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Zucker.docx

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Irgendwo über meinem Kopf, da steht ein Haus. Ein riesiges, gemauert aus den feinsten Steinen, die man sich nur vorstellen kann. Der Stein ist Zucker und ich werde ihn verschlingen. Einmal nur leicht die Nase gerümpft! So flink getan und nichts gedacht. Meine Zurückhaltung ist grundverloren, als ich den karamellisierten Rauch einatme, der oben aus dem Schornstein qualmt. Zurückhaltung ist fehl am Platz. Ich reiße meinen Mund weit auf, ein Löwe ist erwacht. Langsam, aber äußerst feucht bugsier ich Zunge über Zähne. Spitz und kräftig blitzen Beißerchen hervor, die schon viel zu lange nichts zu kauen hatten und obendrein erst recht nichts Süßes.

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Langsam bröckelt die Fassade. Ein weißer Staub bedeckt den Boden, und wenn ich sie immer intensiver mit dem Mundwerkzeug bearbeite, werden Zuckerwände weich wie Zuckerwatte. Da hinten, vor der Haustür, steht ein Mensch, in Schlafmütze und Morgenmantel eingehüllt – groß gewachsen, stämmig, breit – und alles ist gepunktet. Er scheint mich gesehen zu haben, er rast, wie von der Tarantel gestochen. In einer fremden Sprache brüllt er Unverständliches.

Nichtsdestotrotz wird mir nun klar, dass ich an diesem schönen Haus nicht ungestraft weiterknabbern darf. Aus der Hosentasche ziehe ich eine Serviette in Form eines benutzten Taschentuchs, mit der ich mir den Mund abwische. Ganz so, als ob es irgendetwas ändern würde. Als bräuchte ich mich nur kurz zu entschuldigen. Er kommt mir immer näher, fast bedrohlich nahe schon. Ich muss mich ducken, denn er hebt seine zur Faust geballte Hand zum Schlag, ich muss verschwinden. Das Herz rutscht in die Hose und ich springe. Springe einfach nur nach hinten und schlage unsanft mit dem Kopf an die Fassade. Krrrach!

Ich stelle mir vor, dass seine Fäuste mich zermalmen. In Wahrheit schlagen sie auf dem Boden auf, wenige Zentimeter vor mir. Erst jetzt erkenne ich, dass dieser Mann aus Pfeferkuchenteig besteht und dass langsam seine rechte Hand zerbröselt. Er taumelt kurz, doch fängt er sich gleich wieder, um seine langen Arme nach mir auszustrecken. Riesig ist dieses Geschöpf, teigmonsterartig versperrt es mir den Weg. Die Nougatpickel glänzen unter kirschglasierten übergroßen Lippen, die sich heftig im Rhythmus einer unbekannten Sprache deformieren. Aus Verzweiflung schlage ich, trete ich, springe ich gegen die Fassade, und uns umgibt ein dichter Zuckerstaub. Alles ist schneeweiß. Mein Angreifer gestikuliert und

64 65 schimpft umso wilder, immer noch in unverständlichen Worten. Auch ich selbst bin in der Staubwolke gefangen, erkenne aber, dass die Wand gelitten hat. Ein großer Riss ist entstanden. Reflexartig springe ich ein zweites Mal dagegen.

Tatsächlich. Ein Süßigkeitenhaus kann schnell in sich zusammenfallen. Das Gebröckel der Fassade zerstäubt und hinter dünner Zuckerschicht erscheint ein Netz aus Honigwaben. Die Wärmedämmung eines Zuckerhauses. Meine Fäuste üben Druck aus, meine Arme schmerzen. Ich trete gegen diese Dämmung, die Struktur zerbricht mit lautem Krachen, meine Schuhe kleben. Mühsam geht es voran, mit jedem Tritt platzt eine Wabe. Mein Verfolger scheint es weiterhin sehr ernst zu meinen, er schlägt in den Zuckerwolken um sich. Doch er hat keine Chance, mich zu erwischen.

Der dichte Zuckerstaubnebel beschützt mich vor dem Pfeferkuchenmann, hat er mich verloren? Zumindest höre ich ihn in die Ferne fluchen, seltsame Schmatzlaute in seiner Sprache. Ich atme durch, die weiße Staubwolke legt sich langsam. Eine mannshohe Riesenhonigwabe ist der letzte Teil der Hausdämmung. Ich nehme alle Kraft zusammen und trete ein, zwei, drei Mal dagegen. Beinahe verliere ich das Gleichgewicht, mein Schuh klebt wieder in der Dämmung fest, mit äußerster Anstrengung ziehe ich ihn heraus. Jetzt oder nie.

Mein ganzer Körper schnellt nach vorn, ich presse den Honig wie Butter zusammen und donnere mit dem Kopf gegen eine harte Mauer. Ich stecke fest. Perplex ziehe ich meinen Oberkörper zurück, hänge jedoch immer noch im Loch. Hier drinnen ist es stockdunkel, und bis auf meine Füße scheine ich von Zuckerguss umhüllt. Mein rechtes Bein lässt sich nicht mehr bewegen. Ich werde doch keinen Krampf bekommen haben, halb eingemauert in der Honigwand? Herr Pfeferkuchenmorgenmantel ist bestimmt noch da. Ich meine, ein gedämpftes Fluchen zu vernehmen. Zeit ist kostbar im Moment, und endlich, endlich nimmt die Netzhaut wieder etwas Licht wahr. Ein Fluchtweg hat sich ofenbart, ein kleiner Riss in dieser Mauer, die so hart ist wie Marzipan.

Nun nehme ich ein zweites Mal den Kopf als Abrissbirne, um dann mit den Armen die Tapete einzureißen, braun wie Schokolade und mit leichten Nussspitzen, eine Raunussfasertapete, Typ Edelzartbitter. Halb bewusstlos hänge ich in der Wand und bin endlich erleichtert.

Der Raum vor mir ist groß, aber letztendlich nur ein Flur. Ein großer Flur, der angesichts der süßen Ausgestaltung wunderlich gewöhnlich wirkt. Tiefgaragenstimmung statt Schlarafenland. Mühsam ziehe ich mich nun ein Stück nach vorn. Immer noch ein Stückchen, immer weiter. Doch irgendwie will ich nicht vorwärtskommen. Ich hänge mit dem Kopf über dem grauen Betonfußboden, bis ich auf einmal wieder hochgezogen werde. Mein Angreifer hat sich nicht schlafen gelegt, ganz im Gegenteil.

Den Kopf verdreht, schiele ich nach hinten und sehe seine starke Hand an meinem linken Bein. Ohne mit der Wimper zu zucken, hole ich mit dem rechten Knie aus, um nach ihm zu treten. Es war eine Honigwabe, die mein Fortkommen so erschwerte. Sie klebte an meinem rechten Schuh und nun vermutlich in seinem hässlichen Gesicht. Ich höre ein verwirrtes Grunzen.

Es ist kalt hier drinnen. Psychologisch kalt, denn das blasse Licht der Energiespardeckenleuchten baut in mir eine Leere auf, die jeden Appetit verdirbt. Dabei schwitze ich mich zu Tode. Irgendjemand scheint den Raum zu überheizen, und ich habe das Gefühl, dass es von Sekunde zu Sekunde schlimmer wird. Langsam ziehe ich mich aus dem Tapetenloch nach vorn, die Hitze ist nun beinahe unerträglich. Da spüre ich einen Luftzug. Keine frische Sommerbrise, ganz im Gegenteil: Ein Schwall glühender Wärme zieht vorbei und versetzt mich ins Delirium.

Es hört nicht auf, die Luft zirkuliert im Raum. Meine Kräfte schwinden zusehends, ich kann nicht weiter. Ich bleibe einfach in der Wand hängen. Ich bilde mir ein, im Augenwinkel tanzende Pfeferkuchenmännchen zu sehen. Ganz viele, und sie tragen alle weiße Mützen. Ihre weichen Teighände sind mit schwerem Holz beladen, das sie zu einem großen Haufen auftürmen, einer von ihnen zündet ihn an, ein anderer verriegelt eine schwere Eisentür.

Ich falle auf den Boden, mit dem Kopf voran. Unter mir ist gar kein Beton, sondern nur weiches Papier. Es knistert so schön, aber ich höre nichts.

Hier ruhe ich, bewusstlos in der Zuckerfabrik.

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