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Stille und Stürme

Stille und Stürme

Der Tag, an dem sie kam, war ruhig, und das Meer war glatt, wie immer nach einem großen Sturm.

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Ich stand nervös am Steg. Langsam näherten sich die gläsernen Boote mit den Besuchern. In letzter Zeit kamen viele Besucher nach Delphia. Wie immer starrten sie gebannt auf die Höhen und Tiefen, die blauen Kuppeln und Gebäude von Delphia. Man nannte die schwimmende Stadt den blauen Stern. Ich kannte nichts anderes als den blauen Stern, und ich mochte ihn – ich mochte meine Arbeit hier, selbst wenn sie immer die gleiche blieb.

Heute bekam ich zum ersten Mal ein Kind zugeteilt. Sie war klein und leichtfüßig, trug ein langes kariertes Hemd und war sehr blass. Sie starrte über den Ozean. Als ich sie fragte, wie sie hieß, sagte sie »Leonie«, aber sie wandte ihren Blick nicht vom Meer ab. »Ist alles in Ordnung mit dir, Leonie?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Komm, ich zeig dir die Insel. Sie wird dir gefallen. Allen Besuchern gefällt sie.« Dass Besucher meistens nur wenige Stunden bis einige Wochen in Delphia blieben, verschwieg ich ihr vorsichtshalber. »Wo bin ich?« Sie klang ängstlich. »Du bist in Delphia. Der schönsten schwimmenden Stadt, die es gibt. Ich lebe hier. Ich werde dafür sorgen, dass du hier glücklich bist.« Ich nahm sie bei der Hand und zog sie sanft mit mir mit.

In den nächsten zwei Tagen zeigte ich der kleinen Leonie die Insel und die Stadt. Sie staunte, als ich ihr die blauen und goldenen Aussichtskuppeln zeigte und wir zusammen auf den höchsten Berg stiegen. Sie lachte viel, vor allem als ich sie gemeinsam mit anderen Delphianern und deren Kindern zum Wasser brachte und die Delfine mit ihnen spielten, und sie vertraute mir. Und doch war sie anders als andere Besucher. Während die anderen Kinder strahlten und den ganzen Tag nur an das nächste Ereignis dachten, stand Leonie oft allein da, schaute aufs Wasser und sagte zwei Wörter, die ich nicht kannte: »Mama« und »Papa«.

Ich fragte sie, von wem sie da sprach, und sie antwortete: »Von meinem Zuhause.«

Ich atmete tief ein. Das konnte doch nicht sein. »Du … du erinnerst dich an dein Zuhause?« »Ja, natürlich!« Sie sah mich verwirrt an.

Das konnte nicht sein. Noch nie hatte ich von einem Besucher gehört, der sich an seine Zeit vor Delphia erinnern konnte. Und jetzt war da dieses Kind und erinnerte sich.

39

Leonie grif nach meiner Hand. »Delphi, ich vermisse meine Eltern. Können wir sie nicht besuchen?« »Eltern?«

Leonie sah mich erstaunt an. »Weißt du nicht, was Eltern sind?« »Nein«, gab ich zu. »Mama und Papa sind Eltern«, sagte Leonie, ihre Augen waren dabei fest auf den Horizont gerichtet. »Sie spielen mit mir. Sie machen mir mein Lieblingsessen und passen auf mich auf, wenn es gewittert und ich Angst bekomme. Und sie kümmern sich um mich, wenn ich krank bin.« »Das klingt … schön«, sagte ich. »Ich vermisse sie sehr«, sagte sie. »Kann ich nicht zu ihnen zurück?«

Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.« »Warum nicht?« Sie zog ihre Hand aus meiner. »Hier in Delphia ist es doch schön, oder nicht?« »Da, wo ich herkomme, ist es viel schöner!«

Sie lief davon. Ich ihr hinterher. »Wo kommst du her? Was machst du dort? Wer lebt dort außer dir?« »Mama, Papa und ich wohnen in einem gelben Haus«, sagte Leonie. »Aber in letzter Zeit war ich viel öfter in dem weißen Zimmer.« »Magst du es nicht?«, fragte ich. »Nein«, sagte sie. »Weil ich dort immer eingesperrt bin. Und kein Hockey spielen kann.« »Was ist Hockey?«

Sie schaute mich ungläubig an. »Du weißt nicht, was Hockey ist?« »Nein, aber es klingt gut. Erzählst du mir was davon?« »Man rennt und stößt mit anderen zusammen und versucht, dabei Tore zu schießen«, erklärte Leonie und versuchte, das mit Händen und Füßen zu verdeutlichen.

Ich verstand nicht ganz, was sie meinte. Trotzdem die nächste Frage, ich wusste schließlich nicht, wie viel Zeit ich noch mit dem Mädchen hatte. »Und wer sind die anderen?« »Meine Freundinnen zum Beispiel«, piepste Leonie und ihre Unterlippe begann zu zittern. »Oh nein! Bitte fang nicht an zu weinen. Auf Delphia soll nicht geweint werden.«

Doch schon rollten die ersten Tränen. »Ich – will – nach –Hause!«

Ich hatte noch nie Tränen gesehen, und es war furchtbar. Warum musste ausgerechnet mein erstes Besucherkind das einzige Kind in Delphia sein, das sich an sein Zuhause erinnerte?

Ich hatte noch niemals Mitleid mit einem Besucher empfunden – und nun brach mir der Anblick des weinenden Mädchens beinahe das Herz. »Leonie. Nicht weinen. Alles gut«, flüsterte ich ihr zu und nahm sie in den Arm.

Jedes Mal, wenn ein neuer Sturm aufzog und wir uns verkriechen mussten, bis es wieder still war, erzählte Leonie mir etwas über ihr Zuhause. Ihre Geschichten waren unglaublich. Eine neue Welt tat sich mir auf. Ich wusste, es war besser für sie, wenn sie ihr Zuhause vergaß, aber ich ertappte mich dabei, wie ich ihr immer weitere Fragen stellte – viel zu viele.

Eines Abends saßen wir gemeinsam auf einer goldenen Bank am Ozean und blickten aufs Wasser. Am Himmel bildeten sich dichte Quellwolken: Ein weiterer Sturm bahnte sich an. »Mir ist kalt«, flüsterte Leonie. »Du siehst blass aus. Lass uns weitergehen.« »Nein«, sagte sie schnell. »Ich bin gern hier.« »Leonie?« »Mh?«

Die Worte sprudelten aus mir heraus. »Ich würde gerne mit zu dir nach Hause kommen. Delphia ist zwar schön, aber deine Welt … sie klingt noch schöner. Lass uns versuchen, zusammen einen Weg zu deinen Eltern zu finden.« »Nein«, murmelte sie schläfrig. »Ich will hierbleiben.« »Was?«

Leonies Kopf rutschte zur Seite. »Leonie?« Panisch sprang ich auf und klopfte ihr leicht auf die Wange. »Leonie?«

Der Sturm zog sich um uns herum zusammen. Es donnerte. Oh nein, bitte nicht. Nicht jetzt. Nicht jetzt schon.

Ihre Augen öfneten sich. »Ich bin glücklich, dass ich jetzt immer hier aufwache. Es ist viel besser als im Krankenhaus. Der Sturm …« Sie breitete die Arme aus, als wolle sie sich vom Wind davontragen lassen. »Er zerrt an mir.« »Nein, nein!« Ich umarmte sie, als könnte ich so das Unvermeidliche noch ein Stück länger aufhalten. Ich strich ihr über den Kopf. »Leonie, gib nicht auf. Wir gehen in deine Welt zurück. Und dann

40 41 finde ich irgendein Mittel, um dich dort gesund zu machen. Du bist zu klein, um mit dem Sturm zu gehen.«

Aber er zerrte an ihr, als sie den Mund öfnete. »Ich wünsche mir, dass du es irgendwann schafst, mein Zuhause zu sehen.«

Im selben Moment war mir, als hätte jemand einen Faden durchschnitten. Ich spürte, wie mich die Schwerkraft von Delphia entließ. Ich hatte das Gefühl, frei zu sein, schwerelos, war nur noch freiwillig hier. Ich wusste, dass ich Delphia nun verlassen konnte, in die Welt gehen konnte, zu der es mich zog. Durch den letzten Wunsch einer kleinen, schwachen Siebenjährigen.

Sie schaute mit großer Anstrengung zu mir hoch. »Ich sehe was, was du nicht siehst. Ich sehe eine Blumenwiese. Mit Pferden. Und einem gelben Haus. Und einem Hockeyplatz. Ich will da hin. Ich bin so glücklich …«

Dann wurde sie vom Strudel des Windes emporgehoben, und ein Blitz zuckte.

Einen Moment lang war es laut.

Dann war es auf einmal still in Delphia.

So leise wie noch nie.

Das Meer war spiegelglatt, eine endlose Substanz aus hellblauem Eis. Man hätte eine Wolke fallen hören können. Aber es regte sich nichts, kein Lüftchen, nichts Lebendiges.

Leonie war fort. Sie war fort und ich hatte nichts dagegen tun können.

Aber nun würde ich etwas tun.

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