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Gelesen, Gesehen
Patient Gesundheitswesen
Über 60 Jahre hinweg konnte Gertraude Ralle sowohl das Gesundheitswesen der ehemaligen DDR als auch in der Bundesrepublik beobachten.
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In ihrer Funktion als leitende Ärztin zweier autonomer psychiatrischer Tageskliniken bekommt die Autorin ab dem Ende der 80er Jahre hautnah mit, wie die Verhandlungen mit den Kostenträgern allmählich immer schwieriger werden, kaum mehr Kompromisse im Patienteninteresse ausgehandelt werden können und wie die angeblich unvermeidlichen Sparzwänge die Leistungserbringer quasi zu „Befehlsempfängern“ werden lassen. Ralle erlebt, wie sich die Qualität der Arbeit unter dem Deckmantel von „Qualitätssicherungsmaßnahmen“ zunehmend verschlechtert, und wie ab 1991 die Hoffnung auf eine bedarfsgerechte Versorgung durch die Psychiatrie-Personalverordnung enttäuscht wird, da sie nicht in die Praxis umgesetzt wird. Stattdessen gab es ein neues Vergütungssystem (PEPP), das die Versorgung nicht verbessert, dafür aber zusätzliche Arbeitsplätze für Codierfachkräfte notwendig macht. Den letzten Ausschlag, das vorliegende Buch zu schreiben, gibt dann ein eigener Krankenhausaufenthalt. „Was ich in dieser einen Woche an Missständen erlebte, überstieg alle meine Vorstellungen.“
Ihre bisherige Beurteilung der Fehlentwicklungen des Gesundheitswesens, schnell beschrieben als Ökonomisierung und Kommerzialisierung, genügt ihr seit dieser Erfahrung nicht mehr. Das Buch ist der Versuch, Zusammenhänge, Fehlentwicklungen und dahinter stehende Ideologien aufzuspüren, genauer zu verstehen und Hinweise zu geben, in welcher Richtung notwendige Lösungsstrategien liegen müssten. Im Kontext gesellschaftlicher und soziokultureller Fehlentwicklungen wird beschrieben, wie sehr das Gesundheitswesen seinem eigentlichen Auftrag inzwischen entfremdet ist. Besonders gravierend ist der Verlust einer angemessenen Arzt-Patienten-Beziehung. Die ökonomische Bedeutung der Medizin hat ihre heilende Funktion so weit verdrängt, „dass die Medizin heute stärker im Dienst der Wirtschaft steht als umgekehrt.“
Dieses Buch ist allen Menschen zu empfehlen, denen eine Richtungsänderung des Gesundheitswesens am Herzen liegt. Über Zusammenhänge, Strukturen und Akteure informiert es mit großer Genauigkeit und gründlicher Recherche.
Gertraude Ralle: Damit Krankheit nicht heillos verwaltet wird. Plädoyer für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen. BüchnerVerlag, Marburg, 222 S., 24,- €, ISBN: 978-3-96317-269-4
Renate Schernus
Terror durch Todesengel
Der Journalist Emran Feroz schreibt als Nahost- und Zentralasienexperte unter anderem für die Zeit, die taz, Al Jazeera und die New York Times.
Die IPPNW hatte ihn als Referenten zum Online-Hearing „Eurodrohne und FCAS“ eingeladen. Auch ein Kapitel von Feroz‘ neuem Buch „Der längste Krieg“ ist dem Drohnenkrieg gewidmet, der in Afghanistan begann und endete. Die USA seien so aus Afghanistan abgezogen wie sie eingezogen seien, nämlich mit einem Drohnenangriff, der in erster Linie afghanische Zivilist*innen getötet habe. In dem Abschnitt „Terror durch Todesengel“ schildert er, dass keine der prominenten „Zielpersonen“ bei einem US-Drohnenangriff getötet wurden. Nur zwei Beispiele: Der Taliban-Chef Mullah Omar starb 2013 eines natürlichen Todes, Osama bin Laden wurde 2011 durch eine US-Spezialeinheit getötet. Demgegenüber standen 13.000 Drohnenangriffe allein zwischen Januar 2015 und Dezember 2019, bei denen zwischen 4.000 und 10.000 Afghan*innen getötet worden sind. Das sei einer der Gründe, warum die USA und die Sowjetunion von vielen Afghan*innen gleichermaßen als Feinde und Besatzer wahrgenommen wurden.
Der Autor schildert in dem Buch den sowjetischen Krieg und beschreibt, wie die intellektuelle Elite des Landes durch den afghanisch-kommunistischen Geheimdienst systematisch verschleppt, gefoltert und ermordet wurde. Anschließend erzählt der Autor, wie es zur militärischen Intervention des Jahres 2001 kam und wie der Westen Kriegsverbrecher und Kriminelle aus der Zeit der sowjetischen Intervention finanziell und ideologisch unterstützte. „Man hat keineswegs demokratische Institutionen gefördert, sondern in erster Linie eine Kleptokratie errichtet.“
Feroz berichtet über Drohnenangriffe auf Hochzeiten, beschreibt, wie australische Soldat*innen zum Vergnügen Zivilist*innen jagten, erinnert an die Bombardierung eines Krankenhauses von Ärzte ohne Grenzen durch das US-Militär oder die Neueröffnung des kommunistischen Foltergefängnisses in Bagram durch die CIA als amerikanisches Militärgefängnis. Am Ende kommt er zu einem vernichtenden Urteil: Seit 2001 herrscht in Afghanistan ein korruptes Regime, das zum Großteil aus brutalen Warlords und Kriegsverbrechern besteht und westliche Hilfsgelder ins Ausland schafft. Ein lesenswertes Buch.
Emran Feroz: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror, Westend, Köln 2021, 223 S., 18,- €, ISBN 978-3-86489-328-5
Angelika Wilmen