Jahrbuch Unternehmertum 2013

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Jahrbuch Unternehmertum. made in Germany. 2013

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Jahrbuch Unternehmertum. made in Germany. 2013


Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Impressum Convent Kongresse GmbH (Hrsg.) Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013 IMPRESSUM: Herausgeber: Convent Kongresse GmbH Redaktion: die-journalisten.de GmbH, Köln Stefany Krath, Anna Petersen Gestaltung/Satz: Kontur/Repro 45, Frankfurt am Main Druck & Verarbeitung: Boschen Druck, Frankfurt am Main ISBN: 978-3-9813677-5-1 Schutzgebühr: 38,– Euro © Convent Kongresse GmbH 2013

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6. Dezember 2013 | Frankfurt am Main

www.deutscheswirtschaftsforum.de

Veranstalter

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Inhalt

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Impressum

Martin Billhardt: »Für einen unabhängigen Projektentwickler gibt es dort keinen Raum«

6 Grußwort des Herausgebers

7 Grußwort Prof. Dr. Andreas Hackethal Goethe-Universität Frankfurt am Main

8 Studenten fragen

9 Entscheider antworten

10 Werner M. Bahlsen: »Wenn man 120 Jahre alt ist, kann man nicht kurzfristig denken «

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24 Prof. Dr. Peter Bofinger: »Kein Ökonom kann wissen, wie sich die Währungsunion in den nächsten vier Jahren entwickelt «

32 Heinrich Otto Deichmann: »Steigende Energiekosten verteuern unsere Beschaffungsprozesse«

38 Paul Gauselmann: »Die Berufsfreiheit ist ein Grundrecht, das man nicht einfach ausradieren kann«


Inhalt

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Frank Gey: »Allein durch Effizienzsteigerungen könnte Deutschland rund 40 Prozent der Energie einsparen«

Dirk Niebel: »Die beste Entwicklungszusammenarbeit macht sich selbst überflüssig «

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Wolfgang Grupp: »Selbst Bill Gates könnte Trigema nicht kaufen, wenn ich nicht Ja sage«

Michael Schmidt: »Wir dürfen unsere ökonomische Basis nicht schwächen «

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Dr. Jürgen Heraeus: »Die Krise findet in den Medien statt«

Gerhard Schröder: »Die Zeche zahlen Verbraucher und Unternehmen «

66 Stefan Messer: »Es gab viele, die gesagt haben: viel zu großes Risiko «

102 Karl-Heinz Streibich: »Weitsicht ist nichts wert, wenn die Umsetzung fehlt«

74 Friedrich von Metzler: »Beides könnte kommen, Inflation und Deflation «

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Im Dialog mit der deutschen Wirtschaft Globalisierung der Märkte, Rohstoffknappheit, Energiewende, Finanz­ krise, demografischer Wandel, Digitalisierung – dies sind nur einige Stichworte, die die zentralen Herausforderungen der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb umreißen. Noch ist „Made in Germany“ ein Exportschlager, aber wie lange noch? Wie gut ist die deutsche Wirtschaft langfristig wirklich aufgestellt und welche Rolle wird Deutschland in der Welt von morgen spielen? Vor welchen strategischen Entscheidungen stehen Unternehmer heute und welche Rahmenbedingungen erwarten sie von der Politik? Mit unseren rund 30 Mittelstandstagen und Jahrestagungen bieten wir Unternehmern und Entscheidungsträgern aus Wirtschaft und Politik jedes Jahr deutschlandweit Plattformen zum praxisorientierten Austausch über die oben skizzierten Fragestellungen an. Den Höhepunkt markiert in unserem Veranstaltungskalender zum Jahresende das Deutsche Wirtschafts­ forum, zu dem wir einmal jährlich die erste Führungsebene aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft in die Frankfurter Paulskirche einladen, um über die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu diskutieren. Mit dem „Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany.“ haben wir nun eine unsere Konferenzaktivitäten begleitende Publikation lanciert, in der namhafte Unternehmer, Politiker und Vertreter der Wissenschaft ihre Sicht auf die aktuelle Lage der deutschen Wirtschaft darlegen. Als Menschen und Macher berichten sie von der Gründung und Leitung ihrer Unternehmen, der Suche nach den Fachkräften von morgen und den Herausforderungen ihrer Branche. Die spannenden Interviews, geführt von den besten Studierenden des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main, geben Einblicke in verschiedene Bereiche: von der Banken- oder Lebensmittelbranche über die Textilindustrie bis zu einzelnen Bundesministerien und dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Persönlichkeiten wie Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder oder der Bankier Friedrich von Metzler stehen Rede und Antwort – im lebendigen Austausch zwischen erfahrenen Praktikern und den klugen Köpfen, die die Zukunft gestalten werden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß und gute Erkenntnisse beim Lesen des „Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany.“ und würde mich freuen, Sie bei einer unserer Veranstaltungen persönlich begrüßen zu können.

Dr. Mark Schiffhauer Prokurist und Herausgeber Convent Kongresse GmbH

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Grußwort Prof. Dr. Andreas Hackethal

Wirtschaftsstandort Deutschland – Unternehmer im Dialog mit den Führungskräften von morgen Eurokrise, Energiewende, demografischer Wandel – die deutsche Wirtschaft steht vor großen Herausforderungen. Trotzdem gehört Deutschland immer noch zu den größten Volkswirtschaften der Welt. Dabei ist gerade der Mittelstand der entscheidende Motor für das Wirtschaftswachstum von morgen. Doch wie wird gewährleistet, dass in Zukunft genügend Fach- und Führungskräfte einen gelungenen Einstieg in die Berufswelt finden, damit deutsche Wirtschaftsunternehmen auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleiben?

Kluge Köpfe 2012 schaffte es die Goethe-Universität laut „International Herald Tribune“ als einzige deutsche Universität weltweit unter die Top Ten. Mehrere Tausend Unternehmen wurden zuvor befragt, von welcher Universität die besten wirtschaftswissenschaftlichen Absolventen kommen. Mehr als 5.000 Studierende sind im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der GoetheUniversität Frankfurt am Main eingeschrieben. Die Goethe-Universität ist im Wettbewerb um die klügsten Köpfe gut platziert: Exzellente fachliche Betreuung und breit angelegte Unterstützung vom Studieneinstieg bis zum Berufs-Placement machen sie zu einem attraktiven Studienstandort für die Wirtschaftsfachkräfte von morgen. Eine besondere Auszeichnung für die 15 besten Bachelorstudierenden eines jeden Semesters ist die Aufnahme in die sogenannte „Dean’s List“, die unter anderem den Dialog von Studierenden mit Unternehmern der deutschen Wirtschaft fördert.

Spannender Austausch Das vorliegende Jahrbuch ist ein gelungenes Beispiel dafür, wie dieser Austausch in der Praxis funktionieren kann. Studierende der „Dean’s List“ trafen sich zu Gesprächen mit Topmanagern aus Wirtschaft und Politik, um sich über persönliche Unternehmensphilosophien, die allgemeine Wirtschaftsentwicklung und spezifische Marktsituationen zu informieren. Dabei entstanden spannende Interviews, die einen tiefen Einblick in das deutsche Unternehmertum geben.

Prof. Dr. Andreas Hackethal Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften Goethe-Universität Frankfurt am Main

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Studenten Fragen: die studentinnen und studenten der „dean’s list“, fachbereich wirtschaftswissenschaften, goethe-universität frankfurt am main

Maximilian Ahlbäumer

Nicolai Austein

Amadeus Bach

Max Brehm

Benjamin Clapham

Benjamin Edrich

Christian Epping

Markus Heckenmüller

Lisa Hilberg

Jan Koch

Alana Ludwig

Carmen Matzenmiller

Ramona Mittler

Wolfgang Rösch

Tobias Schäffner

Roman Strauch

Raphaela Stuber

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© www.kapeschmidt.com

© www.kapeschmidt.com

DAS REDAKTIONSTEAM

Steffen Zenglein Stefany Krath

Anna Verena Petersen

Chefredakteurin

Redaktionelle Projektleiterin


Studenten fragen / Entscheider antworten

Entscheider antworten:

Werner M. Bahlsen

Martin Billhardt

Prof. Dr. Peter Bofinger

Heinrich Otto Deichmann

Vorsitzender der Geschäftsführung Bahlsen GmbH & Co. KG

Vorstandsvorsitzender PNE WIND AG

Professor für Volkswirtschaftslehre Universität Würzburg

Verwaltungsratsvorsitzender Deichmann SE

Paul Gauselmann

Frank Gey

Wolfgang Grupp

Dr. Jürgen Heraeus

Vorstandssprecher Gauselmann Gruppe

Geschäftsführung ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG

Geschäftsführer Trigema

Aufsichtsratsvorsitzender Heraeus Holding GmbH

Stefan Messer

Friedrich von Metzler

Dirk Niebel

Michael Schmidt

Chief Executive Officer Messer Gruppe

Gesellschafter B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA

Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Vorstandsvorsitzender BP Europa SE

Gerhard Schröder

Karl-Heinz Streibich

Bundeskanzler a.D. Aufsichtsratsvorsitzender Nord Stream AG

Vorstandsvorsitzender Software AG

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Werner M. Bahlsen Vorsitzender der Geschäftsführung Bahlsen GmbH & Co. KG

¬ ZUR PERSON Werner M. Bahlsen, Jahrgang 1949, ist Enkel des LeibnizButterkeks-Erfinders und Gründers des Bahlsen-Unternehmens Hermann Bahlsen. Der gelernte Konditor und studierte Betriebswirt ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Bahlsen GmbH & Co. KG.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die heutige Bahlsen GmbH & Co. KG ist ein 1889 gegründetes Familienunternehmen der Backwarenindustrie mit Hauptsitz in Hannover. Mit den beiden Dachmarken Bahlsen und Leibniz, mehr als 2.500 Mitarbeitern an fünf europäischen Produktionsstandorten und 80 Exportländern sowie einem Umsatz von rund 500 Millionen Euro im Jahr 2011 ist das Unternehmen Marktführer in Deutschland und führend in Europa.

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Werner M. Bahlsen im Interview

» Wenn man 120 Jahre alt ist, kann man nicht kurzfristig denken « Alana Ludwig und Raphaela Stuber unterhielten sich mit Werner M. Bahlsen, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung der Bahlsen GmbH & Co. KG, über nachhaltige Lebensmittel, seine Missbilligung der Lebensmittelampel sowie die Gefahren und Chancen von Social Media.

Herr Bahlsen, was ist Ihr Lieblingssnack? Ein Pick-up. Also ein Bahlsen-Produkt. Wollten Sie das Familienunternehmen bereits als Kind übernehmen oder hatten Sie andere Berufswünsche? Meine Jugend war schon durch das Unternehmen geprägt. Das wurde bei uns am Küchentisch viel diskutiert. Mein Vater hat uns Kinder auch früh mit in ein Werk genommen. Ernsthaft habe ich keine anderen Berufspläne verfolgt. Ich habe eine Lehre als Konditor in Göttingen bei einer sehr guten HandwerksKonditorei gemacht. Das war zwar eine relativ harte Zeit, aber es hat auch Spaß gemacht, mit den süßen Sachen umzugehen. Wir haben 80 Sorten Pralinen hergestellt, Eiscreme, Stollen, Baumkuchen. Wenn man einen Kuchen selbst macht, zu Hause in den Ofen schiebt, und der kommt gut wieder heraus, ist das ein Erfolgserlebnis. Würden Sie als Unternehmer Abiturienten empfehlen, vor dem Studium eine Ausbildung zu machen? Obwohl das eine harte Zeit war, fand ich die Lehre im Nachhinein gut. Ich habe danach

in Zürich und Genf studiert und festgestellt, dass Studenten, die direkt von der Schule kommen, wenig von der Praxis wissen. Nach zwei Jahren Lehre weiß man zumindest, was Arbeiten heißt. Die Kombination mit dem Konditor ist speziell, aber eine Bank- oder Mechanikerlehre für jemanden, der in diesen Beruf möchte, finde ich nicht schlecht. Erst einmal in die Praxis reinzuschnuppern schadet keinem, auch um die Theorie an der Uni besser zu verstehen. Ihr Unternehmen wurde vor über 120 Jahren gegründet. Was unterscheidet eine Unternehmensgründung heute von der damals? Das Unternehmen wurde 1889 gegründet, während der industriellen Revolution, da ist gerade die Dampfmaschine erfunden worden. Ich vermute, es war einfacher, weil es ­weniger komplex war. Das Unternehmen ­mei‑ nes Großvaters ist schnell gewachsen, war sehr erfolgreich, hat viel Geld verdient, sonst hätte man sich nicht 20 Jahre nach der ­Gründung so ein Verwaltungsgebäude hinstellen können. Heute hängt eine Unternehmensgründung von den Kommunikations- und IT-Möglichkeiten ab. Das ist wohl komplizierter.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Was würden Sie Unternehmensgründern heutzutage empfehlen?

Nein. Da hängt Herzblut drin, das ist Familiengeschichte, macht aber auch einfach Spaß.

Ich kann nur jedem empfehlen, sich die Sache genau anzugucken. Wenn man einen Business-Case hat und sich selbständig machen möchte, sollte man das noch von dritter Seite beleuchten lassen. Eine Bauchlandung macht keinen Spaß. Eine Gründung ist erst einmal hart. Da gibt es keinen Acht-StundenTag. Aber man ist selbständig, und das ist für viele wichtig.

Warum nicht das Unternehmen in eine AG umwandeln, sodass Mitarbeiter am Erfolg beteiligt werden?

»Wenn man sich selbständig ­machen möchte, sollte man das von dritter Seite beleuchten ­lassen. Eine Bauchlandung macht keinen Spaß.« Was glauben Sie, warum Bahlsen über Generationen so erfolgreich war? Ich glaube, wir haben es geschafft, das Unternehmen immer wieder neu zu erfinden und wesentliche Veränderungen herbeizuführen. Je älter eine Organisation ist, desto schwie­ riger ist das, weil sich so vieles eingelaufen hat. Wir haben viele Mitarbeiter, die langjährig im Unternehmen sind. Diese haben natürlich eine bestimmte Art zu denken und zu ar­ beiten. Im Moment leiten wir wieder einen ziemlich radikalen Wandel ein, aber so etwas hat das Unternehmen in der Vergangenheit jung gehalten. Ich glaube, das ist ein wesentlicher Grund, warum es Bahlsen heute noch gibt und hoffentlich auch in Zukunft geben wird. Haben Sie jemals mit dem Gedanken ­gespielt, den Betrieb zu veräußern?

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Eine Aktiengesellschaft bedeutet komplexe steuerrechtliche Veränderungen. Anteile an Mitarbeiter zu geben klingt positiv. Und was passiert, wenn das Unternehmen Verlust macht? Tragen sie den mit? Mit ihrem normalen Einkommen? Wir haben diesen Weg bis jetzt nicht beschritten und ich glaube, das ist auch richtig so. Das Risiko trägt am Ende der Unternehmer. Wie wichtig ist Ihnen, dass Bahlsen von einem Familienmitglied geführt wird? Das Unternehmen ist inzwischen so groß, dass das Wichtigste ist, dass das Unternehmen professionell geführt wird. Es gibt keine­ Garantie, dass in einer Familie in jeder Gene­ ration ein Unternehmer geboren wird. Ich möchte auf jeden Fall dafür sorgen, dass mei‑ ne Kinder sich – wenn sie ins Unternehmen möchten – hohen Maßstäben stellen und auch mit Externen vergleichen müssen. Wir tragen hier eine große Verantwortung für unsere Mitarbeiter und deren Familien. Dies kann keine Spielwiese von Unternehmerkindern sein. Welchen Einfluss hat das Unternehmen auf Ihre Familie? Einen großen. Das geht auch sicher nach dem Prinzip: Das Unternehmen steht vor der Familie. Es bestimmt den Alltag, wobei ich versuche, einen klaren Schnitt zwischen dem Privat- und dem Unternehmerleben zu machen. Aber ganz sauber lässt sich das nicht trennen.


Werner M. Bahlsen im Interview

Wie schätzen Sie als Unternehmer die Risiken der Finanzkrise ein? Die Krise hat uns nicht so stark getroffen wie andere Branchen. Trotzdem haben wir, schon als es 2009 losging, etwas auf die Bremse getreten und vorsichtiger agiert. Das Entscheidende in einer Krise ist, dass man genügend Geld hat. Die meisten Firmen kommen in Schwierigkeiten, wenn sie keine Liquidität haben, und deshalb hat Liquidität bei uns eine hohe Priorität. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen können wir natürlich nicht ändern, aber wenn die Wirtschaft schlecht läuft, geht auch der Konsum zurück, und das merken wir natürlich auch. Ist die gesicherte Liquidität auch Teil Ihrer Unternehmensphilosophie, nach dem Motto: möglichst viel eigenfinanzieren?

Schwierigkeit, wie Sie einem Bauern mit drei Hektar Kakaopflanzen beibringen, dass er nicht mehr künstlich düngen und auch neue Pflanzen anpflanzen soll. Das ist alles spannend, aber nicht einfach. Wir sind gut aufgestellt und nehmen das ernst, nicht erst, seit es Mode geworden ist. Wenn man 120 Jahre alt ist, darf man nicht kurzfristig denken.

»Im Moment leiten wir wieder einen ziemlich radikalen Wandel ein, aber so etwas hat das ­Unternehmen in der Vergangenheit jung gehalten.« Hat sich die Getreideknappheit in den USA auf Ihr Unternehmen ausgewirkt?

Ja, das ist sicher so. Wenn Sie mit anderen Familienunternehmen reden, gehört eine möglichst hohe Eigenfinanzierung zur Grundregel. Das wurde in der Krise noch bestätigt, als einige Banken in Schwierigkeiten gekommen sind. Wenn dann ein Unternehmen auf hohe Bankkredite angewiesen ist, kann es schwierig werden.

Ja, durch die Rohstoffpreise, die die Rohstoffbörse Matif in Paris definiert. Aber wir betreiben eine langfristige Sicherung. Wir haben das Jahr 2013 per Kontrakt schon weitgehend gesichert. Als die Preise nach oben gegangen sind, haben wir einfach nicht mehr gekauft, weil wir längerfristig vorgesorgt haben. Man braucht einen langen Atem und gute Nerven, wenn solche Geschichten passieren.

Wie ist Bahlsen bei Umweltschutz und nachhaltigem Wirtschaften aufgestellt?

Immer mehr Firmen produzieren im ­Ausland. Wie sehen Sie das?

Wir sind als Lebensmittelhersteller schon lange nachhaltig unterwegs. Wir verarbeiten seit über 30 Jahren Getreide aus kontrolliertem Anbau. Die Mühle, die das Getreide nach unseren Kriterien bearbeitet, vereinbart Anbauverträge mit Bauern. Ich habe mir vor zwei Wochen an der Elfenbeinküste Kakaoanbau im Busch angeguckt. Da geht es um zertifizierten, nachhaltigen Kakao und die

Das muss man von Markt zu Markt unterschiedlich sehen. Wir wollen und müssen mit unseren Produkten relativ marktnah sein. Insofern ist das für uns kein Thema. Wir haben zwei Werke in Polen, die zur Hälfte den polnischen Markt bedienen und zur Hälfte nach Westeuropa liefern. Wir sehen dort erhebliche Lohnunterschiede. Aber einfach Produktion auszulagern, um Kosten zu spa-

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

ren: Ich glaube, das ist eine sehr kurzfristige Denke. Inzwischen gibt es Unternehmen, die aus China zurückkommen, weil sie dort eben nicht die Qualität bekommen, die sie brauchen. Wir haben vier Werke in Deutschland und sind auf eines angewiesen: Wir müssen so effizient sein, dass wir auch zu Billigimporten aus Tschechien konkurrenzfähig sind. Wir werden nie die Preise von dort erreichen, aber wir müssen qualitativ viel besser sein, das sage ich auch meinen Mitarbeitern. Das heißt, wir müssen unsere Werke seit Jahren massiv auf Effizienz trimmen. Nachlässigkeiten oder Speck auf den Rippen können wir uns nicht leisten.

»Es gibt keine Garantie, dass in einer Familie in jeder Generation ein Unternehmer geboren wird. Wir tragen hier eine große ­Verantwortung für unsere ­Mitarbeiter und deren Familien. Dies kann keine Spielwiese von Unternehmerkindern sein.« Was bieten Sie im Gegenzug Ihren Mitarbeitern als Arbeitgeber? Vieles: von Teilzeitangeboten auch bei Führungspositionen bis zu einem Eltern-KindZimmer im Haus. Wir haben gut 30 Prozent Frauenanteil bei den Führungskräften. In einem bestimmten Alter ist es normal, dass man eine Familie gründet, und wenn man ­diese Mitarbeiterinnen nicht verlieren möchte, muss das Unternehmen flexibel damit umgehen.

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Wie stehen Sie zum Thema Frauenquote? Ich arbeite gerne mit Frauen zusammen. Mein Team besteht außerhalb der Geschäftsleitung fast nur aus Frauen, weil sie anders denken als Männer. Auch zum Teil kreativer. Eine Quote, mit der der Gesetzgeber uns sagt, wie wir unsere Firma zu führen haben, finde ich nicht gut. Denn wenn wir insolvent gehen, heißt es auch nicht, der Gesetzgeber war schuld, sondern der Unternehmer. Der Staat kann Ziele formulieren, die Umsetzung müssen die Menschen selber machen. Man muss Frauen fördern, weil sie es mit Kindern in einem gewissen Alter schwieriger haben. Und: Wir wollen ja Kinder haben. Ich glaube aber, man kann Frauen auch fördern, indem man sie mehr ermutigt. Viele Frauen müssen sich in der Praxis mehr trauen, selbstbewusster werden, auch mal Risiken eingehen. Ist das Eltern-Kind-Zimmer eine Art ­Unternehmenskindergarten? Wir haben einen Unternehmenskindergarten immer wieder diskutiert, haben aber zu wenige Mitarbeiterinnen mit Kindern in dem Alter. Das ist ein Büro mit Kinderspielzeug für den Fall, dass der Kindergarten zu oder das Kind krank ist. Wir lassen die Mütter zum Teil auch im Home-Office arbeiten. Produziert die Firma saisonal abhängig konstante Mengen oder auf Bestellung? Auf Bestellung. Das geht zum Teil Monat für Monat hoch und runter. Wir haben einen Lieferrhythmus: X+3. Das heißt, heute bestellen die Kunden und in drei Tagen bekommen sie


Werner M. Bahlsen im Interview

das geliefert. Wir haben einen kurzen Lagerbestand zwischen fünf und neun Tagen. Seit zehn Jahren beschleunigen wir mit japanischen Beratern die Prozesse im Unternehmen, gerade in der Produktion. Was passiert, wenn Sie einen großen Auftrag produziert haben und ein Großkunde springt ab? Wir produzieren nicht auf Vorrat und Aufträge kommen kontinuierlich rein. Wir führen mit Kunden Jahresgespräche. Aber das wird kurzfristig disponiert, und erst dann produzieren wir. Wenn wir mal Restbestände haben oder etwas qualitativ nicht unseren Ansprüchen genügt, verkaufen wir das als zweite Wahl in unseren Fabrikläden, die von den Konsumenten sehr geschätzt werden. Es wird also nicht viel weggeworfen. Das ist unser Versuch. Wenn Kekse auf den Boden fallen, ist das Schweinefutter. Das ist eine der Kennzahlen, mit denen wir die Werke genau kontrollieren: Erstens haben wir mit Lebensmitteln zu tun, das ist eine ethische Frage, zweitens kostet es viel Geld, wenn wir etwas entsorgen. Im Bereich Lebensmittel wird seit Jahren die Lebensmittelampel diskutiert. Kekse dürften als Süßwaren nicht besonders gut abschneiden. Was halten Sie von dieser Einführung? Gar nichts, weil ich glaube, dass die Verbraucher damit in die Irre geführt werden. Nehmen Sie Olivenöl, das gilt als sehr gesund. Rote Ampel – weil es zu viel Fett hat. Bei unserem Leibniz-Keks wären vier von fünf

Ampeln rot. Der hat Butter, Zucker, Salz. Die Ampel suggeriert „viele grüne Dinge, das ist gut, und viele rote ist schlecht“. Sie betrachtet aber immer nur das Lebensmittel, das ich in der Hand habe. Wir essen am Tag eine Mischung aus Lebensmitteln. Und wenn ich Olivenöl an den Salat gebe, ist das eine gute Sache, obwohl da eine rote Ampel drauf ist. Ich trinke ja auch nicht eine halbe Flasche Olivenöl.

»Man muss als Unternehmen sehr vorsichtig mit den SocialMedia-Spielregeln umgehen. Sonst kann das sehr, sehr teuer werden.« Könnten Sie sich vorstellen, in Zukunft das Sortiment zu erweitern? Wir denken immer über Produkte nach, die außerhalb unserer direkten Geschichte liegen. Der Süßwarenmarkt bietet breitere Möglichkeiten. Wir haben als Unternehmen bestimmte Fähigkeiten und Technologien und müssen prüfen, ob und wie wir damit neue Produkte entwickeln können. Ein Cracker beispielsweise ist im Prinzip ein gebackener Keks mit Salz. Jeder neue Markt hat natürlich Spielregeln und neue Wettbewerber. Jeder Markteintritt ist erst einmal teuer. Wir sind vor vielen Jahren in den Bereich Kuchen eingestiegen. Das Produkt muss zu uns passen. Mit der Marke Bahlsen können Sie keine Schnürsenkel verkaufen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir mehr Schokolade produzieren.

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Ihr Unternehmen hat im Laufe seiner Geschichte viele technologische Revolutionen miterlebt. Wo sehen Sie Potenzial für die Zukunft? Eine große Rolle spielt heute der Bereich Social Media. Der hat die Werbelandschaft komplett durcheinandergewirbelt – wie vor 20 Jahren die Vielfalt der Werbesender. Wenn wir als Markenartikler werben wollen, müssen wir natürlich dahin gehen, wo unsere Kunden sind. Ihre Generation sieht kaum fern, ist den ganzen Tag am Computer unterwegs mit Facebook und Twitter. Es bleibt eine große Herausforderung für die Markenartikelindustrie, sich da richtig zu positionieren. Eine zweite, weniger technologische Herausforderung ist das Phänomen der Handelsmarken. Wenn bei Edeka oder Aldi Marken kopiert und billiger angeboten werden, ist das für die Markenartikel schwierig. Aber wir setzen auf Qualität, auf den Ruf der Marke, die Innovationskraft, die wir als Unternehmen haben, und sind damit bis jetzt gut gefahren.

»Bei unserem Leibniz-Keks wären vier von fünf Ampeln rot.« Die dritte Herausforderung ist die Internationalisierung. Viele Familienunternehmen sind global aufgestellt. Wir sind in Europa, haben jetzt in den mittleren Osten expandiert und bauen in China ein Büro auf. Das sind die nicht nur technologischen Revolutionen, die ein Unternehmen vorantreibt. Für Sie ist Englisch wahrscheinlich kein Problem, aber für viele unserer langjährigen Mitarbeiter. Aber wenn man international wird, darf Englisch kein Problem mehr sein.

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Auf welche Werbemaßnahmen setzt ­Bahlsen verstärkt? Wir machen regelmäßig Werbung im Fernsehen, aber auch mit Handzetteln am Point of Sale. Mit dem Snack „Pick-up“ sind wir intensiv bei Facebook aktiv. Wir haben eine ganz originelle Werbung, wo ein junger Mann vor einer gelben Leinwand Sprüche reißt, wie: „Mach mal Pause wie ein Picknicker“. Wenn die gelungen sind, finden Sie diese auch bei Youtube wieder und das Ganze bekommt dann eine andere Verbreitung. Also wieder der Bereich Social Media … Absolut, im positiven wie im negativen Sinne. Man muss als Unternehmen sehr vorsichtig mit den Social-Media-Spielregeln umgehen. Sonst kann das sehr, sehr teuer werden. Sie haben in Ihrer Zulieferkette Ihren Palmölbezug verändert. Wir sind seit Jahren beim „Roundtable on Sustainable Palm Oil“ (RSPO) involviert. Das Thema Nachhaltigkeit ist für uns nichts Neues. Wir nutzen nur noch nachhaltiges Palmöl. Und wir bauen den Anteil an nachhaltigem Kakao auf. Bei Getreide und Eiern von freilaufenden Hühnern sind wir da längst. Was werden Sie nach diesem Interview als Nächstes tun? Ich habe noch einen vollen Kalender und bin später bei einer kleinen Firma in Peine, die einen Bio-Snack auf Fladenbrotbasis macht. Das ist der Versuch, auf kleiner Ebene in den Biomarkt reinzukommen.

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„Die boxen einen da wieder raus.“ Rechtsberatung für Unternehmen

Zugegeben, bei uns Wirtschaftsanwälten ist die linke Hirnhälfte stärker ausgeprägt und damit wirksamer als der linke Haken. Mit exzellenter Beratung und wirtschaftlicher Expertise helfen wir unseren Mandanten, juristische Auseinandersetzungen zu vermeiden. Und wenn es sein muss, steigen wir für unsere Mandanten auch in den Ring. Unsere Kompetenzen reichen von der umfassenden wirtschaftsrechtlichen Begleitung eines Unternehmens bis zur Beratung in komplexen Transaktionen und ausgefallenen Spezialmaterien. Zu unseren Mandanten zählen kleine und mittlere Firmen ebenso wie im DAX, MDAX oder an ausländischen Börsen notierte Gesellschaften. Unabhängig von der juristischen Aufgabenstellung, vom Rechtsgebiet und von der Branche holen wir das Beste für unsere Mandanten raus. Und das geht weniger ins Geld, als Sie denken.

Hoffmann Liebs Fritsch & Partner Rechtsanwälte Kaiserswerther Straße 119 40474 Düsseldorf Tel. +49 (0) 211-51 88 2-0 Fax +49 (0) 211-51 88 2-100 E-Mail duesseldorf@hlfp.de www.hlfp.de


Martin Billhardt Vorstandsvorsitzender PNE WIND AG

¬ ZUR PERSON Martin Billhardt, 1962, wurde nach seinem Jurastudium 1991 Geschäftsführer in einem Family Office in Bremerhaven. 2002 trat Billhardt in die Plambeck Holding AG, Cuxhaven, ein, wo er für den Aufbau eines Private-Equity-Fonds in der Schweiz verantwortlich war. 2004 wurde er in den Vorstand der PNE WIND AG berufen und ist seit dem 1. Juli 2008 Vorstandsvorsitzender dieser Gesellschaft.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die PNE WIND AG mit Sitz in Cuxhaven plant und realisiert Windparkprojekte an Land sowie auf See. Dabei liegt die Kernkompetenz in der Projektierung, Realisierung und Finanzierung von Windparks sowie deren Betrieb bzw. Verkauf mit anschließender Betriebsführung. Bisher errichtete das Unternehmen 98 Windparks mit 568 Windenergieanlagen und einer Gesamtnennleistung von 814 Megawatt (MW). Neben der Tätigkeit in Deutschland ist die PNE WIND AG über Joint Ventures und Tochtergesellschaften in Südosteuropa, Großbritannien, den USA und Kanada vertreten.

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Martin Billhardt im Interview

» Für einen unabhängigen

Projektentwickler gibt es dort keinen Raum « Anna Petersen sprach mit Martin Billhardt, Vorstandsvorsitzender der PNE WIND AG, über die Energiewende, Vorzüge und Schwächen von Windparks und die Zukunft des Siegels „Made in Germany“.

Herr Billhardt, wie viele der Windräder an der Elbmündung sind von Ihnen errichtet worden? Von mir persönlich noch gar keins – dafür sind die Anlagen doch viel zu groß. Aber es stimmt: An der Elbmündung in der Nähe unseres Unternehmenssitzes Cuxhaven begann die Erfolgsgeschichte des Unternehmens. In der Ortschaft Nordleda wurde 1997 der erste von uns projektierte Windpark mit 33 Anlagen in Betrieb genommen. 1995, quasi mit der Gründung des Unternehmens, hatte die Planung für diesen Windpark begonnen. Ebenfalls in der Nähe des Konzernsitzes haben wir im Mai 2009 das Offshore-Referenzfeld „Altenbruch II“ mit 25,8 MW in Betrieb genommen. Die Energiewende hat nach den Ereignissen von Fukushima offenbar an Dynamik gewonnen. Welchen Anteil wird Windkraft am Energiemix der Zukunft haben? Die Windkraft ist das Rückgrat der Energiewende. Sie ist derzeit die wirtschaftlichste aller erneuerbaren Energien. Die Erzeugungskosten für Windstrom sind seit über 20 Jahren immer weiter gesunken und die Effektivität der Anlagen wurde erheblich verbessert. Daher kommt der Stromerzeugung aus Wind auch im künftigen Energiemix eine Schlüs-

selrolle zu, damit Strom sicher und preiswert bleiben kann. Welche Energieformen sehen Sie ebenfalls auf dem Vormarsch? Der Solarenergie in Form von Photovoltaik kommt eine wachsende Rolle beim Ausbau der erneuerbaren Energien zu. Sie eignet sich auch sehr gut für sogenannte „Insellösungen“, also für die Stromerzeugung in Regionen, die nicht an das Übertragungsnetz angeschlossen werden können. Windkraft eignet sich ausschließlich für die Stromerzeugung. Wie kann sich Deutschland bei der Erzeugung von Treibund Brennstoffen nachhaltiger aufstellen? Diese Frage berührt die Bereiche Speicherung von fluktuierender Energie und Energieeffizienz. Die Notwendigkeit, mit Treib- und Brennstoffen effizienter umzugehen, steht für mich außer Frage. Ebenso klar ist aber auch, dass verstärkte Forschungsanstrengungen Technologien wie etwa die Brennstoffzelle effektiver und damit günstiger machen müssen, um ein Umdenken bei den Energieverbrauchern zu erreichen. Aber auch hier kann die Windenergie ihren Beitrag leisten, denn für die Elektrolyse zur Herstellung von Wasserstoff als möglichem Treibstoff der

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Zukunft werden große Mengen elektrischer Energie benötigt. Diese kann die Windenergie zur Verfügung stellen. Über diesen Umweg könnte auch einer der größten Nachteile der Windenergie ausgeglichen werden: die

»Im Anlagenbau und der Serienfertigung sind asiatische Unternehmen inzwischen zu ernsthaften Konkurrenten herangewachsen.« Fluktuation der Stromerzeugung, die aus den schwankenden Windverhältnissen resultiert. Wird Windstrom zur Erzeugung von Wasserstoff genutzt, wird er speicherbar und kann dann genutzt werden, wenn der Bedarf vorhanden ist. Dies ist auch der Grundgedanke für „Power to Gas“, wobei aus dem Wasserstoff durch Zugabe von Kohlendioxid Methan gewonnen werden kann, das sich dann problemlos in das vorhandene Erdgasnetz und seine Speicher einspeisen lässt.

»Die Projektierung von Windparks ist ein langwieriges Unterfangen.« Zurück zum PNE-Kerngeschäft. Wie wird die Gewichtung zwischen On- und Offshore künftig aussehen? Für die PNE WIND AG hat die Entwicklung von Windpark-Projekten Onshore, also auf dem Festland, wie auch Offshore, also auf See, eine gleichermaßen hohe Bedeutung. Beide Bereiche werden sich auch künftig ergänzen und gegenseitig tragen. Die Projektierung von Windparks ist immer ein langwieriges Unterfangen. Drei bis fünf Jahre nehmen die notwendigen Planungen und Untersuchungen mindestens in Anspruch. In dieser Zeit müssen die Vorlaufkosten gedeckt werden.

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Daher haben wir unser Unternehmen möglichst breit aufgestellt – Onshore wie Offshore, national wie international. Und auch wenn der Windpark errichtet und in Betrieb genommen ist, bieten wir dem Käufer die Dienstleistung der Betriebsführung an. Gerade bei der Netzanbindung scheint es im Offshore-Bereich immer wieder zu Problemen zu kommen – wie geht Ihr Unternehmen damit um? Wir befassen uns bei der Entwicklung von Offshore-Windparks frühzeitig intensiv mit den Punkten, die für eine feste, unbedingte Anschlusszusage des zuständigen Netzbetreibers geklärt sein müssen. Und wir suchen den Dialog. Das hat sich bewährt. Vier von uns entwickelte Offshore-Windparks wurden bereits genehmigt, für drei dieser Projekte liegen feste, unbedingte Netzanschlusszusagen vor. Das vierte Projekt hat eine bedingte Netzanschlusszusage erhalten. Dennoch war die Situation generell recht unglücklich, weil sich der für die Projekte in der Nordsee zuständige Netzbetreiber schwertat, die Finanzierung der Anschlüsse sicherzustellen. Erfreulich ist, dass der Gesetzgeber jetzt die Rufe aus der Branche aufgegriffen und neue Haftungsregeln beschlossen hat. Damit wird die Finanzierung der Netzanschlüsse leichter. Das sollte helfen, diesen Engpass zu beseitigen. Fallen bei der Errichtung und späteren Wartung von Offshore-Anlagen nicht vergleichsweise hohe Kosten an? Sicher liegen die Kosten für Planung, Bau und Betrieb von Offshore-Windparks deutlich höher als an Land. Die erheblich besseren und kontinuierlicheren Windverhältnisse auf See gleichen das aber aus. Die Windenergieanla-


Martin Billhardt im Interview

gen laufen länger und konstanter als an Land, die Stromerzeugung ist dadurch überproportional besser als an Land, und auch OffshoreWindparks können wirtschaftlich betrieben werden. Da wir in Deutschland bei der Errichtung und Inbetriebnahme von OffshoreWindparks noch am Anfang der Entwicklung stehen, sind außerdem kostensenkende Faktoren zu erwarten. Und wie sieht die Finanzierung für gewöhnlich aus? Auch hier gibt es für uns Unterschiede zwischen Onshore- und Offshore-Projekten. Offshore entwickeln wir die Projekte bis zur Baureife, finanzieren die damit verbundenen Kosten selbst und verkaufen dann die werthaltigen Projektrechte, ohne die Anlagen errichten zu lassen. Die Finanzierung für den Bau eines Offshore-Projekts würde die PNE WIND überfordern. Anders an Land: Da lassen wir die Windparks errichten und nehmen sie in Betrieb, bevor sie an den Käufer übergeben werden. Dabei wird in der Regel mit 15 bis 30 Prozent Eigenkapital gearbeitet, aber wir haben ja den schnellen Rückfluss des Geldes. Warum erfreuen sich gerade Wandel-​​ ­anleihen zunehmender Beliebtheit? Finanzanlegern bieten Wandelanleihen zahlreiche Vorteile. Sie sind recht sichere Anlagen mit einer für heutige Verhältnisse guten Verzinsung. Sie sind flexibel zu handhaben, da Wandelanleihen in der Regel über die Börse gehandelt werden. Und sie bieten die Möglichkeit, zusätzlich von steigenden Aktienkursen zu profitieren und Anleihen in Aktien zu tauschen. Das honorieren derzeit viele Anleger.

Sie haben im September 2012 drei Windparks an den dänischen Energieversorger Dong Energy verkauft. Zieht das Kaufinteresse an Windparks bei Energieversorgern spürbar an? Das Interesse, Windparks zu erwerben und zu betreiben, ist seit Jahren ungebrochen groß. Interessenten für den Kauf von Windparks sind sowohl Energieversorger als auch Stadtwerke, Infrastrukturfonds, Versicherungen, Private-Equity-Fonds, aber auch Rentenfonds. Eines der wichtigen Argumente für Windparks ist die langfristig kalkulierbare Rendite. Haben Sie noch weitere Projekte in der Planung? Unser Unternehmen ist für die Zukunft gut aufgestellt. Wir entwickeln zurzeit drei eigene Offshore-Windparks in der Nordsee und sind als Dienstleister an weiteren sechs Projekten auf See beteiligt. Aber auch im Ausland sehen wir uns nach erfolgversprechenden Offshore-Standorten um.

»Die Strukturen in Asien sind nicht für eine Übertragung unseres Geschäftsmodells geeignet. Dort ist Energiepolitik geprägt von staatlichen Strukturen und Einflüssen.« Wie sieht es an Land aus? Allein in Deutschland arbeitet unser OnshoreTeam an Windparkprojekten mit mehr als 1.100 MW zu installierender Nennleistung. In unseren Auslandsmärkten Südosteuropa,

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Großbritannien, USA und Kanada werden weitere Projekte mit rund 2.000 MW für die Realisierung vorbereitet. Hier zahlt sich die langjährige Vorarbeit in der Projektentwicklung aus. Die PNE WIND AG ist auf Wachstumskurs.

»Die Windkraft ist das Rückgrat der Energiewende. Sie ist die wirtschaftlichste aller erneuerbaren Energien.« In den nächsten fünf Jahren wird mit der weltweiten Errichtung mehrerer Hunderttausend MW Windenergieleistung gerechnet. In vielen Ländern haben sich die Rahmenbedingungen durch die Banken- und Staatsschuldenkrise aber erheblich verschlechtert. Wenn Banken nicht zur Verfügung stehen, wie kann das finanziert werden? Banken sind wichtig für die Finanzierung von Windparks. Doch das große Interesse von Energieversorgern, Fondsgesellschaften und großen Privatinvestoren ermöglicht auch andere Lösungen bei der Finanzierung von Windparks. Neben Südosteuropa legen Sie international einen Schwerpunkt auf den nordamerikanischen Markt. Wie erfolgreich sind Sie dort? Wir sind auf unseren Auslandsmärkten gut positioniert. Allerdings ist das nicht nur ein Ergebnis von „Made in Germany“, denn wir exportieren ja keine Technologie. Wir gehen im Ausland unseren eigenen Weg, der die Erfahrung in der Projektierung, Finanzierung sowie dem Betrieb von Windparks aus

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Deutschland mit der Kompetenz örtlicher Partner verbindet. Aus dieser Symbiose ergeben sich für uns die Erfolge in unserem Kerngeschäft. Ein Engagement auf dem asiatischen Wachstumsmarkt planen Sie nicht? Sind Sie dort nicht konkurrenzfähig? Die Strukturen in Asien, vor allem in China, aber auch in Indien oder Korea sind nicht für eine Übertragung unseres Geschäftsmodells geeignet. Dort ist Energiepolitik weitgehend geprägt von staatlichen Strukturen und Einflüssen. Für einen unabhängigen Projektentwickler gibt es dort praktisch keinen Raum. Sie sind seit 1995 in der Energiebranche tätig. Bewusste Entscheidung oder Zufall? Ich war zunächst für ein Family Office tätig, in dem ich unter anderem Beteiligungen und Investments gemanagt habe. Eine dieser Beteiligungen war die damalige Plambeck Holding, aus der die heutige PNE WIND AG hervorgegangen ist. Dort war ich dann zunächst im Aufsichtsrat tätig, bevor ich 2004 in den Vorstand wechselte. Was sind für Sie Eigenschaften guter Unternehmensführung? Wesentlich sind für mich Vertrauen in gute Mitarbeiter, transparentes Handeln gegenüber den Mitarbeitern und dem Markt sowie ertragsorientiertes Handeln. Ein Blick in die Zukunft – wird sich „Made in Germany“ auch in den kommenden 60 Jahren als weltweites Gütesiegel behaupten können?


Martin Billhardt im Interview

Bei den erneuerbaren Energien hat sich Deutschland im weltweiten Wettbewerb durch ständige Innovationen sehr gut positioniert. Im Anlagenbau und der Serienfertigung sind asiatische Unternehmen inzwischen zu ernsthaften Konkurrenten herangewachsen. Doch technologische Spitzenleistungen kommen weiterhin aus den Forschungs- und Entwicklungsbereichen deutscher Unternehmen. Ich vertraue auch weiterhin auf die Leistungen der Ingenieure.

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Prof. Dr. Peter Bofinger Professor für Volkswirtschaftslehre Universität Würzburg

¬ ZUR PERSON Peter Bofinger, Jahrgang 1954, ist ein deutscher Ökonom, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Würzburg und seit 2004 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der führende Vertreter der nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik war vor seiner Habilitation wissenschaftlicher Mitarbeiter im Stab der Wirtschaftsweisen sowie Bundesbank-Oberrat der Volkswirtschaftlichen Abteilung der Landeszentralbank in Baden-Württemberg.

¬ ZUR INSTITUTION Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, umgangssprachlich „die fünf Wirtschaftsweisen“ genannt, ist ein 1963 gegründetes Gremium. Seine Aufgabe ist es, ein unabhängiges Gutachten über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zu erstellen sowie daraus Prognosen für die Zukunft abzuleiten, um die Urteilsbildung aller verantwortlichen wirtschaftspolitischen Instanzen sowie der Öffentlichkeit zu erleichtern. Die Bundesregierung nimmt spätestens acht Wochen nach Vorlage im Rahmen ihres Jahreswirtschaftsberichts Stellung zu dem Gutachten.

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Prof. Dr. Peter Bofinger im Interview

» Kein Ökonom kann wissen,

wie sich die Währungsunion in den nächsten vier Jahren entwickelt « Carmen Matzenmiller und Ramona Mittler sprachen mit dem Wirtschaftsweisen Prof. Dr. Peter Bofinger über den „Patienten Griechenland“, das Handeln der Bundesregierung in der Krise und über die Notwendigkeit von Staatsanleihenkäufen der Europäischen Zentralbank.

Herr Prof. Dr. Bofinger, welche wesentlichen Schritte haben Sie zu der Person gemacht, die Sie heute sind? Das Besondere ist sicherlich, dass ich eine sehr stark praxisorientierte Laufbahn hinter­ mir habe. Der typische Ökonom, Volkswirt­ schaftsprofessor, ist in seiner Karriere hauptsächlich an der Uni gewesen. Ich habe immer diesen Wechsel gehabt: vom Studium zum Sachverständigenrat, danach wieder an die Uni und anschließend fünf Jahre bei der Landeszentralbank als regionale Hauptverwaltung der Bundesbank. Dort war ich in der Wirtschaftspolitik aktiv und habe dann das Glück gehabt, mehr oder weniger direkt einen Lehrstuhl zu bekommen. Unter heutigen Bedingungen wäre es mit einem solchen praxisorientierten Ansatz sehr schwer, Professor zu werden. Was macht Ihnen besonders Spaß an Ihrem Beruf? Vieles. Ich habe natürlich das Glück, zusätzlich zu meiner Lehre den Sachverständigenrat zu haben. Das ist eine spannende Mischung und so habe ich einen stärkeren Praxisbezug als andere Volkswirtschaftsprofessoren, die nur an der Uni tätig sind. Ich schreibe außerdem gerne Bücher. Für einen Ökonomen ist eine

Krise natürlich auch eine spannende Zeit. Das muss man ja mal ehrlich sagen. Das ist genau wie bei Vulkanologen: Es ist natürlich spannender, wenn mal ein paar Vulkane hochgehen, als wenn der durch die Eifel läuft und denkt, okay, da passiert vielleicht in 1.000 Jahren wieder was. Viele Strukturen und Zusammenhänge kann man im pathologischen Zustand besser erkennen, als wenn alles gut läuft. Deswegen ist es für einen Ökonomen eine unglaublich interessante Phase, die wir da jetzt seit 2007 erleben. Wir erkennen auch, wie unzureichend viele Modelle sind. Das ist eine große Herausforderung. Kein Ökonom kann behaupten zu wissen, wie sich die Währungsunion in den nächsten vier Jahren entwickelt. Das geht gar nicht, weil es einfach eine singuläre Entwicklung ist. Gibt es auch Dinge, die Sie in Ihrem Leben anders gemacht hätten? Das ist immer die falsche Frage. Man muss sich als Gesamtkunstwerk betrachten. Jetzt zu sagen: Ach, hätte ich da das und da jenes gemacht, wäre das besser oder schlechter … Es gibt Dinge, die ich hätte anders machen können, aber den jetzigen Zustand finde ich gut. Und deshalb war der Weg, der mich hierhin geführt hat, offensichtlich kein schlechter.­

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Was war Ihr schwierigstes berufliches Problem? Sie stellen Fragen! Karrieremäßig war das Schwierigste an meiner Laufbahn sicherlich, den ersten Ruf an eine Universität zu bekommen. Wenn man von einer Universität berufen wird, hat man quasi den Jackpot: Man ist relativ jung, hat einen Lehrstuhl, eine unabhängige Position, viele Freiheiten und wird gut bezahlt. Auch die Lehre kann sehr spannend sein. Aber in dieser Phase ist nicht klar, ob man die Position überhaupt bekommt. Das hängt von vielen Zufälligkeiten ab und es

»In den letzten Jahren wäre es gut gewesen, wenn die Bundes‑ regierung ein wenig mehr unserem Rat gefolgt wäre. Es fehlt der Mut, mit einer länger‑ fristigen Perspektive an die Sache ranzugehen.« herrscht ein ordentlicher Wettbewerb. Es ist also schon ein Risiko, einen solchen Berufsweg zu wählen, da die Pyramide sehr schmal ist. Wenn man den Sprung in die Professur nicht schafft, hat man schnell ein existenzielles Problem. Sie sind seit 2004 Mitglied im Sachverständigenrat. Worin genau besteht dessen Rolle? Der Sachverständigenrat ist eine wichtige Einrichtung, weil er ein wichtiges Modell einer wissenschaftlichen, von der Politik unabhängigen Beratung darstellt. Wir werden zwar von der Bundesregierung ernannt, aber in unserem Gutachten sind wir unabhängig.

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Frau Merkel bekommt das Gutachten erst, wenn es vollkommen fertig ist. Die Politik ist ja oft sehr kurzatmig, an der Wiederwahl orientiert, vernachlässigt längerfristige Perspektiven und hat nicht den Mut für unpopuläre Dinge. Es ist die Chance des Sachverständigenrats, dass wir als Advokat der Bürger aufzeigen: Das ist es, was langfristig wirklich wichtig ist. Es mag zwar kurzfristig unpopulär sein, aber es rechnet sich auf Dauer. Das heißt, wir haben die Möglichkeit, längerfristige Perspektiven unabhängig von wahltaktischen Erwägungen zu diskutieren und in die Öffentlichkeit zu bringen. Ein anderes Modell politischer Beratung gibt es in den USA: der „Council of Economic Advisers“. Das ist eine Institution in der Regierung, die dem Präsidenten direkt zuarbeitet. Da existiert natürlich keine Unabhängigkeit mehr. Vielleicht wäre beides gut: die unabhängige Institution von außen und eine in der Regierung. Denn eines ist ganz klar: Wenn wir in der Regierung wären, dürften wir auch nichts mehr gegen die Regierung sagen. Dann würden wir einen Wirtschaftsbericht machen, wo wir Dinge darstellen, die mit dem, was die Bundesregierung will, konform sein müssten. Welche wichtigen Empfehlungen haben Sie hinsichtlich der Krise gegeben? Wir haben zum Beispiel 2009 ganz klar gesagt, keine Steuersenkung. Es ist überhaupt kein Geld da, das ist der falsche Weg. Letztes Jahr haben wir gesagt, wir brauchen zur Stabilisierung der Währungsunion eine abgesicherte Gemeinschaftshaftung, sonst wird die Europäische Zentralbank gezwungen, die Rettung zu übernehmen.


Prof. Dr. Peter Bofinger im Interview

Sie sind einer der fünf Wirtschaftsweisen. In welchen Situationen fühlen Sie sich auch einfach mal ratlos? Ich definiere Weisheit wie Sokrates, dass man also vor allem wissen sollte, was man nicht weiß. So wie sich die Eurokrise heute entwickelt, gibt es kein Patentrezept. Wenn in die Uniklinik ein Patient mit Herzproblemen eingeliefert wird, dann wissen die Ärzte, wie das aussieht und was voraussichtlich passiert. Das ist ein hochstandardisierter Vorgang. Griechenland ist ein Patient, den wir so noch nicht gehabt haben. Das macht es schwierig. Und eine Währungsunion zu stabilisieren, die insgesamt in Schieflage geraten ist, das hat es in dieser Form auch noch nie gegeben. Das Grundproblem der Volkswirtschaftslehre be‑ steht darin, dass sie keine Naturwissenschaft­ ist und wir es häufig mit singulären Konstellationen zu tun haben. Wir versuchen natür­ lich, dabei einzelne typische Elemente zu identifizieren, um daraus auf objektive, wissenschaftliche Art Entwicklungen aus der Vergangenheit ableiten zu können. Der Sachverständigenrat ist bestimmt nicht immer der gleichen Meinung. Wie kommt man auf einen gemeinsamen Nenner? Es gibt viele wichtige Dinge, bei denen wir einer Meinung sind – gerade den Schuldentilgungspakt, diese wichtige Initiative für den Euro, haben wir gemeinsam entwickelt. Aber es gibt auch Fragen, die wir unterschiedlich sehen, und dann schreibt man notfalls ein Min‑ derheitsvotum. Bei anderen Institutionen wie dem Verfassungsgericht ist das auch üblich. Haben Sie den Eindruck, die Bundes­ regierung folgt Ihrem Rat?

In den letzten Jahren wäre es gut gewesen, wenn die Bundesregierung ein wenig mehr unserem Rat gefolgt wäre. Es fehlt der Mut, mit einer längerfristigen Perspektive an die Probleme ranzugehen. Das Handeln der Bundesregierung war meist sehr kurzfristig orientiert und das sieht man am Ergebnis. Sie stehen ständig in der Öffentlichkeit. Gibt es Momente, in denen Sie sich mehr Ruhe wünschen? Eigentlich schon. Dass man wegen des Sachverständigenrats ständig Interview- und Vortragsanfragen kriegt, ist anstrengend. Um Beachtung zu finden, muss man aber das Rad schon ein bisschen drehen und eine gewisse Präsenz in den Medien haben. Wenn Journalisten anrufen und ich sage jedes Mal, ich habe keine Lust, rufen die nicht mehr an. Auf der anderen Seite ist der Preis natürlich hoch, weil das doch sehr viel Zeit kostet. Ein bisschen ruhiger wäre schon gut. Sie waren Mitinitiator einer Initiative von 59 Professoren für den Euro. Warum würden Sie sich wieder für den Euro stark machen? Ich glaube, dass Deutschland insgesamt mit dem Euro gar nicht schlecht gefahren ist. Sonst wäre die Entwicklung vielleicht wie in Japan oder in der Schweiz verlaufen. Unsere ganze Exportstärke, unsere wettbewerbsfähige Industrie, auf die wir so stolz sind, das hat sehr viel mit dem für uns sehr günstigen Wechselkurs zu tun. Aus dem Grund ist es auch wichtig, sich weiterhin für den Euro einzusetzen. Wenn man den Wechselkurs vollständig dem Markt überlässt, kann alles Mögliche passieren. Mir ist die Wettbewerbsbasis unserer Industrie zu wichtig, als dass ich

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

mich auf so eine Art Roulette-Mechanismus verlassen würde, wie ihn die Devisenmärkte darstellen. Wichtig ist sicher, dass wir aktiv an der Stabilisierung des Systems arbeiten. Es gibt ja einige, die sagen, mit der EZB und ihrer Rettungsaktion sei das Schlimmste vo-

»Ich glaube, dass die Grund­ probleme weiterhin stark da sind und dass die Gefahr besteht, dass Länder wie Spanien oder Italien und Portugal konjunkturell noch weiter abrutschen. Vor zwei Jahren hat kaum jemand erwartet, dass es Griechenland heute so schlecht gehen würde.« rüber. Ich glaube, dass die Grundprobleme weiterhin sehr stark da sind und dass die Gefahr besteht, dass Länder wie Spanien oder Italien und Portugal konjunkturell noch weiter abrutschen. Vor zwei Jahren hat kaum jemand erwartet, dass es Griechenland heute so schlecht gehen würde – die Prognosen waren erheblich positiver. Was passiert, wenn Spanien und Italien noch weiter abrutschen? Wenn wir diese Prozesse nicht in den Griff kriegen, haben wir ein Problem für die Währungsunion. Stark steigende Arbeitslosenzahlen vor allem bei jungen Menschen sind ein ökonomischer und politischer Sprengsatz für den Euro. Wie beurteilen Sie den Beschluss der EZB, unbegrenzt Staatsanleihen aufzukaufen?

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Das reflektiert nur die Tatsache, dass die Politik nicht bereit gewesen ist, sich aktiv für die Stabilisierung einzusetzen. Man hätte das vermeiden können, wenn die Regierung gesagt hätte: Wir versuchen, das Problem fiskalpolitisch über eine gemeinsame Haftung zu lösen. So war die EZB im Juli in der Situation, entweder Staatsanleihen zu kaufen oder einen Zusammenbruch der Währungsunion zu riskieren. Ich finde das immer wenig überzeugend, wenn manche Ökonomen in Deutschland sagen, die Anlagenkäufe der EZB seien inakzeptabel und ordnungspolitisch nicht zu vertreten, aber im gleichen Atemzug feststellen, natürlich solle die Währungsunion bestehen bleiben. Konsequent wäre, wenn solche Ökonomen klar sagen würden, Deutschland tritt am besten aus der Währungsunion aus. Dann kann man die Risiken offen diskutieren: Aber wir können nicht die Währungsunion haben und die Interventionen der EZB nicht wollen. Das passt nicht. Wie stehen Sie zu der Idee einer euro­ päischen Bankenaufsicht? Ich finde, das ist eine vernünftige Idee, denn ein Großteil unserer Probleme lag daran, dass im Bankenbereich unglaubliche Fehler gemacht wurden, dass Banken ohne Sinn und Verstand Kredite vergeben haben. Das ist ein gravierendes Problem der Bankenaufsicht, die müssen völlig geschlafen haben. Wahrscheinlich wollte die nationale Bankenaufsicht ihren Banken nicht auf die Füße treten. Irland ist ja nicht so groß, da hätte man als Bankaufseher doch sehen müssen, dass da irgendwas nicht stimmt. Wenn jetzt in Würzburg das Zehnfache an Baubestand gebaut wird, muss man sich doch fragen, für wen? Wer soll da jemals drin wohnen? Eine Europäische Bankenaufsicht ist absolut ent-


Prof. Dr. Peter Bofinger im Interview

scheidend und ich verstehe überhaupt nicht, wa­rum das so lange gedauert hat, bis man dieses Thema in Angriff genommen hat. Warum ist es sinnvoll, die Aufsicht bei der EZB anzusiedeln? Die EZB weiß dann genau, welche Banken gut und welche schlecht sind. Es gibt viele Synergien, weil die EZB aus dem Bietungsverhalten bei Finanzierungskrediten gut sehen kann, welche Banken Probleme haben. Ich bin sowieso der Meinung, dass die Notenbanken auch eine Verantwortung für die Finanzstabilität haben müssen. Ein großer Teil der Probleme ist entstanden, weil die EZB überhaupt nicht erkannt hat, dass ihre Politik zwar keine Inflation, aber eine Finanzmarktinstabilität erzeugt. Die EZB hat da völlig geschlafen. Erstaunlicherweise will man das heute nicht ändern. Man glaubt weiterhin, die Notenbank sei nur für Preisstabilität zuständig. Aber was hilft es mir, wenn ich Preisstabilität habe, und die Notenbank setzt die anderen Parameter so, dass die Finanzmärkte nicht stabil sind. Wie könnte Finanzmarktstabilität in Ihren Augen entstehen? Zunächst ist die Bankenaufsicht für die Stabilität der einzelnen Banken zuständig. Für die Stabilität des Gesamtsystems kommt jedoch der Notenbank eine zentrale Rolle zu. Sie bestimmt mit ihren Zinsen sozusagen die Temperatur, das Klima des Finanzsystems. Wenn die Temperatur zu hoch ist, kommen plötzlich tropische Pflanzen und Malariafliegen und es wuchern Sachen, die nicht so gut sind. Einheimische Pflanzen werden verdrängt. Das heißt, wenn das Klima falsch geregelt ist, wird das System instabil. Die Zinsen der Notenbank sind also der wichtigste Klimaregler

für die Kreditentwicklung. Diese beeinflusst dann die Gütermärkte und von dort geht es über Rückwirkungen auf den Arbeitsmarkt und die Löhne zum Preisniveau. Die Inflationsentwicklung steht also ziemlich am Ende des sogenannten Transmissionsprozesses geldpolitischer Impulse. Für mich ist eine zentrale Konsequenz, dass Notenbanken ent‑ scheidend in die Finanzmarktstabilität eingebunden werden müssen. Manager kritisieren oft, dass sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft abkoppelt. Das Hauptproblem ist, dass der Finanzsektor eine eigenständige Dynamik entfaltet hat, bei der instabile Prozesse in der Realwirt-

»Konsequent wäre, wenn solche Ökonomen sagen würden, Deutschland tritt am besten aus der Währungsunion aus. Dann kann man die Risiken offen disku‑ tieren: Aber wir können nicht die Währungsunion haben und die Interventionen der EZB nicht wollen.« schaft entstanden sind. Die Banken haben mit den Krediten eine Kaufkraft geschaffen, die in die Immobilienmärkte ging. Dort sind Arbeitsplätze entstanden, viele Menschen haben sich auf diesen Sektor spezialisiert. So entstanden riesige Immobilienblasen und der Finanzsektor hat sich nicht abgekoppelt, sondern den Realsektor künstlich aufgepumpt. Das ist bloß keine nachhaltige Realwirtschaft. Deshalb ist es wichtig, dass

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

die Notenbank schaut, dass der Finanzsektor nicht außer Kontrolle gerät.

»Die EZB war im Juli in der ­Situation, entweder Staatsan­ leihen zu kaufen oder einen Zusammenbruch der Währungsunion zu riskieren. Ich finde das immer wenig überzeugend, wenn ­manche Ökonomen in Deutschland sagen, die Anlagenkäufe der EZB seien inakzeptabel und ordnungspolitisch nicht zu vertreten, aber im gleichen Atemzug feststellen, natürlich solle die Währungsunion bestehen bleiben.« Wird Deutschland auch in Zukunft eine starke Rolle spielen, insbesondere bei Exporten? Seit langem sehe ich die Position für Deutschland positiv. Ich habe 2004 ein Buch geschrieben „Wir sind besser, als wir glauben“ – das war damals nahezu revolutionär, weil sich die deutsche Debatte in einer völligen Depression befand. Man hatte das Gefühl, Deutschland gehe unter und habe seine Wettbewerbsfähigkeit verloren. Ich habe gesagt, das Land ist von der Industriekultur gut aufgestellt. Was uns kennzeichnet, ist, dass wir viele mittelständische Unternehmen haben, die sehr flexibel und nachhaltig aufgestellt sind. Das ist ja bei Familienunternehmen auch die Logik: Sie sind kaum vom Kapitalmarkt abhängig,

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müssen also kein kurzfristiges Feuerwerk für Investoren machen, und bieten stattdessen eine nachhaltige Geschäftspolitik. Diese geringe Abhängigkeit und die Familienperspektive kennzeichnen die Industriestruktur und machen den Erfolg aus. Das Spannende ist, dass wir diese Unabhängigkeit auch bei Großen haben, wie BMW, Bertelsmann, Bosch. Die sind nicht kapitalmarktabhängig und können sich deswegen die langfristige Perspektive leisten. Auf der Finanzmarktseite genauso: Das Dreisäulenmodell aus Sparkassen-, Genossenschafts- und Großbanken hat auch nicht diese Kapitalmarktabhängigkeit. Wenn man dann eine Refinanzierung braucht, hat man auch wieder Partner. Wenn man eines aus der Krise gelernt hat, dann, dass es die schlimmste Gefahr für eine Marktwirtschaft ist, wenn Akteure vom Kurzfristigen übermannt werden. Je kurzfristiger gedacht wird, umso mehr gerät eine Marktwirtschaft in die Schieflage.

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Heinrich Otto Deichmann Verwaltungsratsvorsitzender Deichmann SE

¬ ZUR PERSON Heinrich Otto Deichmann, Jahrgang 1962, trat als Enkel des Firmengründers 1989 ins Unternehmen ein. 1999 übernahm er die Position des Vorsitzenden der Geschäftsführung. Heute ist er Vorsitzender des Verwaltungsrats der Deichmann SE. Unter seiner Leitung wurde die Internationalisierung des Unternehmens vorangetrieben.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Deichmann SE ist Europas größter Schuhhändler mit Firmensitz in Essen und hat Lieferanten in 40 Ländern. Das Unternehmen beschäftigt insgesamt rund 32.500 Mitarbeiter und betreibt circa 3.300 Filialen in 22 Ländern. Die Deichmann SE befindet sich zu 100 Prozent in Familienbesitz und begeht 2013 ihr 100-jähriges Jubiläum.

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Heinrich Otto Deichmann im Interview

» Steigende Energiekosten

verteuern unsere Beschaffungsprozesse « Anna Petersen sprach mit Heinrich Deichmann, Verwaltungsratsvorsitzender der Deichmann SE, über unternehmerische Entscheidungen, seine Mitarbeiterführung und die Bedeutung von Nachhaltigkeit.

Herr Deichmann, was macht für Sie persönlich den perfekten Schuh aus? Das hängt sehr stark von seinem Einsatzgebiet ab. Grundsätzlich sollte ein Schuh gut passen, solide sein und die aktuelle Mode widerspiegeln. Ich persönlich liebe zum Beispiel elegante Herrenschuhe im italienischen Stil, passend zum Anzug für das Büro. Worin besteht Ihrer Meinung nach das Erfolgsgeheimnis von Deichmann? Es gibt bei uns einen Dreiklang, den jeder Mitarbeiter kennen muss: Wir wollen für die ganze Familie modische Schuhe in einer guten Qualität zu einem sehr günstigen Preis anbieten. Damit sind wir seit fast 100 Jahren erfolgreich. Welche Leitsätze bzw. Wertvorstellungen prägen Ihre tägliche Arbeit? Meine Wertvorstellungen sind durch meinen christlichen Glauben geprägt. Ich versuche, den Maßstäben der Bibel gerecht zu werden. Konkret heißt das: Gott hat mir Gaben und Fähigkeiten anvertraut, die ich für ihn und meine Mitmenschen einsetzen soll. Darum bemühe ich mich jeden Tag von neuem.

Jüngst wurde die Energiewende in Deutschland beschlossen. Inwiefern betrifft das Thema Ihr Unternehmen? Momentan sind die steigenden Energiekos­ ten der stärkste Treibsatz für die Inflation. Auch hier gilt: Wenn die Menschen weniger Geld im Portemonnaie haben, müssen sie sich beim Konsum einschränken. Für uns als Unternehmen gilt: Steigende Energiekosten verteuern unsere Beschaffungsprozesse – von der Logistik bis in die Läden hinein. Und es wird schwer, diese Kosten über die Preise wieder hereinzuholen. Schon früh haben Sie im elterlichen Betrieb beim Auspacken und Etikettieren von Schuhen angepackt. Welches Gefühl verbindet Sie mit dem Unternehmen Deichmann? Ich bin mit der Firma groß geworden und habe schon während der Schule als Aushilfe in den Läden gearbeitet. Mein Vater hat mich früh auf seine Reisen mitgenommen, wenn das zeitlich möglich war. Insofern kann ich tatsächlich sagen, dass dieses Unternehmen ein ganz wichtiges Stück meines Lebens ist. Ich glaube, das ist typisch für Familienunternehmen.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Wenn es das Familienunternehmen Deichmann nicht gegeben hätte, was wäre Heinrich Otto Deichmann beruflich geworden? Vielleicht Lehrer oder Theologe – oder Historiker. Die Welt wird globaler, schneller, digitaler: Inwiefern hat sich das Unternehmen Deichmann unter Ihrer Führung gewandelt? Auch wir sind internationaler, schneller und digitaler geworden. Zum einen sind wir heute in 22 Ländern tätig. Zum anderen beschaffen wir international und direkt bei den Produzenten. Dadurch kommt die aktuelle Mode sehr schnell in unsere Läden. Wir waren im Jahr 2000 die Ersten, die über einen InternetShop Schuhe verkauft haben. Ein Geschäft, das sich bis heute sehr erfreulich entwickelt hat. Mittlerweile bieten wir unseren Kunden nicht nur über 3.200 Filialen an, sondern das komplette digitale Angebot – von verschiedenen Onlines-Shops über Modeblogs und Face­book bis hin zum Einkauf über das Smartphone.

»Steigende Energiekosten verteuern unsere Beschaffungsprozesse – von der Logistik bis in die Läden hinein. Es wird schwer, diese Kosten über die Preise wieder hereinzuholen.« Welche unternehmerische Entscheidung in Ihrem Leben hat sich im Rückblick als besonders wertvoll und wichtig herausgestellt?

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Sehr wichtig war die Entscheidung, die Verti­ kalisierung der Beschaffung, das heißt den direkten Einkauf bei den Produzenten voranzutreiben. Nur so sind wir wettbewerbsfähig geblieben. Gleichzeitig war mir aber immer klar, dass die Werte, die schon mein Großvater und mein Vater vertreten haben, erhalten bleiben müssen. Daher gilt nach wie vor der Leitsatz unserer Unternehmensphilosophie: „Das Unternehmen muss den Menschen dienen.“ Was würden Sie aus Unternehmersicht gerne im Nachhinein ändern? Im Einzelhandel sind wir einem ständigen Lernprozess unterworfen. Wir müssen flexibel im Umgang mit den Kunden und der Mode sein. Was in diesem Jahr richtig ist, muss nächstes Jahr nicht unbedingt stimmen. Wir prüfen und korrigieren also ständig, was wir tun. Insofern wüsste ich nicht, welchen Punkt ich besonders hervorheben sollte. Der Kampf um die besten Köpfe ist längst entbrannt. Wie sichert sich Deichmann seine Nachwuchskräfte? Wir haben bisher keine Probleme auf diesem Sektor. Ich glaube, wir profitieren davon, dass wir eine kontinuierlich wachsende Firma sind, die international wird und durch ihre flachen Hierarchien Nachwuchskräften Spielräume zur Gestaltung einräumt. Wir hören auch immer wieder von Bewerbern, dass sie unser soziales Engagement schätzen. Ihre Mitarbeiterführung wird häufig als vorbildlich gelobt. Was konkret bieten Sie Angestellten, was andere Unternehmen nicht bieten?


Heinrich Otto Deichmann im Interview

Ich kann nicht beurteilen, was andere bieten. Unsere Mitarbeiterführung wird wesentlich von unseren Führungsleitlinien beeinflusst. Dort heißt es unter anderem: „Die Zusammenarbeit zwischen Führungskraft und Mitarbeiter gründet sich bei Deichmann auf dem sicheren Fundament gegenseitigen Vertrauens. Unsere Führungskräfte vertrauen auf die Leistungsfähigkeit und die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter sowie auf deren Bereitschaft, Absprachen und Vereinbarungen einzuhalten.“ Und weiter: „Unsere Führungskräfte tun, was sie sagen. Durch ihre Verlässlichkeit und Geradlinigkeit sowie ihr offenes Ohr für persönliche Probleme und Wünsche gewinnen und erhalten sie das Vertrauen ihrer Mitarbeiter und ihrer Umgebung.“ Wir zahlen außerdem über Tarif, bieten den Mitarbeitern Sonderleistungen wie Prämien, eine zusätzliche Altersversorgung, spezielle Gesundheitswochen und Hilfe in persönlichen Notfällen durch unsere Unterstützungskasse. Ihr Unternehmen ist vor einigen Jahren wegen der Arbeitsbedingungen bei Zulieferbetrieben im asiatischen Raum in die Kritik geraten. Wie gehen Sie mit solchen Vorwürfen um? Grundsätzlich nehmen wir solche Vorwürfe ernst und bemühen uns so schnell wie möglich um Klärung des Sachverhalts. Bestandteil unserer Lieferverträge ist unser „Code of Conduct“, der die Sozialstandards für die Produktion definiert und sich an den Vorgaben der International Labour Organisation (ILO) orientiert. Unsere Lieferanten wissen, dass die Vorgaben verbindlich sind. Natürlich können Sie Verstöße oder Fehler nie ganz ausschließen. Daher muss man solchen Hin-

weisen nachgehen und darf sich nicht auf den Standpunkt stellen, das könne einem nicht passieren. Dort, wo im Rahmen unserer Audits oder von Dritten Verstöße festgestellt werden, muss der Lieferant die Missstände abstellen. Tut er das nicht, verliert er den Auftrag.

»Im Einzelhandel sind wir einem ständigen Lernprozess unterworfen. Wir müssen flexibel im Umgang mit den Kunden und der Mode sein.« Schuhe für 20 Euro aus einer hochwertigen Produktion zu fairen Löhnen – ist das machbar? Ja, weil wir den Zwischenhandel ausgeschaltet haben und die Modelle in so großen Mengen direkt bei den Produzenten einkaufen, dass wir auf einen günstigen Stückpreis kommen. Dazu kommt, dass wir uns selbst um eine effiziente Logistik kümmern und mit einer schlanken Hierarchie im Unternehmen die Verwaltungskosten gering halten. Wir haben übrigens nicht nur Schuhe für 20 Euro, sondern auch für 99 Euro im Angebot. Wie kann man in Zeiten der Globalisierung nachhaltig und gleichzeitig wettbewerbsfähig wirtschaften? Indem man langfristig denkt und plant, keine unrealistischen Wachstumsfantasien ent­ wickelt und bei der Expansion die vorhandenen finanziellen und organisatorischen Ressourcen als Maßstab nimmt. Damit bleibt man unabhängig von Banken und Börsen und kann seine eigene Unternehmensphilosophie

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

umsetzen. Dazu gehört, dass wir uns um die Rahmenbedingungen unserer Produktion kümmern. Das beginnt bei menschenwürdigen Produktionsbedingungen, die wir bei unseren Lieferanten über unseren Code of Conduct einfordern und kontrollieren. Nach

»natürlich spüren wir, wenn sich das konsumklima verändert. Wenn die menschen ihr geld zusammenhalten müssen, wissen sie unsere günstigen angebote zu schätzen. aber irgendwann ist da natürlich auch eine grenze erreicht.« unserer Erfahrung lassen sich qualitativ gute und damit letztlich wettbewerbsfähige Produkte nur unter vernünftigen Arbeitsbedingungen herstellen. Zur Nachhaltigkeit gehören auch Themen wie der CO2-arme Transport unserer Schuhe per Schiff und Bahn oder die energiesparende Ausstattung unserer Läden und Zentrallager. Auch unser soziales Enga-

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gement für Entwicklungsprojekte, die armen Menschen in Indien, Tansania und Moldawien Hilfe zur Selbsthilfe vermitteln, gehört unter diese Überschrift. Nachhaltigkeit bedeutet aber auch, dass wir seit 100 Jahren am Markt sind und vielen Menschen einen sicheren Arbeitsplatz bieten. Seit Monaten ringt Europa mit den Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise. Ist auch Ihr Unternehmen betroffen? Wir sind glücklicherweise nicht von der Börsenentwicklung oder von den Banken abhängig. Das gibt uns eine gewisse Unabhängigkeit. Aber natürlich spüren wir, wenn sich das Konsumklima verändert. Wenn die Menschen ihr Geld zusammenhalten müssen, wissen sie unsere günstigen Angebote zu schätzen. Aber irgendwann ist da natürlich auch eine Grenze erreicht. In Spanien und Portugal ist das momentan zu spüren. Da wir aber unser Expansionstempo an die jeweilige Marktentwicklung anpassen, können wir sehr flexibel auf die jeweilige Lage reagieren. Wir denken in Dekaden und nicht in Quartalen.

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Paul Gauselmann Vorstandssprecher Gauselmann Gruppe

¬ ZUR PERSON Paul Gauselmann, Jahrgang 1934, begann 1957 neben seiner Angestelltentätigkeit selbständig Musikautomaten aufzustellen. 1965 machte er sich aus der Position des Entwicklungsleiters bei einem in der Automatenherstellung tätigen Unternehmen mit 15 Angestellten selbständig. Seit 35 Jahren produziert Paul Gauselmann Geldgewinnspielgeräte.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die in Espelkamp und Lübbecke beheimatete Gauselmann Gruppe ist Entwickler, Hersteller, Vertreiber, Finanzier, Anbieter und Betreiber von Spielen an münzbetätigten Unterhaltungsautomaten und Anbieter von Spielen im Internet. Von den 8.000 Mitarbeitern der Gauselmann Gruppe arbeiten über 5.500 in Deutschland. Das Unternehmen betreibt zudem über 500 Entertainmentcenter europaweit.

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Paul Gauselmann im Interview

» Die Berufsfreiheit ist ein Grund-

recht, das man nicht einfach ausradieren kann « Roman Strauch und Christian Epping sprachen mit Paul Gauselmann, Vorstandssprecher der Gauselmann Gruppe, über den harten Konkurrenzkampf mit dem staatlichen Glücksspiel, die Ressentiments gegen seine Branche und die Einbindung der neuen Medien.

Herr Gauselmann, Sie sind Konzernchef, Vorstand und Gründer. Finden Sie noch Zeit, sich an den Automaten zu setzen und zu spielen? Ja! Ich bin durch die Leidenschaft zum Spielen in diese Branche gekommen. Als gelernter Techniker habe ich bis heute über 300 Patente für mein Unternehmen geschaffen. Jede Woche verbringe ich einen Tag bei der Entwicklung und bin bis heute tief im Spiel drin. Wie kamen Sie auf die Idee, Glücksspielautomaten zu produzieren? Mit 19 habe ich schon an Geräten gespielt. Aber in die Branche bin ich 1957 durch Musikautomaten aus Amerika gekommen. Und zum Geschäft gehörten auch Spielgeräte, Fußballkicker, Flipper, Kegelbahnen. Dann hat sich das Spiel mit und um kleines Geld immer mehr als Kern der Branche herausgestellt, sodass ich die Automaten erst in Gaststätten aufgestellt und irgendwann damit gehandelt habe. 1972 habe ich gemerkt: Als Händler ist man immer nur zweites Glied, wer selber baut, ist vorne. Es hat vier Jahre gedauert und viel Geld gekostet, bis ich mein erstes Gerät fertig hatte. 1976 habe ich die erste Genehmigung von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt bekommen. Ergebnis war,

dass meine Spiele so spannend waren, dass ich schon 1984 in Deutschland Marktführer mit über 50 Prozent Marktanteil wurde. Wie haben Sie sich das nötige Know-how angeeignet? Wenn man Techniker ist und zusätzlich noch Spaß am Spiel hat, kann man daraus was machen. Wenn Sie mich fragen, ob ich 1957 geahnt habe, dass ich heute einen Milliardenbetrieb haben würde, muss ich sagen: Das plant man nicht, da muss man viele Jahre eisern arbeiten und konstant bei der Sache bleiben. Heute gibt es in Deutschland einen Freizeitmarkt von über 300 Milliarden Euro und das Glücksspiel der Länder, unser Geschäft sowie das Internet machen mit etwa 10 Milliarden Euro Einnahmen gerade 3 Prozent aus. Gab es einen entscheidenden Moment, in dem Sie sich Ihres Erfolgs sicher waren? Ich habe 55 Jahre meinen Betrieb geführt und nicht einmal rote Zahlen geschrieben. In einzelnen Firmen des Konzerns natürlich immer mal, wenn ich in eine neue Branche investiere wie heute in die neuen Medien. Es war ein konsequenter Prozess in kleineren und größeren Schritten. Jeder Erfolg hat mich darin bestätigt, dass ich auf dem richtigen Weg war und bin. Und so habe ich die Chancen ge-

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

nutzt, die sich im Freizeitmarkt boten. Zwei Punkte möchte ich als Durchbruch mit AhaEffekt bezeichnen: Zum einen meine erste moderne Spielothek, die 1974 auf Anhieb ankam. Und zum zweiten mein erstes MerkurGeldspielgerät, das 1974 auf den Markt kam und gleich vom Start weg 100 Prozent besser bespielt wurde als die anderen Geräte.

»Wenn wir in Deutschland nicht mehr investieren können, investieren wir in England. Das sind 1.500 Arbeitsplätze, die auch hier sein könnten.« Welche Rolle spielt das Internet im Glücksspielgeschäft? Das Internet hat sich im Bereich Spiele in den letzten Jahren in enormer Geschwindigkeit entwickelt. Die Frage ist, ob auf Dauer nur noch online gespielt wird. Wir glauben das nicht. Aber das Internet wird zur Konkurrenz für alle bisherigen Angebote und deswegen müssen wir tätig werden. In Deutschland ist es allerdings verboten. Bloß wer will das strafrechtlich verfolgen, wenn einer im Wohnzimmer im ausländischen Internet-Casino spielt? In Deutschland liegt das Glücksspielmonopol bei den Bundesländern. Als diese Monopolstellung gefährdet war, haben die Bundesländer 2004 erstmalig einen Lottostaatsvertrag beschlossen, der zwei Jahre später vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde. Die Begründung: Ein Monopol muss sich mit einem gesellschaftspolitisch wichtigen Ziel rechtfertigen, zum Beispiel mit der Bekämpfung der Spielsucht. Daraufhin haben die Verfechter des Monopols 16 Millionen Euro in die Hand genommen, um die Spielsucht erfor-

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schen zu lassen. Wenn aber das staatliche Monopol Auftraggeber ist, wird die Forschung bestimmt nicht das staatliche Spielwesen im Fokus haben, sondern die private Wirtschaft. Seitdem liest man über unsere Branche so viel in den Medien. Theoretisch möchten viele in den Bundesländern unsere Zufallsspiele mit Geldeinsatz verbieten. Dass wir als Spielanbieter in der freien Wirtschaft mehr Einnahmen haben als Lotto, Spielbanken und Oddset-Wetten zusammen, hat dort logischerweise einiges ausgelöst. Wenn Online-Glücksspiel in Deutschland verboten ist, inwiefern investieren Sie dann in die neuen Medien? Bis 2008 durfte man im Internet spielen. Spielbanken in Hamburg und Hessen boten hier Roulette und Automatenspiele an. Als das Internetspiel verboten wurde, hat die Spielbank in Hamburg ihre Entwicklungsfirma an uns verkauft, in der heute 40 Ingenieure Plattformen für Spielangebote im Internet entwickeln. Da wir in Deutschland keine Lizenzen haben, verkaufen wir die Plattformen an Betreiber im Ausland – unter der Bedingung, dass von dort keine OnlineSpiele in Deutschland angeboten werden. Das ist für uns wichtig, denn wir werden nach deutschem Recht beurteilt. Wenn etwas von unseren Plattformen im Internet ist, gibt es immer den Warnhinweis: In Deutschland nicht erlaubt. Gibt es Länder, die in Ihren Augen mit der Gesetzgebung beim Glücksspiel besser umgehen? In England ist man sehr tolerant und hat eine liberale Gesetzgebung und trotzdem keine großen Auswüchse. Dort gibt es nur das pri-


Paul Gauselmann im Interview

vate Angebot. In Deutschland möchte man am liebsten Schweizer Verhältnisse. In der Schweiz wurde das private Glücksspiel total verboten und dafür die Zahl der Spielbanken verzehnfacht. Und was hat sich da geändert in Sachen Spielsucht? Nichts!. Ist Ihre härteste Konkurrenz damit das staatliche Glücksspiel? Es ist unmenschlich, weil die Macht auf der anderen Seite so groß ist. Da braucht praktisch der beamtete Glücksspielmanager – meistens ehemalige Politiker – nur zu seinem früheren Kollegen aus der Politik zu gehen und zu sagen: „Schaff mir die Konkurrenz mal vom Hals.“ Niemand regt sich auf. Aber wenn wir mit der Politik reden oder auf Wunsch Spenden geben, wirft man uns das vor. Auf Druck der Europäischen Kommission wurden gerade 20 Lizenzen für Sportwetten ausgeschrieben. Da werden wir uns bewerben. Aber wir sind im Nachteil: Für Wetten aus dem Ausland zahlen Anbieter auf den Einsatz ein halbes bis maximal 2 Prozent Steuern. In Deutschland muss man 5 Prozent zahlen. Wenn man also 90 Prozent der Einsätze als Gewinne auszahlt, muss man schon 50 Prozent Steuern vom verbleibenden Erlös abführen. Bei einem halben Prozent wären nur 5 Prozent Steuern abzuführen. Darüber hi­ naus stehen wir in Konkurrenz mit den staatlichen Oddset-Wetten. Die dürfen an 24.000 Lottoannahmestellen ihre Wettscheine annehmen. Die 20 privaten Lizenznehmer würden aber zum Beispiel im Saarland nur je drei Annahmestellen bekommen. Alle Anbieter zusammen würden in allen Bundesländern nur 6.000 Annahmestellen bekommen. Das ist eine enorme Benachteiligung der privaten Wettanbieter.

Wird es von der Öffentlichkeit besonders kritisch beäugt, wenn Glücksspielanbieter Menschen in finanzschwachen Ländern „verführen“? Man verführt keinen Menschen. Man gibt ihm die Möglichkeit, aus dem tristen Alltag rauszukommen. Zu einem Preis, der – anders als bei uns – beim staatlichen Glücksspiel unbegrenzt ist. In Spielbanken stehen die gleichen Automaten wie bei uns, aber Einwurfmenge und Gewinnhöhe sind unbeschränkt, während bei uns in 5 Sekunden maximal 20 Cent eingesetzt werden dürfen. Ich betreibe selber über 10.000 dieser Geräte in Deutschland. Die bringen pro Stunde laut Fraunhofer-Institut im Durchschnitt 10,85 Euro. Aus der Sicht des Spielers heißt dies, dass er im Durchschnitt zwischen 5 und 15 Euro pro Stunde für sein Spielvergnügen am Spielgerät ausgibt. Warum konzentriert sich die Kritik trotzdem so stark auf das private Glücksspiel? Eine behauptete Verschärfung der Spielsuchtproblematik kann nicht der Grund sein. Seit Jahrzehnten bleibt die Quote der pathologischen Spieler in der Bevölkerung mit 0,2 bis 0,56 Prozent ziemlich konstant. Verändert hat sich nur die Verteilung der Umsatzanteile im Glücksspielmarkt. Die Umsätze des Glücksspielmonopols haben eine rasante Talfahrt erlebt. Und die privaten Anbieter haben das staatliche Monopol überholt. Anstatt mit Mitteln des unternehmerischen Wettbewerbs zu arbeiten, haben sich die Vertreter des staatlichen Monopols für unsachliche Kritik des Wettbewerbs bis hin zur Diffamierung unseres Berufsstands entschieden. Mit freiem Wettbewerb hat das nichts zu tun.

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Welche Bedrohungen gehen vom neuen Glücksspielstaatsvertrag aus?

Aktuell kämpfen Sie gerichtlich gegen den neuen Staatsvertrag?

Wenn das Gesetz der gerichtlichen Prüfung standhält, wird es nach fünf Jahren 50 Prozent der Branche nicht mehr geben. Von 70.000 Arbeitsplätzen würden 35.000 verloren gehen, also dreimal so viel wie jetzt bei der berühmten Schlecker-Pleite. Und es würde viele Regressansprüche geben. Mein Unternehmen hat jedes Jahr über 200 Millionen Euro in die Zukunft investiert. Wir waren sehr sparsam und haben das Geld in der Firma gelassen. Der Glücksspielstaatsvertrag orientiert sich an den Abschreibungen der Spielgeräte mit vier bis fünf Jahren. Deswegen sollen die krassen Einschnitte für unsere Branche nach einer Übergangsfrist von fünf Jahren wirksam werden.

Es geht nicht anders, denn schließlich sind wir in unserer Existenz bedroht. Wir gehören nicht zum Glücksspiel, sondern bieten Unterhaltungsspiel mit Geldgewinn. Das ist seit 60 Jahren vom Bund eng geregelt, daher auch der begrenzte Geldeinwurf. Nur ein Beispiel: Vor einem Jahr hat ein TV-Manager in Thüringen vor Gericht ausgesagt, er habe an einem Abend in der Spielbank 40.000 Euro verloren.­Um bei uns solche Summen zu verlieren, müssen Sie ein Jahr lang jeden Tag zehn Stunden spielen. Da sehen Sie den Unterschied zwischen dem staatlichen Glückspiel und uns. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Das muss gerichtlich wieder ge­ radegerückt werden.

Dabei hat der Gesetzgeber jedoch Wesentliches übersehen. Da sind unsere Gebäude mit 33 Jahren Abschreibungsfrist, Mietverträge, die über 15 Jahre laufen. Teure Einbauten in Spielstätten werden über einen Zeitraum von zehn Jahren abgeschrieben. Mit dem Glücks­ spielstaatsvertrag sollen wir enteignet werden. Der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag Volker Kauder hat dazu klar gesagt: „Was dort passiert, ist verfassungswid­ rig. Wehrt euch.“ Viele der führenden Juristen in Deutschland kommen zu dem gleichen Schluss. Die Berufsfreiheit ist ein Grundrecht. Das kann man nicht einfach ausradieren.

Wehren Sie sich auch auf anderen Wegen gegen den Vertrag?

Meine Familie hat hier 55 Jahre Geld verdient, wir müssen uns um unsere Zukunft keine Sorgen machen. Aber stellen Sie sich die Verunsicherung bei meinen 5.500 Mitarbeitern in Deutschland vor. Die Führungskräfte fragen: Mensch, habe ich überhaupt eine Zukunft bei einer Firma in dieser Branche?

Spielen ist eine urmenschliche Angelegenheit. Bevor die Schweiz das Spielbankengesetz geändert hat, wurde gemessen, wie viel erwachsene Schweizer pathologische Spieler sind: 0,5 Prozent. Nach sieben Jahren hätten es weniger werden müssen, denn man hatte das Glücksspiel auf 21 Spielbanken konzen­

Wir haben in Berlin vor kurzem eine große Demonstration im Regierungsviertel gemacht. Aber das interessiert doch keinen Menschen. Man pflegt seine Vorurteile gegen unser kleines Spiel und wir bedienen die gut. Ganz nebenbei bemerkt: Wo findet denn das größte Glücksspiel in Deutschland statt? Legal an der Börse! Wie stehen Sie selbst zum Thema Spielsucht?


Paul Gauselmann im Interview

triert. Das Ergebnis war aber gleich, weil unabhängig vom Spielangebot immer der gleiche Prozentsatz von Menschen da ist, der krank wird. Daraus haben nicht nur die Schweizer die Schlussfolgerung gezogen, dass nicht das Spielgerät das Problem ist, sondern der Mensch selbst. Früher gab es auch kein Massenangebot für Poker, trotzdem haben wir jetzt nicht Tausende süchtiger Pokerspieler. Von der gesamten erwachsenen Bevölkerung ist es ein kleiner Teil Menschen, die mit ihrem Leben nicht zurechtkommen. Die mit Geld nicht umgehen können, die alles übertreiben, was sie anfangen. Und diese Menschen fallen bei uns auf. Wir machen sie nicht zu Verlierern, sie sind es leider schon, wenn sie zu uns kommen. Das sind Menschen, die bei uns Ablenkung finden. Wenn sie nicht erkennen, dass sie damit ihre Probleme nicht lösen können, bleiben sie länger, eventuell wird auch noch ihr schmaler Geldbeutel überstrapaziert, und ihre Probleme wachsen. Das haben wir schon vor Jahrzehnten erkannt. Deswegen ist auf jedem Automaten ein Warnhinweis: „Übermäßiges Spielen ist keine Lösung bei persönlichen Problemen“. Dort findet man auch die Telefonnummer einer Info-Hotline bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Wir unternehmen viele Anstrengungen, Menschen mit Spielstörungen früh zu erkennen und sie einer professionellen Hilfe zuzuführen. Werden die Leute weniger spielen, wenn der Staatsvertrag kommt? Wenn die 250.000 Geräte in Deutschland um die Hälfte reduziert und das Spiel noch uninteressanter gemacht wird, gehen die Leute nicht mehr zu uns, sondern ins Internet. Die

Leute werden also nicht weniger spielen, aber woanders. Und zwar dort, wo es keine soziale Kontrolle gibt. Und übrigens: Die ausländischen Anbieter im Internet zahlen in Deutschland keinen Cent Steuern und schaffen hier auch keine Arbeitsplätze.

»Man pflegt seine Vorurteile gegen unser kleines Spiel und wir bedienen die gut. Ganz nebenbei bemerkt: Wo findet denn das größte Glücksspiel in Deutschland statt? Legal an der Börse!« Führen die gesetzlichen Unwägbarkeiten schon zu Problemen bei der Mitarbeitersuche? Bestimmt an der Basis unserer Spielstätten. Aber wir haben eine hervorragende Schulung für unsere Mitarbeiter: Wenn wir 70 Auszubildende im Jahr einstellen, melden sich 2.500, unter denen wir qualifizierte Bewerber aussuchen. Probleme haben wir abseits von Großstädten. Und nicht jeder will in unsere Branche. Aber wir sind so spannend und erfolgreich, dass wir immer sehr gute Leute bekommen haben. Was reizt die 2.500 Ausbildungsanwärter? Man könnte vermuten, das Spiel. Die glauben, bei uns wird spielend Geld verdient. Das ist ja auch im wahrsten Sinne des Wortes so. Ernsthaft: Wir haben einen sehr guten Ruf als Ausbilder in 16 verschiedenen Berufen. Bisher haben wir alle ausgelernten Auszubildenden übernommen, die bleiben wollten, und einer meiner Spitzenleute im Vorstand hat vor 25 Jahren bei uns angefangen, als er von der

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Hochschule kam. Heute ist er für 800 Millionen Euro Umsatz verantwortlich. Worauf achten Sie bei der Auswahl Ihrer Auszubildenden? Wir schauen nach Zeugnissen und machen eine Fertigkeitsprüfung, bei der Bewerber ihr praktisches Können zeigen. Da siebt sich eine Elite mit sehr vielen Industrie- und Handelskammer-Siegern aus. Und denen macht die Sache Spaß. Das ist auch ein Selektionskriterium. Wir haben über 90 Prozent Frauen in den Spielstätten, weil sie den männlichen Kollegen in Sachen Dienstleistung weit überlegen sind. Frauen sind dort zuverlässiger, das zeigt sich auch in unseren Filialleitungen. Bei 200 Spielotheken in Deutschland sind keine vier Männer dabei. Was zeichnet Sie als Unternehmer in dieser Branche aus? Ich war selbst 14 Jahre Angestellter. Vor der Selbständigkeit war ich als Entwickler für Automaten angestellt, habe den ersten elektrischen Zigarettenautomaten in Deutschland entwickelt und nachher Musikboxen innovativ weiterentwickelt. Ich weiß, wie man sich als Angestellter fühlt. Und ich weiß, was die Spieler wollen, weil ich selber gerne spiele. Man muss die Welt kennen und selber erlebt haben, dann kann man auch gute Entscheidungen treffen. Warum engagieren Sie sich mit einer firmeneigenen Stiftung? Ich habe hier in Espelkamp mit einem Gehalt von 600 DM angefangen. Das war 1956 viel Geld. Ich habe nicht von Haus aus Vermögen, aber seitdem ich gutes Geld verdiene, haben

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wir sechs Millionen Euro in unsere Stiftung zur regionalen Unterstützung gegeben. Gerade haben wir einen Kunstrasenplatz in Espelkamp für 700.000 Euro bezahlt. Das sind Wünsche, die an uns herangetragen werden, aus der Politik, aus Sport, Kultur, Sozial- und Gesundheitswesen. Die Themen Heimatverbundenheit und Treue spielen hier eine große Rolle. Wie wichtig dies ist, zeigt sich auch bei den vielen Betriebsjubiläen unserer Mitarbeiter. Die Menschen in dieser Region haben mir und meiner Familie viel gegeben. Jetzt haben wir die Möglichkeit, einiges zurückzugeben. Wie gehen Sie damit um, wenn die Branche und Sie vorneweg kritisiert werden? Sollten wir mal etwas nicht richtig gemacht haben, spornt mich das an, es richtiger zu machen. Und ich bin dafür, dass die Spreu vom Weizen getrennt wird. Auch in unserer Branche gibt es 10, 20 Prozent, die sich nicht an Recht und Ordnung halten. Davon möchte ich mich distanzieren. Alle anderen Angriffe gegen uns sind letztendlich subjektiv. Ist es für Sie verletzend, wenn in Ihrem Zusammenhang von Zockermentalität gesprochen wird? Wenn es nur dabei bliebe! Eine Zockermentalität ist ja nicht unbedingt etwas Negatives. Als Unternehmer habe ich nie alles auf eine Karte gesetzt. Aber natürlich bin ich große Risiken eingegangen. Wenn ich jetzt aber 100 Millionen Euro ausgebe, um in England eine große Firma zu kaufen, dann ist das wohl überlegt: Wenn wir in Deutschland nicht mehr investieren können, investieren wir in England. Das sind 1.500 Arbeitsplätze, die hier bei uns zusätzlich sein könnten.


Paul Gauselmann im Interview

Was planen Sie für die Zukunft der Gauselmann Gruppe? Wir kämpfen für unseren Besitz und unser Ge­schäft in Deutschland – zumindest um den Bestand – und erweitern das Geschäft im Ausland als Vorsichtsmaßnahme stärker als bisher. Besteht die Idee, die Gauselmann Gruppe in eine AG umzuwandeln? Nein. Wir sind fünf Inhaber: drei Söhne, meine Frau und ich. Wir werden das Ganze in eine Stiftung einbringen, um auch in der nächsten Generation in Geschlossenheit am Markt erfolgreich sein zu können. Ihre Branche ist sehr kapitalintensiv. Wäre eine AG nicht von Vorteil, um schnell und günstig an Kapital zu gelangen? Das wäre im Ausland häufig wichtig gewesen. Wir sind bei einer großen Firma zur Belieferung von internationalen Spielbanken ausgestiegen, die mein Sohn aufgebaut hatte, weil die Konkurrenz große Aktiengesellschaften waren. Die konnten sich mit ihrem Namen Geld an der Börse besorgen, das sie nie zurückzahlen und für das sie nie Zinsen zahlen mussten. Ich habe lange überlegt, an die Börse zu gehen, und hätte ehrlich gesagt Spaß daran. Aber als Familie haben wir uns immer davor gescheut, denn wenn Aktien in fremde Hände kommen, sind wir nicht mehr alleinige Inhaber. Es gäbe auch eine Zwischenlösung, zum Beispiel mit einem Großaktionär … Sobald Sie Aktionäre haben, haben Sie auch Probleme. Werden bei der Jahreshauptver-

sammlung mit Eiern beworfen. Ich habe auch Kritiker, aber in meinem Betrieb bin ich Herr der Sache. Das soll nicht heißen, dass ich nur alleine Entscheidungen treffe. Dann wären meine Führungsleute morgen weg.

»Sobald Sie Aktionäre haben, haben Sie auch Probleme. Werden bei der Jahreshauptversammlung mit Eiern beworfen. Ich habe auch Kritiker, aber in meinem Betrieb bin ich Herr der Sache.« Wird ein Familienmitglied das Unternehmen nach Ihnen weiterleiten? Mein Sohn wird jetzt 57, er ist leider 10 bis 15 Jahre zu früh geboren, der hat seinen eigenen Erfolg schon erreicht. Er will die volle Verantwortung nicht übernehmen. Wir werden dies auf viele aufteilen. Wir haben ja mehrere Bereiche im In- und Ausland: Herstellung/ Ent­wicklung, Spielstättenbereich, neue Medien. Das sind dann vier, fünf Geschäftsführer oder Vorstände, die von der Familie koordiniert werden. Wie entstand eigentlich die Merkursonne? Als das erste Geldspielgerät 1976 in Arbeit war, hatte ich einen befreundeten Grafiker, der heute noch für uns arbeitet. Die Konkurrenz hatte als Zeichen die „7“ und die Krone. Ich wollte einen Stern. Und da 1976 das Jahr des Merkurs war, hat er ihn einfach so genannt. Das ist heute das beliebteste und bekannteste Glückssymbol in Deutschland. Heute weiß nur keiner mehr, dass die MerkurSonne eigentlich ein Stern ist.

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Frank Gey Geschäftsführung ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG

¬ ZUR PERSON Frank Gey, 1967, ist Geschäftsführer der ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG. Zudem ist er Chief Sales Officer der Forest Carbon Group AG (FCG), einem Schwesterunternehmen der ENTEGA Geschäftskunden, das Unternehmenskunden den CO2-Ausgleich mit Hilfe von sozial und ökologisch wertvollen Waldprojekten ermöglicht. Vor seinem Wechsel zu ENTEGA im Jahr 2006 war Frank Gey Key-Account-Manager der citiworks AG für die energieintensiven Großkunden in Deutschland. Von 1990 bis 1999 war der Technische Betriebswirt im Gasvertrieb und dem Vertrieb technischer Dienstleistungen der Stadtwerke Mainz AG tätig.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG ist ein Energiedienstleister für Gewerbe- und Industriekunden mit dem Fokus auf ganzheitliches ökologisches Energiemanagement und klimaneutrales Wirtschaften. ENTEGA gehört durch den Mutterkonzern HSE zum Kreis der acht führenden regionalen Energieversorger in Deutschland. Im Jahr 2011 belieferte die ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG rund 50.000 Unternehmenskunden mit Strom und Erdgas.

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Frank Gey im Interview

» Allein durch Effizienzsteigerun­

gen könnte Deutschland rund 40 Prozent der Energie einsparen «

Stefany Krath sprach mit Frank Gey, Geschäftsführer der ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG, über die Energiewende, den Umstieg von Grau- auf Ökostrom und die Herausforderung für Unternehmen, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen.

Herr Gey, wie stehen Sie als Geschäfts­ führer innerhalb eines großen Energie­ unternehmens zu den Herausforderungen der Energiewende? Ich sehe die Energiewende als Teil eines gesellschaftlichen Wandels hin zu einem klimaneutralen Leben und Wirtschaften. ENTEGA ist in der begünstigten Lage, dass das Unternehmen schon lange, bevor die Energiewende überhaupt ernsthaft als reelle Möglichkeit diskutiert wurde, den Weg hin zu einem Umbau zu einer ökologisch nachhaltigen Energieversorgung eingeschlagen hat. Dahinter steht die Überzeugung, dass klimaneutrale Energie den Energiebedarf in Deutschland langfristig decken können muss – zuverlässig und bezahlbar. Die Entscheidung, die durch den Beschluss der Energiewende von anderen Energieversorgern schlagartig erzwungen wurde, hat ENTEGA frühzeitig aus eigenem Antrieb getroffen. Atomstrom ist seit 2008 nicht mehr im Portfolio; es besteht weder direkte noch indirekte Beteiligung an Kernenergieanlagen. Damit ist es natürlich nicht getan. Bis 2015 investiert der Mutterkonzern der ENTEGA, die HEAG Südhessische Energie AG (HSE), über eine Milliarde Euro in den Ausbau regenerativer Energiekonzepte. Schritt für Schritt richtet ENTEGA so ihr gesamtes im Massenmarkt bestehendes Geschäftsmodell nachhaltig

aus. Diese Konsequenz kommt gerade jetzt zum Tragen: Wo andere Energieversorger von Herausforderung reden, sprechen wir von der Chance für jedes Unternehmen, auf ein ökologisch und ökonomisch nachhaltiges Geschäftsmodell umzusteigen. Wie kann dieser Wandel konkret funktionieren und welche Rolle spielt dabei Ihr Aufgabengebiet bei ENTEGA, der Bereich der Geschäftskunden? Aufgrund der Quantität des Strombezugs haben gerade gewerbliche und industrielle Unternehmen maßgeblichen Einfluss auf das Gelingen der Energiewende. Die Aufgabe der ENTEGA Geschäftskunden GmbH & Co. KG ist es, diese Unternehmen auf dem Weg zur Klimaneutralität zu begleiten. Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet für uns mehr als nur „grüne“ Energie zu liefern. Wir verstehen uns vielmehr als Partner für das ganzheitliche ökologische Energiemanagement unserer Unternehmenskunden. Denn sie brauchen heute Spezialisten in Sachen Energie und gleichzeitig strategische Berater, die ihnen alle Potenziale aufzeigen: von der Lieferung klimaneutraler Energie über die Reduktion von CO2 -Emissionen durch Effizienzmaßnahmen bis hin zur Kompensation unver­ meid­barer Emissionen.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Viele Unternehmen befürchten, dass mit der Energiewende neue Herausforderungen auf sie zukommen – Engpässe bei der Energieversorgung, astronomische Preise für Ökostrom. Wie begegnen Sie diesen Bedenken? Indem wir sie ermutigen, vorwärtszugehen – mit klaren Schritten und konkreten Maßnahmen hin zur Klimaneutralität. Und indem wir ihnen aufzeigen, wie sich Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit in Einklang bringen lassen. Ökologische Prozesse und energieeffizientes Verhalten entlang der gesamten Wertschöpfungskette werden immer mehr zur Voraussetzung für nachhaltigen wirtschaftli-

»Nachhaltiges Wirtschaften bedeutet für uns mehr als nur ‚grüne‘ Energie zu liefern.« chen Erfolg. Allein durch Effizienzsteigerungen könnte Deutschland rund 40 Prozent der Energie einsparen – insbesondere in Gewerbe und Industrie. Gut beraten sind also Unternehmen, die frühzeitig ein bewusstes und ressourcenschonendes Energiemanagement implementieren. Sie steigern die Reputation

»Kunden orientieren sich heute verstärkt daran, ob sich das Handeln eines Unternehmens positiv auf Gesellschaft und Klima auswirkt.« gegenüber den Verbrauchern und möglichen Kritikern und stellen sich auf zukünftige Gesetzgebungsverfahren zu verpflichtenden Einsparungen beim CO2-Ausstoß und dem Stromverbrauch nachhaltig ein. Kunden ori-

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entieren sich heute verstärkt daran, ob sich das Handeln eines Unternehmens positiv auf Gesellschaft und Klima auswirkt. Der Nachweis klimaneutraler Produkte und Dienstleistungen kann also zum wesentlichen Qualitäts- und Unterscheidungskriterium im Wettbewerb werden. Was raten Sie Unternehmen, die den Umstieg von Grau- auf Ökostrom in Angriff nehmen möchten, und woran erkenne ich als Unternehmen, welcher Ökostrom für mich der richtige ist? Unternehmen brauchen ökologisch ausgereifte, verträgliche Lösungen, die gleichzeitig wirtschaftlich attraktiv sind und ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten berücksichtigen. Dies betrifft insbesondere den Energieeinkauf – gerade in Zeiten hoher Energiepreise und eines liberalisierten Marktes gilt es, bestehende Handlungsspielräume in Bezug auf Kosten und Nachhaltigkeit bei der Energiebeschaffung zu nutzen. Der Bezug von CO2-frei erzeugtem Ökostrom aus Wind, Wasser, Sonne oder Biomasse ist für Unternehmen oft der erste, praktikable Schritt zu einem ganzheitlich ökologischen Energiemanagement. Allerdings ist der Begriff Ökostrom nicht geschützt und unterliegt daher keinen allgemein verbindlichen Richtlinien. Umso wichtiger ist es für den Stromeinkäufer, sich mit der Wertigkeit des Produktes auseinanderzusetzen und es auf anerkannte Standards zu überprüfen. Unabhängige Institute und Naturschutzorganisationen attestieren Ökostromprodukten nur dann einen Umweltnutzen, wenn er aus neuen Anlagen für erneuerbare Energien stammt oder wenn der Energieversorger einen wesentlichen Teil der Einnahmen aus dem Energieverkauf in neue


Frank Gey im Interview

Anlagen für Erneuerbare investiert. Nur so wird tatsächlich Graustrom aus dem deutschen Stromnetz verdrängt und ein Mehrwert für die Umwelt und das Klima geschaffen. Energieeinkäufer können diese Kriterien mit Hilfe von Ökostrom-Gütesiegeln nachprüfen: Das „ok Power Label“ und das „Grüner Strom Label“ gelten dabei als vertrauenswürdige Zertifikate, die strengen Kriterien folgen und damit einen tatsächlichen Umweltnutzen bescheinigen. Sie zeichnen Versorger aus, die nicht nur umweltfreundlichen Strom liefern, sondern auch den Neubau regenerativer Erzeugeranlagen aktiv fördern. Auch die TÜVGruppe vergibt verschiedene Zertifikate, denen allerdings keine einheitlichen Kriterien zugrunde liegen. Schauen wir auf ENTEGA: Was macht denn Ihr Unternehmen so nachhaltig? Wir leben Nachhaltigkeit im täglichen Handeln und in konkreten Produkten und sehen uns damit als Treiber der Energiewende.

Durch die Fokussierung auf klimaneutrales Wirtschaften und durch hohe Investitionsvolumina in eigene regenerative Erzeugungsanlagen differenziert sich ENTEGA gegenüber

»Ökologische Prozesse und energieeffizientes Verhalten entlang der gesamten Wertschöpfungskette werden immer mehr zur Voraussetzung für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg.« konventionellen Energieanbietern und anderen Ökostromanbietern. Gemeinsam mit unserem Mutterkonzern HSE und unserer Schwestergesellschaft ENTEGA Privatkunden GmbH und Co. KG haben wir so in den vergangenen Jahren konsequent unsere Position als Klimadienstleister ausgebaut, der klimaneutrales Leben und Wirtschaften für alle ermöglicht.

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Wolfgang Grupp Geschäftsführer Trigema

¬ ZUR PERSON Dipl.-Kfm. Wolfgang Grupp, Jahrgang 1942, übernahm 1969 die Geschäftsleitung vom Vater. 2005 erhielt er den CiceroRednerpreis in der Kategorie Wirtschaft für sein rhetorisches Engagement für Deutschland.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die Trigema Inh. W. Grupp e.K. mit Sitz im schwäbischen Burladingen wurde 1919 gegründet und ist Deutschlands größter Hersteller von Sport- und Freizeitkleidung. Die Produktion erfolgt ausschließlich nach Öko-Tex-Standard 100 in eigenen Werken in Deutschland. Als Multi-Channel-Unternehmen bietet Trigema seine Waren neben 4.000 gewerblichen Kunden unter anderem in 46 Testgeschäften und im Online-Shop an.

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Wolfgang Grupp im Interview

» Selbst Bill Gates könnte

Trigema nicht kaufen, wenn ich nicht Ja sage « Benjamin Edrich und Maximilian Ahlbäumer sprachen mit Wolfgang Grupp, Inhaber der Textilfirma Trigema, über Ungerechtigkeiten im Unternehmertum, das erste kompostierbare T-Shirt der Welt und das Konzept der Arbeitssicherheit bei Trigema.

Herr Grupp, für welche Sportarten ­begeistern Sie sich persönlich? Ich war begeisterter Tennisspieler und bin geritten. Aber in einem gewissen Alter muss man einiges aufgeben. Heute mache ich Spaziergänge und schwimme jeden Morgen im Freien, Sommer wie Winter. Was schätzen Sie an Deutschland? Deutschland ist mein Heimatland; eine Heimat zu haben ist eines der wertvollsten Dinge im Leben. Zudem hat Deutschland viele Vorteile wie Bildung, Sicherheit, Infrastruktur usw., deshalb sollten wir Unternehmer nicht ständig über die wenigen Nachteile klagen, sondern vor allem die Vorteile nutzen! Wie kann man in Zeiten der Globalisierung nachhaltig und gleichzeitig wettbewerbsfähig wirtschaften? Nachhaltigkeit ist ein Wettbewerbsvorteil! Nachhaltige Produktion ist zukunftsorientiert! Wir müssen in unserem Hochlohnland Produkte fertigen, die den anderen etwas voraus sind. Das heißt, unsere Produkte müssen zukunftsorientiert und damit nachhaltig sein.

Hinter dem kompostierbaren T-Shirt steht das „Cradle to Cradle“-Konzept. Wie kamen Sie dazu? Die Idee hatte Prof. Dr. Michael Braungart von der amerikanischen Umweltbehörde EPEA. Er kam auf uns zu, weil wir in der Lage sind, die gesamte Produktion zu realisieren. Cradle to Cradle ist eine Zukunftsgeschichte: Wir entnehmen aus der Erde die Baumwolle für das T-Shirt, und wenn es nicht mehr gebraucht wird, geben wir es in die Erde zurück, damit Baumwolle nachwachsen kann. Es war das erste Textil dieser Art auf der Welt. Meine Aufgabe in einem innovativen Land ist, konstant Neuentwicklungen zu machen! Wen zählen Sie zu den direkten ­Konkurrenten Ihrer Textilfirma? Jeder, der Textilprodukte verkauft, ist im Prinzip ein Konkurrent zu Trigema, aber in Wirklichkeit haben wir keinen direkten Konkurrenten! Wir produzieren als Einziger ausschließlich in Deutschland, und zwar über alle Produktionsstufen von der Stoffherstellung über die Ausrüstung, Veredelung und die Konfektion im eigenen Hause. Damit bieten wir größte Flexibilität und beste Qualität, weil wir alle Produktionsstufen konstant über‑ wachen können.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Wie behaupten Sie sich gegenüber Platzhirschen wie Adidas, Tom Tailor oder Schiesser, die günstig im Ausland ­produzieren? Es wundert mich, dass Sie die Firma Schiesser erwähnen, die vor zwei Jahren in Insolvenz gegangen ist! Adidas und Tom Tailor sind keine Konkurrenten von uns. Firmen wie diese handeln mit Textilien und wir produzieren Textilien. Nur die Firma Schiesser war ein direkter Mitbewerber, hat aber mit ihrer Verlagerung der Produktionsarbeitsplätze ins Ausland versagt! Wer kauft bei Trigema? Bei uns kaufen theoretisch alle vom Baby bis zu den Großeltern. Wir sind aber keine Weltmarke, und deshalb kann es sein, dass junge Leute, wenn sie aus dem Kinderalter herausgewachsen sind, sogenannte „In“-Marken bevorzugen. Das Problem der „In“-Marken ist, dass sie meist nicht mehr in einer Hand sind, sondern Investoren gehören. Sobald die Kinder bzw. Heranwachsenden dann selbst eine Familie haben, kommen sie nicht selten zurück zu den Trigema-Produkten, weil sie dann wieder Wert auf Qualität und somit Made in Germany legen. Sie vertreiben Ihre Produkte über ­verschiedene Kanäle … Ich musste vor gut 20 Jahren erkennen, dass unsere Großkunden im Prinzip ihrer Aufgabe, nämlich der Verteilung der Produkte an den Verbraucher, nicht mehr nachkamen. Denken wir nur an die Kaufhaus- und Versandhauskönige, die meisten sind in Insolvenz gegangen. Deshalb ist es in einer bedarfsgedeckten Wirt-

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schaft wichtig, dass der Produzent auch einen Teil der Handelsfunktion übernimmt. Des‑ halb haben wir vor 20 Jahren begonnen, eigene Trigema-Testgeschäfte zu eröffnen. Hier verkaufen wir zum Original-Händlereinkaufspreis direkt an den Verbraucher. Die Geschäfte sind aber nicht in den Innenstädten, sondern in Urlaubslagen. Warum sind Sie nicht in den Innenstädten? Wir sind Produzent und kein Händler. Die Handelsfunktion habe ich nur in der Not übernommen, da unsere Kunden, wie gesagt, versagt haben. Ich will aber nicht Hunderte von Geschäften haben. Es wäre zu schwierig, die alle zu überwachen, deshalb haben wir uns entschieden, nur in Urlaubslagen zu gehen, dort kommen Kunden aus allen Regionen irgendwann vorbei. Wenn sie dort unser Produkt kennengelernt haben, können sie dieses anschließend auch von zu Hause in unserem Online-Shop einkaufen. Sie führen Trigema in dritter Generation. Wer wird das Unternehmen nach Ihnen steuern? Meine Tochter hat ihren Master in London am LSE gemacht und mein Sohn seinen Bachelor. Er macht jetzt seinen Master, und Ende dieses Jahres wollen sie beide in die Firma kommen. Sie können alle Abteilungen anschauen und sich aussuchen, was sie gerne machen möchten, und langsam, aber sicher werden sie dann das Ruder übernehmen. Sie haben Wirtschaft an der Universität zu Köln studiert und dann Trigema übernommen. Wie hilfreich war das Studium für diesen Schritt?


Wolfgang Grupp im Interview

Das Studium war für mich rein theoretisch. So wie ich bei der Fahrprüfung fürs Auto auch die Theorie lernen musste. Die Praxis sieht ganz anders aus, und die habe ich durch Erfahrungen im Betrieb gelernt. Mein Studium hat sicher das schnellere Erkennen und die schnellere Denkweise beflügelt, aber im Prinzip ist die Praxis das Wichtigste. Das soll auch für meine Kinder gelten!

Sie bieten sichere Arbeitsplätze für Ihre Arbeitnehmer und deren Kinder. Ihr ­Rezept gegen den Fachkräftemangel?

Warum schicken Sie dann Ihren Sohn zum Studieren?

»Ich musste vor gut 20 Jahren erkennen, dass unsere Großkunden im Prinzip ihrer Aufgabe, nämlich der Verteilung der Produkte an den Verbraucher, nicht mehr nachkamen. Denken wir nur an die Kaufhaus- und Versandhauskönige, die meisten sind in Insolvenz gegangen.«

Weil meine Kinder ihre Denkweise schulen sollen, um nachher die Zusammenhänge schnell zu erkennen, um kurzfristig entscheiden zu können. Wie gehen Sie bei Trigema mit dem ­Fachkräftemangel um? Fachkräftemangel ist bei uns bis jetzt nicht vorhanden, wir bekommen laufend Initiativbewerbungen, weil wir eben unsere Arbeitsplätze seit Jahrzehnten garantieren. Wichtig ist vor allem, dass wir in allen unseren Abteilungen seit jeher selbst ausbilden, um dann die Stärken oder Schwächen der Mitarbeiter zu erkennen. Die Mitarbeiter werden je nach ihrer Stärke dort eingesetzt, wo wir sie für richtig halten, und die besten Lehrlinge sind später auch entsprechend Führungskräfte. Viele junge Menschen möchten heute eher studieren, als eine Ausbildung zu absolvieren. Das wird auch für uns ein Problem sein, denn wer ein Abitur hat, wird bei uns nicht mehr an einen Produktionsarbeitsplatz gehen! Wir brauchen gut ausgebildete Mitarbeiter, die auch bereit sind, handwerklich zu arbeiten und Maschinen zu bedienen, und nicht nur am Schreibtisch sitzen und meinen, die Produktion läuft von selbst.

Selbstverständlich sind unsere garantierten Arbeitsplätze ein Rezept gegen den Fachkräftemangel! Da der Apfel nicht selten weit vom Baum fällt, sind die Kinder unserer Mitarbeiter häufig die Nachfolger der Eltern.

Sie werben damit, dass Sie die Wertschöpfungskette komplett in Deutschland lassen. Wie kam es dazu? Als ich anfing, war es schwierig, eine Arbeitskraft oder die neueste Maschine rechtzeitig zu bekommen. Plötzlich aber war dies alles kein Problem mehr, das Schwierigste war, einen Auftrag zu bekommen. Deshalb habe ich entschieden, dass wir sofort unsere Wertschöpfung ausweiten, um unsere Arbeitsplätze auch in der Zukunft garantieren zu können, und habe die Wertschöpfungskette somit erhöht. Wir machen heute alles, was möglich ist, im eigenen Hause, haben somit 78 Prozent Wertschöpfung, und damit kann ich meine Mitarbeiter beschäftigen und auch die Arbeitsplätze garantieren. Wenn also eine rationellere Maschine kommt und Arbeits-

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

plätze deshalb überflüssig werden, sitzen die Mitarbeiter, die es betroffen hätte, in einer anderen Abteilung, zum Beispiel im Versand, und packen Päckchen für den Online-Shop.

»Die Ursache jeder Krise war, dass die Entscheidungsträger nicht persönlich in der Haftung waren. Ich führe Trigema bewusst als eingetragener Kaufmann und muss deshalb jede Entscheidung dreimal überlegen.« Fühlen Sie sich als Vorbild? Ich fühle mich nicht als Vorbild, aber sicher bin ich es automatisch! Die Mitarbeiter erwarten von mir, dass ich das, was ich von ihnen verlange, selbstverständlich auch vormache. Es ist auch meine Aufgabe, rechtzeitig den Wandel der Zeit zu erkennen. Ich muss dann die Weichen stellen, damit das Schiff Trigema auch in der Zukunft seine Produk­ tionsarbeitsplätze garantieren kann. Was halten Sie von der vielfach ­geforderten Frauenquote? Überhaupt nichts. Es ist im Prinzip eine Beleidigung für das weibliche Geschlecht! Wir haben zurzeit mehr leitende Frauen als Männer, aber nicht durch die Quote, sondern durch Leis­tung. Allerdings stellen die Frauen, die in Führungspositionen bei uns sind, nicht selten ihr Privatleben hintenan.

80er Jahre entschieden, dass wir durch KraftWärme-Kopplung 100 Prozent Eigenstrom in unserem Hauptwerk in Burladingen machen. Ich war dann etwas erstaunt, als ich Anfang der 90er Jahre dafür plötzlich Subventionen bekam, obwohl ich es freiwillig bereits zehn Jah‑ re vorher ohne Subventionen gemacht habe. Die Energiewende ist wichtig und zukunftsorientiert. Selbstverständlich wird sie uns kurzfristig etwas kosten, aber langfristig wird sie von großem Nutzen sein! Betrifft die aktuelle Euro-Schuldenkrise Ihr Unternehmen? Noch nicht, weil der Verbraucher noch Geld hat und die Binnennachfrage sehr stark ist. Deshalb bin ich ein Verteidiger der Arbeitsplätze. Wir brauchen diese Arbeitsplätze, weil ein Arbeiter, der arbeitslos ist, unser Produkt nicht mehr kauft bzw. nicht mehr kaufen kann. Wo sehen Sie die Ursachen der Krise? Die Ursache jeder Krise war, dass die Entscheidungsträger nicht persönlich in der Haftung waren. Ich führe Trigema bewusst als eingetragener Kaufmann und muss deshalb jede Entscheidung dreimal überlegen, weil ich weiß, dass ich auch als Erster in der Verantwortung bin. Wäre das so in der Vergangenheit bei allen Unternehmern gewesen, wären wahrscheinlich viele Entscheidungen anders ausgefallen und viele Krisen verhindert worden! Plädieren Sie in Zukunft für mehr oder weniger Europa?

Inwiefern betrifft Sie die Energiewende? Selbstverständlich tangiert uns die Energiewende auch. Aber ich habe schon Anfang der

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Obwohl ich kein internationaler Unternehmer bin, halte ich ein Vereinigtes Europa für ganz wichtig. Denken wir nur an die sinnlosen


Wolfgang Grupp im Interview

Kriege, die in der Vergangenheit geführt wurden: wie viel Milliarden die gekostet und wie viele Millionen Menschenleben sie gefordert haben. Außerdem wird die Welt immer transparenter, und mit Deutschland allein können wir in der Welt sicher nichts mehr ausrichten. Wir brauchen ein Vereintes Europa, um überhaupt noch ein Gewicht in der Weltwirtschaft zu haben. Für einen Unternehmer ist Zeit Geld. Haben Sie sich deshalb mit 20 zuerst eine Armbanduhr gekauft? Ich habe mir mit 20 Jahren eine wertvolle Uhr gekauft, nicht weil ich der Meinung bin, dass Zeit Geld ist und ich deshalb diese Uhr brauche. Ich habe sie gekauft, weil ich Freude daran hatte und sie für mein Leben gekauft habe. Ich trage sie heute noch. Für mich gilt: Nicht das Billige, sondern das Beste ist meistens das Billigste. Sie besitzen einen eigenen Hubschrauber – trotz Ihres Umweltbewusstseins? Ich bin umweltbewusst, das hat aber mit dem Hubschrauber nichts zu tun. Den brauchen wir, um unsere Testgeschäfte unter Kontrolle zu halten. Ich bin sicher, dass ein Hubschrauber weniger umweltschädlich ist, als wenn alle Strecken mit dem Auto gefahren werden müssten. Sie sind seit 1969 Chef von Trigema, haben Sie im Laufe der Zeit ein Lebensmotto entwickelt? Das Wichtigste für mich ist, zu wissen, dass Erfolg haben keine Kunst ist. Erfolg durchstehen, das ist die Kunst, und deshalb betone ich immer wieder, dass ich bisher zwar teilwei-

se Erfolg hatte, aber den Erfolg noch nicht durchgestanden habe. Erst wenn jemand an meinem Grabe steht oder wenn ich öffentlich abgedankt habe, dann muss man entscheiden, ob das, was ich tat, erfolgreich war oder nicht. Viele Unternehmer waren erfolgreich, sind aber leider als Versager abgetreten, weil sie Insolvenz gemacht haben. Ich muss wissen, dass ich als Unternehmer Verantwortung für meine Mitarbeiter habe und deshalb auch einen Vorwärtsdrang haben muss, aber Gier und Größenwahn dürfen nicht in Frage kom‑ men. Ich darf nicht überheblich werden. Demut ist ganz wichtig!

»Erst wenn jemand an meinem Grabe steht oder wenn ich öffentlich abgedankt habe, dann muss man entscheiden, ob das, was ich tat, erfolgreich war oder nicht. Viele Unternehmer waren erfolgreich, sind aber leider als Versager abgetreten.« Wird es Ihnen leichtfallen, sich aus dem Unternehmen zurückzuziehen, wenn die nächste Generation das Steuer übernimmt? Es ist für mich sicher kein Problem, das Steuer langsam abzugeben. Ich werde meine Kinder entsprechend einführen, und sobald ich erkenne, dass sie die Aufgabe übernehmen können, werde ich die Verantwortung sukzessive übertragen. Aber solange meine Kinder mir noch das Gefühl geben, dass sie mich brauchen, werde ich sicher zur Verfügung stehen, denn das Schönste im Leben ist das Gefühl, gebraucht zu werden!

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Dr. Jürgen Heraeus Aufsichtsratsvorsitzender Heraeus Holding GmbH

¬ ZUR PERSON Jürgen Heraeus, Jahrgang 1936, ist ein deutscher Unternehmer und Aufsichtsratsvorsitzender der Heraeus Holding GmbH, bei der er von 1983 bis 2000 Vorsitzender der Geschäftsführung war. Seit 2008 ist er außerdem Vorstandsvorsitzender des Deutschen Komitees für UNICEF e.V. 2000 wurde Heraeus mit dem Verdienstkreuz I. Klasse für seinen persönlichen Einsatz in wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Bereichen für das Wohl der Allgemeinheit ausgezeichnet und erhielt 2012 den Deutschen Gründerpreis in der Kategorie Lebenswerk „für seine herausragende unternehmerische Leistung“.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die Heraeus Holding GmbH ist ein deutscher Technologiekonzern mit den Schwerpunkten Edel- und Sondermetalle, Medizintechnik, Dentalwerkstoffe, Quarzglas, Sensoren und Speziallichtquellen. Das 1851 in Hanau gegründete Unternehmen gehört heute zu den größten Familienunternehmen Deutschlands. Zu den Kunden zählen die Auto- und Luftfahrtindustrie, die Telekommunikations- und Chemiebranche sowie die Medizintechnik und die Stahlindustrie.

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Dr. Jürgen Heraeus im Interview

» Die Krise findet in den Medien statt « Wolfgang Rösch und Steffen Zenglein sprachen mit Dr. Jürgen Heraeus, Aufsichtsratsvorsitzender der Heraeus Holding GmbH, über die Konsequenzen der Energiewende, die soziale Schere zwischen Arm und Reich und über die Frage, was die Staaten Europas von deutschen Unternehmen lernen können.

Herr Dr. Heraeus, Ihr Unternehmen ist breit aufgestellt. Sie haben Kunden in der Auto- und Luftfahrtindustrie, Telekommunikation, Chemiebranche und Medizintechnik. Hilft Ihnen diese Diversifizierung jetzt in der Wirtschaftskrise? Ja. Wenn die Automobilindustrie der einzige Kunde ist und die geht in die Knie, gehen alle Zulieferer mit. Insofern sind wir auch als Familienunternehmen breit aufgestellt – nach dem Motto: Acht Zylinder, wenn mal zwei Töpfe nicht gut gehen, laufen wenigstens die anderen sechs. Unsere Kernkompetenz aber ist die Verarbeitung von Materialien, insbesondere kleiner Mengen, mit hoher Reinheit unter hohen Temperaturen. Wir können in Unzen besser rechnen als in Tonnen. Sehen Sie auch Schwächen in dieser breiten Aufstellung? Die Gefahr ist, dass man bei dieser Vielfalt an Technologien nicht überall der Beste ist. Man darf bei der Fülle der Geschäftsfelder nicht einige vernachlässigen. Wir haben nicht unbedingt Spitzenjahre, wie das mit einem schmalen Produktprogramm oft der Fall ist, aber dafür auch nicht die Abstürze.

Wie spiegelt sich die Krise in Ihren Bilanzzahlen wider? Die Krise findet in den Medien statt. Wir haben dauernd eine Krise. Die Wirtschaft in Deutschland ist aber bisher nicht in der Krise, es sei denn, Griechenland oder Spanien sind die Hauptzielländer. Wenn mal kein Wachstum stattfindet und die Ergebnisse etwas zurückgehen, würde ich das nicht immer gleich als Krise bezeichnen. Das ist das normale Leben, und ich finde es verheerend, dass die Arbeitgeber gleich nach dem Staat rufen: anfüttern, Abwrackprämien, Kurzarbeitergeld. Dabei ist noch gar nichts passiert. Vielleicht betrifft die Krise Ihre eigene Branche weniger. Aber die Automobil­ branche spürt sie zweifelsohne. Die Automobilbranche hat in den letzten drei Jahren wahnsinnig viel Geld verdient. Daimler hat im letzten Jahr sieben Milliarden Gewinn gemacht und dann versäumt, die E-Mobilität rechtzeitig aufzunehmen. Jetzt rufen sie nach dem Staat. Das ist keine Krise. Griechenland, Portugal, Spanien mit einer Arbeitslosigkeit von 30, 40, 50 Prozent – da ist Krise.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Mit Blick auf die Finanzmärkte – profitieren Sie davon, dass Sie einen Edelmetallund Technologiekonzern führen? Ja, momentan schon. Das Geschäft mit Goldbarren aller Größenordnungen hat weltweit enorm angezogen. Aber die hohen Edelmetallpreise sind eigentlich nicht gut für uns, weil die Risiken und unsere Forderungen steigen, und Industriekunden überlegen, ob sie nicht das Edelmetall durch etwas Billigeres ersetzen können. Sie werden oft als „Unternehmer vom alten Schlag“ bezeichnet. Kann man mit einer wertorientierten Firmenphilosophie wie der Ihren noch Maßstäbe in der globalen Unternehmerlandschaft setzen? Allein dadurch, dass unser Unternehmen mit Edelmetallen arbeitet. Denn der Umgang mit Eigentum, Geldwäsche, Diebstählen erhält da eine hohe Aufmerksamkeit. Jede Woche erhalten wir Angebote, wo wir Edelmetall preiswert bekommen können – 10 Prozent

»Wenn mal kein Wachstum stattfindet und die Ergebnisse etwas zurückgehen, würde ich das nicht gleich als Krise bezeichnen. Das ist das normale Leben, und ich finde es verheerend, dass die Arbeitgeber gleich nach dem Staat rufen.« billiger, aus Erbfällen, aus Nigeria etc. Aber wenn einer einen Hunderteuroschein billiger abgibt, ist etwas nicht in Ordnung. Wir haben

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uns für den anständigen Weg entschieden und machen manche Geschäfte nicht. Haben Sie dadurch nicht einen Wettbewerbsnachteil? Doch, aber damit muss man leben. Ich bin ja auch noch in anderen Unternehmen Aufsichtsratsvorsitzender: In einem großen Ma­ schinenbauunternehmen haben wir im vergangenen Jahr Millionenaufträge ver­loren. Aber Korruption wird ja mehr und mehr geahndet, auch Kartellbildung wie aktuell bei ThyssenKrupp. Die EU-Krise trifft auch die Gesellschaft, die Einkommensunterschiede wachsen, wie der Armutsbericht zeigt. Sehen Sie als Unternehmer eine besondere Verantwortung? Dieser Armutsbericht zeigt erst einmal, dass es in den vergangenen Jahren besser geworden ist. Es gibt die unerfreulichen Exzesse, Einzeleinkommen von 30 Leuten, die überflüssig sind und dem Bild unheimlich schaden. Wenn man es aber analysiert, geht die Schere dort auf, wo Menschen nichts gelernt haben, nicht bereit waren, etwas zu lernen und einfache Arbeit anzunehmen. In unseren Unternehmen in Deutschland haben 93 Prozent eine abgeschlossene Berufsausbildung. Andere können wir nicht einsetzen. Sie sehen also die Verantwortung eher bei den betroffenen Menschen selbst als bei Unternehmern und Vermögenden? Wir zahlen so viele Steuern. Der Staat hat riesige Einnahmen und leitet die Gelder einfach nicht dorthin, wo sie hingehören, zum Bei-


Dr. Jürgen Heraeus im Interview

spiel in die Ausbildung, in Kindertagesstätten. Und dann heißt es, die Reichen müssen abgeben. Den Schuh ziehe ich mir nicht an. Aber profitieren nicht gerade die Reichen von der guten Ausbildung und sollten deswegen mehr Verantwortung übernehmen? Doch, nur hat es wenig Zweck, den Steuersatz für Reiche jetzt noch einmal zu erhöhen. Man kann das machen, damit es schön aussieht, aber dieses Geld geht weiterhin in Haushaltslöcher. Es wird weder zur Schuldentilgung genommen noch in die Ausbildung ge­steckt. Unser Schulsystem, mit seiner Frei­ heit in den einzelnen Ländern, ist eine Katas­ trophe. Jede neue Partei kommt mit einer neuen Idee. Was kritisieren Sie konkret? Dass die Familie keinen Stellenwert mehr hat. Früher hat die ältere Generation auf die Enkel aufgepasst. Heute bekommen die jungen Leute Geld, wenn sie mit 18 von zu Hause in eine WG ziehen. Damit werden Gelder verplempert. In Berlin haben fast 50 Prozent der Kinder unter fünf Jahren nur einen Elternteil. Und dann zeigt man mit dem Finger auf die Reichen und sagt, die müssen sich kümmern, während die alleinerziehenden Frauen bedauert werden. Vielleicht müssen diejenigen auch einmal begreifen, dass eine Ehe nicht nur Zuckerschlecken ist, bevor sie einfach aussteigen. Da ist viel in der Gesellschaft falsch gelaufen. Erfüllen die Reichen also ihre Pflicht durch Steuern für ein System, das nicht funktioniert?

Ich habe den Vorsitz von UNICEF übernommen, um etwas zu geben. Ich glaube, dass man so mehr erreichen kann als durch mehr Steuereinnahmen bzw. vermehrte Steuerzahlungen. Aber nicht nur durch ein Engagement der Reichen, sondern aller, zum Beispiel der Rentner. Davon gibt es 20 Millionen. Viele machen das. Aber es gibt eben mehr Menschen, die nichts machen. Schauen Sie sich an, wer im Winter in den Flughäfen Schlange steht … Natürlich gibt es auch arme Rentner.

»Ich sehe die Gefahr, dass wir, wie im Maschinenbau, nur noch das Spitzensegment ­bedienen, das immer kleiner wird.« Die Welt ist nicht gerecht. Es wird immer 10 Prozent geben, die Gefahr laufen, durchs Ras­­ter zu fallen. Deutschlands junge Generation ist im Wohlstand aufgewachsen, nun wird sie mit der Krise konfrontiert. Wie kann sie auf dem Arbeitsmarkt mithalten? Ich bin optimistisch. Ich habe das Gefühl, dass es vor zehn Jahren schwieriger war. Ich habe Kinder und denke, da kommt eine ganz tolle Generation, die weiß, wo Chancen sind und man sich einbringen muss. Wo liegen diese Chancen? Zum Beispiel gibt es heute niemanden mehr, der nicht fließend Englisch spricht. Fast keinen, der nicht noch eine weitere Sprache kennt oder lernt. Kaum jemanden, der nicht

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

bereit ist, mal für längere Zeit ins Ausland zu gehen. Das war vor zehn Jahren ein Problem unserer Azubis. Heute ist es Teil der kaufmännischen und technischen Lehre, einige Monate bei einer unserer Tochtergesellschaften im Ausland zu verbringen. Da ist großer Andrang. Vor Jahren herrschte Ängstlichkeit vor und die Gemütlichkeit von zu Hause. Globalisierung ist fantastisch. Meine Tochter eru­iert aktuell für ihren Arbeitgeber, welche afrikanischen Länder für ihn interessant sein könnten.

»Die westliche Welt hat sich daran gewöhnt, über ihre Verhältnisse zu leben, ­ein­schließ­lich Deutschland.« Das Modell der Partnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer gilt als auf­ gebrochen. Ist die Identifizierung mit dem Unternehmen trotzdem noch ein wichti­ ges Kriterium bei der Berufswahl? Wir haben in diesem Jahr eine Befragung unter allen 13.000 Mitarbeitern weltweit gemacht. Eine Frage war, ob sie einem Verwandten oder Freund empfehlen würden, bei uns zu arbeiten. Das haben fast 80 Prozent bejaht. Ich sehe nicht, dass diese Partnerschaft zwischen Unternehmen und Angestellten aufgebrochen ist. Ein Beschäftigungsverhältnis ein Leben lang ist jedenfalls selten geworden. Die Zeiten, in denen man ein Leben lang bei einem Unternehmen die gleiche Tätigkeit ausgeübt hat, haben sich schon in den letzten 15 Jahren geändert. Manche wollen es

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nur einfach nicht verstehen. Ich glaube, soziale Verantwortung ist eins, aber man hat auch eine Verantwortung für das ganze Unternehmen. Es hat sich nie bewährt, lange zu warten, bis die Kosten zu hoch werden, die Aufträge zurückgehen und man die Struktur anpassen muss. Dann passiert, was mit Schlecker passiert ist. In Familienunternehmen wird meist der Familiennachwuchs bevorzugt. Verschlechtert das die Aufstiegschancen talentierter Nachwuchskräfte? Wenn das so wäre, ja. Wir haben einen Familienkodex, der besagt, dass jeder Gesellschafter ein Praktikum machen kann – und das war es. Dann kann er sich bewerben, wenn er für die oberste Führungsetage geeignet ist. Dazwischen – auf den Hierarchieebenen darunter – gibt es keine Anstellung für Gesellschafter. Mein Schwiegersohn ist stellvertretender Vorsitzender. Der muss so gut sein, dass alle sagen, das kann kein anderer besser. Was müssen Führungskräfte aus der Familie mitbringen? Ausbildung und Einkommen im Vorfeld sagen natürlich etwas über die bisherige Leistung aus, wenn man nicht gerade Investmentbanker ist. Er muss aber auch mit den anderen Gesellschaftern auskommen und als Führungsfigur akzeptiert werden. Sie haben die Leitung des Unternehmens 1983 übernommen und eine tiefgreifende Umstrukturierung eingeleitet. Was waren Ihre Beweggründe? Wir waren damals noch breiter aufgestellt, hatten Produkte, mit denen wir in Deutsch-


Dr. Jürgen Heraeus im Interview

land und Europa gut waren, außerhalb eigentlich nicht. Ich habe viele Bereiche verkauft, 600 Millionen Umsatz abgegeben und wir haben uns dann auf Werkstoffe usw. konzentriert. Auch die Führung haben wir ausgedünnt und anders aufgestellt. Noch heute gilt: Wo sich Produktbereiche zu Massengütern entwickeln, sind wir nicht besonders gut. Dazu sind wir zu klein. Sie stehen für Werte wie Tradition, ­Vertrauen und Anstand. Steht die be­ schriebene Ausdünnung nicht im ­Widerspruch dazu? Es gab Leute, die nicht mitgewachsen sind. Manche haben die Notwendigkeit für Veränderungen gesehen, die konnte man halten, andere nicht. Gegebenenfalls konnte man bei einigen Mitarbeitern auch den Ruhestand etwas früher einleiten, sodass beiden Seiten gedient war. Unsere pensionierten Führungskräfte laden wir bis heute ein und präsentieren unsere Bilanzen und Geschäftsentwicklungen. Manche dachten anfangs, dass die Entwicklungen nicht in die richtige Richtung gehen. Inzwischen sagen sie aber: „Das ist ja toll! Meinen Bereich gibt es nicht mehr, dafür gibt es andere Tätigkeitsfelder.“ Man muss die Menschen mitnehmen. Sie haben viel geleistet. Aber die Märkte verschieben sich. Heute machen wir über die Hälfte des Umsatzes mit Asien. Hohe Reisetätigkeit ist somit unabdingbar und auch die Toleranz gegenüber anderen Kulturen muss wachsen, damit man mit Kunden und Geschäftspartnern auf einer Ebene sprechen kann. Heraeus besitzt 5.900 Patente und 25 Entwicklungszentren. Auf welche Innovationen konzentrieren Sie sich aktuell?

Wir versuchen, bei den Änderungen in der Energietechnik, bei Windenergie und Photovoltaik anzusetzen. Wo gibt es Ansätze für Produkte aus unserem Hause, was können wir patentieren? Das wird zunehmend

»Der Staat hat riesige Einnahmen und leitet die Gelder einfach nicht dorthin, wo sie hingehören, zum Beispiel in die Ausbildung, in Kindertagesstätten. Und dann heißt es, die Reichen müssen abgeben. Den Schuh ziehe ich mir nicht an.« schwerer. Die Chinesen haben im letzten Jahr mehr Patente angemeldet als der Rest der Welt zusammen. Wir haben mittlerweile acht Patentanwälte im Haus, weil man sich permanent verteidigen muss und große Un­ ternehmen einem vorhalten, man würde Patente verletzen. Das ist mittlerweile ein eigener Geschäftszweig, da muss man gut aufgestellt sein. Glauben Sie, dass deutsche Unternehmen auch in 20 Jahren noch das Innovationspotenzial haben, um an der technischen Weltspitze dabei zu sein? Ich sehe die Gefahr, dass wir, wie im Maschinenbau, nur noch das Spitzensegment bedienen, das immer kleiner wird. Wir haben zum Beispiel früher Operationslampen gemacht, und da haben sich die Entwickler überlegt, ob man nicht per Spracherkennung die Lampe so verstellen kann, dass sie immer auf die Wunde zielt. Das war eine nette Idee, wäre

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

aber kein großer Markt gewesen. Wir haben uns da hochtreiben lassen. Als Herr Guttenberg einige Monate Wirtschaftsminister war, hat er den netten Ausspruch gebracht: „Wenn der Toaster mal intelligenter wird als Teile der Familie, dann ist die Innovation zu Ende.“

Anspruch auf eine Wohnung, auf Heizung, Schultüte usw. Das ist unser Leben, das ist unsere Auffassung. Ich will das nicht kritisieren, aber es ist so: Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die nicht einmal elektrisches Licht haben.

Deutsche Arbeitsplätze werden verlagert, es wird immer günstiger produziert, die Preise gedrückt. Wie wird sich dieser Trend in den nächsten Jahrzehnten weiter­ entwickeln?

Auch bei Heraeus gab es eine Stellen­ verlagerung nach Rumänien – trotz Ihrer hochtechnologischen Produkte.

Wir beschweren uns darüber, dass die Leute ausgenutzt werden, und wollen auf der anderen Seite nichts bezahlen. Wenn die Leute doppelt so viel verdienen würden, wäre ein BMW vielleicht 20 Prozent teurer, den Menschen ginge es aber besser. Aber: Geiz ist geil. Das Gleiche gilt für Textilien und das iPad. In Deutschland spricht man immer von der Gerechtigkeitslücke. Die Reichen müssten

»Der Euro wurde zu schnell eingeführt, auch in Griechenland. Man kann das Geld da hinschicken, aber das Geld ist weg. Die haben keine Strukturen, die müssen von null anfangen, wenn sie dann dazu bereit sind.« den Armen was abgeben. Wenn Sie nach Rumänien oder Griechenland gehen, hat keiner Verständnis für diese Idee. Und weltweit? Der Traum eines chinesischen Bauern ist, dass es seinem Enkelkind mal so gut geht wie einem Hartz-lV-Empfänger in Deutschland. Der hat

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Wir haben auch weniger technologische Produkte, in diesem Fall im Dentalbereich. Da braucht man keine Spitzenleute. Wenn man das Produkt aber weiterhin bei guter Profitabilität halten will, muss man auch solche Wege gehen – so wie die Automobilindustrie. Was wird bei einem Volkswagen in der Wertschöpfung noch wirklich in Deutschland gemacht? Vielleicht 20 Prozent, der Rest kommt woanders her. Und das ist für die Welt gut. Wenn es am Ende nur noch Deutschland gut geht, dann werden die Afrikaner alle zu uns kommen. Ist die Energiewende für Deutschlands Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt von Nachteil? Ich habe mit Freunden gewettet, dass wir in ein paar Jahren wieder das ein oder andere Kernkraftwerk nutzen, weil wir das sonst nicht hinkriegen. Andererseits glaube ich, wenn wir uns nicht so rigoros ein Zeitfenster gesetzt hätten, wäre wieder gar nichts passiert. Das Volk wollte keine Atomkraft mehr. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Ich bin sehr skeptisch, dass wir in Deutschland mit unserer Art des demokratischen Handelns und den einzelnen Bundesländern


Dr. Jürgen Heraeus im Interview

eine Lösung finden. Ohne einen Masterplan wird es schwierig. Zudem ist das ganze Erneuerbare-Energien-Gesetz eine Katastrophe. Was da an Milliardenzuschüssen anfällt, in eine völlig falsche Richtung! Ich bekomme 18 Jahre eine garantierte Verzinsung von 5 oder 8 Prozent für mein Photovoltaik-Dach, egal ob jemand den Strom abnimmt.

gesetzlichen Ausnahmen gelten würden, wäre mehr als die Hälfte des Gewinns weg. Dann würde man zwar nicht die Fabrik verlagern, aber keine neue mehr bauen. Industrie, für die der Strompreis wichtig ist, wie die Zementindustrie – da wird es keine Erneuerung oder Erweiterung mehr geben. Wenn man das hinnehmen will?!

Bietet die Energiewende nicht auch Chancen?

Damit entsteht durch die Energiewende also deutlich ein wirtschaftlicher Schaden?

Doch, das sieht man ja an der Windkraft. Aber es wird auf Dauer nicht mit Subventionen gehen, vor allem nicht, wenn für nicht genutzte Kapazitäten bezahlt wird. Aber es ist unglaublich schwierig, das zu durchschauen und ehrliche Zahlen zu kriegen, bedingt durch die starke Lobby der verschiedenen Industrien.

Sicher, Strom ist ein wesentlicher Kostenfaktor, früher waren es die Lohn- oder Baukosten. Wenn Sie in China bauen, haben Sie 25 Prozent der Kosten von hier und es geht viermal

Ist es kein Vorteil, dass wir uns früher als andere Länder mit erneuerbaren ­Energien befasst haben? Das war ein Vorteil, den wir im Moment verspielen. Nehmen Sie die Photovoltaik – durch die Subventionen wurden riesige Kapazitäten aufgebaut ohne großartige Arbeitsteilung. Die Unternehmen machen die Siliziumscheiben selbst bis hin zu den Gleichrichtern. Das hat sich nie bewährt. Es gibt immer Leute, die bestimmte Dinge besser können. Es wird eine Arbeitsteilung geben, wie in der Halbleiter­ industrie. Strom ist für Unternehmen ein enormer Kostenpunkt. Wie sehen die konkreten Auswirkungen für Sie aus? Wir sind kein großer Stromverbraucher, mit Ausnahme eines Werks. Wenn dort nicht die

»Wenn einer einen Hundert­ euroschein billiger abgibt, ist etwas nicht in Ordnung. Wir haben uns für den anständigen Weg entschieden und machen manche Geschäfte nicht.« schneller. Der Nutzen, keine Kernenergie mehr zu ha­ben, ist sehr beschränkt, zumal an den Grenzen zu Polen, Frankreich usw. die Werke stehen. Fukushima war natürlich eine Katastrophe, aber auch eine Katastrophe im Handling. Deutschland geht es wirtschaftlich gut, Europa nicht. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe? Da sind zwei Punkte: Einmal die amerikanische Politik, die geglaubt hat, man müsse auch Menschen mit wenig Geld ermöglichen, ein Haus zu kaufen – wohlwissend, dass die

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Leute das wahrscheinlich nicht abbezahlen können. Das Zweite waren die Banken mit den Asset-Backed-Security-Strukturen: Die Verkäufer haben die nicht verstanden und die Käufer auch nicht. Die westliche Welt hat sich daran gewöhnt, über ihre Verhältnisse zu leben, einschließlich Deutschland. Auch wenn es das Ziel ist, keine neuen Schulden zu machen, sind die alten trotzdem noch da. Jedes Jahr haben Regierungen neue Wohltaten gegeben. Und wenn jetzt, wie bei den Krankenkassen, mal ein bisschen mehr Geld drin ist, wollen sie die Leistungen erhöhen. Wobei die EU eine großartige Sache ist, weil Deutschland allein auf Dauer nicht die Welt erobern kann. Europa

»Die größte Herausforderung ist, unser Schulsystem in den Griff zu bekommen und die Quote der Abbrecher zu senken.« wurde nur viel zu schnell erweitert, der Euro zu schnell eingeführt, auch in Griechenland. Man kann das Geld da hinschicken, aber das Geld ist weg. Die haben keine Strukturen, die müssen von null anfangen, wenn sie dann dazu bereit sind. Sollten die Staaten Europas die deutschen Strukturen in Spitzenunter­ nehmen übernehmen? Bestimmt. Deutschland hat den Griechen an­ geboten, Mitarbeiter in die Verwaltungen zu entsenden. Das haben sie eitel abgelehnt.

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Wir wollen nicht als Lehr- und Zuchtmeister auftreten, aber wenn die das nicht in den Griff kriegen … Wenn die Mehrheit der Ärzte und Rechtsanwälte eine negative Steuererklärung abgibt, kann da was nicht stimmen. Und der unteren Mittelschicht geht es derweil wirklich schlecht. In Portugal sind im vergangenen Jahr 120.000 junge Leute ausgewandert, nach Angola und Mosambik. In drei Schlagworten, was kann der Politikbetrieb von disziplinierten Unternehmen lernen? Mit dem Geld sorgfältig umgehen, keine Geschenke machen und darauf vertrauen, dass der Bürger das letztlich versteht. Welche Vorkehrungen trifft Ihr Unternehmen für Herausforderungen der Zukunft? Die größte Herausforderung ist, unser Schulsystem in den Griff zu bekommen und die Quote der Abbrecher zu senken. Sonst kriegen wir soziale Probleme, weil die Leute keine Arbeit in Deutschland finden werden. Unsere Vorkehrungen: Wir haben unsere Ausbildung nie verkleinert. Wir nehmen 110 Auszubildende und haben bis zu 1.000 Bewerber. Wir wollen nicht nur Spitzenleute, wir wollen Abiturienten, Schüler mit der Mittleren Reife, wir würden auch gerne Hauptschüler nehmen, aber hier gibt es momentan in der Einsatzfähigkeit, ohne Sondermaßnahmen, echte Probleme. Diese jungen Menschen haben oft große Defizite in den Grundrechenarten oder der Rhetorik. Hier gibt es Nachholbedarf, damit die Hauptschulabgänger besser gerüstet sind.

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Stefan Messer Chief Executive Officer Messer Gruppe

¬ ZUR PERSON Stefan Messer, Jahrgang 1955, arbeitet seit 33 Jahren bei der Messer Gruppe. Ab 1989 war er zunächst Geschäftsführer von Messer Nederland BV, dann von Messer France S.A., bis er 1998 Mitglied der Geschäftsführung der Messer Griesheim GmbH wurde. Seit 2004 ist Stefan Messer CEO der neu formierten Messer Gruppe.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die Messer Gruppe erzeugt und liefert verschiedene Gase und ist in mehr als 30 Ländern weltweit aktiv. Die 1898 als Familienunternehmen gegründete Messer Gruppe gehörte von 1965 bis 2001 mehrheitlich zur Hoechst AG, bevor sie nach einer dreijährigen Partnerschaft mit Finanzinvestoren 2004 von Stefan Messer erneut in den Familienbesitz überführt wurde. Der Hauptsitz befindet sich im hessischen Bad Soden am Taunus.

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Stefan Messer im Interview

» Es gab viele, die gesagt haben: viel zu groSSes Risiko « Amadeus Bach und Max Brehm sprachen mit Stefan Messer, CEO der Messer Gruppe, über die Rückführung des Unternehmens in den Familienbesitz Messer, die Auswirkungen der Energiewende und seine Einschätzung des chinesischen Marktes.

Herr Messer, in der Eingangshalle Ihres Unternehmens haben wir Produkte Ihrer Kunden gesehen. Wo kommen Ihre Gase zum Einsatz? Die Produktwand bietet einen ganz kleinen Überblick. Es ist ein sehr umfangreiches Spektrum. Unsere Hauptprodukte sind Luftgase: Sauerstoff wird für Verbrennungsprozesse eingesetzt, bei der Ofenwindanreicherung im Hochofen, bei der Stahlerzeugung oder in der Glasindustrie. Gasförmiger Stickstoff dient hauptsächlich als Explosionsschutz in der Chemieindustrie. In flüssiger Form verwendet man ihn zu Kühlzwecken, zum Beispiel beim Transport von Lebensmitteln. Argon wiederum wird zum Schutzgasschweißen eingesetzt, aber auch in der Stahlindus­ trie zum Spülen bei der Stahlerzeugung, CO2 dient der Neutralisation von Abwässern im großen Stil oder zur Karbonisierung von Softdrinks. Es gibt natürlich Tausende Anwendungen und noch viele andere Gase. Wie sieht der Markt für Industriegase aktuell aus? Der sieht immer recht gut aus, weil wir in der Branche so viele neue Anwendungsverfahren entwickeln, dass wir kontinuierliches Wachstum haben. Eine Faustregel ist: Wir

wachsen immer ungefähr zweimal so schnell wie das Bruttosozialprodukt. Und da das Geschäft so diversifiziert ist, ist es gut planbar. Die Anwendungen reichen von der Medizintechnik – zum Beispiel durch Anästhesiegas im Krankenhaus – bis in die Umwelt- und Lebensmitteltechnik, die Stahl- und Chemieindustrie. Überall finden Sie den Einsatz von Industriegasen. Wenn es mal schlecht geht, gehen nicht alle Branchen schlecht. Und wenn es ganz schlecht geht, gehen die Leute mehr ins Wirtshaus, trinken Bier oder Mineralwasser, wo CO2 drin ist. So gleicht sich das aus. Sie sind in mehr als 30 Ländern aktiv und investieren viel in internationale Märkte. Ihr Deutschlandgeschäft ist dagegen eher klein. Warum? Aufgrund unserer Geschichte sind wir stärker im Ausland tätig: Wir haben 38 Jahre mehrheitlich zu Hoechst gehört und hatten ab 2001 eine Partnerschaft mit Finanzinvestoren. Erst seit 2004 sind wir wieder ein hundertprozentiges Familienunternehmen. Im Rahmen dieser Neustrukturierung haben wir damals unser Deutschlandgeschäft verkaufen müssen und hatten drei Jahre Wettbewerbsverbot. Erst seit 2008 sind wir wieder auf dem deutschen Markt.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Was reizt Sie im internationalen Vergleich am Wirtschaftsstandort Deutschland, der ja auch höhere Lohnkosten beinhaltet? Im Produktionsbereich spielen die Lohnkosten bei uns keine große Rolle. Die Hauptkosten sind Energie und Kapital. In Deutschland wollten wir wieder Fuß fassen, weil es hier eine breite Industriestruktur gibt und viele neue Verfahren zusammen mit Kunden entwickelt werden, die man später auch im Ausland einsetzen kann. Die Konjunktur lässt in Deutschland zwar nach, aber der Export läuft gut. Besonders von Fertigprodukten nach China, bei deren Herstellung unsere Gase verwendet werden. Wir haben ein schönes Wachstum, auch weil wir wieder neu angefangen haben und uns noch viele Kunden aus früherer Zeit als kompetenten Gasepartner kennen. Und wir haben gute Chancen, uns ein wenig abzusetzen von unseren Wettbewerbern wie Linde und Air Liquide. Das sind große, börsennotierte Unternehmen, die nicht mehr viel Wert auf guten Service und Beratung legen. Da können wir ein bisschen mehr leisten. Sie sagen, Energie sei ein Teil Ihrer Hauptkosten. Durch die Energiewende sind die Strompreise in Deutschland stark gestiegen. Beeinträchtigt Sie das? Im Moment ist es im überschaubaren Rahmen, aber es ist deutlich ein Trend zu steigenden Kosten zu spüren. Wir haben langfristig für die nächsten Jahre Energie zugekauft und zum großen Teil unsere Abnahmeverträge über Preisgleitklauseln abgesichert. Das heißt, wenn die Energiekosten steigen, geben wir das an unsere Kunden weiter. Das ist nicht überall machbar und ist auch eine Belastung für uns.

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Man könnte natürlich auch nach Frankreich gehen, wo die Energie wesentlich günstiger ist, da 70 Prozent dort mit Kernkraftwerken erzeugt werden. Dann haben Sie aber die Transportkosten, und die spielen bei uns auch eine große Rolle. Sie können unsere Produkte nicht weit transportieren, weil die Verpackung relativ schwer ist. Deswegen können wir günstige Energie im Ausland nur nutzen, wenn wir die hergestellten Gase auch dort vertreiben. Ansonsten erschlagen uns hohe Transportkosten. Ihr Konkurrent, die Linde AG, plant ein Wasserstofftankstellennetz aufzubauen. Wie sehen Sie die Chancen für eine CO2neutrale Fortbewegung? Wasserstoff ist einfach zu teuer im Vergleich zu fossilen Brennstoffen. Es wird noch viele Jahre dauern, bis man das wirtschaftlich darstellen kann. In diesen Bereich breiter einzusteigen, ist eine Nummer zu groß für uns, weil man eine ganze Vertriebsstruktur aufbauen müsste. Das werden die großen Mineralölfirmen machen. Ich glaube nicht, dass Linde flächendeckend ein Tankstellennetz aufbauen wird. Ich sehe mehr Chancen, dass die Elektromobilität kommt. Eine aktuelle Herausforderung ist auch der demografische Wandel. Wie gewinnen Sie weiterhin die besten Köpfe für sich? Wir haben bisher kein Problem mit der Suche nach Mitarbeitern, weil wir in unserem Bereich eine sehr geringe Fluktuation haben. Mitarbeiter, die einmal in der Gasindustrie zu Hause sind, verlassen die Branche meistens nicht mehr, da das Geschäft so abwechslungsreich ist. Wir haben also viele Jubilare. Allerdings versuchen wir, durch ein verstärk-


Stefan Messer im Interview

tes „Employer Branding“ junge Leute anzuziehen und unser Unternehmen nach außen attraktiver darzustellen. Das ist ein bisschen schwierig. Wenn die Leute erst einmal bei uns sind, bleiben sie. Aber um sie reinzuholen, müssen wir noch mehr tun. Große Firmen wie Linde oder Daimler Benz sind natürlich im Vorteil. Sie haben größere Budgets und besuchen viele Jobbörsen. Wir sind dabei, das auszubauen, und pflegen ein enges Verhältnis zur Goethe-Universität Frankfurt und zur TU Darmstadt, wo unsere gemeinnützige Familienstiftung auch Preise vergibt. Sehen Sie noch Möglichkeiten, Ihre Präsenz auf dem deutschen Markt zu steigern? Klar, aber wir werden nicht mehr so einen hohen Marktanteil erzielen wie früher. Das wollen wir auch gar nicht. Wir haben zwei Anlagen gebaut, eine in Siegen bei den deutschen Edelstahlwerken und eine in Salzgitter bei der Salzgitter Flachstahl zur Versorgung der Stahlwerke. Und in diesem Umkreis haben wir natürlich auch Flüssigkunden aufgebaut. Wir haben sogenannte „Swap“-Verträge mit unseren Wettbewerbern, sodass wir auch Zugang zu anderen Quellen in Deutschland haben und heute wieder relativ flächendeckend liefern können. Wir wollen keinen scharfen Verdrängungswettbewerb, sondern über Beratung und Anwendungstechnik gehen. Da werden wir noch ein bisschen weiterwachsen. In Europa ist die Schuldenkrise omnipräsent. Inwiefern haben Sie Bedenken, dass bei einer verschärften Situation auch Ihr Unternehmen betroffen sein könnte? Wir sehen da kein großes Risiko, weil wir bei der Finanzierung sehr gut aufgestellt sind.

Wir haben unser Unternehmen mit sogenannten „United Private Placements“ finanziert: Schuldverschreibungen von amerikanischen Versicherungsgesellschaften, die bei uns ihr Geld investieren. Sehr langfristig mit einem günstigen Zinssatz, sodass wir vom europäischen Finanzmarkt nicht abhängig sind. Aber auch Kredite mit Banken sind kein Problem, weil die Branche gut planbar ist und wir sehr transparent in unserer Berichterstattung sind. Unternehmen, die jammern, dass sie kein Geld bekommen, sind meistens nicht transparent. Denen möchten Sie bestimmt auch kein Geld geben, wenn Sie nicht wissen, was die damit machen. Es ist wichtig, Vertrauen zu den Finanzinstituten, den Geldgebern aufzubauen und die versprochene Performance zu erbringen. Dann bekommen Sie auch Geld und haben keine Diskussion zum Thema Kreditklemme.

»Wir haben bisher kein Problem mit der Suche nach ­Mitarbeitern, weil wir in unserem Bereich eine sehr geringe ­Fluktuation haben.« Im Geschäftsbericht 2011 ist ein Anstieg kurzfristiger Verbindlichkeiten bei gleichzeitiger Reduktion langfristiger Verbindlichkeiten sichtbar. Wäre es für Ihr Unternehmen nicht sinnvoller, sich im aktuell niedrigen Zinsumfeld langfristig günstig zu refinanzieren? Das war eine Momentaufnahme. Wir haben unsere langfristigen Verträge gerade refinanziert, und im letzten Jahr erfolgte die Umstellung. Eine Art Revolver, den wir gezogen haben, weil die langfristigen Verträge verschiedene Laufzeiten hatten und wir ein paar Monate warten mussten. Jetzt sind es wieder

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Verträge zwischen sieben und zehn Jahren zu langfristigen Konditionen.

besitz überführt. Worin bestanden die größten Herausforderungen?

Investieren Sie Ihr Privatvermögen auch außerhalb der Firma?

In der Finanzierung. Wir mussten überlegen, wie wir diese zwei Drittel Anteile übernehmen. Das Geschäft ist ja sehr kapitalintensiv, und wir hatten damals schon eine gewisse Verschuldung. Ergebnis war, dass wir die drei größten Konzerngesellschaften verkauft haben: in den USA, in Großbritannien und in Deutschland. Mit dem Erlös von 2,7 Milliarden Euro konnten wir die Shares zurückkaufen, unsere Schulden weitgehend tilgen und auch in der Anteilseignerstruktur einige Bereinigungen vornehmen. Das ist uns am Ende gut gelungen.

Nein. Ich habe mein Vermögen lieber in unserem Firmen-Portfolio, als dass ich es irgendeinem Berater gebe und abhängig von Börsenkursen werde. Ansonsten habe ich kein Portfolio. Die Leute denken immer, dass ein Unternehmer viel Geld aus dem Unternehmen rauszieht und anlegt. Es rufen mich oft Banken an, denen ich dann sage: Ich muss Sie leider enttäuschen. Ich habe mein Vermögen in der Firma, in Aktivitäten, von denen ich etwas verstehe.

»Überall finden Sie den Einsatz von Industriegasen. Wenn es mal schlecht geht, gehen nicht alle Branchen schlecht.« Die Messer Gruppe ist ein Familienunternehmen. Wo liegen die Vorteile gegenüber börsennotierten Unternehmen? Als Familienunternehmen kann man längerfristig planen und auch mal sagen, wir legen jetzt zwei Jahre ein, in denen wir weniger verdienen und keine Dividenden ausschütten. Wir investieren den erwirtschafteten Cash Flow in die Zukunft, neue Projekte, Mitarbeiter und Equipment. Das können Sie als börsennotiertes Unternehmen nicht machen, denn da müssen Sie immer Erfolg präsentieren, um Ihren Aktienkurs hochzuhalten. Sie blicken auf eine interessante Unternehmensgeschichte zurück. 2004 wurde die Messer Gruppe wieder in Familien-

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Was waren Ihre Beweggründe, die Firma wieder in den Familienbesitz zurückzuführen? Einmal die Tradition, ich wollte das Familien­ unternehmen erhalten. Zweiter Grund war die Branche. Ich bin seit 35 Jahren in der Branche tätig und sie ist superinteressant. Ich kenne mich aus, warum sollte ich das Unternehmen verkaufen? Was mache ich dann mit dem Geld? Der Bank gebe ich es bestimmt nicht. Das war für mich die beste Möglichkeit, im Geschäft zu bleiben und den Wert unseres Familienunternehmens zu steigern. Und das, ohne einen mitbestimmenden Partner mit im Boot zu haben. Haben Sie die Rückführung als Unternehmer allein getragen oder haben Sie sich der Aufgabe auch als Familie gestellt? Da war ich ziemlich allein. Da gab es niemanden, der mich besonders unterstützt hat. Außer natürlich die Mitarbeiter, die auch ein Interesse am Fortbestand des Unternehmens


Stefan Messer im Interview

hatten und daran, dass es nicht integriert wird in irgendein börsennotiertes Großunter­ nehmen.

Sehen Sie trotzdem Möglichkeiten, in Ländern wie Brasilien oder Indien tätig zu werden?

Haben Sie zeitweise an der Richtigkeit Ihres Tuns gezweifelt?

Möglichkeiten sehen wir ganz viele. Aber das ist wiederum der Nachteil eines Familienunternehmens. Wir haben nicht grenzenlos Finanzmittel zur Verfügung. Und an die Börse wollen wir nicht gehen, also müssen wir sehr selektiv vorgehen. Wir beobachten natürlich diese Märkte im Wachstum. Aber wenn wir jetzt in Brasilien Fuß fassen wollten, müssten wir schon 100 Millionen Euro in die Hand nehmen, um dort ein einigermaßen vernünftiges Geschäft aufbauen zu können. Vielleicht in ein paar Jahren.

Nein, aber es gab viele, die das getan haben. Da muss man dann weghören und tun, was einem das Gefühl sagt. Man kann nicht alles rational entscheiden. Sie müssen einfach entscheiden, Sie glauben an das Unternehmen und die Struktur oder nicht. Es gab viele Berater, Freunde, Familienmitglieder, die gesagt haben: viel zu großes Risiko. Das funktioniert alles nicht. Und da muss man einfach sagen: Ich geh meinen Weg. Ich zieh das durch. Entweder es klappt oder nicht. Aber ich hatte immer ein sehr gutes Gefühl, weil es eine planbare Branche ist. Viele Außenstehende – selbst die Hoechster, die 38 Jahre beteiligt waren – haben die ganze Industrie, in der wir uns bewegen, eigentlich nie ganz verstanden. Wie ging es nach der Übernahme weiter? Wir sind 2004 mit einem wesentlich kleineren Unternehmen gestartet, auf Nischenmärkten in Westeuropa, in der breiten Fläche in Osteuropa und in China. Das sind heute noch unsere Kernmärkte. In den letzten acht Jahren haben wir über eine Milliarde Euro in neue Anlagen und Vertriebsmittel investiert und konnten so unser Geschäftsvolumen seit 2004 verdoppeln. Wir haben jetzt eine Milliarde Umsatz gemacht und werden bei den Investitionen eine etwas reduzierte Gangart einlegen, um daran zu arbeiten, dass die neu aufgebauten Kapazitäten auch voll genutzt werden.

Ihr Unternehmen ist seit 1995 auf dem chinesischen Markt aktiv. Wie bewerten Sie die Wirtschaftslage dort? In China machen wir ungefähr 70 Prozent unseres Geschäfts mit großen Stahlherstellern. Wir betreiben dort mittlerweile 35 Anlagen, also mehr als in Europa. Das ist hauptsächlich ein Rohrleitungsgeschäft, wo wir Gas direkt aus der Anlage ans Stahlwerk liefern. In Europa haben wir auch so ein Geschäft, es macht aber viel weniger aus. Das Hauptgeschäft hier ist verflüssigtes Gas und Gas in Hochdruckstahlflaschen. In China ist es mehr das direkte Geschäft mit den großen Kunden. Der Markt konsolidiert sich da momentan. Wir sind Lie­ ferant von Firmen, die meist wenig Export machen. Zum Glück. Denen geht es viel bes­ ser als exportierenden Firmen, die jetzt einen Rückgang haben. Der heimische Markt hingegen läuft gut, auch wenn das Wachstum ein bisschen nachgelassen hat. Wir liegen ein bisschen hinter dem Umsatzplan, der sehr ambitioniert angelegt war, aber das Geschäft wächst noch. China ist größter Stahlerzeuger

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der Welt mit über 600 Millionen Jahrestonnen und wird jetzt einige kleinere Stahlwerke stilllegen und die größeren ausbauen. Die Angst vor dem Platzen der Immobilien­ blase in China geht um, und gerade die Stahlbranche wäre geschädigt. Haben Sie Bedenken, dass Ihr Unter­nehmen betroffen sein könnte? Die Baubranche stagniert in den östlichen Regionen, wo das Land weit ausgebaut ist. Aber es gibt ja den ganzen Westen, wo Millionen von Menschen leben, und da ist ein enormer Nachholbedarf. Dort sind wir viel stärker mit unseren Aktivitäten präsent. Zum Glück. Wir waren Pioniere und sind in einigen Provinzen wie Hunan, Yunnan, Guangdong oder Sichuan Marktführer oder genauso groß wie unsere Wettbewerber. Alle haben sich auf den Osten gestürzt, und da wird es Überkapazitäten geben. Das ist so ein Riesenland, das kann man nicht als Ganzes betrachten. Man muss die einzelnen Provinzen anschauen. Große in China präsente Firmen wie VW müssen Kooperationen eingehen, mit nur 50 Prozent Anteil oder Beschränkungen bei Freibeträgen an der 20-Prozent-Schwelle. Inwiefern sind Sie von solchen Kooperationsformen betroffen, die auch mit Industrie­spionage einhergehen können? Wir haben kein einziges Joint Venture, an dem wir nicht die Mehrheit haben. Unsere Partner – in der Mehrheit Stahlunternehmen – haben so natürlich mehr Interesse daran, dass die Anlagen effektiv laufen. Und die Anlagen, die wir bauen, kommen sowieso aus China. Es gibt also keinen, der das abkupfert. Unser Know-how liegt im Engineering und in der

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Produktion, um die Anlagen kosteneffizient zu betreiben. Aber wir haben ja noch die Schweiß- und Schneidtechnik, eine separate Firmengruppe: die Messer Eutectic Castolin-Gruppe. Da haben wir eine große Maschinenfabrik in Kunchan, wo wir Brennschneidmaschinen für den Stahlbau herstellen. Dort gibt es schon Firmen, die Maschinen nachbauen – aber bisher von relativ schlechter Qualität. Ihr Credo ist „Gewinne sind uns wichtig, aber nicht alles. Genauso wichtig ist es, unabhängig zu sein und seine eigenen Ideen zu verwirklichen.“ Welche Ideen sind Ihnen genauso wichtig wie die Jahres­ gewinne? Wichtig ist mir, dass wir motivierte und qualifizierte Mitarbeiter haben. Da kann man auch viel tun auf diesem Gebiet: vom Bonussystem über Mitarbeiterzeitschrift und Personalentwicklung bis zu Fitnesscenter oder neuem Bürogebäude. Dinge, damit sich Mitarbeiter zu Hause fühlen und motiviert und erfolgreich ihre Arbeit tun. Welche Herausforderungen sehen Sie für die Zukunft Ihres Unternehmens? Wir investieren in Wachstumsmärkte, dafür müssen wir Wachstum generieren. Daher ha­ben wir in den letzten Jahren geringe Dividenden ausgeschüttet, nur um die privaten Steuern zu zahlen. Das würde sich dramatisch ändern, wenn wir eine sozialistische Regierung bekämen, die die Vermögenssteuer wieder einführen würde und hohe Erbschaftssteuern. Dann müsste man dem Unternehmen wesentlich mehr Liquidität


Stefan Messer im Interview

entziehen und könnte nicht mehr genug in die Zukunftssicherung investieren. Das wäre der große Gau. Über die Einführung von Vermögenssteuern auf Verkehrswerte wird ja diskutiert. Ein Unternehmen wie unseres hat natürlich einen hohen Wert. Das könnten die Gesellschafter gar nicht aus den Dividenden, die wir bisher bezahlt haben, finanzieren. Wenn das kommt, machen sich viele Unternehmen Gedanken, aus Deutschland rauszugehen.

war ich schon sehr fokussiert darauf, ins Unternehmen zu gehen.

Spielen Sie selbst mit dem Gedanken?

Was sind für Sie unabdingbare Eigen­ schaften eines guten Unternehmers?

Klar, man muss sich alle Optionen überlegen. In Frankreich sind ja schon ein paar Unternehmer nach England umgezogen. Die haben ja jetzt die Reichensteuer eingeführt – ab 200.000 Euro 75 Prozent – und auch eine relativ hohe Vermögenssteuer. Und der Staat legt das sicherlich nicht so gut an wie ein Unternehmer. Ich habe kein Problem, Einkommens- oder Körperschaftssteuern zu bezahlen. Aber wenn Sie Substanz verlieren, um Steuern zu zahlen, ist das kein gutes System zum Erhalt des Unternehmens. Deutschlands Wirtschaft ist ja gerade so erfolgreich, weil es viele Familienunternehmen gibt. Man kann die Kuh melken, aber man sollte sie nicht schlachten. Seit 1979 arbeiten Sie für die Messer ­Gruppe. Hätten Sie sich vorstellen können, etwas ganz anderes zu machen? Vorstellen kann man sich ja alles Mögliche. Aber eigentlich nicht. Ab einer gewissen Zeit

Die Messer Gruppe wird von Ihnen in dritter Familiengeneration geführt. Wer macht es nach Ihnen? Mein Sohn macht momentan an der Frankfurt School of Finance seinen Master. Er interessiert sich für das Unternehmen. Ich hoffe, dass er irgendwann kommt.

Herzblut für Produkte, Verfahren, Unternehmen, Mitarbeiter und Kunden. Sie müssen als Unternehmer Kontakt mit allen Gruppen haben, auch mit Banken und Gesellschaftern. Sie brauchen gute Mitarbeiter und müssen diese optimal einsetzen und an die richtige Stelle führen. Und nicht Leute in Managementpositionen befördern, die dazu nicht fähig oder zu überheblich sind. Da braucht man sehr viel Sozialkompetenz. Wo sehen Sie Ihr Unternehmen in den nächsten zehn Jahren? Ich hoffe, dass wir in unseren Kernmärkten weiter wachsen und neue Märkte mit Zukunftspotenzial erschließen, besonders in Asien. Und dann haben wir in der Schweißtechnik ja auch noch Potenzial. Neben Schneidmaschinen und Schweißzusatzwerkstoffen möchte ich unsere BIT-Firmengruppe für Diagnostikgeräte weiter ausbauen.

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Friedrich von Metzler Gesellschafter B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA

¬ ZUR PERSON Friedrich von Metzler, Jahrgang 1943, ist ein deutscher Bankier. Seit 1971 ist er persönlich haftender Gesellschafter der Privatbank B. Metzler seel. Sohn & Co. KGaA. Er führt das Bankhaus zusammen mit acht Partnern bereits in der elften Generation der von Metzlers. 2004 wurde Metzler zum Ehrenbürger von Frankfurt am Main ernannt.

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die B. Metzler seel. Sohn & Co. Kommanditgesellschaft auf Aktien ist ein familiengeführtes Bankhaus mit Sitz in Frankfurt am Main. Das von Benjamin Metzler 1674 ursprünglich als Handelsunternehmen gegründete Geschäft ist heute die älteste Privatbank Deutschlands im ununterbrochenen Besitz der Gründerfamilie.

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Friedrich von Metzler im Interview

» Beides könnte kommen, Inflation und Deflation « Nicolai Austein und Tobias Schäffner sprachen mit Bankier Friedrich von Metzler über die europäische Finanzkrise, das Image der Banken und die Gefahr von Interessenkonflikten.

Herr Metzler, Sie haben einmal gesagt: „Ein Unternehmen, das nur Geld verdient, ist ein armes Unternehmen.“ Was haben Sie damit gemeint? Das Zitat ist von Henry Ford, und ich habe es mir zu eigen gemacht. Ich finde, es ist ein wunderbarer Ausdruck dafür, dass ein Unternehmen auch für die Allgemeinheit da sein und sich mit aktuellen Problemen und zukünftigen Fragestellungen auseinandersetzen sollte. Ein aktuelles Beispiel ist das „d.eu.tsch-Projekt“ der Metzler-Stiftung. Wir setzen damit an einem aktuellen Problem an: In Südeuropa sind viele junge, gut ausgebildete Leute arbeitslos. Also haben wir mit den Goethe-Instituten in Portugal, Griechenland und Spanien vereinbart, wir holen eure Deutschschüler für drei Monate nach Frankfurt, verbessern ihr Sprachniveau und versuchen dann, für sie hier einen Arbeitsplatz zu finden. Wir fangen jetzt mit 16 Südeuropäern an. Es ist zwar ein Tropfen auf den heißen Stein, aber wenn es mehr Tropfen gibt, hilft es vielleicht doch. In den letzten Wochen macht in den Medien der Begriff Altersarmut die Runde. Wie sehen Sie diese Gefahr im Hinblick auf den demografischen Wandel in Deutschland?

Wir müssen wirklich aufpassen, dass die zukünftige Generation später noch genügend für die Älteren sorgen kann. Ich frage viele Unternehmensführer: Wollt ihr in 20 Jahren mit der Aussage der Mitarbeiter konfrontiert werden, dass sie nicht genug zum Leben haben? Deshalb haben wir das Metzler Pension Management entwickelt. Der Einzelne muss etwas tun, und der Arbeitgeber muss es ihm ermöglichen. Leider hat die Bundesregierung eine Garantie für die eingezahlten Beträge gefordert. Sie wollte sozial sein und hat gesagt, in gewissen Fällen muss der Arbeitgeber alle Beträge garantieren. Das hat Arbeitgeber ver­‑ ständlicherweise zögerlich gemacht. Man hat so nicht die Möglichkeit, über die rendite­ starke Aktienanlage langfristig Vermögen aufzubauen. Das ist ein Dilemma. Sie wurden mit dem Bundesverdienstkreuz I. Klasse ausgezeichnet, sind Ehrenbürger von Frankfurt am Main. Was bedeuten Ihnen Ihre Auszeichnungen? Die Ehrenbürgerschaft ist natürlich für einen Frankfurter etwas besonders Schönes, und wir haben viele Mitarbeiter im Haus, die sich für hiesige Institutionen einsetzen. Bei vielen Gründungen oder Entwicklungen war früher mal ein Metzler dabei: Im „Freien Deutschen Hochstift“ saß seit Generationen ein Metzler im Verwaltungsrat, das „Museum für Ange-

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wandte Kunst“ ist mit Hilfe eines Metzlers ins Leben gerufen worden, und an der Gründung der „Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung“ war ebenfalls ein Metzler beteiligt. Das macht natürlich große Freude, wenn die Bundesrepublik die Leistungen anerkennt. Solche Ehrungen nimmt man auch für alle Mitarbeiter und die Vorgänger entgegen. Denn es ist bestimmt schwieriger, ein Unternehmen zu gründen, als es weiterzuführen.

»Es gibt große Unternehmen, die ein gutes Betriebsklima haben, und kleine Unternehmen, die kein gutes Betriebsklima haben. Das hängt nicht von der Größe ab, sondern von der Einstellung, wie man den Mitarbeiter beurteilen will.« Wie stellen Sie sicher, dass das Bankhaus Metzler auch angesichts der Herausforderungen einer globalisierten Welt seinen Werten verpflichtet bleibt? Durch unsere Mitarbeiter. Wenn wir jemanden fürs Haus gewinnen wollen, schauen wir in erster Linie auf Charakter und Persönlichkeit. Das Wissen muss natürlich da sein. Es gibt große Unternehmen, die ein gutes Betriebsklima haben, und kleine Unternehmen, die kein gutes Betriebsklima haben. Das hängt nicht von der Größe ab, sondern von der Einstellung, wie man den Mitarbeiter beurteilen will. Ihr Unternehmen ist seit 1674 ununter­ brochen in Familienbesitz. Wie sehr hat die Bank Ihre Kindheit und Familien­ geschichte mitgeprägt?

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Sehr stark. Der Unternehmer lebt im Betrieb. Nach dem Krieg haben wir sogar einige Zeit im sechsten Stock des Bankgebäudes gewohnt. So habe ich in jungen Jahren alle Mitarbeiter der Bank und durch meinen Vater sein Geschäft kennengelernt. Er war ein Bankier mit Leidenschaft und hat mir enorm viel erzählt, sodass ich schon in der Schule wusste, ich will hierher. Es war übrigens eine große Leistung meiner Vorgänger, dass sie gewartet haben, bis sich der Kapitalmarkt nach 1945 wieder entwickelte und damit unser Geschäft, und dann erst gewachsen sind. Sie leiten das Bankhaus in elfter Generation der von Metzlers. Wie wichtig ist es Ihnen, dass das in Zukunft so bleibt? Das ist mir sehr wichtig, besonders im Hinblick auf unsere Mitarbeiter. Würden die Familiengesellschafter der nächsten Generation ihre Anteile verkaufen, würde das für die Mitarbeiter viel verändern. Insofern versuchen wir, unseren Kindern und unserem Neffen Leonhard, der bereits hier im Unternehmen ist, mitzuteilen, welche Verantwortung und Pflichten sie durch dieses Erbe haben – unabhängig davon, ob sie in der Bank arbeiten wollen. Das Bankhaus Metzler wird letztendlich die Familie zusammenhalten. Welche Vorteile hat Ihr Haus als unabhängige Bank? Wir sind niemandem verpflichtet, haben daher keine Interessenkonflikte und machen bestimmte Dinge einfach nicht: Sie werden im Private Banking keine Metzler-Fonds finden. Wir machen Corporate Finance, aber kein Private Equity, wir führen Aktienhandel für unsere Kunden durch, aber nicht fürs eigene Haus. Das sind Dinge, die entschieden wur-


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den, auch wenn man mit diesen Geschäften punktuell viel Geld verdienen könnte. Aber die Freiheit von Interessenkonflikten ist ein zu hoher Wert. Wir möchten unsere Kunden nachhaltig an uns binden. Wir haben auch keine Zielvorgaben, welche Summe ein Team oder Mitarbeiter an Provision reinholen muss. Inwiefern betrifft Ihre Bank die euro­ päische Schuldenkrise? Agieren statt reagieren hieß stets Metzlers Maxime: Nur so konnte es dem Bankhaus gelingen, seine Strategie aktiv an den Erfordernissen der wechselnden Zeiten auszurichten und sich in neuen Marktsegmenten zu positionieren. Wir sind der Meinung, kompetentes Risikomanagement muss immer darauf bedacht sein, Chancen und Risiken sorgfältig abzuwägen. Nischen besetzen und guten Ser­‑ vice anbieten: Wir machen vieles anders als der Wettbewerb und setzen auf Diskretion, Neutralität und Unabhängigkeit.

richtigen Weg. Es sind schon erstaunlich positive Dinge geschehen. Ich gehe davon aus, dass wir in 15 Jahren sagen können: Der Euro hat uns letztendlich die Augen geöffnet, wie verschuldet alle sind. Europa wird als Fiskalunion noch enger zusammenwachsen, und die nationalen Industrien werden im globalen Wettbewerb gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Wie geht Ihr Unternehmen mit der Eurokrise um? Das Wichtigste war, die Panik bei Kunden zu verhindern und zu vermeiden, dass sie ihre Ersparnisse entweder unters Kopfkissen legen oder Gold und überteuerte Immobilien kaufen. Man musste ihnen diese extremen Schwankungen erklären und zeigen, dass wir uns in einer kritischen Situation befinden, es uns dennoch relativ gut geht. Die größte Angst war ein Bank-Run, bei dem von Portugal bis Griechenland alle Leute ihre Euros abheben.

Woher rührt die aktuell kritische Situation? Es ist zu Turbulenzen gekommen, die man zum Teil nicht voraussehen konnte. Aber das hat man immer im Leben. Nach der LehmanPleite haben die Zentralbanken Geld ins System gegeben. Mein Vater hat immer gesagt, aus der Krise der 1930er Jahre haben die Zentralbanken und Politiker gelernt, dass man Geld ins System geben muss, um die Liquidität zu erhalten. Wenn es da weltweit zu einer Liquiditätskrise gekommen wäre, hätten wir heute eine furchtbare Weltwirtschaftskrise. Es wurde also richtig gehandelt. Und jetzt braucht man Zeit, das wieder einzufangen. Das geht in der Politik nicht von heute auf morgen, vor allem wenn Sie viele Länder koordinieren müssen, aber man ist auf dem

Die Garantie der deutschen Regierung, Spareinlagen seien sicher, hat geholfen. Aber stellen Sie sich vor, die Banken hätten damals keine Euroscheine mehr gehabt, die sie an ihre Kunden auszahlen können! Deswegen hat die EZB hier im Rahmen ihrer Möglichkeiten richtig gehandelt. Übrigens steht ja E ­ uroland wesentlich besser da als England und Amerika. Sie meinen bei der Verschuldung? Auch bei der Produktivität. Es gibt in England keine nennenswerte Industrie. Es wird dazu kommen, dass wir Festlandeuropäer England unterstützen. Sie haben ihre Industrie abgeschafft und sind hoch verschuldet. Oder schauen Sie, was die Schweiz machen muss.

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Um einer Aufwertung des Schweizer Franken entgegenzuwirken, musste die Schweizer Nationalbank in erheblichem Maße intervenieren. Ihre Währungsreserven stiegen im Jahresverlauf um knapp 200 Milliarden auf zuletzt etwa 480 Milliarden Franken an. Es ist anzunehmen, dass ein wesentlicher Anteil davon in deutsche Bundesanleihen geflossen ist.

»Ich finde es falsch, dass Banken im Moment als Sündenbock für das ganze Thema Staats­verschuldung benutzt werden.« Sie beurteilen das Anleihenkaufprogramm also positiv. Wie sieht der nächs­te Schritt aus? Laut ihren Statuten ist die EZB nicht nur für die Preis-, sondern auch für die Finanzstabilität in der Eurozone verantwortlich. Damit ist sie zu Markteingriffen nicht nur ermächtigt, sondern sogar verpflichtet. Es war notwendig, um Liquidität ins System zu geben. Jetzt muss man dafür sorgen, dass die betroffenen Länder in Zukunft ihre Finanzpolitik den Konditionen des Europäischen Stabilitätsmechanismus anpassen. Wie schätzen Sie die Gefahr einer Inflation ein? Das weiß keiner. Ich glaube, beides könnte kommen, Inflation und Deflation. Deswegen müssen wir uns in der Anlagepolitik auf beides einrichten. Das Bankhaus Metzler sieht sich in seiner langen Geschichte nicht zum ersten Mal in einem schwierigen und auch schwer einschätzbaren Marktumfeld stehen. Ein genereller Rat in den Aufs und Abs der Wirtschaftsgeschichte hat sich immer be-

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währt, nämlich sich ein vernünftig diversifiziertes Portfolio aufzubauen. Wie beeinflusst die Krise das Anlageverhalten Ihrer Kunden? Wir versuchen unseren Kunden klarzumachen, dass sie wegen der Inflation in reale Werte investieren müssen. Aber wir könnten auch eine Deflation haben, dann müssen sie in Nominalwerte investieren. Die größte Aufgabe ist, einem deutschen Kunden klarzumachen, dass Realwerte nicht nur Immobilien sind, sondern vor allem Aktien. Sie sind in Krisenzeiten liquide und in vielen Fällen besser. Wir würden Aktien höher gewichten als Immobilien. Banken und Bankern werden in der Presse häufig Gier und ungezügeltes Gewinn­ streben vorgeworfen. Ex-Bundespräsident Horst Köhler sagte einmal, wir brauchen wieder mehr Bankiers statt Banker. Wie stehen Sie zu dieser Kritik? Das ist keine Kritik, das ist eine Aussage, die ich richtig finde. Es gab sicherlich Verfehlungen der Banken, aber es gab auch schon Skandale in der Chemieindustrie, bei Elektrounternehmen etc. Das Bild der Banken wird im Moment ein bisschen überzeichnet. Ich finde es falsch, dass Banken im Moment als Sündenbock für das ganze Thema Staatsverschuldung benutzt werden. Es gab natürlich genügend Dinge, die nicht in Ordnung waren, extrem hohe Bonuszahlungen und falsche Anreize beispielsweise. Aber die Staatsschuldenkrise, die Rettung nach der Lehman-Pleite, sind 5 bis 7 Prozent der Gesamtverschuldung, das ist vernachlässigbar. Der Verschuldungsblock wurde in den letzten 40 Jahren aufgebaut. Da sind wir auch zu


Friedrich von Metzler im Interview

defensiv, aber im Moment haben wir halt den Sündenbockcharakter, das war auch historisch immer schon so. Wo liegen die Probleme der Bankenbranche? Man sollte der Bankenkritik auch mal Beispiele aus der Industrie entgegensetzen, denn es passiert überall Schlimmes und Gutes. Es gibt gute Banken, es gibt schlechte Banken. Mit Sicherheit gibt es weiterhin Fehler oder ein Fehlverhalten einzelner Marktteilnehmer. Aber viele Institute haben ihre Geschäftsmodelle inzwischen angepasst – sie haben also aus den Fehlern gelernt. Und was den Blick auf das Wesentliche im Zusammenhang mit der Finanzkrise betrifft: Einige Banken sind in Schwierigkeiten gekommen, weil sie zu große Risiken eingegangen sind. Das beruht letztlich immer auf dem Fehlverhalten Einzelner. Ich halte deshalb eine persönliche Ethik im Bankgeschäft für den entscheidenden vertrauensbildenden Faktor, der sich nicht durch Regulierungsaktionismus ersetzen lässt. Welche Rolle spielen der Finanzplatz Frankfurt und die deutschen Banken im internationalen Kontext? Der Finanzplatz Frankfurt und die deutschen Banken haben eine lange Tradition, sie könnten allerdings eine viel größere Rolle spielen, wenn Politik und Regierungsbehörden das erlauben würden. Aber wir haben ja viele deutsche Finanzarbeitsplätze ins Ausland ge­ schickt, nach Luxemburg und London, weil wir teilweise unsere Regulierungen zu spät angepasst haben, auch aus steuerlichen Gründen. Und aktuell ist ja wieder die Finanztransaktionssteuer im Gespräch. Ei­gent­lich müsste heute der deutsche Publikumsfonds in der

Welt als Marke für Solidität und langfristiges Denken beliebt sein – gerade nachdem kurzfristiges Spekulantentum in vielen Gegenden der Welt zu falschen Ergebnissen geführt hat. Nur, die Marke ist heute der Luxemburger Fonds. Kein Asiate, kein Lateinamerikaner guckt sich noch an, ob das deutsche Fondssystem so gut ist wie das Luxemburger. Wir müssen also alles über Luxemburg machen – das ist idiotisch. Und wenn wir jetzt die Finanztransaktionssteuer einführen, ohne die Finanzmärkte London und Luxemburg, haben wir wieder denselben Fehler gemacht. Dann müssten Sie beide nach dem Studium nach Luxemburg gehen. Was würden Sie heute einem jungen Menschen raten, der ins Bankgewerbe gehen will? Zunächst einmal ist es wichtig, dass man im Beruf glücklich ist. Das kann in jedem Beruf sein, man muss nur seine Berufung finden – und das hängt bestimmt nicht vom Geldverdienen ab. Natürlich ist der Blick auf den Gewinn unverzichtbar für einen Banker, aber auch an Menschlichkeit darf es nicht fehlen. Man hat in einer Bank mit vielen unterschiedlichen Menschen und Charakteren zu tun, und jeder Einzelne sollte das Gefühl haben, dass er individuell beraten wird. Wer also nicht nur mit Zahlen, sondern auch mit Menschen gut umgehen kann, für den ist das Bankgeschäft sicherlich richtig. Während der Ausbildung ist der Faktor der Internationalität sehr wichtig. Ich selbst war während meiner Lehrjahre in London, Paris und New York. Dort habe ich neue Erfahrungen und Ideen sammeln können.

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Dirk Niebel Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

¬ ZUR PERSON Dirk Niebel, Jahrgang 1963, ist seit 2009 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im Kabinett Merkel II. Unter ihm fusionierten 2011 die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der Deutsche Entwicklungsdienst (DED) und die Weiterbildungsgesellschaft InWEnt zur Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ). Niebel gehört seit 2003 dem Bundesvorstand der FDP und bis 2009 dem Kuratorium der Friedrich-Naumann-Stiftung an. Von 2005 bis 2009 war er Generalsekretär der FDP.

¬ ZUR INSTITUTION Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wurde 1961 zur Bündelung der Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit gegründet. Aufgabe des BMZ ist die Konzeptionierung der Entwicklungszusammenarbeit der Bundesrepublik, die auch die Umsetzung demokratischer Prinzipien und der Menschenrechte in den Kooperationsländern berücksichtigen soll. Auf Basis dieser Grundsätze werden in bilateralen Verträgen Ziele und Maßnahmen vereinbart, die von sogenannten Durchführungsorganisationen und nichtstaatlichen Organisationen erbracht und deren Ergebnisse vom Ministerium kontrolliert werden. 80


Dirk Niebel im Interview

» Die beste Entwicklungs-

zusammenarbeit macht sich selbst überflüssig « Lisa Hilberg und Benjamin Clapham sprachen mit Dirk Niebel, Bundesminis­ter für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über die Neuausrichtung seines Ministeriums, die aktuelle Welternährungslage und die Beziehung zwischen wirtschaftlichen Interessen und Entwicklungszusammenarbeit.

Herr Niebel, Sie verbrachten Schulferien und später ein gesamtes Jahr in einem Kibbuz in Israel. Wie kam es dazu? Ich habe mich schon lange für Israel interes­ siert, die Geschichte des Landes und das Judentum. Während der Schulferien war ich in einem Kibbuz nahe der libanesischen Grenze, und dann ging plötzlich der erste Libanon­ krieg los. Wenn Sie die ersten Nächte im Bunker verbringen, solidarisiert das sehr. Es hat mich motiviert wiederzukommen. Sie haben dort auch als freiwilliger Helfer in der Landwirtschaft und der Fischerei gearbeitet. Wie hat diese Erfahrung Sie mit Blick auf Ihr Amt geprägt? Ich möchte die Beziehungen zwischen Deutschland und Israel stärken. Wir haben in dieser Legislaturperiode schon drei trilaterale Projekte gestartet: In Äthiopien existiert ein deutsch-israelisch-äthiopisches Projekt zur Nutzung einfachster Technologien der Tröpfchenbewässerung. In diesem Projekt werden Bauern zwei Tage in der technischen Anwendung geschult, damit die Produktivität erhöht und die knappen Wasserressourcen geschützt werden können. In Ghana haben wir ein derartiges Bewässerungsprojekt für Landwirte, die Zitrusfrüchte produzieren. Und in Kenia eröffnet ein Projekt im Bereich

Fischzucht und Renaturierung des Viktoriasees. Der See ist maßlos überfischt und sehr verschmutzt. Das Projekt dient der Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage für die Bevölkerung. In Teichen werden Fische für den Export oder die Eigenernährung der Bevölkerung gezüchtet. Hier haben die Israelis enorme Expertise, während wir Spezialisten bei Wasser und Abwasser sind. Welche weiteren zentralen Ziele verfolgen Sie als Minister? Wir wollen weg von der Input-Orientierung und der Fragestellung: Wie viel Geld gibt jemand aus? Natürlich brauchen wir finanzielle Mittel, um erfolgreich arbeiten zu können. Aber die Frage ist: Was bewirken wir mit den Maßnahmen? Deswegen habe ich eine Reform der deutschen Entwicklungszusammenarbeit angestoßen, auch mit der Eröffnung eines unabhängigen Evaluierungsinstituts im November 2012. Damit bekommen wir erstmals auf wissenschaftlicher Basis Erkenntnisse über die Wirksamkeit unserer Arbeit. Wir wollen die Gelder der Steuerzahler effizient einsetzen und bessere Ergebnisse mit unseren Partnern erzielen. In der Plenarsitzung vom 12. September 2012 haben Sie gesagt: „Mit mir hat die deutsche Entwicklungszusammenarbeit

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den Aufstieg in die oberste Spielklasse geschafft.” Was meinten Sie damit? Das schließt an meine Antwort von eben an. Wir haben eine Wirksamkeitsagenda geschaffen, die mittlerweile von der Weltbank und der Europäischen Union übernommen wurde. Auch in anderen multilateralen Bereichen sind wir Trendsetter, zum Beispiel bei der werteorientierten Vergabe allgemeiner Budgethilfen. Wir haben die politische Steuerungsfähigkeit für diese und jede kommende Bundesregierung erhöht: Denn mit Gründung der GIZ haben wir die größte Strukturreform in 50 Jahren bundesdeutscher Entwicklungspolitik durchgesetzt. So kommen wir vom Hilfsgedanken weg. Bei Katastrophen muss man helfen, aber Strukturveränderungen gelingen nur über partnerschaftliche Zusammen­arbeit. Die klassische Entwicklungshilfe der Vergangenheit führte zu Abhängigkeiten und weniger dazu, dass sich Strukturen von den Menschen vor Ort

»Die Entwicklungszusammenarbeit ist Bestandteil deutscher internationaler Politik und deshalb ganz natürlich auch interessengeleitet! Das hat sich die frühere Entwicklungsministerin offenbar nicht zu sagen getraut.« selbst verändern lassen. Die beste Entwicklungszusammenarbeit ist die, die sich selbst überflüssig macht. Statt Gelder in die armen Länder zu bringen, wollen Sie Partnerschaften entwickeln …

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Eine sogenannte Ersatzvornahme, bei der wohlmeinende Geber die Arbeit für die Entwicklungsländer übernehmen, hilft niemandem. Die Ertüchtigung unserer Partner ist das Ziel, damit sie ihre Probleme selbst lösen ­können. Kapazitätsaufbau, Know-how-Transfer und Kooperation auf Augenhöhe, in Wirtschaft, Bildung, im Gesundheitswesen. Es geht ja um souveräne Staaten, mit denen wir zusammenarbeiten, nicht um Taschengeld­ empfänger. Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie, anders als Ihre Vorgängerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, Entwicklungszusammenarbeit nicht primär für das Wohl der Armen einsetzen, sondern auch wirtschaftliche Interessen deutscher Unternehmen verfolgen. Was erwidern Sie? Dass das nicht stimmt, denn die Kooperation mit der Wirtschaft – der deutschen und der in den Kooperationsländern – dient dazu, Armut zu bekämpfen. Die beste Armutsbekämpfung ist ein Arbeitsplatz, mit dem Sie Ihren Lebensunterhalt verdienen können. Das gilt in unseren Kooperationsländern ge­ nauso. Und ein Arbeitsplatz ist die beste Vor­aussetzung dafür, dass Staaten mit Steuereinnahmen Dienstleistungen wie Gesundheit, Infrastruktur oder Bildung finanzieren können. Nachhaltige Armutsbekämpfung oh­-­​ ne nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum ist nicht möglich. Trotzdem gilt: Wenn Sie deutsche Unternehmen bei Aufträgen in den Regionen bedenken, steht dahinter ein wirtschaftlicher Anreiz. Es gibt keine Lieferbindungen, das wäre OECD-widrig. Deutsche Unternehmen be-


Dirk Niebel im Interview

nötigen so etwas auch nicht, sie brauchen lediglich einen fairen Wettbewerb, in dem sie gut bestehen können. Wenn dann durch Aufträge Erträge aus der Entwicklungsarbeit in die deutsche Wirtschaft zurückfließen, ist das durchaus in unserem Interesse. Die Erfahrung zeigt, dass deutsche Unternehmen in den Kooperationsländern oft weit höhere Umwelt- und Sozialstandards anwenden als gesetzlich gefordert. Deswegen ist es gut, wenn das Know-how und Engagement dieser Firmen in die Kooperation miteinfließen. Auch die Ansiedlung deutscher Firmen in Entwicklungs- oder Schwellenländern unterstützen wir gerne, vorausgesetzt, dass ein zusätzlicher entwicklungspolitischer Mehrwert entsteht. Ländern wie China wird häufig vorgeworfen, ihre Entwicklungspolitik vor Ort für Wirtschaftszwecke oder Ressourcengewinnung zu nutzen. Geht es mittlerweile um einen globalen Wettbewerb zur Sicherung nationaler Interessen? Die Entwicklungszusammenarbeit ist Bestandteil deutscher internationaler Politik und deshalb ganz natürlich auch interessengeleitet! Das hat sich die frühere Entwicklungsministerin offenbar nicht zu sagen getraut, aber unsere Partner als souveräne Staaten haben ja eben auch eigene Interessen. Die würden mir gar nicht glauben, wenn ich erzählen würde, wir hätten keine. Das Ziel besteht darin, die Interessen unter einen Hut zu bringen und gemeinsam Win-Win-Situationen zu schaffen. Die Zusammenarbeit ist natürlich in der Qualität sehr unterschiedlich. Die traditionellen Geber orientieren sich an den OECD-Standards, die neuen Geber bringen ihre eigenen Fortschrittserfahrungen mit. Am besten wäre es, in trilateralen Pro-

jekten – wie wir sie mit vielen Gebern durchführen, die Schwellenländer, aber nicht mehr klassische Entwicklungsländer sind – Kompetenzen auszutauschen, um eine gemeinsame Linie zu finden: eine Kombination jahrzehntelanger Erfahrung traditioneller Geber und der eigenen Entwicklungserfahrung ehemaliger Entwicklungsländer. In welchen Wirtschaftssegmenten ist deutsches Know-how bei Entwicklungsprojekten besonders gefragt? Wir sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, ob in Medizintechnik, Umwelttechnologien oder erneuerbaren Energien. Gerade viele Mittelständler haben den entscheidenden Vorteil, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen an die Bedürfnisse von Entwicklungsländern anpassen können. Am liebsten ist es mir, wenn man vor Ort Arbeitsplätze schafft und durch die Art des Handelns Standards setzt. Ohne vor Ort sozial aktiv zu sein, treffen deutsche Unternehmen teilweise gar nicht auf die Akzeptanz, um sich wirtschaftlich einzubringen ... Ja, nehmen Sie das größte weltweit bekannte Aidsbekämpfungsprogramm. Das ist durch einen deutschen Autokonzern in Südafrika geboren worden, weil die hohe Aidsrate zu hohen Fehlzeiten geführt hat. Daher hat das Unternehmen dieses Programm entwickelt, das mittlerweile in der ganzen Welt kopiert worden ist. Auch so kann Entwicklungszusammenarbeit entstehen, zunächst ohne einen Cent Steuergeld. Als der Konzern irgendwann mit Bussen und Impfstationen unterwegs war, um Prävention und Aufklärung zu betreiben, sind wir mit eingestiegen.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Hat sich die Wahrnehmung Europas in ​ den Entwicklungsländern durch die europäische Schuldenkrise verändert?

Dirk Niebel im Interview am 17. Oktober 2012 im Bundesministerium für wirtschaftliche ­Z usammenarbeit und Entwicklung in Berlin

Ursprünglich wollten Sie das BMZ abschaffen. Wie lässt sich das mit Ihrem heutigen Ministerposten vereinbaren? Wir hatten im Wahlkampf gefordert, die Aufgaben des BMZ in das Auswärtige Amt einzugliedern. Diese Forderung ist nicht ungewöhnlich: Die Hälfte der europäischen Länder hält die Entwicklungsaufgaben im Außenministerium. Das ist eine Organisa-

»Die aktuelle Unterstützung des Internationalen Währungsfonds in Europa ist ein Anachronismus, denn der IWF ist für das Engagement in den ärmsten Regionen dieser Welt gedacht.« tionsstruktur, die wir vor dem Hintergrund mangelnder Kohärenz in der Vergangenheit für klug befunden haben. Dafür gibt es aber keine politische Mehrheit in Deutschland. Deswegen haben wir entschieden, die organisatorischen Reformen im Ministerium selbst durchzuführen.

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Ich glaube schon, aber es ist ja keine europä­ ische Schuldenkrise. Schauen Sie sich die Haus­ halte der USA oder von Japan an. Manche Ent­­ wicklungsländer sind davon betroffen, weil die Leistungsfähigkeit der Geberländer eingeschränkt ist. Es muss unser gemeinsames Ziel sein, den Wert unserer Währung stabil zu halten. Sonst können wir auch weniger Entwicklungskooperation betreiben. Die aktuelle Unterstützung des Internationalen Währungsfonds in Europa ist ein Anachronismus, denn der IWF ist für das Engage­ment in den ärmsten Regionen dieser Welt gedacht. Europa ist nach wie vor eine der reichsten Regionen. So etwas kann man nur einen gewissen Zeitraum lang akzeptieren, dann muss man andere Wege finden, seine Probleme zu lösen. Fehlt es der deutschen Entwicklungs­ kooperation bereits an Mitteln? Nein, die Bundesregierung und das Parlament haben in den letzten drei Jahren den Etat erhöht. Das ist eine enorme Leistung der deutschen Steuerzahler. Können Länder wie Spanien und ​ Griechenland noch Entwicklungshilfe leisten? Der Anteil der offiziellen Entwicklungsleistung am Gesamtbruttonationaleinkommen beider Länder – die sogenannte „ODA-Quote“ – war immer niedriger als in Deutschland. Sollte man nicht eher in Griechenland Entwicklungshilfe leisten?


Dirk Niebel im Interview

Ich glaube, dass die Freunde in Griechenland ähnliche Probleme haben wie klassische Entwicklungsländer, aber sie sind natürlich nach OECD-Standards wohlhabender. Allerdings können sie gegen Geld oder als nichtmonetären Bestandteil von Hilfspaketen auf unsere Expertise zurückgreifen. In vielen Ländern der Welt tragen wir dazu bei, Steuersysteme zu implementieren, Finanzverwaltungen aufzubauen, Korruption zu bekämpfen – Kompetenzen, die man auch in Griechenland gebrauchen könnte. Bis 2010 empfing China von Deutschland noch Entwicklungsgelder. Nun bittet Europa China, europäische Schulden­ papiere aufzukaufen. Wie erklären Sie diese Situation? Ich habe die klassische Entwicklungszusammenarbeit mit China zum 1. Januar 2010 beendet. Wir führen lediglich laufende Projekte zu Ende, damit hier keine Ruinen entstehen. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie Entwicklungszusammenarbeit zu positiven Ergebnissen führen kann. China, das über viele Jahrzehnte Empfänger von Leistungen war, ist jetzt einer der großen Geber geworden – das ist das Ziel der ganzen Veranstaltung. Wie gehen Sie mit hilfsbedürftigen ​ Ländern um, die ein autoritäres Regime an der Spitze haben? Ungefähr die Hälfte unserer Kooperationsländer sind sogenannte fragile oder Konfliktstaaten. Wir entscheiden hier im Einzelfall. Es gibt kein Schwarz oder Weiß, sondern viele Grauschattierungen. Befindet sich ein Land mit schlechten Governance-Strukturen auf einem positiven Entwicklungspfad, ist das ein guter Grund, mit dieser Regierung zusam-

menzuarbeiten. Ein Land mit sich verschlechternden Strukturen gibt eher Anreiz, mehr für zivilgesellschaftliche Gruppen zu tun. Wirkliche Veränderungen kommen immer aus der Mitte der Gesellschaft und werden in aller Regel nicht top-down verordnet. Wie stellt man in „fragilen Ländern” sicher, dass deutsche Steuergelder an der richtigen Stelle landen? Indem die sogenannte allgemeine Budgethilfe absolute Ausnahme ist. Die gibt es von Deutschland nur in sieben Staaten dieser Welt. Da sind wir sehr skeptisch, haben aber Rechtsverpflichtungen früherer Bundesregierungen übernommen. Normalerweise fi­nan­ zieren wir Projekte entsprechend dem Fortschritt und nutzen alle Möglichkeiten der Korruptionsbekämpfung, auch durch Kon­ trolle unserer Durchführungsorganisationen und Partner aus der Zivilgesellschaft. In Afghanistan machen wir seit zwei Jahren eine Tranchierung aller Leistungen. Das heißt, bestimmte Kriterien müssen erfüllt werden, bevor Gelder ausgezahlt werden. Verschärft sich mit dem Kampf um knapper werdende Rohstoffe auch die Bedrohung der Menschenrechte in Entwicklungsländern? Wir haben einen Menschenrechts-TÜV eingeführt, um sicherzustellen, dass die Wahrung der Menschenrechte immer gewährleistet ist. Wir sind allerdings auch an Rohstoffpartnerschaften interessiert. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Land Rohstoffe abbauen und verkaufen möchte oder ob man daraus auch noch einen Entwicklungsmehrwert schöpft, indem der Wert der Rohstoffe auch der Bevölkerung zugutekommt. Hier wollen

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

wir uns als Rohstoffpartner beteiligen, zum Beispiel mit einem Fonds in Nordafrika, der Regierungen durch die Expertise von Fachanwälten unterstützt, wenn ein internationaler Konzern oder eine andere Nation Interesse an bestimmten Rohstoffen hat. Wir finanzieren die rechtliche Unterstützung, damit gute Verträge ausgehandelt werden und das Land nicht ausgebeutet wird. Wir glauben, dass wir auf diese Weise als faire Partner akzeptiert werden und bei der Implementierung von Wertschöpfungsketten eventuell deutsche

»Wir sind in vielen Bereichen Weltmarktführer, ob in Medizintechnik, Umwelttechnologien oder erneuerbaren Energien. Gerade viele Mittelständler haben den entscheidenden Vorteil, dass sie ihre Produkte und Dienstleistungen an die Bedürfnisse von Entwicklungsländern anpassen können.« Unternehmen zum Zuge kommen. Das ist eine gewollte, aber keine notwendige Folge aus diesen Partnerschaften. Welche Rolle spielt die Implementierung eines Internet- oder Telefonnetzes, um Kommunikations- und Bildungsmöglichkeiten zu generieren? Moderne Technologien ermöglichen eine bessere Kommunikation und Qualifikation, ohne vor Ort sein zu müssen. Ein Bauer in Afrika hat heute die Möglichkeit, über sein Handy die Preise der ihn umgebenden Märkte abzufragen. Auch Handy-Banking ist in

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Afrika weitaus verbreiteter als in Europa, da es kein flächendeckendes Bankennetz gibt. Das heißt, Digitalisierung steht auf der Agenda der Entwicklungskooperation? Ausdrücklich, allein wenn es um Fernkurse geht oder um medizinische Ferndiagnosen in entlegenen Gebieten. Die Digitalisierung trägt dazu bei, Armut zu mindern. In Ihrem Zehn-Punkte-Programm zur ländlichen Entwicklung und Ernährungssicherung steht die Abschaffung von EU-Agrarexportsubventionen ganz oben. Finden Sie dafür eine Mehrheit? Es ist ein großer Erfolg, dass sich die Landwirtschaftsministerin und der Entwicklungsminister mit der gesamten Regierung auf diese Position geeinigt haben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir ein Ende der Agrarexportsubventionen und eine Reform aller Agrarsubventionen der EU brauchen, wenn wir Entwicklungsfortschritte haben wollen – auch unter finanziellen Gesichtspunkten. Es würde uns gut tun, die Welthandelsrunde entwicklungsorientiert abzuschließen, also auch nichtmonetäre Handelshemmnisse abzubauen, weil das als Europäische Union in unserem Interesse ist. Wir sind als weltweit aktive Handelsnationen auf wirtschaftlichen Ausgleich angewiesen. Wir brauchen offene Märkte und stabile Weltregionen. Deswegen ist Entwicklungszusammenarbeit auch ein Beitrag zur Bekämpfung von Fragilität, Ex­ tremismus und Terrorismus. In puncto Ernährungssicherung in der dritten Welt wird häufig die Debatte um „Tank oder Teller“ geführt. Wie ist Ihre Meinung zu E10?


Dirk Niebel im Interview

Verpflichtende, starre Beimengungsquoten sind nicht nur bei E10 ein großes Problem in Dürrezeiten. In den USA sind 40 Prozent der Maisernte durch Dürre ausgefallen, gleichzeitig müssen genau 40 Prozent jährlich zu Benzin verarbeitet werden. Das führt zu höheren Preisen auf den Weltmärkten und dazu, dass gerade die Ärmsten immer weniger Möglichkeiten haben, Nahrungsmittel zu kaufen. Deswegen freue ich mich über die Entscheidung der EU, schneller zur Marktreife der Bioenergieträger der zweiten Generation zu kommen, um diesen Flächenkonflikt zwischen Tank, Teller und Trog aufzulösen. Die entscheidende Frage ist: Wofür werden die vorhandenen Flächen genutzt? Bei Bioenergieträgern der zweiten Generation ist die Frucht für die Nahrungsmittelsicherheit und sind die Abfallstoffe für die Energieversorgung bestimmt. So könnten wir auch mit einer wachsenden Weltbevölkerung von neun Milliarden Menschen 2050 sicherstellen, dass genügend Nahrungsmittel auf der Welt vorhanden sind. Wir müssen nur schauen, dass die Nutzung von Bioenergie nicht dazu führt, dass zum Beispiel Urwälder abgeholzt werden. Dann entfällt der gewünschte Erfolg bei der CO2-Bilanz. Aber ganz klar: Biomasse wird ein Energieträger der Zukunft sein, allerdings erst die Energieträger der zweiten Generation. Banken und Versicherungen wird vorgeworfen, durch Spekulationen die Preise für Lebensmittel in die Höhe zu treiben, zu Lasten der Ärmsten der Welt. Sind diese Vorwürfe berechtigt? Studien haben gezeigt, dass Spekulationen mit Lebensmitteln keine wesentlichen Auswirkungen auf die Preisentwicklung haben. Auf der anderen Seite: Für Produzenten und

Verarbeiter ist der Handel von Agrarrohstoffen wichtig, aber mit einer Börsenpflicht hätte man Transparenz und könnte feststellen, ob der Handel nur der Spekulation dient. Es muss aber auch deutlich gesagt werden: Steigende Preise für Lebensmittel sind ausdrücklich gewünscht. Preise müssen moderat und kontinuierlich steigen, damit sich Investitionen in ländliche Räume lohnen. Das große Problem sind die starken Preissprünge, die wir seit 2008 immer wieder erleben. Dafür gibt es mehrere Gründe, zum Beispiel dass Flächen für die Energieerzeugung genutzt werden oder nach Katastrophen keine Landwirtschaft betrieben werden kann. Wird die globale Ernährungssituation bereits durch zunehmende Klimakata­s­ trophen verschärft? Klimaveränderungen sind ein Hauptgrund dafür, dass in manchen Teilen der Welt Landwirtschaft nicht mehr produktiv betrieben werden kann. Hier geht es darum, dazu beizutragen, dass die nächste Dürreperiode nicht automatisch zu einer Hungerkatastrophe führt. Wir tun das in vielen Teilen der Welt, wie in der Sahelzone oder in Ostafrika, wo wir einen ländlichen Raum ganzheitlich betrachten: Gibt es eine Infrastruktur, um die Produkte vom Feld zum Markt zu bringen? Gibt es Lagerhaltungsmöglichkeiten? 40 Prozent Nachernteverlust ist eins der großen Probleme. Wir investieren ungefähr 700 Millionen Euro im Jahr in die Entwicklung ländlicher Räume weltweit. Das ist mehr als 10 Prozent meines gesamten Etats. Wie oft sind Sie vor Ort bei Ihren Projekten? 2011 habe ich 38 Länder besucht.

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Michael Schmidt Vorstandsvorsitzender der BP Europa SE

¬ ZUR PERSON Michael Schmidt, Jahrgang 1960, ist seit Mai 2012 Vorstandsvorsitzender der BP Europa SE. Der studierte Betriebswissenschaftler war zu Beginn seiner Laufbahn in verschiedenen Bereichen der BASF-Gruppe tätig. Anschließend leitete er den Bereich Zentrales Controlling und Betriebswirtschaft der Veba Oel AG (E.On). Zusätzlich zu seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Raffinerie Gelsenkirchen trat er im Jahr 2000 als kaufmännischer Geschäftsführer in die Leitung der heutigen BP Refining & Petrochemicals GmbH ein. Seit 2005 verantwortete er als Mitglied des Vorstands und Arbeitsdirektor der Deutsche BP AG den Bereich Personal und seit 2007 das Personalwesen der BP-Gruppe in Europa.

¬ ZUM UNTERNEHMEN BP zählt zu den größten Energieunternehmen der Welt und ist in mehr als 80 Ländern vertreten. Die BP Europa SE umfasst das Geschäft der BP in Deutschland, der Schweiz, Belgien, Österreich, Polen und den Niederlanden. Über 9.500 Mitarbeiter sind dort beschäftigt. 2011 lag der Jahresumsatz bei über 66 Milliarden Euro, inklusive Energiesteuer. In Deutschland besitzt BP das zweitgrößte Raffineriesystem und bedient mit ihren drei Marken BP, Aral und Castrol jeden Tag Millionen Kunden. Aus der Deutsche BP AG ist 2010 die BP Europa SE hervorgegangen. 88


Michael Schmidt im Interview

» Wir dürfen unsere ökonomische Basis nicht schwächen « Anna Petersen sprach mit Michael Schmidt, dem Vorstandsvorsitzenden der BP Europa SE, über die Ursachen der hohen Benzinkosten, Mobilitätstechnologien der Zukunft und konkrete Gefahren für den Industriestandort Deutschland.

Herr Schmidt, welche Rolle spielte das Thema Spritverbrauch bei Ihrem letzten Autokauf? Der spielte eine rein praktikable Rolle – vor allem bei der Frage: Wie oft muss ich an die Tankstelle ran? Welches Modell ist es geworden? Ich habe mich vor drei Jahren unklug für einen Benziner entschieden. In einem halben Jahr bekomme ich ein neues Fahrzeug, sicherlich wieder einen Diesel. Wie kommen die anhaltend hohen Benzinkosten zustande? Man muss unterscheiden: Bei einem Preis von ungefähr 1,56 Euro für einen Liter E10 sind etwa 91 Cent Abgaben, und zwar Energiesteuer, Mineralölbevorratungsbeitrag und Mehrwertsteuer. Das sind etwa 59 Prozent des Preises. Der zweitgrößte Anteil mit gut 38 Prozent sind die Kosten für den Kraftstoff mit etwa 59 Cent pro Liter. Der Einkaufspreis für Benzin und Diesel richtet sich im Wesentlichen nach dem in Dollar gehandelten Rohölpreis, der wiede­ rum durch Angebot und Nachfrage auf dem Weltmarkt bestimmt wird. Das Problem ist,

dass der Euro gegenüber dem Dollar mächtig nachgelassen hat. Wir haben vor kurzem den Wechselkurseffekt zwischen August 2012 und August 2011 verglichen: Der lag bei etwa 10 Euro-Cent. Das ist schon ein ordentlicher Einfluss. Wenn man Steuern und den reinen Produktpreis abzieht, bleiben uns ungefähr 6,4 Cent pro Liter, also 4 Prozent des Preises. Damit müssen wir die gesamte Logistik mit Lagern, Fahrzeugen und Pächtern, alle Investitionen, Marketing und Vertrieb bezahlen. Am Ende bleibt ein Gewinn von rund einem Cent pro Liter übrig. Seit längerem wird die Idee einer SpritMeldebehörde in Deutschland diskutiert. Könnte sie zu niedrigeren Preisen führen? Ich finde es gut, dass wir das ursprünglich angedachte Bürokratiemonster nicht umsetzen. Es hätte nichts gebracht, außer zusätzlichen Kosten für alle Marktteilnehmer, die letztendlich zu einer weiteren Erhöhung des Kraftstoffpreises geführt hätten. Ich habe auch kein Problem damit, die Preise publik zu machen. Das ist bei uns an den Preismasten der Tankstellen ohnehin der Fall, aber da­ rüber hinaus können die Autofahrer unsere Kraftstoffpreise seit langem schon im Internet einsehen. Eine substanzielle Preisredu-

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

zierung wäre nur machbar, wenn man über die Meldebehörde die Preise an den Weltmärkten beeinflussen könnte. Daran habe ich erhebliche Zweifel.

»Ich sage nicht, dass das um­ weltfreundliche Verfahren sind. Aber alles, was wir machen, ­beeinflusst letztlich die Natur.« Das Kartellamt kritisiert, dass in Deutschland fünf Konzerne den Markt kontrollieren – die Preise seien dadurch höher, als sie sein müssten. Sie sind mit rund 2.500 Tankstellen der Kette Aral auch Marktführer. Was sagen Sie zu diesem Vorwurf? Es gibt zweifellos ein Oligopol, wie dies in vielen Branchen der Fall ist. Dies ist nichts Be­sonderes und aus wettbewerbspolitischer und -theoretischer Sicht erst mal kein Pro­ blem. Ich möchte aber der Behauptung „markt­beherrschend“ widersprechen. Wenn das tatsächlich so wäre, verstehe ich nicht, warum die Teilnehmer dieses angeblich „marktbeherrschenden Oligopols“ über die Jahre hinweg permanent Marktanteile verlieren. Oder: Warum die Kraftstoffpreise in Deutschland, nach Abzug der Steuern, zu den niedrigsten in Europa gehören. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die diese These des Kartellamts nicht unterstützen. Wir haben es auch mit einem schrumpfenden Markt zu tun, und dies führt zwangsläufig zu einem erheblichen Wettbewerbsdruck. Die hohen Öl- und Kraftstoffpreise drücken auch den Absatz und Gewinn von BP. Wie beurteilen Sie das mit Blick auf die Zukunft?

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Ölunternehmen haben zwei Seelen in ihrer​Brust: Auf der einen Seite gibt es das Upstream-Geschäft, das von hohen Ölpreisen bei der Erdölförderung profitiert. Allerdings entfallen nur rund 15 Prozent der weltweiten Ölförderung auf private Ölgesellschaften. Der überwiegende Teil von rund 85 Prozent ist in der Hand staatlicher und nationaler Ölgesellschaften. Im Downstream-Geschäft, in dem wir tätig sind, ist ein hoher Ölpreis allerdings alles andere als gut. Hier geht es um Raffinerien und den Verkauf von mineralölbasierten Produkten. Tatsächlich schrumpft der Markt in diesem Bereich schon seit Jahren kontinuierlich, insbesondere beim Ottokraftstoff, zwischen 3 und 5 Prozent im Jahr. Auch beim Diesel haben wir einen Rückgang im privaten Verbrauch, der zum Teil von einem Zuwachs im gewerblichen Gütertransport kompensiert wird. Angesichts der hohen Kraftstoffpreise wird weniger getankt, weniger gefahren und die Absatzzahlen sinken. Die fossilen Ressourcen werden knapper, der Zugang schwieriger. Wird Benzin langfristig zum Luxusgut? Die Entwicklungen bei der Förderung von Schieferöl und -gas in den USA zeigen das Gegenteil. Aktuell wird dank neuer Technologien weltweit mehr Öl und Gas gefunden, als verbraucht wird. Die Reserven steigen. Das mag eine temporäre Entwicklung sein, sie wird aber Jahrzehnte anhalten. Und wir werden auch nicht so bald vom Öl weggehen, denn erst wenn es wirklich knapp und teuer wird, werden sich Alternativen rechnen. Im Moment ist Öl in der Handhabung und bei den Kosten unschlagbar günstig – trotz des aktuell hohen Preises.


Michael Schmidt im Interview

Die erwähnten Verfahren in den USA sind allerdings auch deutlich umwelt­ unfreundlicher als herkömmliche Förderungsmethoden …

Eine Benzinalternative ist Biosprit. E10 ist allerdings gerade in Deutschland stark umstritten. Ist er trotzdem das Produkt der Zukunft?

Das kommt auf die Bewertung an. Ich sage nicht, dass das umweltfreundliche Verfahren sind. Aber alles, was wir machen, beeinflusst letztlich die Natur. Die Anforderungen an die Öl- und Gasförderung nehmen weltweit zu. Es wird schwieriger, das heißt aber nicht, dass es keine entsprechenden sicheren Technologien gibt.

Ich bin davon überzeugt, dass Biokomponenten beim Kraftstoff eine der möglichen Zukunftstechnologien sind – allerdings nicht so, wie wir es heute machen. In puncto Nachhaltigkeit können die Biokomponenten der ersten Generation nur ein Einstieg sein. Am Ende des Tages kommt es darauf an, dass man Biokomponenten der zweiten oder dritten Generation auf den Markt bringt. Hier verwenden wir nicht nur die Frucht der Pflanze für die Herstellung von Biokomponenten, sondern nutzen die gesamte Pflanze. Und wir werden auch Pflanzen verwenden können, die auf Böden wachsen, die nicht in Konkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion stehen.

Wo sehen Sie in Zukunft Deutschlands Quelle für fossile Ressourcen? Wir beziehen Rohöl im Moment primär aus der Nordsee und aus Russland. Die Förderung in der Nordsee sinkt, aber es gibt immer wieder Investitionen und technologische Weiterentwicklungen, die dazu führen, dass man Quellen wieder öffnet oder mit anderen Technologien weiterproduziert. Bei diesen Trend-Aussagen muss man aufpassen, wie sich die Technologien weiterentwickeln. Ich glaube aber schon, dass wir in den nächsten zehn Jahren weiterhin sehr viel Öl aus der Nordsee und insbesondere Russland beziehen werden. Die Abhängigkeit von Russland bleibt? Russland ist das Land mit den größten Reserven. Ich sehe da auch nicht unbedingt ein Problem, das ist doch eine beidseitige Abhängigkeit. Wenn Russland nicht mehr exportieren kann, hat es ein Riesenproblem mit dem Staatshaushalt. Da diskutieren wir durchaus auf Augenhöhe, denke ich.

»Wir gehen davon aus, dass der Markt für Ottokraftstoffe in Deutschland bis 2030 um etwa 30 Prozent zurückgehen wird. Wir befinden uns in einem schrumpfenden Markt und damit in einem knallharten Wettbewerb.« Wie sähen andere Zukunftstechnologien aus? Es gibt Erdgas, Autogas, Hybridsysteme und Elektromobilität. Außerdem birgt der Verbrennungsmotor noch viele Potenziale in der Entwicklung, sodass sich der Verbrauch von Benzin ebenso wie Diesel noch um 30 bis 40 Prozent reduzieren lässt. Dieses Thema kommt in der öffentlichen Diskussion zu kurz.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Michael Schmidt sprach in der Paulskirche beim Deutschen Wirtschaftsforum 2012 über die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland.

Die Elektromobilität bewegt sich zwar schleppend, aber das Auto der Zukunft wird kraftstoffsparsamer. Für Ihr Unternehmen sind das deutliche Herausforderungen. Wie gehen Sie damit um? Wir gehen davon aus, dass der Markt für Ottokraftstoffe in Deutschland bis 2030 um etwa 30 Prozent zurückgehen wird. Das hat maßgebliche Auswirkungen auf uns als Unternehmen sowie auf die gesamte Branche. Wir befinden uns in einem schrumpfenden Markt und damit in einem knallharten Wettbewerb. Dem stellen wir uns, mit guten Angeboten und sehr hochwertigen Produkten. Und man muss die Kosten im Griff haben.

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Sie sind seit Mai 2012 Vorstandsvorsitzender der BP Europa SE. Welche Themen haben dieses erste halbe Jahr bestimmt? Ganz klar: die Diskussion um die Höhe der Kraftstoffpreise, insbesondere mit dem Bundeskartellamt, und das Thema Markttransparenzstelle. Aber auch die Energiewende, die unsere Raffinerien als große Stromverbraucher betrifft. Wenn die Ausnahmeregelung für energieintensive Branchen – zu denen wir gehören – wegfällt, dann bekommen wir eine Beschleunigung des Raffineriesterbens. Unsere Raffinerien sind gut aufgestellt, weil wir in den letzten Jahren stark in entsprechende Technologien investiert haben, aber so sieht


Michael Schmidt im Interview

es nicht bei allen Raffinerien aus. Anders sind die Schließungen und Verkäufe schwer zu erklären, die wir in Deutschland, aber auch in Europa in den letzten zwei Jahren beobachten konnten. Wie attraktiv ist der Wirtschaftsstandort Deutschland heute? Generell ist Deutschland ein sehr attraktiver Standort. Im globalen Vergleich haben wir eine hochqualifizierte Bevölkerung. Das ist unser wertvollster Rohstoff – wie man immer so plakativ sagt –, denn Bildung ist das, was uns nach vorne bringt. Aber ich sehe das Risiko, dass wir die Rahmenbedingungen für Unternehmen teilweise verschlechtern, durch EU-, aber auch Bundesgesetzgebung. Ich habe manchmal den Eindruck, dass viele glauben, wir könnten ohne die Industrie leben. Allerdings haben uns andere Nationen, wie Großbritannien, die Konsequenzen schon gezeigt: Dort wurde stark deindustrialisiert und man hat jetzt gravierende Schwierigkeiten in der aktuellen Krise. Deutschland steht bisher relativ gut da, weil wir einen vergleichsweise hohen Industrieanteil haben. Man muss aufpassen, dass aus der kritischen Haltung der Industrie gegenüber nicht Forderungen erwachsen, beispielsweise die nach einer stärkeren Beteiligung der Unternehmen an den Kosten der Energiewende. Viele Unternehmen wären dann schlicht nicht mehr wettbewerbsfähig. Gefährdet die Energiewende die deutsche Wirtschaft? Andere Länder, wie die USA, werben aktiv mit niedrigen Strompreisen – aktuell mit zwei Cent pro Kilowattstunde. Global tätige

Unternehmen können sich ihren Standort aussuchen und werden bei steigenden Strompreisen irgendwann nicht mehr hier investieren. Über kurz oder lang müssen wir uns in Deutschland zwei Fragen stellen, nicht nur: Wie wollen wir leben? Sondern auch: Wovon wollen wir leben? Wir können uns nicht alle gegenseitig die Haare schneiden. Was muss aus Ihrer Sicht geschehen, damit Deutschland seine Rolle als führende Exportnation halten kann und die Industrie hier ein gutes Standbein hat? Das lässt sich auf das Thema Wettbewerbsfähigkeit verkürzen. Wenn wir in Deutschland, gleich ob bei Kosten oder Technologien, nicht mehr wettbewerbsfähig sind, wird über kurz oder lang auch unser Wohlstandsniveau deutlich sinken. Wettbewerbsfähigkeit heißt für mich zum Beispiel, dass unsere Industrieunternehmen auch vor Ort zeigen können,

»Über kurz oder lang müssen wir uns in Deutschland zwei Fragen stellen, nicht nur: Wie wollen wir leben? Sondern auch: Wovon wollen wir leben? Wir können uns nicht alle gegen­ seitig die Haare schneiden.« dass ihre Produkte, ihre Neuentwicklungen funktionieren. Man sollte nicht glauben, dass wir in Deutschland zukünftig alles Mögliche entwickeln können, das dann aber in anderen Ländern produziert wird. Am Ende würden dann vermutlich auch Forschung und Entwicklung verlagert werden. Denn wenn Sie zum Beispiel Hochtechnologiegüter entwi-

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ckeln, müssen Sie deren Funktionsweise auch zeigen können. Sie brauchen also Praxisbeispiele – und zwar üblicherweise direkt vor der Haustür.

oder dabei sind, sich aufzulösen. Nehmen Sie nur die Textil- und die Werftenindustrie – alles nachvollziehbare Entwicklungen, die jedoch unseren Standort schwächen.

Was fordern Sie konkret?

Sie sind Vorstandsvorsitzender der BP Europa SE. Inwiefern macht sich die Eurokrise in Ihrem Geschäft in den einzelnen EU-Ländern bemerkbar?

Wir müssen aufpassen, dass wir die hochintegrierte Wertschöpfungsstruktur in Deutschland – die höher integriert ist als in den meisten anderen Ländern – nicht gefährden, indem wir jetzt Grundstoffindustrien benachteiligen, zum Beispiel über zu hohe Energiepreise oder Auflagen. Das führt zwangsläufig

»Aktuell wird dank neuer​ Technologien weltweit mehr Öl und Gas gefunden, als verbraucht wird. Die Reserven steigen. Das mag eine temporäre Entwicklung sein, sie wird aber Jahrzehnte anhalten.« zu Problemen bei nachgelagerten Industrien. Und am Ende sind sie alle draußen. Das hilft uns nicht. Wir dürfen die ökonomische Basis, die wir als Volkswirtschaft haben, nicht nachteilig schwächen. Sehen Sie bereits einen Abwanderungsprozess von Industrien? Das ist kein Prozess, bei dem plötzlich Massen an Unternehmern aufstehen und sagen: „Es reicht, wir gehen jetzt.“ Das ist eine schlei­ chende Entwicklung und wir stellen heute schon fest, dass einige Industriezweige aus Deutschland schlicht verschwunden sind

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Durch die Eurokrise schwächelt die Wirtschaft in vielen Ländern, das reicht von sehr schwachem Wachstum bis zu Schrumpfungsprozessen – ich will da nicht von Rezession sprechen. Das führt zwangsläufig dazu, dass weniger konsumiert wird, damit ist auch weniger Gütertransport da, die Leute fahren weniger Auto. Das schlägt sich natürlich auch in der Industrieproduktion nieder. Wir stellen ungefähr 20 Prozent unserer Produktion für die petrochemische Industrie und damit für die Kunststoffindustrie zur Verfügung. Da bemerken wir schon etwas. Wie fangen Sie diese unterschiedlichen nationalen Entwicklungen auf? Wir haben teilweise ganz unterschiedliche Situationen: Polen steht zum Beispiel aktuell relativ gut da, ist einer der Wachstumsmärkte in Europa. Andere Länder um uns herum haben es deutlich schwerer. Wir müssen schauen, dass wir mit unseren Angeboten und Strukturen weiterhin wettbewerbsfähig bleiben und Produkte anbieten, die die Kunden nachfragen. Eine weitere Herausforderung neben Eurokrise oder Energiewende ist der demo­grafische Wandel. Wie sichert sich BP gegen den Fachkräftemangel ab?


Michael Schmidt im Interview

Tendenziell werden größere Unternehmen etwas später vom demografischen Wandel eingeholt als kleinere, weil sie eine andere Reputation haben. Wir bemerken schon Rückgänge bei den Bewerbungen. Als Arbeitgeber sind wir aber recht erfolgreich und führen entsprechende Studien und Umfragen durch. Wir bieten unseren Mitarbeitern viele positiv wahrgenommene Angebote: flexible Arbeitszeitmodelle, Weiterbildungsangebote, internationale Karrieren etc. Wir spüren den verstärkten Wettbewerb um qualifizierte Nachwuchskräfte, aber wir sind gut aufgestellt und gehören erneut zu den TopArbeitgebern.

Sie waren im Laufe Ihrer Karriere für BASF und die Veba Oel AG tätig. Welche für Ihren heutigen Posten wichtigen Fähigkeiten haben Sie sich in dieser Zeit angeeignet? Zuhören und die eigene Meinung immer wieder hinterfragen, indem man mit anderen Leuten spricht, auch mal mit Querdenkern. Dann: ruhig bleiben, auch wenn es hektisch wird. Und eine klare Kommunikation, um Missverständnisse zu vermeiden. Ab und zu „klare Kante“ zu geben, wie die Hanseaten sagen, ist erforderlich. Und so etwas halten Sie nur durch, wenn Sie Sie selbst bleiben. Wer anfängt, eine Rolle zu spielen, hat im Grunde genommen schon verloren. Ich muss mich selbst morgens noch im Spiegel anschauen können.

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Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder Aufsichtsratsvorsitzender Nord Stream AG

¬ ZUR PERSON Gerhard Schröder, 1944, ist Rechtsanwalt und in verschiedenen Positionen der Wirtschaft tätig, unter anderem als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG. Von 1998 bis 2005 war er der siebte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland und von 1990 bis 1998 Ministerpräsident des Landes Niedersachsen. Schröder ist seit 1963 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Deutschland (SPD).

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die 2005 gegründete Nordstream AG plante, baute und betreibt nun die Nord Stream Pipeline, die Erdgas von Russland durch die Ostsee nach Westeuropa transportiert. Anteilseigner sind die europäischen Energieunternehmen BASF/Wintershall, E.ON Ruhrgas AG, N.V. Nederlandse Gasunie und GDF SUEZ sowie die russische Erdgasgesellschaft Gazprom. Die Kosten für den Bau der Pipeline betrugen 7,4 Milliarden Euro, eine der bisher größten privaten Investitionen in die europäische Infrastruktur. Momentan beschäftigt die Nordstream AG rund 150 Mitarbeiter.

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Gerhard Schröder im Interview

» Die Zeche zahlen Verbraucher und Unternehmen « Anna Petersen und Stefany Krath fragten Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder nach seinem Resümee zur Agenda 2010, seinen Einschätzungen zum Ablauf der Energiewende und seinem Rat an Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Herr Schröder, welche Nachricht aus den Medien hat Sie in letzter Zeit besonders aufgewühlt und warum? Was mich schon länger beschäftigt, auch weil es zum Teil während meiner Amtszeit passiert ist, sind die Morde dieser rechten Terrorbande, der zehn unschuldige Menschen zum Opfer gefallen sind. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass so etwas in unserem Land möglich ist. Das bestärkt mich in meinem persönlichen Engagement gegen jede Form von Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Und deswegen bin ich auch davon überzeugt, dass wir die NPD verbieten müssen, damit der Nährboden für solches Denken entzogen wird. Auch andere gesellschaftliche Entwicklungen klingen besorgniserregend: Trotz stabiler Wirtschaftslage in Deutschland wurde in einer neuen Studie des Bundesarbeitsministeriums festgestellt, dass sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet. Was wäre Ihr Ansatz zu mehr Verteilungsgerechtigkeit? Ich sehe ein gravierendes Problem in unserer Gesellschaft. Ich fürchte, dass die Offenheit der Gesellschaft verloren gegangen ist, dass Aufstieg aus eigener Kraft schwieriger geworden ist. Das fängt schon in der Schule

an. Da ist die Durchlässigkeit nicht mehr so vorhanden wie etwa vor 30 oder 40 Jahren. Als ich damals anfing, meine Abschlüsse über den zweiten Bildungsweg nachzuholen, war es offener als jetzt. Heute sind die Chancen für junge Menschen, die aus Familien kommen, wo Bildung nicht selbstverständlich ist, eher schlechter geworden. Das bedauere ich sehr, denn die Offenheit einer Gesellschaft, auch ihre Fähigkeit, alle Talente zu fördern, hängt davon ab. Deswegen sind die Schlüsselworte für sozialen Aufstieg: Bildung, Bildung und nochmals Bildung. Da müssen wir als Gesellschaft einfach mehr investieren, schon ab dem Kindergarten. In Ihrer ersten Regierungserklärung 1998 formulierten Sie die Leitmotive: Modernisierung der Wirtschaft, ökologische Vernunft, soziale Gerechtigkeit und kulturelle Vielfalt. Sind Sie der Meinung, diesen vier Bereichen während Ihrer Amtszeit als Bundeskanzler zu einer positiven Entwicklung verholfen zu haben? Ich denke schon, dass diese sieben Jahre RotGrün das Land verändert haben. Wir haben ja damals ein Land mit Reformstau übernommen. Nach der Wiedervereinigung war versäumt worden, die sozialen Sicherungssysteme und den Arbeitsmarkt zu reformieren. Zukunftsaufgaben wie Bildung, Innovation

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

und Forschung waren vernachlässigt worden. Gesellschaftliche Veränderungen wie die Emanzipation und die Einwanderung waren aus ideologischen Gründen ignoriert worden. Das haben wir geändert, denken Sie etwa an die gesellschaftlichen Reformen, die neue

»Wäre die spanische Immobilienblase etwa nicht geplatzt, wenn wir in Deutschland mehr gespart hätten?« Integrations- und Zuwanderungspolitik, die Gleichstellungspolitik und eine moderne Familienpolitik, die den Ausbau der Kinderbetreuung in den Vordergrund gestellt hat. Wir haben den Atomausstieg im Konsens mit allen Beteiligten gemacht und den Einstieg in die erneuerbaren Energien begonnen. Und wir haben das große Reformprogramm, die Agenda 2010 durchgesetzt. Also, das sind aus meiner Sicht gewaltige Veränderungen, die Deutschland einen kräftigen Entwicklungsschub gegeben haben. Wir schreiben jetzt zehn Jahre Agenda 2010 – was ist Ihr Resümee? Sie ist einer der Gründe dafür, dass Deutschland heute wirtschaftlich so gut dasteht. Sie war sicherlich nicht der einzige Grund. Wichtig ist auch, dass wir eine industrielle, mittelständisch geprägte Wirtschaftsstruktur und eine Sozialpartnerschaft haben, die wirtschaftliche Erfordernisse mit berechtigten Arbeitnehmerinteressen in Einklang bringt. Aber wir haben mit der Agenda 2010 frühzeitig, früher als andere europäische Staaten, auf die Globalisierung und die demografische Entwicklung reagiert. Wir haben den Arbeitsmarkt modernisiert und die Sozialsysteme so

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verändert, dass sie bezahlbar bleiben. Heute stehen andere Volkswirtschaften vor ähnlichen Herausforderungen, nehmen Sie Frankreich und Italien. Sie müssen das nun unter viel schwierigeren Bedingungen nachholen. Und was mir persönlich wichtig ist: Die junge Generation gehört zu den Reformgewinnern. Wir Deutschen haben in Europa die niedrigste Jugendarbeitslosigkeit, derzeit unter 8 Prozent, gegenüber 50 Prozent in Spanien oder 35 Prozent in Italien. Das ist der Unterschied zwischen Deutschland und dem Rest von Europa, und das ist der vielleicht größte Erfolg der Agenda 2010. Trotz dieser Erfolge – mit dem Wissen von heute: Was hätten Sie als Bundeskanzler der Bundesrepublik im Nachhinein anders gemacht? Ach, das ist schwierig zu beantworten, weil jede politische Entscheidung immer im Kontext der damaligen Zeit zu beurteilen ist. In den großen, schwierigen Entscheidungssituationen, etwa bei der Frage, wie wir zum Irak-Krieg standen oder der Durchsetzung der Agenda-Reformen, habe ich nach meiner Einschätzung richtig gehandelt. Wie beurteilen Sie die bisherigen Entwicklungen bei der angestrebten Energiewende? Mit Planung hat das nichts zu tun. Nach der Atomkatastrophe in Japan war das schlicht eine Panikreaktion der jetzigen Bundesregierung. Es gab in Deutschland bis jetzt nur eine Energiewende, und das war unser rotgrüner Atomkonsens aus dem Jahr 2000. Damals haben wir den übrigens zusammen mit der Energiewirtschaft gemacht. Der Konsens sah den Atomausstieg und den gleichzeitigen Einstieg in die erneuerbaren Energien über


Gerhard Schröder im Interview

Gerhard Schröder betrat als Sprecher beim Deutschen Wirtschaftsforum 2012 im Plenum Versorgungssicherheit: Die deutsche Industrie zwischen Energiewende, Ressourceneffizienz ” und Rohstoffsicherung” das Podium.

einen Zeitraum von rund 30 Jahren vor. Das war ein realistischer Plan. Diesen Plan hat die heutige Regierung wider besseres Wissen über Bord geworfen. Die Zeche dafür zahlen Verbraucher und Unternehmen.

und klimaschonend sind. Die Netze müssen ausgebaut und stabilisiert werden. Die Bezahlbarkeit von Strom ist wichtig, nicht nur für Familien, sondern gerade auch für die Industrie und die Arbeitsplätze.

Laut Bundesregierung sollen erneuerbare Energien 2020 18 Prozent des Endenergie­ verbrauchs hierzulande ausmachen. Ist das ein realistisches Szenario?

»Das Ziel muss eine wirkliche politische Union sein, eine Art ›Europäische Föderation‹.«

Möglich, sogar wünschenswert ist das schon, aber die zentrale Frage bleibt ja: Wie können wir eine verlässliche und zugleich bezahlbare Energieversorgung sicherstellen? Wir brauchen eine Lösung für die Grundlastversorgung, die sinnvollerweise vor allem durch Gaskraftwerke möglich ist, weil diese flexibel

Sehen Sie den Wirtschaftsstandort Deutschland durch die Energiewende gefährdet? Der Preis für Strom und Energie ist ein internationaler Wettbewerbsfaktor. In den USA sind die Preise stark gesunken, weil

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

dort Gas sehr billig geworden ist. Das beeinflusst Investitionsentscheidungen von Unternehmen, weil sie dorthin gehen, wo es eine verlässliche und bezahlbare Versorgung gibt. Wir erleben zurzeit in Deutschland eine Energiepolitik, die die Kosten treibt und ein bisher sicheres System, das Rückgrat einer jeden erfolgreichen Wirtschaft, in Frage stellt.

»Wir erleben in Deutschland eine Energiepolitik, die die Kosten treibt und ein bisher sicheres System, das Rückgrat einer jeden erfolgreichen Wirtschaft, in Frage stellt.« Die Energiewende ist auch für einen Bundeskanzler eine wichtige und historische Aufgabe. Was würden Sie Angela Merkel aktuell raten? Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, der Kanzlerin einen Rat zu geben. Die Probleme sind ihr sicherlich bekannt, sie hat sie ja durch ihre Energiepolitik selbst geschaffen. Sie sind Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG und seit Jahren am Projekt Ostsee-Pipeline beteiligt. Ist es politisch klug, die Rohstoffabhängigkeit von Russland noch weiter auszubauen? Die Ostsee-Pipeline schafft keine einseitige Abhängigkeit, sondern sie ist Ausdruck gemeinsamer europäisch-russischer Interessen. Russland ist ebenso abhängig von Westeuropa. Denn es exportiert seine Rohstoffe überwiegend zu uns. Wenn es also Abhängigkeiten geben sollte, dann sind sie gegenseitig. Aber was wir verstehen müs-

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sen, ist doch eines: Russland bietet uns alle Rohstoffe, die wir brauchen. Sie liegen quasi vor unserer Haustür. Wir wären als Europäer naiv, wenn wir unseren Konkurrenten aus Asien, auch aus den USA den Vortritt lassen. Diese Rohstoffe, Gas, Öl und Metalle, werden einfach gebraucht. Jetzt geht es darum, dass europäische Unternehmen, allen voran deutsche, den notwendigen Technologietransfer leisten und sich den Zugriff auf Rohstoffquellen sichern. Das ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben, weil wir trotz der Steigerung der Effizienz für die nächsten Jahrzehnte Rohstoffe brauchen, und zwar nicht nur für die Energieerzeugung, sondern vor allem für unsere Industrie. Deshalb ist die Partnerschaft mit Russland so wichtig. Ohne Rohstoffe gibt es keine Arbeitsplätze in Deutschland. So einfach ist die Rechnung. Wie beurteilen Sie den aktuellen EU-politischen Kurs der Regierung? Es gab sicherlich den Fehler, dass zu Beginn der Krise zu spät gehandelt wurde. Man hat zu sehr auf die Innenpolitik geschaut, anstatt die Probleme Griechenlands schnell einzudämmen. Aber ich weiß auch aus eigener Erfahrung, wie schwierig Entscheidungsprozesse gerade in Europa sein können. Was im Jahr 2012 in Brüssel beschlossen wurde, ist im Großen und Ganzen der richtige Kurs. Und wo sehen Sie die Herausforderungen der europäischen Währungs- und Wirtschaftskrise? Jetzt besteht die Chance, den grundlegenden Konstruktionsfehler des Euro zu beheben. Der Strukturfehler ist die fehlende Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik in der Euro­ zone. François Mitterrand wollte die deut­sche


Gerhard Schröder im Interview

Wirtschaft durch die Einführung des Euro einhegen. Das konnte nicht funktio­nieren, weil sich in einer Währungsunion immer die stärkere Volkswirtschaft durchsetzt. Kohls Irrtum war es zu glauben, dass die Ein­­führung der Gemeinschaftswährung die poli­tische Union erzwingen wird. Er hat nicht lie­fern können, wir zu meiner Amtszeit auch nicht. Jetzt übernimmt die Krise die Aufgabe der Politik. Das Ziel muss eine wirkliche politische Union sein, eine Art „Europäische Föderation“. Welche Maßnahmen wären in der gegenwärtigen Schuldenkrise für das Sorgenkind Griechenland notwendig? So schmerzhaft es ist, man wird am Ende nicht um einen Schuldenschnitt herumkommen. Die Kanzlerin hat ihren Widerstand dagegen bereits aufgegeben. Auch Sie waren 2005 als Bundeskanzler maßgeblich an der Aufweichung des EuroStabilitätspakts beteiligt. Sehen Sie dies im Nachhinein als einen Fehler? Nein, denn was soll denn die heutige Situation in Griechenland damit zu tun haben, wie der deutsche Haushalt in den Jahren 2003 und 2004 aussah? Wäre die spanische Immobilienblase etwa nicht geplatzt, wenn wir in Deutschland mehr gespart hätten? Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Wir standen damals vor der Frage: Überschreiten wir die Defizitgrenze und machen die Reformen, oder sparen wir und geben wir die Reformen auf? Denn Agenda 2010 und soziale Kürzungen von 20 Milliarden Euro, das hätten wir politisch nicht überlebt. Wir haben uns für die Agenda 2010 entschieden. Das halte ich auch im Rückblick für richtig.

Wie beurteilen Sie die aktuelle Lage der deutschen Wirtschaft? Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen. Die anderen Volkswirtschaften in der Welt erhöhen ihre Wettbewerbsfähigkeit und wir dürfen nicht stehen bleiben. Die deutsche Energiepolitik sehe ich mit Sorge, weil sie chaotisch ist, das sichere Versorgungsnetz gefährdet und die Kosten für Verbraucher und Unternehmen weiter steigert. Das wird Investitionsentscheidungen negativ beeinflussen. Und wir müssen unsere Sozialsysteme darauf einstellen, dass wir eine alternde Gesellschaft sind. Das muss vielerlei Konsequenzen haben, vom Zusammenleben in der Gesellschaft bis hin zu einer Bildungspolitik,

»Es gehört nicht zu meinen Aufgaben, der Kanzlerin einen Rat zu geben. Die Probleme sind ihr sicherlich bekannt, sie hat sie ja durch ihre Energiepolitik selbst geschaffen.« die alle Talente fördert, auch die mit Mi­ grationshintergrund, weil wir jede Fachkraft brauchen. Wenn Sie heute noch einmal die Gelegenheit hätten, Bundeskanzler zu sein, was wäre das Erste, das Sie am Kurs von Frau Merkel ändern würden? Wie heißt es im Boxen so schön: They never come back. Die aktive Zeit in der Politik ist vorbei, definitiv.

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Karl-Heinz Streibich Vorstandsvorsitzender Software AG

¬ ZUR PERSON Karl-Heinz Streibich, Jahrgang 1952, ist Vorstandsmitglied des BITKOM und seit Oktober 2003 Vorstandsvorsitzender der Software AG. Seine berufliche Laufbahn begann er bei der Dow Chemical Company. 1989 kam er zur Daimler Benz AG, wo er verschiedene Führungspositionen durchlief, darunter die stellvertretende Geschäftsführung der AEG Olympia Office GmbH, den Vorsitz der Geschäftsführung der debis Systemhaus DCS (Distributed Computing Services) GmbH und die Leitung Vertrieb und Services der debis Systemhaus CCS (Computer and Communications Services).

¬ ZUM UNTERNEHMEN Die Software AG ist einer der Weltmarktführer im Bereich Software-Lösungen für Unternehmen. Der in Darmstadt ansässige Konzern ist nach der SAP AG das zweitgrößte Software-Haus Deutschlands und Europas Nummer vier. Mit rund 5.500 Mitarbeitern erzielte die Software AG im Jahr 2011 einen Konzernumsatz von rund 1,1 Milliarden Euro und einen Konzernüberschuss von 177 Millionen Euro.

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Karl-Heinz Streibich im Interview

» Weitsicht ist nichts wert, wenn die Umsetzung fehlt « Markus Heckenmüller und Jan Koch sprachen mit Karl-Heinz Streibich, Vorstandsvorsitzender der Software AG, über die Herausforderungen der Digitalisierung, die Zukunftsmärkte der IT-Branche und Tipps für das Karriere­ ziel Vorstandsebene.

Herr Streibich, Sie sind Vorstandsvor­ sitzender der Software AG, Vorstandsmitglied beim Branchenverband BITKOM und engagieren sich bei der Initiative D21. Wie steht es um Ihre Work-Life-Balance? Sehr gut! Ein richtiges Zeitmanagement ist die Basis, um den beruflichen und privaten Alltag zu managen. Und Selbstbestimmung ist der entscheidende Meilenstein auf dem Weg zum Erfolg und das Mittel gegen Stress. Beim Deutschen Wirtschaftsforum 2012 sprachen Sie über „Die digitale Revolution als Treiber der Wertschöpfung oder Zerstörer von Geschäftsmodellen“. Wie würden Sie die Software AG vor diesem Hintergrund einordnen? Die Software AG unterstützt Unternehmen dabei, effizienter und schneller zu werden, kurz: die Agilität und Flexibilität zu erlangen, mit der sie auf die Dynamik in ihren Märkten angemessen reagieren können. Für ein Höchstmaß an Wertschöpfung müssen Unternehmen ihre Prozesse digitalisieren. Das Ziel für Unternehmen und Organisationen sind letztlich erfolgreiche Geschäftsmodelle und damit effiziente Prozesse. Zur Erreichung dieses Ziels und damit zur Realisierung ech-

ter Prozessexzellenz führen wir mit unserer Prozess- und Integrations-Software die neue „Digitalisierungsplattform“ zwischen den vorhandenen IT-Systemen und den anwendungsbasierten Geschäftsmodellen unserer Kunden ein. Damit lösen wir die bisher bestehende starre Verbindung zwischen der ITund der Geschäftsebene auf. Diese Trennung ist die Voraussetzung für die schnelle Anpassung der Geschäftsanwendungen an neue Ent­wicklungen. Hierzu gehören beispielswei­ se die technologischen Megatrends Social Collaboration, Cloud Computing, Big Data Management und mobile Anwendungen. Sie haben Nachrichtentechnik studiert. Wie relevant war das Studium für Ihre spätere praktische Tätigkeit? Die Relevanz des Studiums ergibt sich wie folgt: Erstens aus der Fähigkeit, unter Druck viel Stoff lernen und anschließend qualitativ hochwertige Arbeit leisten zu können. Zweitens, sich mit den relevanten IT-Themen bis ins kleinste Detail auseinanderzusetzen und zu zeigen, dass man auch wissenschaftlich arbeiten kann. Diese essenziellen Fähigkeiten konnte ich, neben dem inhaltlichen Themenspektrum, aus dem Studium ableiten und auf mein späteres Arbeitsleben übertragen.

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

Wie definieren Sie einen guten Unter­ nehmer? Ein Unternehmer ist jemand, der Wertschöpfung generiert. Nach dem Prinzip lebe ich. Ein ganzheitliches Unternehmertum im Ein­klang mit allen Stakeholdern: Mitarbeitern, Kunden, Aktionären und natürlich der inte­­res­sierten Öffentlichkeit. Ich verbinde den traditionellen Unternehmerbegriff mit Glaubwürdigkeit und Weitsicht, gepaart mit einer Umsetzungsstärke – jetzt und heute. Denn Weitsicht allein ist nichts wert, wenn die Umsetzung fehlt. Eine offene unternehmerische Kultur zu haben, damit die Mitarbeiter auch von sich aus Impulse geben und wie in einem sozialen Netzwerk mitdenken und mitarbeiten: Das ist ein gutes Unternehmen.

»Selbstbestimmung ist der entscheidende Meilenstein auf dem Weg zum Erfolg und das Mittel gegen Stress.« Der klassische Unternehmer ist haftender Eigentümer mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten. Wie sieht Ihre Rolle als Vorstandsvorsitzender aus? Auch ein Vorstandsvorsitzender trägt wirtschaftliche Risiken und wird an seinem verantwortlichen Handeln gemessen. Verantwortliches Handeln bedeutet dabei, Wertschätzung vermitteln – gegenüber den Mitarbeitern, Partnern und Kunden, gegenüber anderen Stakeholdern sowie gegenüber der Gesellschaft und Umwelt, in der wir leben. Wertschätzung bedeutet tiefe Kundenbindung, anhaltende Mitarbeitermotivation, glaubwürdiges Image in der Öffentlichkeit und Nachhaltigkeit für unsere Umwelt. Einen

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Nährboden für die nächste Generation zu schaffen, die darauf aufbauend den Wohlstand in unserem Land halten und weiterentwickeln kann – diese Dinge finden auf gleicher Ebene statt und sollten einen Eigentümer wie auch einen Vorstandsvorsitzenden gleichermaßen antreiben. Größter Einzelaktionär Ihres Unter­ nehmens ist die Software AG-Stiftung. Spielt sie eine Rolle bei Unternehmensentscheidungen? Die Software AG-Stiftung hält knapp 30 Prozent der Anteile und schützt uns vor feindlichen Übernahmen. Als Ankerinvestor spielt die Stiftung somit eine entscheidende Rolle beim Erhalt der Unabhängigkeit der Software AG. Die Software AG-Stiftung wiederum fördert auch mit Hilfe unserer Dividendenzahlungen soziale Projekte. Seit meinem Amtsantritt 2003 konnten durch die Stiftung mehr als 250 Millionen Euro in soziale Projekte investiert werden. Existiert ein Ethikkodex in Ihrem Unternehmen? Wir halten uns an die Corporate-GovernanceRegeln und verfügen auch über einen Ethikkodex im Unternehmen, um weltweit – wir sind in 70 Ländern präsent – trotz unterschiedlichster Kulturen und Moralbegriffe ein einheitliches Wertesystem zu pflegen. Dieser Ethikkodex hilft unseren 5.500 Mitarbeitern dabei, im Rahmen unserer weltweiten Tätigkeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Wir alle tragen die Verantwortung für integres Verhalten – untereinander und mit unseren Geschäftspartnern. Der Ruf eines Unternehmens gehört zu den kostbarsten Vermögenswerten. Durch ihn werden die


Karl-Heinz Streibich im Interview

Beziehungen des Unternehmens zu seinen Mitarbeitern, Kunden, Geschäftspartnern, Anteilseignern und Wettbewerbern gekennzeichnet. Ihn zu erhalten und zu fördern ist Zweck dieses Ethikkodex. Er schafft konzernweit das Fundament für verantwortungsvolles Handeln. Sind so viele Standorte weltweit nicht im Zeitalter der digitalen Kommunikation überflüssig? Wenn wir Projekte beim Kunden implementieren, müssen wir vor Ort sein, gerade bei Dienstleistungen, Services und Consulting. Technologie ersetzt nicht den persönlichen Kundenkontakt. Es gibt natürlich Technologien, die physische Präsenz reduzieren können, wie Videokonferenzen. Aber das ist nur eine graduelle Reduktion der Reiselogistik. 2011 hat die Software AG den European Business Award für internationales Wachstum gewonnen. Wie ist nachhaltiges Wachstum in der agilen IT-Branche möglich? Indem man mehrere Wachstumstreiber hat, die sich optimal ergänzen. In den letzten zehn Jahren waren das bei uns Globalisierung, Innovation, Partnergeschäft und Investition in organisches und externes Wachstum. Auch ein proaktiv vorausschauender, technologischer Marktführer zu sein, gibt einem die notwendige Pufferzone für schwierige Zeiten. Die Software AG ist Gründer und Förderer des House of IT. Was versprechen Sie sich von dieser Initiative? Das House of IT ist eine öffentlich-private Partnerschaft zur Förderung innovativer In-

formations- und Kommunikationstechnologien. Im House of IT sitzen Vertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik an einem Tisch. Wir bündeln IT-Kompetenzen, fördern Kooperationen und setzen vielfältige Impul-

»Auch ein Vorstandsvorsitzender trägt wirtschaftliche Risiken und wird an seinem verantwortlichen Handeln gemessen.« se für die interdisziplinäre Entwicklung und Gestaltung innovativer IT-Projekte. Unter dem Dach des House of IT werden IT-Leuchtturmprojekte umgesetzt, wie „das Museum des 21. Jahrhunderts“ im Städel-Museum in Frankfurt mit Hilfe einer Cloud- Media-Plattform. Das alles entsteht durch Kollaboration, durch ein gemeinsames Verständnis im House of IT. Wie gut ist Deutschland als IT-Standort aufgestellt? Durch eine starke Anwenderindustrie hat Deutschland als IT-Standort ein sehr großes Potenzial. Insbesondere beim Thema Unter­ nehmens-Software sind wir mit den zwei Keyplayern SAP AG und Software AG hierzulande exzellent positioniert. Bei der Podiumsdiskussion des DWF kam der Vergleich mit den USA auf. Wo liegen die größten Unterschiede in der Innovationsfähigkeit der beiden Standorte? Erstens ist die Kultur in den USA unternehmerischer und mehr durch Eigeninitiative geprägt. Zweitens hat man mit dem Silicon Valley schon einen Brutkasten, der weitreichende Innovationen hervorbringt. Und drit-

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Jahrbuch Unternehmertum. Made in Germany. 2013

tens: Durch die Größe des Landes mit fast 400 Millionen Menschen, ein einheitliches Rechtssystem und eine Sprache hat man natürlich eine breite Basis, auf der eine Firma enorm groß werden kann.

»Ein Unternehmer ist jemand, der Wertschöpfung generiert. Nach dem Prinzip lebe ich.« Aktuell sind vor allem die BRIC-Staaten – also Brasilien, Russland, Indien und China – Wachstumsmotoren der Weltwirtschaft. Gibt es dort Wachstumspotenziale für Ihr Unternehmen? Für uns ist mit großem Abstand die USA der wachstumsrelevanteste Markt. Es gibt dort viele große, technologisch weit entwickelte Firmen, die in der digitalisierten Welt Fuß fassen. Länder, deren Wirtschaft noch nicht über eine entwickelte IT-Infrastruktur verfügt, haben weniger Potenzial. Nachhaltiges Wachstum ist wichtiger als kurzfristige Gewinne.

Was muss passieren, damit Europa und speziell Deutschland bei der digitalen Innovationsfähigkeit aufholen können? Deutschland ist Exportweltmeister. In den Anwenderindustrien gehören wir zu den Innovativsten. Politik kann Rahmenbedingungen schaffen, zum Beispiel durch Start-up-Förderungen. Aber statt Forschungsprojekte zu bezahlen, sollte man eine Forschungsförderung initiieren, mit der die F&E-Ressourcen in Deutschland steuerlich entlastet werden. Das ist viel nützlicher als die Blockforschungsförderung über Projekte. Bundeswirtschaftsminister Rösler hat auf dem 7. IT-Gipfel eine umfassende Förderung für Unternehmensgründer angekündigt. Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf Ihre Branche ein? Diese Initiative ist gut und wird auch Nutzen schaffen. Die Bundesregierung setzt hier wichtige Impulse für zukünftiges Wachstum. Gleiches gilt auch für den IT-Gipfel der Bundeskanzlerin, der die deutsche IT-Industrie mit Universitäten und Hochschulen zusammenbringt.

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