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Ukraine: Nein zum Krieg

Diplomatie statt Kriegsvorbereitung

Appell von IPPNW und IALANA

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Russland hat völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen – entgegen unserer Einschätzung in dem folgenden Text. Die Gefahr einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Atomwaffenstaaten wächst. Die IPPNW hatte Anfang Februar zwei Appelle initiiert: Der gemeinsame Aufruf mit IALANA hat 60 prominente Erstunterzeichner*innen und bereits über 4.000 Einzelunterstützer*innen (22.02.2022). Er setzt sich mit den russischen Vertragsentwürfen auseinander und macht konkrete Vorschläge für eine diplomatische Lösung des Konflikts. Der internationale Mediziner-Appell „Kein Krieg in Europa“ wurde mittlerweile in zehn Sprachen übersetzt und von 700 Angehörigen der Gesundheitsberufe unterzeichnet.

In dem aktuell gefährlichen Konflikt zwischen der NATO und Russland fordern wir die Bundesregierung auf, aktiv dazu beizutragen, die Eskalation zu stoppen und eine friedliche Lösung zu suchen. Dabei sollen alle bestehenden wechselseitigen völkerrechtlichen Verpflichtungen genutzt werden, um gegenseitige Sicherheit zu erreichen. Dauerhafte Sicherheit kann nicht gegeneinander, sondern nur miteinander erreicht werden.

Obwohl die Truppenkonzentration bedrohlich wirkt, will Russland erklärtermaßen keinen Krieg, sondern einen Vertrag, der seine Sicherheit gewährleistet und hat dazu zwei detaillierte Entwürfe vorgelegt, die in der Öffentlichkeit allerdings weitgehend unbekannt sind. Einige der Vorschläge enthalten weitgehende Maximalforderungen und Verhandlungsmasse für ein neues europäisches Sicherheitskonzept. Andere Vorschläge in den Vertragsentwürfen für gegenseitige Sicherheitsgarantien zwischen Russland und der NATO sowie zwischen Russland und den USA sind einigungsfähig, z. B. zur Einrichtung von Telefon-Hotlines, für eine wechselseitige Unterrichtung über militärische Übungen und Manöver und die jeweiligen Militärdoktrinen (Art. 2, Vertragsentwurf NATORussland) oder der Vorschlag eines Verbotes einer Stationierung von landgestützten Mittel- und Kurzstreckenraketen in Gebieten, die es ermöglichen, das Gebiet der anderen Vertragsparteien zu erreichen (Art. 5). Weitere zielen auf die Beendigung der nuklearen Teilhabe und den Abzug der US-Atomwaffen aus Europa (Art. 7 des Vertrags mit den USA). Im Artikel 1 heißt es: „Die Vertragsparteien lassen sich in ihren Beziehungen von den Grundsätzen der Zusammenarbeit, der gleichen und unteilbaren Sicherheit leiten. Sie werden ihre Sicherheit (…) nicht auf Kosten der Sicherheit der anderen Vertragsparteien stärken.“ Die Bundesregierung hat eine besondere rechtliche Verpflichtung gegenüber Russland: Am 9. November 1990 haben Kohl und Gorbatschow einen „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“ geschlossen, der unverändert noch gilt. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Gespräche im Sinne dieser Verpflichtungen zu intensivieren. Wichtige einzuhaltende völkerrechtliche Verpflichtungen für die Lösung des aktuellen Konflikts ergeben sich insbesondere aus den Grundsätzen der UN-Charta zur friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Ziff. 3) und zum Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4). Sie folgen auch aus der NATO-RusslandGrundakte vom 27. Mai 1997. Demnach unterliegt die dauerhafte Stationierung von substanziellen Kampftruppen in den neuen NATO-Ländern in der Mitte und im Osten Europas völkervertraglichen Beschränkungen. Die jetzt praktizierte lückenlose Rotation von NATO-Truppen an der NATOOstgrenze unterläuft Verpflichtungen des Abkommens. Zu Recht erinnert Russland an die Formulierung im Schlussbericht des OSZE-Gipfels von 1999 in Istanbul, wonach jeder Teilnehmerstaat bei Änderungen seiner Sicherheitsstrukturen die Rechte aller anderen Staaten achten und seine Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer Staaten festigen wird. Wir appellieren an die Bundesregierung, die anstehenden Verhandlungen mit Respekt und unter Anerkennung der gegenseitigen Sicherheitsinteressen und unter Beachtung der bestehenden Sicherheitssysteme zu führen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Russland seit 1990 zunehmend seine Sicherheit an der Westgrenze durch die NATO bedroht sieht. Der Verzicht auf die Osterweiterung der NATO ist zwar nicht völkerrechtlich bindend vereinbart worden, war aber wiederholt Gegenstand von Gesprächen und Verhandlungen mit Vertretern der russischen Regierung.

Wir fordern die Bundesregierung auf, im folgenden Rahmen zu verhandeln:

» verschärfte Bemühungen, das Waffenstillstandsabkommen Minsk II durchzusetzen und die Parteien davon abzuhalten, die territorialen Streitigkeiten hinsichtlich der Krim und des Donbass militärisch zu beenden.

» Aktivierung aller noch bestehenden Gesprächskanäle zwischen Russland und NATO, um eine friedliche Lösung zu finden, die sowohl westliche als auch russische Sicherheitsbedenken anerkennt.

» Stopp aller Maßnahmen, die gegenwärtig eine militärische Auseinandersetzung befördern. Dazu gehören der Stopp von Waffenlieferungen an die Ukraine, die Beendigung aller Truppenkonzentrationen beidseits der ukrainischen Ostgrenze, die Einrichtung eines Sicherheitsbereichs beiderseits der ukrainischen Ostgrenze, in dem alle Truppenbewegungen ab Divisionsstärke (= 5.000) der Gegenseite vorab gemeldet werden sowie die Unterlassung von Manövern in diesem Sicherheitsbereich.

» rote Telefone insbesondere im Atomwaffenbereich; keine Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa sowie ein beidseitiger Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen.

» Verhandlungen im Rahmen der OSZE über den russischen Vertragsentwurf mit dem Ziel einer europäischen Sicherheitsstruktur und einer Neubestimmung des Verhältnisses Russland-NATO im Geist der früheren Abkommen über gegenseitige Sicherheit.

» Förderung aller Formen des kulturellen Austauschs und persönlicher Kontakte zwischen den Völkern von Russland und Deutschland, die in ihrer großen Mehrheit jeden Krieg in Europa ablehnen, sondern friedlich miteinander leben wollen.

Appell: Kein Krieg in Europa!

Mediziner*innen rufen international zur Diplomatie auf

Mediziner rufen zur Diplomatie auf, um die humanitäre Katastrophe abzuwenden Ärzt*innen sowie andere Gesundheitsfachkräfte in Europa nehmen ihre Verantwortung für präventive Maßnahmen zur Rettung von Leben äußerst ernst. Die Pandemie hat gezeigt, wie sehr sie bereit sind, sich für diese Aufgabe einzusetzen. Derzeit bahn sich in Europa der nächste medizinische Notfall an, den es zu verhindern gilt. Mit den richtigen Maßnahmen können wir einen Krieg – und die humanitäre Katastrophe, die er unweigerlich mit sich bringen wird – abwenden. Dafür muss die Diplomatie einer weiteren Eskalation vorgezogen werden.

Russland ist Teil des europäischen Kontinents und der europäischen Kultur. Als der Kalte Krieg endete und der Warschauer Pakt aufgelöst wurde, hatten die Menschen in ganz Europa große Hoffnungen. Das Versprechen eines geeinten Europas schien möglich. Doch die NATO wurde nicht aufgelöst, und die Beziehungen zwischen Russland auf der einen Seite und der NATO und der EU auf der anderen Seite haben sich in den letzten zwanzig Jahren stetig verschlechtert. Jetzt hat die Beziehung ein akutes Stadium der Feindseligkeit erreicht, welches äußerst besorgniserregend ist. Der völlige Zusammenbruch des Vertrauens in die Rüstungskontrolle und der Rückzug aus Verträgen, wie im Falle der Ukraine, haben die Situation noch verschärft.

Die kostspielige Erweiterung der NATO und die erzwungene Verschiebung der ukrainischen Grenzen haben die Wahrscheinlichkeit gemeinsame Sicherheit oder Frieden zu erreichen nicht verbessert. Die Aufrechterhaltung der Streitkräfte und die Fortsetzung des Wettrüstens sind sowohl für Europa als auch für Russland mit hohen Kosten verbunden. Wir alle brauchen diese finanziellen Mittel jetzt, um die Auswirkungen des Klimawandels und der heutigen Pandemie abzumildern.

Eine konfrontative Politik treibt uns an den Rand eines Krieges, wobei beide Seiten der jeweils anderen die Schuld an der Eskalation geben. Wenn die NATO und Russland diesen Konflikt angehen, indem sie Öl ins Feuer gießen und den Hardlinern auf beiden Seiten Munition für eine weitere Konfrontation liefern, ist das kontraproduktiv. Mit der Entsendung von mehr Waffen und Soldaten an die Grenzen schaukeln sich beide Seiten gegenseitig weiter hoch.

Das erhöht die Kriegsgefahr und führt zu einer gefährlichen Pattsituation wie in Berlin 1958 oder auf Kuba 1962. Vor sechzig Jahren standen wir am Abgrund eines Atomkriegs und nur einzelne Heldentaten, mutige Entscheidungen und Glück haben uns gerettet. Das sollten wir nicht wiederholen. Wir müssen einen Schritt zurücktreten und diese ausweglose Situation mit den Augen des anderen betrachten. Das bedeutet nicht, dass wir die Meinung des anderen akzeptieren oder seine Perspektive als unsere eigene übernehmen müssen. Wir sollten uns ihre Bedürfnisse anhören und versuchen, sie zu verstehen. Lernen wir aus den Erlebnissen unserer Vorfahren, die während der globalen Konfrontation in den 1950er Jahren mit ähnlichen Umständen konfrontiert waren: Sie haben sich für eine Reduzierung der Rüstung und eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa eingesetzt.

Es gibt keine einfachen Lösungen für Konflikte, aber es muss eine diplomatische und friedliche Lösung gefunden werden. Alles anderewäre unvorstellbar: Tod und Zerstörung lebenswichtiger Infrastrukturen, Atomkraftwerke und die mögliche Vertreibung in großem Umfang von Millionen von Menschen in Europa. Hinzu kommt die stets präsente nukleare Bedrohung, die jeder Krieg zwischen atomar bewaffneten Nationen mit sich bringt. In diesem Konflikt sind vier Staaten im Besitz von Atomwaffen und haben eine Erstschlagsstrategie.

Wir fordern alle Konfliktparteien auf:

» keine Drohungen mehr auszusprechen und auf eine militärische Eskalation zu verzichten

» alle Truppen und Waffen von den Grenzen auf allen Seiten der Ukraine abzuziehen

» die direkte Beteiligung weiterer Staaten an einer militärischen Auseinandersetzung zu verhindern

» vertrauensbildende Maßnahmen und grundlegende Bedürfnisse auf beiden Seiten zu erörtern und zu klären, wie diese angegangen werden können » aufzuhören, sich gegenseitig die Schuld für den Ausbruch des Konflikts zu geben und von vorne anzufangen » Gespräche über die nukleare Abrüstung mit dem Ziel der überprüfbaren weltweiten Abschaffung von Atomwaffen aufzunehmen

» mit der Vorbereitung für den Beitritt zum Vertrag zum Verbot von Atomwaffen (AVV) zu beginnen.

Wir rufen alle Länder in Europa auf, durch Vorschläge und Beifall für deeskalierende Maßnahmen, dazu beizutragen, einen Krieg und eine humanitäre Katastrophe abzuwenden. Unsere Forderung nach einer kontinuierlichen diplomatischen Anstrengung zur Lösung der politischen Krise bedeutet nicht, dass wir mit bestimmten politischen Positionen einverstanden sind. Wir wollen einen potentiell unkontrollierbaren Konflikt verhindern, der zu einem Atomkrieg eskalieren könnte.

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