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Geflüchtete aus Syrien: Wo liegt unsere soziale Verantwortung?

Syrer*innen im Exil sollten ihre Entscheidungen ohne Druck treffen können

Bei ihrem Besuch in Syrien nach dem Sturz Assads sagte Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze: „Die Menschen brauchen ein Dach über dem Kopf und Strom, ein funktionierendes Gesundheitssystem, die Kinder müssen zur Schule gehen.“ Bei dem Wiederaufbau müsse Deutschland helfen... – wie geht dieser Satz weiter? Weil die Not so groß ist? Nein: damit nicht nur Hilfen aus Russland oder China kämen.

Das kleine Zitat aus der TAZ vom 24. Januar 2025 wirft ein bezeichnendes Licht auf die schiefe Diskussion um die weitere Entwicklung in Syrien und um die Rückkehrdebatte in Deutschland. Es geht nur um Deutschland und deutsche Interessen. Im Zentrum steht dabei nicht ein humanitärer Gedanke sondern wir, unsere Befindlichkeiten, unser Einfluss, unsere Stellung im globalen Wettbewerb und der Nutzen, den Deutschland aus den Geflüchteten zieht im Hinblick auf die demographische Entwicklung, die Beschäftigung im Gesundheitswesen und in anderen Mangelberufen.

Baschar al Assad war noch nicht in Moskau gelandet, da entfachte sich hier schon eine beschämende Debatte darüber, ob und wann syrische Geflüchtete Deutschland denn nun verlassen könnten. Politiker*innen verschiedener Parteien stimmten mit populistischen Forderungen nach schnellen Abschiebungen in den migrationsfeindlichen Wahlkampf ein, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF setzte umgehend die Bearbeitung aller Anträge auf Schutz und Asyl syrischer Staatsbürger*innen aus. Die Aussagen zahlreicher Politiker*innen zeigten erneut, wie wenig Personen mit Fluchtgeschichte in diesem Land als Menschen mit Würde und Urteilsvermögen wahrgenommen, geschweige denn als Mitglieder unserer Gesellschaft wertgeschätzt werden.

Empathie? Fehlanzeige!

Der Bürgerkrieg in Syrien hat große Zerstörungen hinterlassen. Viele Millionen Menschen sind im Land vertrieben worden. Etliche leben noch in Zeltlagern oder unter katastrophalen Bedingungen in den Städten. So ist zum Beispiel der Stadtteil Jaramana in Damaskus von 500.000 Menschen 2011 auf jetzt 3,5 Millionen Menschen angewachsen, die beengt in viel zu wenigen Wohnungen zusammenrücken (so Tareq Alaows von ProAsyl). Weitere Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen, in den Libanon (785.000), nach Jordanien (640.000), den Irak (273.000) nach Ägypten (156.000) und 3,1 Millionen in die Türkei. Im reichen Deutschland lebt eine knappe Million Menschen aus Syrien, davon 712.000 mit Fluchtmerkmalen, 161.000 sind eingebürgert, 81.500 habeneine Niederlassungserlaubnis. 75.000 Asylanträge von Syrer*innen sind anhängig und harren der Bearbeitung. Deren Aussetzung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führt zu noch längeren Wartezeiten und Verunsicherung.

Die Lage in Syrien ist weiter instabil und die Entwicklung nicht vorauszusehen. Die neuen Machthaber waren noch vor kurzem als Terroristen eingestufte Islamisten. Dennoch machte die deutsche Außenministerin Baerbock gemeinsam mit ihrem französischen Kollegen den neuen Machthabern direkt nach dem Umsturz ihre Aufwartung, um die Einflussmöglichkeiten der Europäischen Union zu sichern. Die Bilanz der neuen Regierung in Idlib ist durchwachsen und macht eher Sorgen. Sie stehen vor großen Herausforderungen. 80 Prozent der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Binnenvertriebenen machen sich auf den Weg in ihre Herkunftsregionen, aus den Nachbarländern kehren viele Menschen zurück, die noch in Flüchtlingslagern und ohne Perspektive dort leben.

Im Nordosten gibt es weiter militärische Auseinandersetzungen. Die Türkei und mit ihr verbündete islamistische Gruppen greifen die Autonomieregion DAANES an, zerstören wichtige Infrastruktur und treiben weitere Menschen in die Flucht. Im Süden auf den Golanhöhen kämpft das israelische Militär und besetzt Häuser und Felder der drusischen Bevölkerung.

Seit 2011 sind Syrerinnen und Syrer vor dem Bürgerkrieg nach Deutschland geflohen. Auch 2024 waren sie neben den Afghan*innen die größte Gruppe. Ihre Anerkennungsquote liegt bei 99 Prozent. In den letzten Jahren wurde ihnen jedoch meist nur ein subsidiärer Schutz zugesprochen, der z.B. den Familiennachzug erschwerte. Oft kamen Männer zunächst alleine, ihre Familien blieben in Syrien, im Libanon, in der Türkei zurück. Bis Frauen und minderjährige Kinder nachkommen konnten, vergingen oft viele Jahre. Der Weg, in Deutschland anzukommen und sich hier ein neues Leben aufzubauen, ist lang und steinig. Nach sieben Jahren sind mehr als 60 Prozent der Geflüchteten aus Syrien erwerbstätig, vorwiegend in

Mangelberufen wie z.B. im Gesundheitswesen. Die syrische Gesellschaft für Ärzte und Apotheker in Deutschland zählte Ende 2023 5.758 Ärzt*innen mit syrischer Staatsangehörigkeit. Nicht erfasst sind dabei Ärzt*innen, die inzwischen eingebürgert sind und nicht in die Statistik eingehen. Inklusive der Ärzt*innen im Anerkennungsprozess und der Eingebürgerten wird ihre Zahl auf 15.000 bis 20.000 geschätzt. Die Kinder gehen hier in die Schule oder sind in Ausbildung und haben gute Chancen auf ein berufliches Weiterkommen. 2023 besuchten 206.000 syrische Schüler*innen eine allgemeinbildende Schule in Deutschland, weitere 56.000 eine Berufsschule. Syrische Frauen arbeiten vor allem in sozialen und kulturellen Dienstleistungen, etwa als Erzieherinnen (28 %) oder im Gesundheitswesen (18 %). Frauen sind deutlich seltener erwerbstätig, da sie in erster Linie Familienaufgaben wahrnehmen, so der Mediendienst Integration.

Aus Gesprächen mit den Syrer*innen in meiner Gemeinde weiß ich, dass sie froh sind über den Sturz Assads. Sie können die neue Situation noch nicht einschätzen. Sie sind in Sorge wegen der Abschiebediskussion. Viele hoffen, dass sie bald ihre Familien und Freund*innen wiedersehen können. Sie überlegen, wie sie am besten zum Wiederaufbau ihrer Heimat beitragen können – was das beste ist für ihre Kinder, die hier zur Schule gehen und oft keine Erinnerung an Syrien haben. Jeder, der die Voraussetzungen erfüllt, stellt einen Einbürgerungsantrag. Die Bearbeitungszeit ist aber wegen der Überlastung der Behörden lang – vielleicht zu lang bei der rasanten Verschlechterung der Aufenthaltsperspektive.

Innenministerin Nancy Faeser hat jetzt in Aussicht gestellt, dass es einen auf 14 Tage begrenzten Orientierungsbesuch in Syrien geben könnte, ohne dass Geflüchtete ihren Schutzstatus verlieren. Der türkische Präsident genehmigt einem Familienmitglied sogar drei Orientierungsbesuche. Und dann? Haben sie dann die Entscheidungsmöglichkeit, in Deutschland zu bleiben?

Nach dem Friedensvertrag von Dayton gab es eine ähnliche Abschiebediskussion, noch bevor die Tinte unter dem Vertrag getrocknet war. Damals wurde den bosnischen Geflüchteten auch ein Orientierungsbesuch erlaubt. Wenn sie dabei aber zu dem Schluss kamen, dass es in Bosnien für sie und ihre Familien keine Perspektive gab, mussten sie trotzdem ausreisen. Nur wenige konnten damals mithilfe von Flüchtlingsorganisationen bleiben – meist, weil es schwere Erkrankungen bei einem Familienmitglied gab. Viele, fast 50.000, sind zum Teil schweren Herzens nach einer langen Untersuchungsprozedur in den USA gelandet – natürlich nur die, die jung und arbeitsfähig waren und Kinder hatten. Viele waren darüber nicht glücklich, wären lieber in Europa geblieben, wo sie näher bei ihren in Bosnien zurückgebliebenen Eltern gewesen wären. Es gab damals keine Perspektive für sie in Deutschland, obwohl einige mittelständische Betriebe ohne sie zusammengebrochen sind, vor allem in Baden-Württemberg. Das „Spiel mit dem Geschachere von vielen Tausend Menschen beginnt nun von Neuem“ – so Ernst-Ludwig Iskenius (IPPNW), der damals viele Bosnier*innen begleitet hat.

Ist es nicht angesichts der großen Zerstörungen und der Not der syrischen Bevölkerung sinnvoller, hier sein sicheres Leben zu behalten und die Menschen vor Ort von hier aus zu unterstützen? Wie kann ich z.B. als Arzt/Ärztin beim Aufbau des syrischen Gesundheitswesens mithelfen, ohne die Sicherheit hier aufzugeben? Oder sind das Heimweh und die Verbundenheit mit der Heimat größer als meine Verantwortung für meine Kinder und ihre Zukunft?

Noch ist die Lage in Syrien unübersichtlich und die weitere Entwicklung unsicher. Die internationale Gemeinschaft ist gefragt, für sichere Rahmenbedingungen zu sorgen, unter denen die Bevölkerung selbst über ihr weiteres Schicksal verhandeln und entscheiden kann. Nur eine Beteiligung aller ethnischen, religiösen und gesellschaftlichen Gruppen an einer neuen Regierung und Verfassung wird zu Frieden führen. Einmischung von außen sollte unterbleiben. Wozu sie führt, zeigt sich in Afghanistan, in Libyen, im Irak und anderswo.

Ebenso sollten die Syrer*innen im deutschen Exil ohne Druck ihre Entscheidungen treffen können. Besuche bei Freund*innen und Familie in Syrien dürfen nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechtes in Deutschland führen. Es ist wichtig, dass sie vor Ort prüfen können, welche Möglichkeiten sie haben und wie sie zum Frieden und zur Stabilität in ihrer Heimat beitragen können. Wenn sich die Situation in Syrien zum Guten entwickelt, werden viele zurückgehen – auch viele, die uns fehlen werden. Das sollte aber allein ihre freie Entscheidung sein.

Dr. Gisela Penteker ist Mitglied des IPPNW-Arbeitskreises Flüchtlinge und Asyl.

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