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Petrichor
Petrichor
Den ganzen Abend bist du schon so hibbelig. Das Schmatzen deiner nackten Füße klingt durch die Wohnung.
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Du hastest.
Von der Küche, ins Schlafzimmer, ins Bad, zurück. Und gelegentlich stehst du hinter mir. Legst deine Hände auf meine verkrampften Schultern. Dein Kopf neben meinem. Wir starren auf meinen Bildschirm. »Das ist schön«, flüsterst du. Folgst den Buchstaben mit den Augen, bis du aufschreckst und weiterhetzt.
Du kochst Tee, hängst meinen Regenmantel an die Wohnungstür, machst ein Lager aus Decken auf dem Fußboden, schmierst Butter-Salz-Toasts – »Man muss ja schließlich vorbereitet sein!«
Nervös spähst du aus dem Fenster. »Es dauert nicht mehr lange«, rufst du. Das ist mein Signal, das Dokument kopfschüttelnd zu speichern – löschen hast du mir verboten – und Fenster aufzureißen.
Um Küche und Schlafzimmer kümmerst du dich. Mir bleibt lediglich das Fenster hier im Raum.
Ich ziehe es auf. Du hast recht. Es ist gleich so weit. Der vertraute süßliche Geruch liegt in der Luft. Sie scheint wie elektrisiert. Feucht und schwer.
Als ich zur Tür komme, steht sie schon ofen. Meine Gummistiefel und der Mantel warten auf mich.
Jetzt haste ich auch. Dir nach. Die Treppe nach unten. »Beeil dich!«, hallt deine Stimme durch das Treppenhaus. Früher hätte ich mich geschämt, hätte mich gefragt, was die Nachbarn wohl denken. Da wusste ich vieles noch nicht. Ich konnte nicht verstehen, warum du an Abenden wie diesen barfuß und nur im Schlabber-T-Shirt die Flucht ergreifst. Erst stehen bleiben kannst, wenn der aufgeheizte Asphalt deine Füße wärmt, der Wind durch deine Haare fährt.
Du stehst schon auf der Straße. Die Arme von dir gestreckt, dein Gesicht zeigt Richtung Himmel. Jeden Augenblick muss es so weit sein. Ich bleibe im Türrahmen stehen und beobachte dich. Sehe, wie du zusammenzuckst, als der erste Tropfen deine Haut trift.
Ein Blitz. Ein Donnergrollen. Ich weiß, du hast die Sekunden gezählt. »Komm schon!«, schreist du.
Dann bricht die Hölle los. Es ist, als würde der gesamte Ozean auf einmal über uns ausgekippt. Du kreischst und lachst.
99
Du drehst dich, wirbelst umher, streckst mir deine Arme entgegen.
Ich stürze mich in den Regen. Die Tropfen prasseln unbarmherzig auf meine Kapuze ein.
Ich ziehe ihn aus. Den Mantel.
Streife sie ab. Die Gummistiefel.
Zum ersten Mal.
Für einen Moment ist da nur Reue. Es ist kalt und – o Wunder –nass. Aber dann spüre ich es. Aus dieser Flut nehme ich jeden einzelnen Tropfen wahr.
Vor Freude springst du mich an. »Fühlst du es? Fühlst du es?«
Ich nicke.
Du hältst mich und ich halte dich, während die Welt um uns herum untergeht. Für einen kurzen Moment ist das das Ende und wir mittendrin.
Die Tropfen werden weniger, der Himmel klarer. Du kannst dich nicht mehr zurückhalten, machst dich von mir los, rennst die Straße runter. Ich folge dir. Auf der Wiese verharrst du. Unsere Zehen versinken in der nassen Erde.
Du atmest durch.
Strahlst mich an.
Du musst nichts sagen. Ich habe es längst selbst bemerkt. Es ist dieser einmalige Geruch. Dieses Aufatmen der Erde, wenn sie dankend das Wasser aufnimmt.
Alle Energie fällt von dir ab. Eine unvergleichliche Müdigkeit erfasst dich. Gemeinsam schleppen wir uns die Treppe hoch. Sitzen dann nackt in den Decken, Handtuch-Turbane auf dem Kopf, schlürfen Tee und essen Butter-Salz-Toast. Irgendwann schläfst du ein. Ich trockne dein Haar, trage dich ins Bett, schließe die Fenster. Gehe heiß duschen, wasche den Regen von mir – etwas das du nie tun würdest. Koche Kafee. Ich ende wieder vor dem Rechner. Öfne den Text, den du schön findest und ich scheiße.
In der Luft liegt ein Hauch Petrichor. Eingeschlossen in diesen Wänden, bis zum nächsten Regen.
Ich muss lächeln und beginne zu tippen.