junge Afghaninnen eine Hebammenausbildung, die im Jahr ca 200 Euro kostet. Derzeit suchen wir Pat*innen für das Projekt, da 150 der jungen Frauen wegen der Armut der Familien das Studium nicht fortsetzen können, obwohl die Uni die Gebühren um die Hälfte reduziert hat. Unsere Organisation hat zugesagt, für Studentinnen, die im letzten Ausbildungsjahr sind, die Gebühren zu übernehmen, damit sie ihren Abschluss machen und ihre Familien ernähren können. An den staatlichen Einrichtungen ist die Lage deutlich schlechter. Auch dort hieß es, dass die Frauen weiterarbeiten dürfen, doch viele gehen nicht, denn sie haben Todesangst.

Wo versucht ihr Verein sonst noch zu helfen?

Wir arbeiten an verschiedenen Stellen. Im Osten des Landes betreiben wir eine Tagesklinik und eine Schule. Das Zentrum soll noch um ein zahnmedizinisches Zentrum erweitert werden. Mit Einverständnis der Taliban betreiben wir zudem ein Hebammenprogramm. Im Norden betreiben wir eine mobile Klinik mit einem Arzt, einer Hebamme und einem Chauffeur, der die nötige Gerätschaft in einem Minibus transportiert.

Zwei bis drei Mal die Woche fährt der Bus 30 Kilometer, die Helfer versorgen 70 bis 100 Leute an einem Tag, etwa 40.000 Flüchtlinge verteilt auf acht Camps. Neben akuter Hilfe versuchen sie dabei auch zu erklären, wie man sich vor Covid-19 schützen kann und demonstrieren Hygienemaßnahmen. Insgesamt halten sich mittlerweile rund 140.000 Flüchtlinge im Norden auf. BAU NEUER UNTERKÜNFTE

Sie konnten also relativ schnell eine medizinische NotInfrastruktur schaffen?

Wir hatten uns schon im vergangenen Jahr hier engagiert, weil auch die während der NATO-Zeit gewählte Regierung es nicht geschafft hat, die Menschen hier zu versorgen. Regierungsbeteiligte haben sich an internationalen Hilfen bereichert, es gab viel Korruption. Das Vertrauen in die Regierung war so gering, dass sich die Bevölkerung kaum zur Wehr gesetzt hat, als die Taliban die Macht wiederergriffen haben. Die Taliban agieren barbarisch und dennoch haben einige die Hoffnung, dass es unter ihnen gerechter zugehen könnte.

Viele haben aber auch Angst um ihr Leben. Die Zahl der Binnenflüchtlinge hat in diesem Jahr drastisch zugenommen, viele fliehen aus der Region um Kabul und den anderen großen Städten, wo es jetzt wieder vermehrt Anschläge gibt.

Weitere Informationen: http://www.afghandoctor.org Bei Interesse an einer Mitarbeit im Verein kontaktieren Sie bitte Ataullah Zulfacar unter: zulfacar@web.de

Das Interview erschien am 10. November 2021 im Deutschen Ärzteblatt. (Leichte Ergänzungen haben wir bei Frage drei vorgenommen.) Abruck mit freundlicher Genehmigung des DÄ.

Ataullah Zulfacar ist Mitbegründer des Ärztevereins für afghanische Flüchtlinge.

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