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6 Fragen an Noy Katsman
...engagiert für Frieden zwischen Israelis und Palästinenser*innen
1) Noy, Dein Bruder Hayim wurde am am 7. Oktober 2023 von der Hamas getötet. Er lebte nahe der Grenze zu Gaza. Niemand hätte sich vorstellen können, dass so etwas wie der 7. Oktober passiert. Für seine Familie ist sein Tod ein immenser Verlust. Und für die Gesellschaft auch, weil er so ein toller Mensch und Wissenschaftler war. Er recherchierte und schrieb über die rechts-religiöse zionistische Bewegung in Israel. Er setzte sich für den Zugang von Minderheiten zur Wissenschaft ein und gegen ethnische Säuberung im Raum Hebron. Außerdem war er Gärtner und DJ für arabische Musik. Er war davon überzeugt, dass Kulturaustausch Frieden bringt. Obwohl wir uns nicht so nahestanden, bekam ich mit, was er machte, und war stolz auf ihn.
2) Was für öffentliche Reaktionen hast Du nach Hayims Tod erlebt? Was mich nach seinem Tod am meisten verletzt hat, war der Verrat durch meine eigene Gesellschaft. Nachdem israelische Zeitungen über seinen Tod berichtet hatten, gab es viele, die sagten, er hätte das verdient, weil er links war, weil er Friedensaktivist war. Das war hart für mich. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt noch Israeli sein kann, wenn ich nicht für Rache und Zerstörung bin. Ich möchte glauben, dass das möglich ist. Und ich habe Freund*innen, die das hinkriegen. Aber es fällt mir immer schwerer, mich in Israel zugehörig zu fühlen.
3) Wie kam es dazu, dass Du friedenspolitisch aktiv geworden bist? Als Kind von Einwander*innen und als queere Person habe ich mich in der israelischen Gesellschaft schon immer als Außenseiter*in gefühlt. Vielleicht war es für mich deswegen einfacher, mich von dem zionistischen Narrativ zu lösen, mit dem wir in Israel aufwachsen. Nach dem Militärdienst zog ich nach Jerusalem und lernte erstmals palästinensische Menschen kennen. Ich begann, Arabisch zu lernen und meine eigene Position zu reflektieren. Uns wird immer beigebracht, dass wir Palästinenser*innen nicht trauen können. Aber plötzlich wurde mir klar, dass es vielleicht die israelische Armee ist, die lügt. Zu dieser Zeit gab ich meine Aussage bei „Breaking the Silence“ ab und begann mich bei „Standing Together“ zu engagieren.
4) Wie hast Du nach dem 7. Oktober weitergemacht? Ich habe seitdem Dutzende Interviews gegeben. Ich versuche, die Botschaft zu verbreiten, dass wir in Frieden leben können, keine Rache brauchen, das Blutvergießen beenden können. Diese Dinge erscheinen mir offensichtlich. Mein Bruder wurde getötet, aber warum sollte ich deswegen wollen, dass jemand aus Gaza getötet wird? Die Reaktionen, die ich bekam, haben mich teilweise sehr berührt. Eine Frau aus Gaza schrieb mir: „Ich kann nicht glauben, dass es Israelis gibt, die uns nicht alle töten wollen.“ In Israel kamen meine Interviews leider nicht wirklich an.
5) Was ist wesentlich für ein friedliches Zusammenleben? Eine zentrale Forderung ist für mich, dass Gewalt gegen Zivilist*innen nicht akzeptabel ist, egal von welcher Seite. Denn wenn Gewalt gegen Zivilist*innen verübt wird, ist die Chance auf ein friedliches Zusammenleben sehr viel geringer. Ich glaube, es ist wichtig, politische Forderungen wie diese nicht nur an Israelis, sondern auch an Palästinenser*innen zu stellen. Eine ehrliche Kooperation kommt nur zustande, wenn wir von beiden Seiten unsere Forderungen mitbringen und miteinander verhandeln.
6) Du lebst jetzt in Deutschland. Was für Perspektiven siehst Du für Deinen Aktivismus? Es ist wichtig, dass wir unsere Arbeit für den Frieden fortsetzen. Damit, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, die Strukturen bereitstehen. Ich lebe jetzt in Deutschland und bin gerade in Berlin mit einer palästinensischen Freundin zusammengezogen. Ich glaube, es ist wichtig, was in der Diaspora passiert. Das beweist, dass Dinge anders laufen können, und gibt Menschen Hoffnung und Inspiration. In Israel fehlt es uns gerade sehr an politischer Vorstellungskraft. Damit Menschen sich etwas vorstellen können, müssen sie es sehen. Ich überlege, mit meiner palästinensischen Freundin ein Projekt zu starten –vielleicht einen Begegnungsort für Palästinenser*innen und Israelis in Berlin. Das wird sicher nicht leicht wegen der Polarisierung, doch es ist möglich. Jetzt müssen wir aber erstmal ankommen.
Dies ist die gekürzte Version eines Interviews, das am 4. 10. 2024 auf www.amnesty.de erschien. Das Gespräch führte Hannah El-Hitami.