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Literatur als soziale Praxis
15 Literatur als soziale Praxis
2020 – es hatte sich vieles verändert in diesem Jahr. Und es würde sich auch weiter verändern. So viel war klar, als ich im September zu dem ursprünglich im Mai geplanten Literatur Labor Wolfenbüttel anreiste. An der Rezeption der Bundesakademie gab es benutzte Stifte, die getrennt von den unbenutzten Stiften aufbewahrt wurden. Die Sessel waren auseinandergerückt, der Raum schien mir zugig und kühl. Immer wieder wurden Flächen desinfiziert. Man arbeitete sich, in der Kantine, im Speisesaal, während der Schreibübungen, im Theatersaal, gewandt um die unsichtbaren Gefahren herum. Zuweilen kam ich mir vor wie in einem Film von Jacques Tati, in dem ich, trotz größter Bereitschaft dazu, immer wieder daran scheiterte, mich gemäß des Hygienekonzepts zu verhalten. Alle gaben sich die größte Mühe und es gelang trotz der allfälligen Distanzierung, eine konzentrierte und aufmerksame Atmosphäre zu schafen.
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Ja, eigentlich müsste ich auf die Begrifichkeit des Tanzes zurückgreifen, um unsere inneren und äußeren Bewegungen zu charakterisieren. Die schnellen Wechsel, die Grundpositionen, die feste Tischordnung, der Aufbruch, das Menuett der Textbesprechungen, das Klappern der Türen und Tasten, das Solo und die Gruppenformation, das ganze Ensemble im Plenum. Immer bedacht, den richtigen Abstand zu wahren und dennoch keine übergroße Ferne einziehen zu lassen. Umso erstaunlicher, dass es gelang, dass all diese Maßnahmen – ist der Tisch desinfiziert? – es nicht verhinderten, sich auf konzentrierte Weise den Texten im Entstehen zu widmen. Besonders beeindruckt hat mich, wie schnell und produktiv die Teilnehmer*innen die Bemerkungen, vorsichtigen Korrekturen und Vorschläge umzusetzen wussten. Ich persönlich genoss es sehr, mit den Anwesenden in einen gemeinsamen Denkprozess einzutreten, und ich wünsche mir, dass es für die anderen ähnlich gewesen sein mag. Denn Anwesenheit ist ein sehr kostbares Gut geworden – in diesen Tagen der vernünftigen Entfernungen. Zwar bleibt das Schreiben nach wie vor eine einsame Tätigkeit, die wie gemacht ist für alle Formen strengster Quarantäne, aber es kann nicht entstehen in einem sozialen Vakuum. Literatur ist eine gesellschaftliche und soziale Praktik, sie ist ein Phänomen im Diskurs und kann sich in einem freundlichen kritischen Umfeld zu einer neuen Größe entfalten, um dann wieder, in der Distanz, der Einsamkeit der Leser*in, ein gutes Gegenüber zu sein.
So ist es meiner Ansicht nach gerade für schreibende Jugendliche immens wichtig, andere schreibende Jugendliche und aufmerksame Lehrer*innen zu trefen, die ihnen ermöglichen, das sinnvoll zu finden, was sie im Begrif sind zu tun. Ich danke der Stiftung Niedersachen und der Bundesakademie Wolfenbüttel von Herzen, dass sie diesen Austausch ermöglicht.