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Hyperschallkriege
Eine neue Ära des militärischen Wettrüstens?
Die britische Zeitung The Sun veröffentlichte am 21. November 2021 eine Grafik, auf der eine Mittelstreckenrakete aus Deutschland Moskau in einem „Blitzkrieg“ angreift. „Die Rakete kann Russland in 21 Minuten und 30 Sekunden treffen“, titelte das Boulevardblatt reißerisch. Als Abflugort der Rakete „Dark Eagle“ war das 56. US-Artillerie-Kommando in Mainz-Kastel angegeben.
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Der russische Präsident Wladmir Putin argumentierte auf seiner Jahrespressekonferenz am 10. Januar 2022: Sollten in der Ukraine moderne Angriffssysteme stationiert werden, bräuchten die Raketen keine fünf Minuten mehr bis Moskau. Er fragte wörtlich: „Was daran ist nicht zu verstehen? Stationieren wir etwa Raketen an den Grenzen zu den Vereinigten Staaten?. [...] Ist es wirklich übertrieben, zu fordern, dass vor unserem Haus keine weiteren Angriffswaffen aufgestellt werden?“
Hyperschallwaffen werden zunächst mit einer Rakete gestartet, treten dann aber sofort einen Sinkflug an und steuern ihr einprogrammiertes Ziel an der Grenze zwischen dem offenen Weltraum und der Erdatmosphäre an. Als wesentlicher militärischer Vorteil gilt die hohe Geschwindigkeit, die der Waffe ihren Namen gibt, und dass sie von konventionellen Raketenabwehrsystemen nicht erkannt werden können. Außerdem seien sie im Unterschied zu ballistischen Raketen noch bis in die letzte Phase des Fluges steuerbar. Angekündigt sind russische „Zirkon“-Raketen für die Marine ab 2022, landgestützte Raketen der USA vom Typ „Dark Eagle“ für 2023. Auch China soll bei der Entwicklung von Hyperschallwaffen weiter sein als die USA. Allerdings: Beim Sinkflug entstehen enorme Temperaturen, die die Waffen für Infrarotsensoren von Abwehrsatelliten sichtbar machen.
Im Oktober letzten Jahres soll Russland zum ersten Mal eine Hyperschallrakete von einem U-Boot aus abgefeuert haben. Der Test in der Barentssee sei erfolgreich verlaufen. Eine Rakete vom Typ „Zirkon“ wurde von einem Atom-U-Boot gestartet, das sich über Wasser befand. Im Dezember meldeten russische Medien, dass die Marine erstmals einen Salvenabschuss mehrerer Raketen vom Typ „Zirkon“ erfolgreich durchgeführt habe.
Im Februar 2020 waren die russischen Hyperschallwaffen Thema beim Treffen der NATO-Außenminister. Medien meldeten, am Rande der Zusammenkunft sei beklagt worden, die Raketenabwehr des Militärbündnisses könne die Luft-Boden-Rakete „Kinschal“, die wohl zehnfache Schallgeschwindigkeit erreiche, nicht unschädlich machen. Das gelte erst recht für den Hyperschallgleiter „Awangard“, der mit mehr als zwanzigfacher Schallgeschwindigkeit fliege und sich dabei auch noch in Wellenbewegungen fortbewegen könne. Im Dezember 2019 hätte Russland eine erste Raketeneinheit mit neuen „Awangard“-Gleitern ausgestattet. Die Vereinigten Staaten hätten ihnen bislang nichts entgegenzusetzen.
Diese Entwicklung hat einen längeren Vorlauf: So haben die USA im Februar 2019 ihren Ausstieg aus dem INF-Vertrag zum Verbot landgestützter atomarer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern bekanntgegeben – nach einer sechsmonatigen Übergangsfrist ist das Abkommen im August 2019 ausgelaufen.
Bereits 15 Jahre vorher, nämlich 2004, hatten die USA mit Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die Entwicklung von Hyperschallwaffen beschlossen. Die Initiative zielte auf den Ausbau militärischer Dominanz: Flugkörper mit einem Vielfachen derSchallgeschwindigkeit würden es der US-Luftwaffe ermöglichen, jedes Ziel in der Welt innerhalb von zwei Stunden anzugreifen. Der Name des Projekts: „Falcon“. Schon damals gab es Skepsis, nach jahrelangen Experimenten mit wiederholten Fehlschlägen. Unter anderem war ein australischer Hyperschalljet abgestürzt, an dessen Bau sich auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt beteiligt hatte.
Die US-Hyperschallrakete „Dark Eagle“, die angeblich ab 2023 in Europa stationiert werden soll, ist landgestützt. Die Raketen befinden sich in einem Container auf einem LKW; in der Rakete sitzt der Wiedereintrittskörper bzw. Marschflugkörper mit Sprengsatz. Die Homepage der US-Armee meldete die Reaktivie-
rung des 56. Artilleriekommandos und seine Stationierung in Mainz-Kastel. Andrew Eversdon schrieb dazu am 4. November 2021 in einem Artikel auf Breaking Defense: „Die US-Armee hat ihr European Theater Fires Command offiziell reaktiviert und bereitet sich auf die Einführung neuer, weitreichender Angriffsfähigkeiten vor, nachdem sie sich von langjährigen vertraglichen Beschränkungen befreit hat“. Das 56. Artilleriekommando werde den Einsatz von „Multi-Domain-Feuern und -effekten“ planen und koordinieren, um die US-Armee in Europa und Afrika sowie alle kombinierten Landkomponentenkommandos der Streitkräfte zu unterstützen. Das Hauptaugenmerk der Einheit werde auf der Koordinierung von Langstreckenraketen liegen, die weit über die Entfernungen hinausgehen, die die Armee in den letzten Jahrzehnten abgefeuert habe. Die Streitkräfte würden drei Raketen mit verschiedenen Reichweiten entwickeln, das „Precision Strike Missile“ für eine Reichweite von bis zu 499 Kilometern, eine Zahl, die noch vor dem Ausstieg aus dem INF-Vertrag festgelegt wurde. Die Mid-Range Capability werde eine Reichweite von 1.000 Meilen haben und die LongRange-Hyperschallwaffe „Dark Eagle“ ziele auf 1.725 Meilen ab. Alle drei Waffen sollten im Jahr 2023 als Prototypen zum Einsatz kommen.
Bob Strider, der stellvertretende Leiter des Army Hypersonic Project Office, erklärte im August 2021: „Wir sind sehr, sehr zuversichtlich, dass wir unseren Einsatztermin 2023 einhalten werden.“ Er betonte, dass die Ausrüstung am derzeit nicht bekannt gegebenen Einsatzort im September vorhanden sein sollte. Die US-Armee und der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages Hans-Peter Bartels (SPD) streiten eine geplante Stationierung von Hyperschallraketen in Mainz-Kastel ab. Die Reaktivierung des 56. Artilleriekommandos sei lediglich ein Zeichen der Abschreckung in Richtung Russland, so Bartels. Auch das Auswärtige Amt äußerte sich am 12. Januar 2022 zu möglichen Raketenplänen der US-Regierung in Wiesbaden. Eine Sprecherin erklärte, die Bundesregierung habe von der US-Regierung die Auskunft erhalten, dass diese keine Pläne hege, Raketensysteme in Wiesbaden zu stationieren. Bartels sagt, dass eine mögliche Stationierung von Hyperschallwaffen in Deutschland von deutschen Stellen genehmigt werden müsse. Gegen diese Aussagen spricht jedoch, dass bereits im September 2021 in Mainz-Kastel eine sogenannte „Second MultiDomain Task Force“ installiert wurde. In einem Papier der USArmeeseite vom 16. März 2021 wird die Arbeit einer solchen
Einheit detailliert beschrieben. Dort findet sich auch eine Grafik, in der beschrieben wird, dass einer „Multi-Domain Task Force“ Hyperschallwaffen unterstellt sind. Die Entwicklung von Hyperschallwaffen ist Realität. Michael T. Klare, Verteidigungsexperte und Korrespondent von The Nation sowie emeritierter Professor für Friedens- und Weltsicherheitsstudien schreibt, dass die Stationierung dieser Einheiten und Raketen tiefgreifende Auswirkungen auf die zukünftige Kampfumgebung in Europa hätte. Während derzeit auf jeden militärischen Zusammenstoß eine allmähliche Erhöhung des Kampftempos folgen würde, was Krisengespräche und Deeskalation ermöglicht, würden militärische Begegnungen zukünftig fast sofort von intensiven US-Luft- und Raketenangriffen auf feindliche Schlüsselanlagen begleitet, die darauf abzielen, Russlands Kampffähigkeit schnell zu verschlechtern. Die russische Seite würde versuchen, sich gegen solche Angriffe zu verteidigen – soweit sie dazu in der Lage wäre – und eigene ähnliche Operationen durchführen. Solche Gefechte würden voraussichtlich zu einem schnellen Sieg der einen oder anderen Seite führen – oder für die Verliererseite zu einer frühen Entscheidung, Atomwaffen auf dem Schlachtfeld einzusetzen und einen nuklearen Holocaust zu entfachen. „Wir treten in eine neue Ära des militärischen Wettbewerbs mit Russland und China ein, die leicht zu kurzen, aber sehr intensiven und zerstörerischen Konflikten führen könnte – nennen wir sie „Hyperschallkriege“, so Michael T. Klare (The Nation, 20.04.2021).
Mehr Informationen: ippnw.de/bit/ukraine
Ralph Urban ist Mitglied im Vorstand der IPPNW.