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brief

brief

ich sehe deine worte, aber sie nehmen im kopf meinen ton an. ich versuche, mir deine lippen auszumalen, wenn ich lese. wie sie ein »oh« formen, sich öfnen, ein vorhang für die hauptdarstellenden, deine zähne. kinderzähne haben noch kleine zacken an der spitze, deine waren oben abgeschabt. du hattest sie schon lange, sie waren gelb von kafee und nikotin. du hast früh deine zähne verloren. du wusstest nicht, wo du sie verloren hattest, manchmal kamst du vom spielplatz und dir fehlten welche. vielleicht hast du sie verschluckt, dir war es gleich. ich konnte dich nicht verstehen, für mich war jeder wackelzahn ein ritual. das letzte liebkosen mit der zunge, wobei ich versuchte, mir einzuprägen, wie sich dieses stück in meinem mund anfühlte, dann irgendwann das nachgeben und der geschmack von blut. ein seltsamer krater dort, wo der milchzahn gewesen war. den zahn noch eine sekunde wie ein bonbon im mund herumlutschen, mit den wurzeln in die wange bohren. ich bewahrte meine zähne in einer beklebten streichholzschachtel auf, die wie eine rassel klackerte, wenn man sie hin- und herwiegte. ich hörte die zähne gerne rutschen. manchmal schüttelte ich sie so fest, dass einzelne zahnteile ab- oder ganze zähne entzweibrachen. stundenlang konnte ich diese teile meines skeletts ansehen, besonders von unten, wo eine kleine ausbuchtung war. auf bildern dieser zeit grinse ich breit, stelle meine zahnlücken zur schau. du hast diese faszination nicht verstanden. du hattest früh plomben, mit sechzig hättest du ein gebiss bekommen, dir war es egal, du würdest nie alt werden. wenn du den mund aufmachtest, hatte ich angst, dass deine lippen reißen könnten, so rau waren sie. du redetest selten, wolltest die worte wie rauch hinter deinen lippen verschließen, sie nicht entweichen lassen. also schriebst du. ich höre meine stimme und denke, vielleicht schmecktest du kein blut.

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