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Elektronenjäger
Elektronenjäger
»Wer will, dass die Welt so bleibt, wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt«, sagst du und kaust an deinen Nägeln. Ganz ausgefranst sind sie schon und die Nagelbetten an den Seiten blutig, aber du hörst nicht auf. Stehst vor der Eingangstür, vor bröckelndem Putz, abgenutzten Klingelknöpfen und den Resten abgeknibbelter Aufkleber. Starrst in die Nacht.
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Leuchtreklame, Late-Night-Party, Ladenschluss. Vielleicht brauchen wir Facettenaugen, um überhaupt noch eine Chance zu haben, die Welt zu erfassen. +++ Videoüberwacht +++ all-inclusive +++ unbürokratisch und digital +++
Du murmelst, wir sollten endlich an uns arbeiten und ich weiß ja auch: Persönlichkeit durch Professionalität. Sei extrovertiert, extravagant, exzellent.
Aber dann drehst du dich um, passt deine Bewegungen der Masse an und löst dich auf, in immer kleinere Teilchen. Glühend und bunt. Ein Jäger, der nach Elektronen hascht.
Ich folge dir, klemme mir mein Selbstbewusstsein unter den Arm, damit es nicht wieder abhaut, und schleife es um die Häuser. Durch pulsierende Partylaser, geschminkte Gespräche und kaputte Komplimente. Deiner Spur nach, die sich irgendwo zwischen Sitzecke und Straße verläuft.
Wir müssen Platz schafen, heißt es weiß auf rot. Platz für neue Ideen. Sale. Letzte Chance. Alles muss raus –
Alles muss raus.
Aus den Schränken, aus den Köpfen, aus den Herzen. Also komm schon, geh endlich raus aus dir. Mein Handy klingelt. Einmal hab ich dich gefragt, wie es sich anfühlt, die Bodenhaftung zu verlieren. Du hast mir nicht geantwortet und ich muss wieder an die hellen Krepppapierblüten in deinem Zimmer denken, deren Nylonfäden die Illusion von Halt vermitteln.
Jetzt schwimmt deine Stimme aus dem Smartphone, fließt in die Ohren und flutet hinter meinen Schläfen. Wird zu dem wummernden Kopfschmerz, mit dem ich morgens aufwache. Ich wusste nicht, dass du noch an mich denkst.
Wo ich sei, willst du wissen, aber ich habe keine Lust, dir zu antworten. Keine Lust, zuzugeben, dass ich es nicht sagen könnte und dass diese Stadt eigentlich nie meine war. Sie lügt nur genauso gern wie ich seit Neuestem. Mit ihren Jugendstilfassaden, Schaufenstern und Fairtrade-Aufklebern, während sich in den Hinterhöfen die
103 Müllsäcke türmen und das Schweigen unter Türschwellen hindurch in die Gassen rinnt. Vielleicht lügt sie sogar ein bisschen besser als ich.
Auf der anderen Seite der Verbindung geht dein Atem fast in der Musik unter und ich überlege, ob da jemals wirklich Stille um mich herum war. Ob ich schon abhängig bin von dem permanenten Geräuschpegel und der wachsenden Geschwindigkeit dieser Großstadt, aber darüber kann ich jetzt nicht mit dir reden. Mein Selbstbewusstsein ist auf einmal verschwunden – vermutlich holt es sich gerade noch einen Drink oder liegt schon betrunken in der Ecke –und ich sehe dich wieder vor mir, wie du da Nägel kauend stehst und mir die Worte im Mund umdrehst.
Also lege ich auf. Dein leises Atmen bleibt in meinem Ohr, verstärkt den dumpfen Druck hinter den Schläfen. Es hat keinen Sinn, dich zu suchen. Wahrscheinlich tauchst du in ein paar Stunden wieder vor meiner Wohnung auf und klebst mir einen dieser Zettel an die Tür. Mit deinen Lieblingszitaten. Ich habe dich nie gefragt, warum du das tust. Nur weil ich glaubte, du würdest sowieso nicht antworten.
Schatten, Schaufenster, Schriftzüge verschwimmen am Rand meines Blickfeldes. Ziehen vorüber, während ich durch die Straßen gehe – ein Individuum unter vielen, die sich durch Gesprächswolken drängen, eine jede lauter als die andere. In den Kopfsteinpflasterritzen kleben Kaugummis und Zigarettenstummel.
Ich bleibe stehen. Stillstand ist Rückschritt, hast du einmal gesagt, atemlos, mit zitternden Händen vom Adrenalin, und ich wollte so sein wie du, immer unter Strom.
Heute ist es nicht einmal bewölkt – ohne all die Lichtquellen könnte man womöglich sogar die Sterne sehen. Und auf einmal sehne ich mich wieder danach, wie in meiner Kindheit den wirklich dunklen, sternenübersäten Himmel über mir zu sehen und die leere Landstraße mit ihren vielen Kurven und Abzweigungen. Direkt vor mir, wie ein Leben voller Möglichkeiten.