Journal der Künste 03

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JULI 2017

JOURNAL DER KÜNSTE

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EDITORIAL

Liebe Leserinnen, Leser und Lesende, am Anfang war vielleicht doch das Wort. So erscheint es mir seit einiger Zeit in dieser ideologisch hoch aufgeladenen Debatte um eine gendergerechte Sprache, die auch die Akademie der Künste beschäftigt und eine Arbeitsgruppe der Sektion Literatur hervor­ gebracht hat. Diese förderte zunächst einmal die Erkenntnis zutage: Es fallen uns Schriftstellerinnen und Schriftstellern (und eben nicht immer Schriftstellernden) Sprachregelungen nicht leicht, die einen bestimmten Weg oder gar einen Normierungs­ weg einschlagen – diesen würden wir schon mal grundsätzlich ablehnen, schließlich stoßen wir uns an dem Bild der endgültig festzulegenden Sprache, die nur eine bürokratische sein kann. Hier stehen grammatische Argumente gegen die Versuche, eine gerechtere, alle einschließende Sprache zu finden, ihre hegemo­ niale Einspannung zur Kenntnis zu nehmen, dort stehen sprach­ idealistische Konzepte gegen den Realismus der Beschreibung. Dazu kommen symmetrische Vorstellungen, die in unser Sprach­ system schwer einzuführen sind. Erstaunlich war für mich die Erkenntnis, dass es gar nicht so leicht ist, die systemischen Aus­ wirkungen zu überblicken, die einzelne Veränderungen auslösen: Was macht das additiv inklusive Sprechen eigentlich mit unserer Vorstellung? Die Vermeidung von sexistischem Sprachgebrauch und der Versuch, sprachinhärente Patriarchalismen zu umgehen, sind dennoch wichtig. Die Vorschläge aus der intern kursieren­ den Liste zum gendergerechten Sprechen schlagen allerdings in einer gewissen Häufigkeit die „Person“ vor, die wir ungern in unse­ ren Veröffentlichungen als Dauergast sehen würden, und dies ist nur eines der zahlreichen Probleme. Aufgrund meiner Herkunft wäre ich für österreichische Lösungen (oder was ich immer noch dafür halte), also den Mittelweg, die Diplomatie, aber die müsste erst einmal in diesen Fragen neu erfunden werden. Wir arbeiten also noch daran, wollen ohnehin über Sternchen, Binnen-Is und Unterstriche lieber unsere Autoren und Autorinnen entscheiden lassen sowie selbst versuchen, andere Wege einzuschlagen.

Vielleicht kann uns inzwischen Jutta Brückners Einsatz gegen den unbewussten Bias, ihr dichter Essay über die Ausbreitung des blin­ den Flecks auf immer weitere Kreise, hilfreich sein, zumindest schlägt sie schon einmal zwei brauchbare Dinge vor: sich der Geschichte zu stellen und Stiftungen zu gründen, denn wir befin­ den uns mitten in einem Kulturkampf, weniger einem Kampf der Geschlechter als dessen Funktionalisierung. An dieser Debatte ließe sich gleich etwas anbinden, das uns als Schwerpunktthema durch den Herbst beschäftigen wird: das längst überfällige Nachdenken über Kolonialismus auf einer viel grundsätzlicheren geistes- und kulturgeschichtlichen Ebene. Bei­ träge wie die von Nikita Dhawan, Nana Adusei-Poku und Uta Sim­ mons geben uns einen Vorgeschmack darauf. Christina Kubisch steuert in der Carte Blanche diesem Gesche­ hen eine polyglotte Analyse des Schweigens bei, während Patrick Hofmann eine fiktive Kaffeefahrt in die JUNGE AKADEMIE zu schmuggeln weiß. Wie wichtig digitale Kommunikation künftig ist, zeigt indes Werner Heegewaldt in seinem Beitrag zur Zukunft des Archivs. Dass eine unerwartete Resonanz zwischen der essayisti­ schen Annäherung von Annett Busch und Tobias Hering an die Fil­ memacher Danièle Huillet und Jean-Marie Straub und dem Fund­ stück von Torsten Musial aus Eberhard Fechners Nachrede auf Klara Heydebreck entstünde, mag man vielleicht als etwas weit hergeholt empfinden. Während es ganz und gar nicht weit herge­ holt ist, dass uns die konkrete ästhetische Umsetzung demokrati­ scher Teilhabevorstellungen in den KUNSTWELTEN Anlass zur Gratulation bietet. Die Preise und Nominierungen für Zehn Jahre Kunstwelten in Bitterfeld-Wolfen, den Demokratiebahnhof Anklam und Kinder im Exil sind eine wunderbare Anerkennung der lang­ jährigen Arbeit, die vor allem Marion Neumann organisiert. Und wenn wir schließlich dem Gespräch zuhören, das Rainer Esser mit Jeanine Meerapfel geführt hat, werden wir verstehen: Wenn am Anfang also vielleicht doch das Wort war, wird es zumin­ dest zweisprachig gewesen sein, insofern wollen auch wir zwei­ sprachig werden, beim nächsten Mal, deutsch-englisch, das zumindest. Ihre Kathrin Röggla Vizepräsidentin der Akademie der Künste, Berlin


SEIN UND SPRACHE GEDANKEN ZUR LITERATUR UND ZUM SCHREIBEN

Katja Lange-Müller

Die altbekannte Diskrepanz zwischen Sein und Sprache, mittlerweile sollte sie eher Schreibe heißen, ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts noch größer und prekärer geworden als sie es eh schon war. Immer mehr Menschen in unseren Breiten schreiben, doch immer weniger lesen – so konzentriert, wie Literatur es verlangt und verdient. Die „Schreibratte“ hat die „Leseratte“ verdrängt wie das graue amerikanische Eichhörnchen (Squirrel) das rostrote europäische. Kapituliert die Leseratte oder Lesetugend oder Leselust vor der, bereits jetzt schier endlosen, Fülle des Lese-Stoffs? Oder ist es nur leichter (und erleichternd!), sich das bisschen, was man lesen möchte, gleich selbst zu schreiben, wie schon Jean Pauls Schulmeisterlein Wutz? Rührt dies (mehr oder minder literarische) Schreibbedürfnis von der Tatsache her, dass wir uns kaum noch physisch zusammenfinden, um mit- und gegeneinander zu sprechen? Müssen wir deshalb nun alle mit- und gegeneinander schreiben, in Büchern, Artikeln, Internetforen? Drängt also die Vereinzelung, das Alleinsein vorm Bildschirm die Menschen dazu, Texte zu verfassen, die oft genug bloße Meinungen sind, aber selten gut gemeint? Oder nötigt sie die schwierige Weltlage, mit „Wörtern, Wörtern, nichts als Wörtern“ (Hamlet) das wiederzugeben, was sie denken, lieben, hassen, aber kaum mehr erleben in der Offline-Welt, die kleiner wird von Tag zu Tag? Oder sind die Gründe viel banaler? Noten lesen, singen, zeichnen können nicht viele, doch einiger­ maßen alphabetisiert sind die meisten von uns. Journalisten verlieren ihre Festanstellung, Schau­spieler wollen ihre im TV erworbene Popularität „multimedial“ nutzen, im letzten Daseins­ abschnitt hat man Zeit und schließlich genug „mitgemacht“. Stil, Poesie, die Schönheit der Sprache sind kaum mehr Kriterien fürs Schreiben – und fürs Lesen erst recht nicht. Doch was stattdessen? Oder: was dann? Warum wird so viel geschrieben und immer weniger von all dem Geschriebenen gelesen und noch weniger das, was man Literatur nennt? Schreibend kann man wichtig sein oder sich zumindest wichtig machen und Dampf ablassen und Gleichgesinnte finden, sich vernetzen, ja sogar Geld ver­dienen, wenn man einen Verlag oder sonst wen findet, der bereit ist, dafür zu zahlen. Lesen aber kostet: Zeit, Nerven und, wenn es um Bücher und andere Druckerzeugnisse geht, auch Geld. Knapp gesagt: Das Lesen bringt nichts ein, außer womöglich Erkenntnis. Damit ich richtig verstanden werde: Dies ist keine Polemik, die Literatur als das Privileg der Literaten verteidigen will. Dass die Menschen, genauer die alphabetisierten Menschen, immer mehr schreiben, ist gut, im Sinne der Demokratie. Aber woher rührt es, dass – unbegreiflicherweise gerade in diesem Kontext – unser Lesebedürfnis so stark nachgelassen hat? Und was an dem einen bedingt das andere, zumal doch Lesen & Schreiben jahrhundertelang in einem Atemzug genannt wurden? Und trotzdem, also trotzig, will ich das Lesen als wichtiger preisen; Lesen-Können ist unabweislich die Voraussetzung fürs Schreiben-Können. Und ja, ich will die Literatur verteidigen gegen die beängstigende Fülle all des Geschriebenen in Buch- und sonstiger Form; denn vieles davon trägt sehr wohl dazu bei, die einst gültigen Kriterien für das, was Literatur ist, aufzuweichen bis zur Unkenntlichkeit. Und geschieht Ähnliches nicht auch im Film, im Theater und vor allem in der bildenden Kunst, bei der noch hinzukommt, dass es, wie seit jeher, stets um das Original, das Einmalige geht, das, neben der Popularität des Künstlers, den Wert, also den potenziellen Verkaufswert eines Bildes, einer Skulptur, einer Installation ausmacht? Die uralte Frage „Was ist Kunst?“ wartet, gerade weil sie keiner mehr stellt, immer noch auf Antworten. Oder anders und polemischer gefragt: Bestimmt, was Kunst ist, nicht längst allein der Markt? Und haben sich viele Künstler und deren einzige Partner, die Kuratoren, diesem Markt etwa nicht nahezu bedingungslos unterworfen? KATJA LANGE-MÜLLER  Schriftstellerin (Prosa, Theaterstücke, Hörspiel), ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Literatur.

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DER UNCONSCIOUS BIAS,

UNSER SCHLIMMSTER FEIND Jutta Brückner

Leonce Raphael Agbodjelou, Untitled (Demoiselles de Porto-Novo series), 2012, 150 x 100 cm Der Fotograf Léonce Raphael Agbodjelou aus Benin porträtiert in seiner Bildse­r ie Demoiselles de Porto Novo Frauen mit nacktem Oberkörper und Masken vor dem Gesicht. Es ist eine Umkehrung der mo­ dernen Perspektive. Picasso hat in Les Demoiselles D'Avignon die Ästhetik der afrikanischen Masken als Mittel einer neuen künstlerischen Sprache genutzt. Agbodjelou stellt die Frauenporträts in den Kontext kolonialer Architektur und spielt mit den ästhetischen und politischen Verflechtungen zwischen Koloni­ aler Kultur und Kolonisierter Kultur.

Was wir im Moment erleben, ist ein Kulturkampf. Es ist die Rede davon, man habe es mit dem Genderwahn übertrieben und das ver­ gessene Proletariat melde sich nun zurück zum Klassenkampf in Gestalt des „wütenden weißen Mannes“. Eine Welt von gestern mit stabilen männlichen und weiblichen Identitäten wird in Stellung gebracht gegen das nachindustrielle Heute, in dem die Identitäten flüssig geworden sind und Frauen eine weitgehende Gleichberech­ tigung errungen haben. Dass der schamlose Neoliberalismus die soziale Frage vergessen hat, ist zweifellos wahr. Aber dass eine Schar von weißen Männern in Blaumann und Helmen jetzt wieder die Symbolfiguren des „wahren Volkes“ sein sollen, ist zweifellos falsch. Was hier in Wirklichkeit beschworen wird, ist nicht eine Klasse, die gibt es in dieser Form gar nicht mehr, sondern die männ­ liche Identität, wie sie im gesamten 19. Jahrhundert und in der Hälfte des 20. gewesen ist.

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In dieser Zeit war die natürliche Ordnung der Dinge die kapitalis­ tische Industriegesellschaft in der Form der bürgerlichen Demo­ kratie. Frauen als politische Wesen hatten in ihr keinen Platz. Der Ausschluss der Frau aus der politischen Gemeinschaft hat eine sehr alte und zähe Tradition, zurück bis ins griechische Altertum. Doch mit Martin Luthers Staatslehre war etwas Neues aufge­ taucht. Die Frau wird jetzt doppelt ausgeschlossen, nicht nur sozial, sondern auch spirituell. Denn im Protestantismus gehört das metaphysische Wahrheitsprivileg nur noch dem Mann, nur er hat direkten Kontakt zu Gott und damit zur Wahrheit. Frauen besit­ zen keine spirituelle Zeugungskraft, sie sind ausgeschlossen vom allgemeinen Priestertum wie von der Republik, sie haben keinen Zugang zum Geist und zum Recht, zur Zeugung und zur Ordnung. Dieses protestantische Familienideal wird dann zum bürgerlichen Zustand, durch Philosophen als vernunftgemäß gerechtfertigt,


und damit ist es jetzt im Erbgut aller modernen Gesellschaften zelnen seine Besonderheit und reduziert ihn auf seine Gruppenzu­ gehörigkeit. Das geht im Filmbetrieb so: Weil Filme von Frauen verankert. Auch in unserem Unbewussten. „Frauenfilme“ sind, müssen Männer sich nicht dafür interessieren. Wo wir heute stehen, beschreibt der französische Philosoph Alain Badiou – zusammengefasst von Slavoj Žižek – so: „Männer Zum anderen aber verweigert sie dem Einzelnen, Teil der Allge­ mutieren sukzessive zu ewigen Adoleszenten ohne klaren Initiati­ meinheit, Teil der Gesellschaft der Ähnlichen zu sein. Und das geht onsritus, der ihren Eintritt ins Erwachsenendasein verkörpern würde, dann so: Es gibt schlichtweg für Frauen weniger Geld, Filme zu wie etwa der Wehrdienst oder das Erlernen eines Berufs.“ Junge machen, weil Männer das alles viel besser können. Das ist aber Männer träumen zu lange von der großen Karriere als Popstar, nichts anderes als eine petitio principii: Man behauptet einfach, scheitern deshalb im täglichen Leben. Jugendgangs, die mit ideo­ dass die Filme von Männern die besseren Filme seien. Und gegen logischer oder religiöser Ausrichtung auch Gewaltfantasien bedie­ diese Doppelstrategie der Diskriminierung hilft nur eine andere nen, schaffen eine Ersatzinitiation und bieten soziale Identität an. Doppelstrategie: same same but different. Wenn ich solche Gedanken ausführe, höre ich oft den Vor­ „Die Frauen hingegen sind im Unterschied zu den Männern heute frühreifer. Man behandelt sie wie kleine Erwachsene, die ihr Leben wurf: Du hältst Frauen für die besseren Menschen, das sind sie im Griff haben und ihre Karriere planen sollen. In dieser neuen aber nicht. Dem kann ich nur zustimmen. Oft verzweifle ich an den Version des Geschlechterunterschieds sind die Männer die ver­ Horden von jungen Frauen, die sich in den digitalen Kanälen spielten Halbwüchsigen und Gauner, während die Frauen hart, reif, zurechtstutzen zu einem künstlichen Bild ihrer selbst, einem „Pro­ ernsthaft, rechtskonform und bestrafend erscheinen. Die herr­ dukt Frau“, mit dem sie glauben, Männern zu gefallen. Laurie schende Ideologie fordert heute nicht mehr ihre Unterordnung, sie Penny hat wütend geschrieben, dass die Angst der Frauen, nicht ruft sie dazu auf – wirbt darum, erwartet –, dass sie Richterinnen zu gefallen, das heißt, nicht dem Ideal der heterosexuellen Kar­ werden, Verwaltungsleiterinnen, Ministerinnen, Vorstandsvorsit­ rierefrau zu entsprechen, der Klebstoff ist, der die neoliberale Ordnung zusammenhält. In dem Moment, wo Frauen in Deutsch­ zende, Lehrerinnen, sogar Polizistinnen und Soldatinnen.“1 Die als natürlich angesehene Ordnung hat sich aufgelöst, doch land das Wahlrecht bekamen, wählten sie konservativ, sie stimm­ in unserem individuellen und auch dem gesellschaftlichen Unbe­ ten für die Kandidaten, die es ihnen gar nicht hatten geben wol­ wussten ist erst einmal vieles beim Alten geblieben. Und so sto­ len. Und wenn ich jetzt zur Erklärung sage, bei Frauen schlägt der ßen unbewusste Wünsche und Vorstellungen und eine neue Welt, unconscious bias noch härter zu als bei Männern, ist das keine die sich täglich ändert, wie zwei Kontinentalplatten aneinander. Entschuldigung, sondern eine Erklärung. Anders als andere unterdrückte Gruppen sind Frauen nicht Hier entsteht der innere Widerspruch, der unconscious bias. Er bedeutet, dass wir feststecken in einer Ambivalenz, die gesell­ nur das unterdrückte, sondern auch das geliebte und angebetete Geschlecht, gleichzeitig Sklavinnen und Herrinnen. Sie sind nicht schaftlich erzeugt ist und sich privat äußert. Die meisten Männer zögern, die alte Ordnung der Dinge auf­ nur Angst-, sondern auch Wunschfantasie. Und deshalb haben sie zugeben, weil die Vorteile für sie so groß waren. Auch viele reflek­ durch ihre Emanzipation auch etwas zu verlieren: die wunderbare tierte Männer, die bewusst für Gendergerechtigkeit eintreten, haben Utopie der romantischen Liebe. Es gibt einen schönen Satz über etwas zu verlieren, nämlich ihren durch ihr Geschlecht angestamm­ die Tiefe dieses Verlustes: „To be desired is perhaps the closest ten Platz in der Kultur. Zu der wollen jetzt auch Frauen Zutritt haben. anybody in this life can reach to feeling immortal.“ Prosaischer Und mit ihnen tauchen nicht nur Konkurrentinnen um die realen sagte der Staatsrechtler Robert von Mohl, dass eine Politisierung Posten auf, sondern auch andere Erfahrungen und Werturteile, die der Frauen zwangsläufig zu ihrer Entweiblichung und Vermännli­ aus anderen Lebenspraxen kommen. Das ist nicht nur eine soziale, chung führe. Dies wiederum habe Auswirkungen auf Männer und sondern auch eine intellektuelle und emotionale Herausforderung. ihren Geschlechtscharakter, der sich nur in der Differenz zum Weib­ Männliche Abwehrmechanismen bestehen dann oft in Verächtlich­ lichen voll entfalten könne. Eine Gesellschaft gleichberechtigter machung oder Entwertung oder darin, das alles einfach nicht zur männlicher und weiblicher Staatsbürger ähnele aber einer Gesell­ Kenntnis zu nehmen. Das Motiv der Unsichtbarkeit ist ein altes in schaft unterscheidungsloser Zwitterwesen. Hier sind wir bei der der Geschichte der Minderheiten oder derer, die man dafür hält. tiefsten Angst vieler Frauen heute: ein Zwitterwesen und keine Georg Simmel schrieb 1911, dass „alle Äußerungen der Frauen […] „richtige“ Frau zu sein, wenn sie die Emanzipation offen lebt. Keine nicht als allgemein menschlich, sondern zugleich als spezifisch Likeability, Sexyness und Fuckability zu haben. Frauen wird heute weiblich empfunden werden, gegenüber den als übergeschlecht­ wieder von klein auf beigebracht, dass es ihr Job ist, zu gefallen lich, als rein sachlich charakterisierten Äußerungen des Mannes“.2 und geliebt zu werden. Diese alte Ordnung sitzt nicht nur in den Der Mann hat also weiterhin Kontakt zur Wahrheit, die Frau aber Köpfen, sie sitzt auch in den Körpern. Die Ideale und Zwänge, die nur zu ihrer eigenen Subjektivität! Frauen machen etwas, was viel­ für weibliche Körper gelten, sind so sehr internalisiert, dass es nicht mehr auffällt, dass sie von außen kommen. Auch autonome Frauen leicht für Frauen interessant ist, aber nicht für die Menschheit. Es sind alles Formen von Diskriminierung, meist unbewuss­ sind diesen Geboten unterworfen und unterwerfen sich ihnen selbst, ter. Diskriminierung ist die Form, die Ungleichheit in heterogenen weil damit Akzeptanz verbunden ist. Darin ist ein Teil von Identifi­ Gesellschaften annimmt. Diskriminierung ist Mangel an Anerken­ kation mit dem Aggressor, weil, wie Hannah Arendt so wunderbar nung und hat zwei Strategien. Zum einen verweigert sie dem Ein­ gesagt hat, „niemand sich selbst umarmen kann“.

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Frauen leben in einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die rung und im Sport, in der Technik, in den Religionen. Und in der Wünsche nach Arbeit (ökonomischer Autonomie), Familienglück Kunst! Deshalb ist es so schwierig, die Gefühle von Unterwürfig­ (Mutterschaft) und körperlich-sexueller Attraktivität sind nicht keit und Abhängigkeit bei lange unterdrückten Gruppen abzuschaf­ „kompatibel“, sie können nur als Erfahrungen des Scheiterns erzählt fen. Man entdeckt den Sklaven in sich sehr spät. Tschechow hat werden. Selbstverwirklichung erscheint als Nullsummenspiel – gesagt, er habe ein ganzes Leben gebraucht, um den Leibeigenen was im einen Bereich gewonnen wird, geht im anderen verloren. Tropfen für Tropfen aus sich herauszupressen. In Gesellschaften In der Hoffnung auf eine Vereinbarkeit muss nicht nur Arbeit auf dauern diese Prozesse länger als nur eine Generation. Arbeit gehäuft werden, es werden auch zwei sich widersprechende Im Film und im Kino greifen die kollektiven Muster besonders Wertsphären verbunden: Sorge und Pflege einerseits, Autonomie ausgeprägt, weil hier Gefühlswelten und finanzielle Macht zusam­ und Selbstständigkeit andererseits. Autonomie muss sich not­ menkommen. Kino ist die Freilegung des Unbewussten. Rollenkli­ wendigerweise abgrenzen, denn sonst ist sie keine. Sorge muss schees werden stabilisiert oder in Frage gestellt und das alles auf sich verströmen, das ist ihr Wesen. Die Sorge um die anderen war eine Weise, dass nicht nur die Köpfe, sondern die Körper reagie­ über viele Jahrhunderte das Wesen der Frau. Und wenn etwas zum ren. Isabelle Huppert hat einmal gesagt, dass es heute sehr schwer Wesen geworden ist, kann man es nicht ablegen wie einen Man­ ist, im Kino eine Geschichte über eine intellektuelle Frau zu erzäh­ tel. Der unconscious bias ist notwendig mit der bürgerlichen Gesell­ len, solche Frauenbilder stören noch immer. Eine neue Wirklich­ schaft verbunden, als ihre dunkle Seite. Sozusagen die abge­ keit im Film rückt erst durch eine neue Weise der Wahrnehmung wandte Seite des Mondes. ins Blickfeld. Und eine neue Weise der Wahrnehmung bekommt Den hierarchischen Strukturen der Gesellschaft entkommt man man erst durch einen neuen Standpunkt, eine geänderte Haltung. möglicherweise, aber nicht ihren seelischen. Unbewusste Vorur­ Aber bei den Gefühlskünsten Film und Oper regieren heute die teile beeinflussen unsere Entscheidungen häufig sogar gegen unse­ Werte des 19. Jahrhunderts, wie Gerard Mortier, der frühere Inten­ ren Willen. Denn wenn Unterdrückung weniger wird oder sich ver­ dant von Salzburg gesagt hat. ändert, ist sie schwerer zu erkennen – je unsichtbarer sie wird, Wir wissen, dass es das Schwierigste überhaupt ist, kulturelle desto wirksamer wird sie. Den „halb bewussten Dämmer zwischen Praxen zu verändern. Der gute Wille allein hilft nicht. Mehr als 90 Selbsttäuschung und Betrogenwerden"3 hat es der Kulturwissen­ Prozent von dem, was in unseren Gehirnen passiert, geschieht schaftler Hartmut Böhme mal genannt. „Herrschaft wandert in die unbewusst. Deshalb braucht es klare Regeln, denn unser Bauch­ Menschen ein“ 4, heißt es bei Adorno. Es ist mühsam, sie da raus­ gefühl ist ein schlechter Ratgeber. Da Vorurteile hartnäckig sind, zupulen, denn Herrschaft wirkt innerlich in unserem Denken und müssen wir die Spielregeln so gestalten, dass solche Vorurteile Handeln und äußerlich in der Politik, in Gesetzesänderungen und nicht zum Zug kommen. In unserem Grundgesetz heißt es, dass Gerichtsurteilen, in den Medien, in Bildung und Erziehung, in der der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung Wirtschaft, im Gesundheitsbereich, in der Sprache, in der Ernäh­ von Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung beste­

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Leonce Raphael Agbodjelou, Untitled (Demoiselles de Porto-Novo series), 2012, je 150 × 100 cm

hender Nachteile hinwirkt. Und deshalb schlage ich jetzt ein paar Instrumente der Steuerung vor, die das machen könnten. 1. Jede Förderinstitution wird verpflichtet, nach jeder Kommis­ sions- beziehungsweise Intendanten-Sitzung die Anzahl der ein­ gereichten Projekte insgesamt sowie die Anzahl der Projekte von Regisseurinnen inklusive Fördersummen zu nennen. Das ist eigent­ lich eine Selbstverständlichkeit in Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei allen Filmförderungen um öffentliche Gelder handelt. 2. In Österreich gibt es ein interessantes Punkte-System bei den Förderern, mit dem die eingereichten Projekte bewertet werden. Unter diesen Punkten ist nicht nur der, ob das Projekt von einer Frau stammt, sondern auch, welche Bilder in dem Projekt vermit­ telt werden. Kommissionen haben künstlerische Freiheit, das ist gut so. Aber zu oft verspielen sie diese Freiheit, weil Angst, Träg­ heit, vorauseilender Gehorsam, das berüchtigte Bauchgefühl oder der persönliche Geschmack der Lautstärksten siegt. 3. Der Kanon des deutschen Films, die 500er-Liste, muss über­ arbeitet werden und den Filmen von Frauen muss darin der Anteil gesichert werden, der ihnen gebührt. 4. Das Frauenfilmerbe muss gerettet werden. Die Filme der Gene­ ration der Frauen seit den 70er Jahren sind verstreut, die meisten sind gar nicht mehr bekannt. Sie sollten als zusammenhängender Corpus existieren, damit der Anteil der Frauen an der deutschen Filmkultur sichtbar wird. 5. Unsere männlichen Kollegen, die ein viel größeres Werk haben (durch die Gunst der Stunde und der Wertvorstellungen einer noch immer patriarchalischen Gesellschaft), gründen eigene Stiftungen. Bei den Frauen muss der Staat einspringen. Wir brauchen eine Stif­ tung, die sich der Koordination all dieser Forderungen und Maßnah­ men annimmt. Eine solche Stiftung verankert die Kenntnis der Filme

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von Frauen im öffentlichen Bewusstsein und sichert damit einen Teil der deutschen Geschichte. Wenn es die Murnau-Stiftung oder die DEFA-Stiftung nicht gäbe, würde auch die Kenntnis des deutschen Films der 20er und 30er Jahre und der DEFA-Filme verkümmern. Im Jahr 1975 habe ich meinen ersten Film über das Leben mei­ ner Mutter in 60 Jahren deutscher Geschichte gemacht. Meine Mutter sagt darin die Sätze: „Das Alte will ich nicht mehr und das Neue weiß ich nicht, wie das geht, und deshalb tue ich das Alte doch immer wieder.“ Das ist jetzt über 40 Jahre her. Inzwischen sollten wir besser wissen, wie wir das Neue befördern können, denn Hoffnung allein ist keine Garantie. Aber Hoffnung ist auch eine Art Energie, und die ist oft in Zeiten, in denen die Umstände dunkel sind, am stärksten. Die Parole für die nächsten Jahre heißt: hof­ fen und kämpfen, kämpfen und hoffen. 1 Slavoj Žižek, „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, Die Zeit, 13.11.2016. 2 Zitiert nach: Margarete Stokowski, Untenrum frei, Reinbek bei Hamburg 2016, e-book, ohne Seitenangabe. 3 Zitiert nach Marie Schmidt, „Schlachtfeld Frau“, Die Zeit, 8.3.2012. 4 Zitiert nach: Margarete Stokowski, Untenrum frei, Reinbek bei Hamburg 2016, e-book, ohne Seitenangabe.

JUTTA BRÜCKNER  Regisseurin (Film, Funk, Fernsehen), Autorin (Hörspiele, Essays, Theatertexte) und Produzentin eigener Filme war von 2009 bis 2015 Direktorin der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste, Berlin.

Die hier gekürzt wiedergegebene Rede hielt Jutta Brückner auf der Veranstaltung von „Pro Quote Regie“ in der Akademie der Künste am 12. Februar 2017. Ein Videomitschnitt findet sich unter proquote-regie.de.

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UNCERTAIN STATES II Johannes Odenthal

COLONIAL REPERCUSSIONS

Die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus wird von vielen als Themenkomplexe begonnen: mit zentralen künstlerischen Arbeiten, historisches Thema verstanden, als eine Vergangenheit, die über­ aber auch in den Diskussionen und Veranstaltungen. Zwei Beiträge wunden ist. Kolonialismus in unserem Verständnis ist aber vor allem in diesem Journal, die philosophische Betrachtung von Nikita Dha­ eine mentale Tradition Europas, die auf vielfältige Weise mit der wan und ein Auszug aus dem Statement von Nana Adusei-Poku, Gegenwart und noch mehr mit der Zukunft Europas verknüpft ist. beschreiben den Verrat an den Prinzipien der Aufklärung, aber auch Dafür gibt es erdrückende Argumente, von denen ich an dieser das utopische Potenzial einer postkolonialen Gesellschaft. Stelle allein drei Bezugsfelder andeuten möchte. Wie sehr Bildproduktion und Kolonialismus zusammenhängen, Erstens: Die europäische Aufklärung und damit die Grund­ wie eng rassistische Ideologie und künstlerische Recherche bei­ lagen der westlichen Wertegemeinschaft, der Wissenskanon, die einander liegen, zeigt der Beitrag von Uta Simmons zu einer Skulp­ Institutionen, die Sammlungen, sie hatten ihre materiellen Grund­ tur von Johann Gottfried Schadow, dem Porträt des „Mohren Selim“ lagen zu einem wesentlichen Teil in kolonialen Herrschaftsstruk­ von 1807. Dieser exemplarische Einblick in das Archiv verdeutlicht, turen. Und der Anspruch der universalen Gültigkeit der Aufklä­ dass auch die Künste keine Schonzone sind, wie es Edward Said rung, wie er bis heute behauptet wird, hat zugleich zu einer immer am Beispiel der französischen Literatur aufgezeigt hat. noch wirksamen Hierarchisierung von Kulturen geführt. Deswe­ Von ganz anderer Bedeutung in diesem Kontext ist das her­ gen ist eine Kritik der eigenen Gewissheiten essenziell für die ausragende kunsthistorische Werk zur afrikanischen Kunst aus Fortsetzung des Projekts Aufklärung. dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die Schriften von Carl Einstein, Zweitens: Frantz Fanon hat Europa zugespitzt als eine Krea­ die sich im Literaturarchiv der Akademie der Künste befinden. tion der Kolonien beschrieben. Die ehemaligen Kolonien und Europa Anneka Metzger beschreibt am Beispiel von Negerplastik (1915 sind so eng miteinander verflochten, dass ihre Geschichten nicht erschienen), wie Carl Einstein die afrikanische Skulptur durch den zu isolieren sind. Ein in die Zukunft gerichtetes Neudenken von Nachweis ihrer ästhetischen Autonomie einer europäischen Kunst­ Europa ist ohne diese historische Aufarbeitung undenkbar. Geht perspektive und damit einer Abwertung erstmals entzieht. es doch nicht allein darum, die Beziehungen zu Afrika, Asien, der Als Perspektivwechsel kann der Versuch unseres Mitglieds arabischen Welt oder Lateinamerika neu zu definieren, sondern Olafur Eliasson beschrieben werden, indem er mit seinem Team auch, die Migration von Millionen Menschen aus den Kolonien nach systematisch den Austausch mit Künstlern, Musikern und Dich­ Europa als Rückwirkung kolonialer Herrschaft zu begreifen. Sie tern in Addis Abeba gesucht hat. Ein Ergebnis ist der Poetry-Jazzund ihre Kulturen gehören längst zu Europa. Workshop Anfang August in der Akademie. Drittens: Eine entscheidende Grundlage des Kolonialismus ist das europäische Verständnis kultureller Überlegenheit. Diese JOHANNES ODENTHAL  ist Programmbeauftragter der eng mit dem Rassismus zusammenhängende Konstellation wirkt Akademie der Künste, Berlin. bis in die Gegenwart, bildet trotz der Emanzipation der Kolonien aus der europäischen Paternalisierung immer noch den Kern popu­ listischer Bewegungen. Der alltägliche Rassismus, die schleichende UNCERTAIN STATES II – colonial repercussions beginnt am Gewalt der Fremdbestimmung, sie bilden ein gravierendes Prob­ 25. Januar 2018 mit einer ersten Plattform zu den juristischen lem für Millionen von Europäern, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Grundlagen von Kolonialismus und Dekolonisierung in Namens, ihrer Religion oder ihrer Traditionen diskriminiert werden. Kooperation mit Wolfgang Kaleck. Externe Mitglieder des Bereits mit dem Akademie-Schwerpunkt Uncertain States Projektteams: Nana Adusei-Poku, Nikita Dhawan, Wolfgang Kaleck, Natasha A. Kelly (15. Oktober 2016 bis 15. Januar 2017) hat die Aufarbeitung dieser

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„Nicht nur sind wir von dem Leiden anderer weit entfernt, sondern es besteht eine gewisse Distanz zwischen dem, was in der Welt vor sich geht, und der Art, wie wir unser Leben führen. Als ich Martha Roslers Bilder zum ersten Mal sah, musste ich an Mark Twain denken und seinen provokativen Spruch, dass Gott den Krieg erfunden hat, damit der Westen Geografie lernt.“ Nikita Dhawan

Martha Rosler, Point and Shoot, 2008, aus der Serie House Beautiful: Bringing the War Home

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Nikita Dhawan

DIE SELBST BARBARISIERUNG EUROPAS

In seinem Buch Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa bemerkt Jacques Derrida, dass Europa immer die Tendenz hatte, sich selbst als kulturelle Kapitale der Welt zu sehen (vom lateinischen „caput“, Haupt oder Hauptstadt). Sei es als Anführerin der zivilisierten Welt oder der menschlichen Kultur

ganz allgemein, die Rolle der Norm-Produzentin, rechtlich oder soziokulturell, die Europa historisch für sich beansprucht, impli­ ziert, dass das, was für Europa als gut befunden wird, auch für den Rest der Welt gut ist. Diese Überzeugung geht mit einem ausge­ sprochenen Missionarsgeist einher und der Überzeugung, dass Europäerinnen und Europäer die Verantwortung dafür tragen, Frei­ heit, Recht und Gerechtigkeit auf der ganzen Welt zu verbreiten. Europa als Garant des Weltfriedens und der Demokratie ist eine Weiterführung der „Bürde des weißen Mannes“, d. h. der Verant­ wortung und Verpflichtung des europäischen Volkes, den Rest der Welt zu retten und aufzuklären. Wie die postkoloniale Wissenschaft bemerkt hat, besteht ein grundlegendes Hindernis bei der Deko­ lonialisierung Europas in seiner Unfähigkeit, der nicht-europäi­

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Martha Rosler, Photo-op, 2004, aus der Serie House Beautiful: Bringing the War Home

Europa, so die Politologin Nikita Dhawan, muss sich entschei­ den, ob es auf seiner selbstbehaupteten Führungsrolle beharrt oder sich „der Herausforderung gewachsen zeigt, ein neues Eu­ ropa zu schaffen, indem es sich angesichts von Differenz und Alterität verantwortungs- und respektvoll verhält“. Ein Plädoyer für ein zivilisiertes Europa.


schen Welt auf nicht-orientalistische und nicht-hierarchische Art zu begegnen. Diese Herausforderung ist neben der ökonomischen auch eine ethische, politische, psychoanalytische und philosophi­ sche. Wie sehr braucht Europa doch den Rest der Welt, um sich gut zu fühlen! Ein weiterer Aspekt ist das fehlende Eingeständnis, dass das europäische Gefüge vor allem aus seinen Beziehungen zu dem besteht, was als nicht-europäisch gilt. Wenn zum Beispiel Jürgen Habermas in seinem Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit – Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft nach Kant die aufblühende Kaffeehaus- und Salonkultur mit der Entstehung der deliberativen Demokratie in Verbindung bringt, versäumt er in sträflicher Weise zu erwähnen, unter welch ausbeuterischen und dehumanisierten Bedingungen Kaffee, Zucker und Tabak produziert wurden. Produkte, die dann für den europä­ ischen Konsum in diesen ehrenwerten bürgerlichen öffentlichen Sphären bereitgestellt wurden. Wenn Habermas uns die Geschichte der Entstehung der öffentlichen Sphäre in Europa erzählt, vergisst er geflissentlich, die materiellen Bedingungen zu nennen, die von den Kolonien gelieferte Infrastruktur, mit der die Aufklärung in Europa über­ haupt erst möglich war. An die­ ser Stelle möchte ich auf Frantz Fanon verweisen, der Europa buchstäb­ lich als eine Kreation der Kolonien bezeichnet, oder auf Salman Rushdie, der wunderbar das Pro­ blem der Briten beschreibt, dass ihre Geschichte woan­ ders stattgefunden hat. Weshalb sie sie nicht kennen. Dies ist mit ziemlicher Sicherheit nicht nur ein britisches Problem, sondern auch ein deutsches. Europas fortdauernde historische Unbildung geht einher mit seinem wiederholten Verrat an den Prinzipien der Aufklärung: Gleichheit, Brüderlichkeit, Mensch­ lichkeit, Demokratie und Gerechtigkeit. Der nichtssagende Mythos von Europas langem Marsch für Freiheit und Emanzipation wird mittlerweile sowohl von Postkolonialismus- als auch von Holo­ caust-Theoretikerinnen und -Theoretikern hinterfragt. Sie alle skizzieren eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf die europäi­ sche Idee und misstrauen der Selbstdarstellung Europas als Schutzengel der Aufklärung. In die Kritik ist diese selbstbeweih­ räuchernde Haltung auch durch die Aufdeckung der europäischen Selbstbarbarisierung in Form von Kolonialismus und Faschismus geraten. Für mich steht fest: Wenn Europa wirklich eine Quelle normativer Legitimität sein möchte, muss es diese Kritik ernst nehmen und seine historische Schuld den anderen gegenüber anerkennen. Ich stütze mich dabei auf Friedrich Nietzsches Schuldbegriff in Zur Genealogie der Moral, wo er mit den Begrif­ fen „Schuld“ und „Schulden“ spielt. Auf Nietzsche bezieht sich auch Derrida in seinem Argument, dass Schuldner und Gläubiger untrennbar miteinander verbunden sind, was das Geschenke- und das Schuldenmachen zu zwei Seiten derselben Medaille macht. Angesichts der verworrenen Hinterlassenschaften des Kolonia­ lismus und des Holocausts besteht eine dringende Notwendig­ keit, das Vermächtnis von Schulden und Schuld, das Europa immer wieder heimsucht, erneut aufzugreifen.

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In einem vielfach veröffentlichten Interview über die griechische Schuldenkrise wirft der Starökonom Thomas Piketty Deutschland vor, seine eigenen Schulden nie zurückgezahlt zu haben und sich daher der historischen Amnesie schuldig zu machen. Er unter­ streicht dabei, dass Deutschland ein ausgezeichnetes Beispiel für ein Land sei, das nie seine Auslandsschulden beglichen habe, weder nach dem ersten noch nach dem zweiten Weltkrieg, obwohl es andere Länder regelmäßig zur Kasse bittet. Laut Piketty haben Deutschland und die Deutschen ungeheuer von einem Schulden­ erlass profitiert und damit von einer Großzügigkeit, die sie anderen jetzt verwehren. Er erinnert uns daran, dass Europa auf dem Prin­ zip der Vergebung gegründet wurde, mit dem Schuldenerlass als wirtschaftlichem Aspekt dieser Vergebung. Während Europa in Bezug auf den Kolonialismus die Anerkennung seiner eigenen Schuld gegenüber den ehemaligen Kolonien bis heute schuldig geblieben ist und seine eigenen unbezahlten Schulden praktischerweise ver­ gessen hat, erwartet es von der nicht-europäischen Welt Dankbar­ keit, sobald es um seine Rolle bei Themen wie der Bewältigung der Flüchtlingskrise, humanitären Interventionen und historischen Hilfs­ paketen geht, die bis heute Spuren von Kolonialismus aufweisen. Solange Europa seine historische Schuld nicht anerkennt, besteht keine Hoffnung auf eine ethische Beziehung zwischen Europäern und Nicht-Europäern, denn durch die Ökonomie von Schuld und Verschuldung bleiben beide Seiten der postkolonialen Grenzlinie weiterhin in einer von Ungleichheit und Feindseligkeit geprägten Beziehung verhaftet. Wenn Europa aber in der Lage und willens ist, aus der Geschichte zu lernen, könnte die Entstehung eines postim­ perialen Europas zur Chance für einen demokratischen Neubeginn werden. Dieses zukünftige Europa wäre sich sowohl seiner Verant­ wortung gegenüber den Prinzipien der Aufklärung bewusst als auch kritisch gegenüber seinem historischen Erbe. Laut Derrida bedeutet die Annahme eines Erbes nicht, dog­ matisch an einer geerbten Tradition oder der sentimentalen Bezie­ hung zu diesem Erbe festzuhalten. Es beinhaltet auch nicht die simple Bestätigung dessen, was uns auferlegt wurde, sondern ruft uns zu verantwortungsvollem Handeln auf, indem wir das, was an uns weitergegeben wurde, sowohl bewahren als auch umgestal­ ten. Wenn es um ein ethisches Verhältnis zur europäischen Ver­ gangenheit geht, ist also nicht nur Europas Verhältnis zur nichteuropäischen Welt gefragt, auch das ethische Verhältnis zur eigenen Vergangenheit ist für das kommende Europa unerlässlich. Die Herausforderung ist also eine zweifache: Es geht nicht nur darum, sich für die europäische Idee einzusetzen, sondern auch darum, sie zu hinterfragen, um die historische Gewalt, die in ihrem Namen geschehen ist, nicht zu wiederholen. Noch bin ich nicht bereit, diese europäische Idee aufzugeben, nicht bereit, von die­ ser Vorstellung abzulassen, auch wenn ich sie kritisiere. Europa ist heute gefangen zwischen einem „nicht mehr“ und einem „noch nicht“. Die demokratisierenden Kräfte scheinen konstant von bru­ talem Nationalismus, Rassismus und Ausgrenzungsverhalten heim­ gesucht zu werden. Die Nicht-Europäerinnen und Nicht-Europäer sind für Europa eine Herausforderung, da sie sowohl an den Kolo­ nialismus erinnern als auch ein Überbleibsel desselben darstellen.

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Europa muss sich entscheiden, ob es seine alte Richtung – die moralische, wirtschaftliche und militärische Überlegenheit gegen­ über der nicht-europäischen Welt für sich zu beanspruchen – bei­ behalten will, oder ob es sich der Herausforderung gewachsen zeigt, ein neues Europa zu schaffen, indem es sich angesichts von Dif­ ferenz und Alterität verantwortungs- und respektvoll verhält. Die­ ses Experiment mit einem veränderten Europa würde die Förde­ rung von etwas mit sich bringen, das Derrida Autoimmunität nennt, und zwar Autoimmunität nicht in Form von Selbstzerstörung, son­ dern in Form einer Selbstdekonstruktion Europas. Der aus der Biologie stammende Begriff Autoimmunität passt hier sehr gut, denn er verweist auf Elemente, die durch eine Form der radikalen Kontamination gegen ihre eigenen Verteidigungsme­ chanismen vorgehen. Dabei ist Autoimmunität keine Störung, son­ dern Stärke und Schwäche zugleich. Das Subjekt bewacht und exponiert sich selbst, beschützt und gefährdet sich selbst, bewahrt und schadet sich selbst. Es ist sowohl selbstzerstörerisch als auch selbstschützend – Gift und Medizin zugleich. Hier ein Beispiel, ohne diese sehr philosophische Idee zu sehr konkretisieren zu wollen: Während der jüngsten Flüchtlingskrise setzten einige EU-Staaten wieder Grenzkontrollen ein und regulierten damit vorübergehend die Bewegungsfreiheit von EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern. Um Europa zu schützen und zu sichern, wurde eines der Grün­ dungsprinzipien der EU kompromittiert. Indem es sich selbst schützt, richtet Europa sich gegen sich selbst und nimmt zum eigenen Schutz die Eigenschaften seiner mutmaßlichen Feinde an. Diese Einschränkung der europäischen Freiheitsprinzipien impliziert, dass Europa sich sowohl abschafft als auch neu erschafft. Die Anwe­ senheit der postkolonialen Migrantinnen und Migranten wird zu einem Test der europäischen Verpflichtung gegenüber den Idea­ len der Aufklärung wie Menschlichkeit und Weltoffenheit. Der postkoloniale Theoretiker Homi Bhabha spricht über das Unheimliche der postkolonialen Migrantinnen und Migranten und bezieht sich dabei auf Freud. Nach Freud ist alles, was versteckt werden sollte, unheimlich. Wie die schmutzigen Geheimnisse, die jede Familie hat, Dinge, von denen wir wissen, über die wir aber nicht reden. Unheimlich ist, was geheim gehalten und versteckt gehört, aber unweigerlich ans Licht kommt. Und die postkoloni­ alen Migrantinnen und Migranten tun genau das, sie erinnern uns daran, dass Europa eine Kolonialgeschichte hat, die in Form des Neokolonialismus weiter andauert. Für Bhabha ist ihre Anwesen­ heit eine provokative Erinnerung daran, dass wir hier sind, weil ihr da wart. Was sie seiner Meinung nach unheimlich macht, ist ihre Fähigkeit, überall heimisch zu sein. Denn das ist jenen, die sich nur zu Hause heimisch fühlen, fremd. Das führt zu einem Orien­ tierungsverlust in Bezug auf das, was man unter Zuhause ver­ steht. Plötzlich hört man diese fremden Sprachen, sieht Men­ schen, die komische Kleidung tragen, anders riechen, anders reden, sich anders bewegen, und das verwirrt uns. Dieses Phä­ nomen hinterfragt eine sehr normative Vorstellung von Zugehö­ rigkeit und Heimat. Und damit droht natürlich auch der Verlust von Souveränität. Das Zuhause verwandelt sich in etwas zutiefst Unbekanntes, andererseits wird der Zufluchtsort zum Zuhause.

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Diese Desorientiertheit kann für Europa aber auch eine Chance sein, in aller Bescheidenheit – wenn es überhaupt bescheiden sein kann – eine Neubewertung vorzunehmen, das heißt seine eigenen Anmaßungen in Bezug auf Territorium und Zugehörigkeit neu zu bewerten. Angesichts dieser Unsicherheit würde Europas Verantwortung für den/die anderen beinhalten, dass es seine eigene territoriale Autorität und Herrschaft über Heim und Welt infrage stellt. Bleibt die Frage, ob Europa es schafft, gleichzeitig Hüter der europäischen Identität zu sein und sich selbst für Differenz und Alterität zu öff­ nen, indem es seine tiefsten Überzeugungen von Überlegenheit und Vorbildhaftigkeit aufgibt. Eine solche Verantwortung würde bedeu­ ten, diese beiden widersprüchlichen Imperative zu verhandeln. Um dies zu erreichen, muss Europa in einem transgressiven Akt der Selbsterfahrung und des Experimentierens mit dem Unmöglichen die eigenen Grenzen sowohl erkennen als auch überschreiten. Damit ginge natürlich eine Entallgemeinerung europäischer Normen und Werte einher. Nur durch die Dekonstruktion des Vokabulars des westlichen politischen Denkens kann sich ein neues politisches und ethisches Konzept entwickeln. Die geografische, wirtschaftliche und politische Größe, die wir als Europa begreifen, ist im Grunde das Resultat einer sehr komplexen kolonialen Raumproduktion, die zeitlich rückwärtsgewandt ist. Man will uns glauben machen, Geo­ grafie sei Schicksal. Man will uns glauben machen, Europa sei etwas, das wir über die Zeit auf dem Papier festlegen können, dabei ist es ein Konstrukt, das in gewisser Weise rückwärtsgewandt ist. Anstatt Europa als erkennbare Region mit einer Vormachtstellung in einer eurozentrischen Weltgeschichte zu betrachten, besteht die Her­ ausforderung darin, Europa in seiner Pluralität, in seiner Vielfalt und auch in seiner Unberechenbarkeit zu begreifen. Nicht als festen Ausgangspunkt, sondern als unmöglichen Zukunftshorizont. Darin liegen das Versprechen und die Herausforderung eines zukünfti­ gen postimperialen Europas. Die Europäerinnen und Europäer wür­ den gut daran tun, Gandhis Worte zu beherzigen, der auf die Frage eines Journalisten, was er von der europäischen Zivilisation halte, antwortete: „Das wäre eine gute Idee.“ 1 http://www.zeit.de/2015/26/thomas-piketty-schuldengriechenland/komplettansicht NIKITA DHAWAN  ist Professorin für Politikwissenschaft (Politische Theorie mit Schwerpunkt Frauen- und Geschlech­ terforschung) sowie Leiterin der Forschungsplattform Gender Studies: „Identities – Discourses – Transformations“ an der Universität Innsbruck, Österreich. Zuletzt veröffentlichte sie Negotiating Normativity: Postcolonial Appropriations, Contestations and Transformations (2016).

Den hier leicht gekürzten Vortrag hielt Nikita Dhawan am 11. Dezember 2016 im Rahmen der Vortragsreihe DISKURSE, einer Kooperation der Akademie der Künste mit der Bundes­ zentrale für politische Bildung (bpb) und Polis180 zu Uncertain States. Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen. Aus dem Englischen von Gaby Gehlen. Eine englische Fassung findet sich unter adk.de/dhawan.


Martha Rosler, Gray Drape, 2008, aus der Serie House Beautiful: Bringing the War Home

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Die Ästhetik des Fremden war auch für Johann Gottfried Schadow ein besonderer Reiz künstlerischer Arbeit. Sein Porträt des Suda­ nesen Selim entstand in einer Zeit, als in der Kunstphilosophie um die ideale Schönheit oder die naturalistische Darstellung als Leit­ bild gerungen wurde. Schadows Werk war bis zum 7. Juli 2017 in der Ausstellung Winckelmann. Moderne Antike in Weimar zu sehen. Die Plastik ist auch Gegenstand eines Forschungsprojektes der TU Berlin und der Gipsformerei der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz. In einem digitalen Verfahren wurde die Büste bestands­ schonend in einem dreidimensionalen Verfahren gescannt und mit Hilfe eines 3D-Druckers detailgetreu nachgebildet. Die Replik ist wiederum Grundlage für einen traditionellen Abguss.

DIE LUST AM FREMDEN – KLASSIZISMUS VERSUS REALISMUS Uta Simmons

Johann Gottfried Schadow, Selim du Darfour, 1807, Gipsbüste koloriert

Johann Gottfried Schadow, Kopfstudie eines Afrikaners, o. J., Lithografie, bez. „Neger aus dem Darfour, hat bei mir anno 1807 / 3 Monat gewohnt“

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„Selim du Darfour“ lautet die Inschrift am Sockel der braun gefassten Gipsbüste aus der Kunstsammlung der Akademie der Künste, die das Porträt eines jungen Sudanesen zeigt. Johann Gottfried Schadow, Bildhauer und langjähriger Direktor der Berliner Kunstakademie, hatte den Kopf des „Mohren Selim“, so der überlieferte Titel, inner­ halb weniger Tage im Dezember 1807 modelliert.1 Der Afrikaner wurde von Schadow auch mehrmals gezeichnet. Die beiden sche­ matisierten Umrisszeichnungen in Vorder- und Seitenansicht ent­ standen vermutlich schon 1807 als Vor- oder Nachzeichnung der plastischen Ausführung, während die 1823/24 in Schadows Schreib­ kalender erwähnten Zeichnungen vom „Neger des Prinzen Carl“ in Verbindung mit einer Lithografie genannt werden.2 Wer aber war Selim und vor allem, was veranlasste Schadow als Vertreter des Klassizismus, jenen Afrikaner zu porträtieren, war doch die antike Skulptur für ihn stets Vorbild seines künstlerischen Schaffens? Preußen befand sich zwischen 1806 und 1810 unter französischer Besatzung. Über die Herkunft des Dargestellten ist nur so viel bekannt, dass Selim aus Kairo stammen sollte und mit den napoleonischen Truppen im Gefolge des Artilleriegenerals Ruty nach Berlin gekommen war. Dieser hatte im Oktober 1807 für drei Monate in Schadows Haus Quartier bezogen. Den „Mohren Selim“ beschreibt Schadow als wohlgewachse­ nen jungen Mann, „indessen so kindisch, wie bei uns die Knaben von 10 Jahren. Der Tanz war seine Leidenschaft und durch harte Strafen nicht zu bändigen.“3 Schadow interessierte sich offenkun­ dig nicht für die Kultur des Fremden, sondern ausschließlich für die charakteristische Gestalt dieses Menschen. Bis ins hohe Alter beschäftigte sich der Künstler mit Fragen der Proportion und der menschlichen Physiognomie. Daher ist die Büste Selims im Zusam­ menhang mit seinen Studien zu den Nationalphysiognomien zu sehen, wo derselbe Kopf en face und im Profil auf Tafel IV abge­ bildet ist. Nachdem Schadow nach mehr als dreißigjähriger Ver­ messungs- und Sammeltätigkeit 1834 mit dem Polyclet sein gro­ ßes Lehrwerk zum Körperbau und den Proportionen des Menschen herausgegeben hatte, veröffentlichte er 1835 die Nationalphysiognomien als zweites Lehrwerk mit dem Untertitel: „Beobachtun­ gen über den Unterschied der Gesichtszüge und die äußere Gestal­ tung des Kopfes (…)“. Beide Lehrwerke richteten sich an die angehenden bildenden Künstler der Akademie. Seit der Antike hat es auf der Suche nach einem Idealbild immer wieder künstlerische Vermessungen des Menschen gege­ ben. Schadows Lehre von den Verhältnissen des menschlichen Körpers ist die formale Fortsetzung der antiken Ästhetik. In der Renaissance suchten Künstler wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer den menschlichen Körper anhand abstrakter Modelle als geometrisches Verhältnis von Kopf, Rumpf und Gliedmaßen zu bestimmen. Schadow hingegen führte seine Studien erstmals sys­ tematisch an konkreten, lebenden Personen durch und dokumen­ tierte seine empirischen Beobachtungen zur Gestalt des Menschen bis hin zu Namens- und Herkunftsangaben in Form von Zeichnun­ gen, die neben seinem Bemühen, im Individuellen etwas Norma­ tives zu finden, auch die „unendliche Verschiedenheit der Natur“ wiedergaben.4

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Streifenlichtaufnahme der Schadow-Büste

Den Anstoß zu seinen morphologischen Studien gab das Werk des holländischen Zoologen und Arztes Peter Camper, der glaubte, eine Entwicklungslinie von Affen über die sogenannte „Negerrasse“ zur weißen europäischen Rasse feststellen zu können und das Men­ schengeschlecht in drei große Gruppen einteilte: „die Mongolische, die Neger Race und die Kaukasische“. Dieser Einteilung folgte auch Schadow im Vorwort zu seinen Nationalphysiognomien.5 Er vermaß Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Alters und ethnischer Herkunft, um mithilfe von Gesichtswinkeln und Maßangaben den jeweiligen „Nationalcharakter“ zu erfassen, im Vorgriff auf die anthro­ pologischen Studien, die Ende des 19. Jahrhunderts populär wurden mit einer neuen Sicht auf den Menschen als Naturwesen. Durch Alexander von Humboldt und andere Forschungsrei­ sende hatte sich auch das Interesse an fremden Völkerschaften bei gebildeten Menschen verbreitet. Ähnlich der Humboldt’schen Pflanzenphysiognomie versuchte Schadow eine typologische Ord­ nung für die Erscheinungsformen der menschlichen Gestalt zu ent­ wickeln. Mit der vermessenden Aneignung der fremden Welt, die aus der Neugier der Aufklärung geboren war, deutete sich jedoch bereits jener imperialistische Gestus an, dessen Ambivalenz sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts immer deutlicher offenbaren sollte. Maßstab für die Vermessung des Fremden blieb stets das Ideal­ bild des männlichen weißen Europäers, das Schadow im Polyclet entwickelt hatte. Daher ist dieser eurozentristische Blickwinkel auch im Kontext des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts zu sehen.

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Seit etwa 1800 lassen sich in Schadows zeichnerischem Werk eine Vielzahl mehr oder weniger sorgfältig ausgeführter Bildnisse jeweils en face und im Profil nachweisen, darunter Zeichnungen von Chi­ nesen, Indern, Mongolen, Türken, Russen, Juden, Spaniern, „Eski­ mos“, Südseebewohnern und Afrikanern, die in Verbindung mit den Nationalphysiognomien entstanden sind und als Vorlagen für die 29 Bildtafeln des Lehrwerks dienten. Anschauungsmaterial für seine physiognomischen Studien fand Schadow zunächst in den Bildnissen seiner eigenen Verwand­ ten und im Kreis von Freunden, aber auch unter Reisenden oder den exotischen Fremden, die über Expeditionen nach Berlin gelang­ ten und wie im Fall Selims oder des Polynesiers Harry Maitey als Bedienstete in aristokratischen Häusern Aufnahme fanden. Neben seinen praktischen Studien griff Schadow auch auf eine Reihe theoretischer Werke zurück, darunter die Schriften des Schweizer Pfarrers und Begründers der Physiognomik, Johann Caspar Lavater, und – auf Anregung Goethes – die des Wiener Arz­ tes Franz Joseph Gall, dessen Vorlesungen zur Phrenologie Scha­ dow 1805 in Berlin selbst besuchte und durch Mitschriften in sei­ nen Notizheften ausführlich dokumentierte. Gemeinsam ist den beiden Ansätzen die Vorstellung, dass man von äußeren Merk­ malen wie Gesichtszügen oder der Form des Schädels auf innere Wesenszüge schließen könne – eine schon damals umstrittene Lehre, die sich aber großer Beliebtheit erfreute und im 19. und 20. Jahrhundert in pervertierter Form als Unterbau für Rassismus und Eugenik herangezogen wurde.

3D-SCAN UND 3D-DRUCK

Selims Einquartierung während der französischen Besatzung unter Napoleon bot Schadow eine willkommene Gelegenheit, den Ange­ hörigen einer afrikanischen Volksgruppe nach dem Leben zu model­ lieren. Dessen Porträt ist somit ein frühes, naturgetreues Abbild der für Schadow fremden Physiognomie, die ihn offenkundig fas­ zinierte. Er verzichtete bewusst auf eine antikische Drapierung, sondern stellte die charakteristischen Merkmale des Kopfes, das in klassizistischer Manier nach vorn gekämmte Haar und den mar­ kanten Unterkiefer in studienhaft einfacher Form dar. Gleichzeitig verlieh er dem Gesicht des jungen Afrikaners eine zurückhaltende, leicht melancholische Würde. Die Gipsbüste Selims gehört zu den wenigen plastischen Arbeiten Schadows, die ohne Auftrag ent­ standen ist. Er schenkte sie der Akademie, in deren Besitz sich das Werk bis heute befindet.

1 Vgl. Johann Gottfried Schadow, Schreibkalender, SMB-ZA, NL Schadow, Notizen zum 15.–23. Dez. 1807. 2 Vgl. ebd., Notizen zum 17. und 22.12.1823 sowie zum 12.1. und 22.7.1824. 3 Johann Gottfried Schadow, Nationalphysiognomien, 1835, S. 14. 4 Johann Gottfried Schadow, Polyclet, 1834, S. 25. 5 Vgl. Schadow, Nationalphysiognomien, S. 2.

UTA SIMMONS  ist Kunsthistorikerin und leitet das Medien­ archiv der Akademie der Künste, Berlin.

JOHANN GOTTFRIEDS SCHADOWS „SELIM“ Ziel des Forschungsprojekts der TU Berlin war die Erstel­ lung einer Abformung der Skulptur „Selim“ von J. G. Schadow im Maßstab 1:1 unter Verwendung moderner digitaler Technologien wie auch traditioneller Hand­ werkskunst. Der Scan konnte vor Ort in der Ausstellung im Schadow Haus im Streifenlichtverfahren vorgenom­ men werden. Für die digitale Stufe der Abformung wurde nach der Aufbereitung der Daten ein 3D-Druck im Pulver­ druckverfahren erstellt, der später in der Gipsformerei der Staatlichen Museen mit herkömmlichen Verfahren abgeformt werden wird. Am 3D-Labor werden für die Herstellung dreidimen­ sionaler Scans im Wesentlichen Streifenlichtscanner eingesetzt. Dieses Verfahren basiert darauf, eine Abfolge von Streifenmustern auf ein zu messendes Objekt zu projizieren und mit zwei Digitalkameras Bilder dieser Projektion aufzunehmen. Die Software des Scanners vergleicht diese Projektionen mit dem ursprünglichen Muster. Durch das Streifenlichtmuster ist eine relativ große Anzahl von Messpunkten auf den Grenzen zwi­ schen Licht und Schatten definiert, so dass mit jedem einzelnen Scan gleichzeitig Tausende von Punkten auf der Oberfläche eines Objektes bestimmt werden können, aus denen sich die sogenannte Punktewolke ergibt. Aus der Kombination aller Einzelscans, die alle Messpunkte repräsentiert, lässt sich in einem weiteren Arbeitsschritt

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Joachim Weinhold

die Oberfläche des gescannten Objekts generieren, indem jeweils drei benachbarte Punkte zu Facetten ver­ bunden werden. Sobald die Oberfläche einer solchen digitalen Repräsentation geschlossen – also gewisser­ maßen „wasserdicht“ – ist, kann sie für die Erstellung von 3D-Drucken verwendet werden. Vereinfacht ausge­ drückt, basieren die meisten 3D-Drucktechnologien dar­ auf, ein digitales Objekt in Schichtbilder aufzulösen und diese einzelnen Schichten der Reihe nach im jeweiligen Verfahren aufeinander aufzubauen. Digitale 3D-Technologien haben mittlerweile vielfäl­ tige Anwendungen in der wissenschaftlichen Arbeit von Museen und bei der Unterstützung von Ausstellungs­ konzepten gefunden. Ihre Bedeutung für die Dokumen­ tation, digitale Archivierung und Verfügbarmachung von Kulturgut wird mit Sicherheit weiter zunehmen. Die Sicherung digitaler dreidimensionaler Repräsentationen ist dabei nur ein Aspekt – wenn auch ein sehr umfang­ reicher. Die Bandbreite möglicher Anwendungen reicht von der Erstellung von Repliken über die Unterstützung der Restaurierung von Exponaten und weit darüber hinaus.

JOACHIM WEINHOLD  ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am 3D Labor des Instituts für Mathematik, TU Berlin.


„DIE AFRIKANISCHEN SKULPTUREN!“

CARL EINSTEINS MANIFEST ÜBER KUNST Anneka Metzger

Carl Einstein, Negerplastik, Titelseite der Erstausgabe, erschienen 1915 in Leipzig im Verlag der Weißen Bücher

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„Plastik ist keine Angelegenheit der naturalistischen Mas­ se, sondern lediglich der formalen Klärung“, schreibt Carl Einstein in seinem 1915 erschienenen Buch Negerplastik. Seine zukunftsweisende Abhandlung mit dem opu­ lenten Abbildungsteil hat den Blick auf die sogenannte primitive Kunst nachhaltig verändert, schon allein weil Einstein – bereits im ersten Satz des Textes – unmiss­ verständlich zur Kunst erklärte, was zu Anfang des 20. Jahrhunderts lediglich als dekorative Artefakte die impe­ rialistisch geprägte Exotismus-Sehnsucht befriedigte. Jedoch auch dass er die afrikanischen Skulpturen unter rein formalästhetischen Kriterien betrachtete, war auf­ sehenerregend und gab erst den Anstoß für einen Dis­ kurs über afrikanische Kunst. Ihren Kunstcharakter erkannte er in ihrer Autonomie (das Kubische, die Simul­ taneität der Form, die Vollendung des Kunstwerks in der Betrachtung), er erfasste sie als „bedingungsloses, geschlossenes Selbständiges“ und stellte so der euro­ päischen Kunstauffassung seit der Neuzeit mit ihren Prämissen der Naturnachahmung, des Illusionismus, der Frontalität der Betrachterposition ein Modell gegenüber, das die künstlerischen Bewegungen der Avantgarde argumentativ untermauerte. Sein Text ist daher nicht nur eine kunsttheoretische Würdigung der afrikanischen Plastik, sondern ein universelles Manifest über Kunst, das mit überkommenen und starren ästhetischen Vor­ stellungen des Abendlandes aufräumt. Wahrnehmung, wie er sie in den plastisch gearbeiteten Gottheiten, Tier­ figuren und Masken herausgefordert findet, konzipierte er formal-tektonisch: Sie fixiere den „Raum des Kunst­ werks unmittelbar“ und bezwinge ein „von begrifflichen

Erinnerungen geschwächtes Sehen“. Damit lieferte er der kubistischen Raumauffassung eine theoretische Grundlage. Carl Einstein führte seine Überlegungen zur „Neger­ plastik“ (wobei „Neger“ dem Sprachgebrauch der Zeit entsprach und keine Herabwürdigung ausdrückte) unmit­ telbar vor und während des Ersten Weltkriegs aus. Der Text fiel in eine durch die Auswirkungen der Industriali­ sierung, des rasanten technischen und wissenschaftli­ chen Fortschritts und des Kolonialismus krisengeschüt­ telte Zeit, die auch Kunst und Literatur an einen kritischen Wendepunkt brachte: Wie kann diese Welt adäquat in (literarischen) Kunstwerken dargestellt werden? Eine Frage, die von den Avantgarde-Künstler/innen der Zeit mit unterschiedlichsten ästhetischen Experimenten und der Erweiterung des Kunstbegriffs beantwortet wurde. In diesem Sinne ist auch Einsteins Text keine Kampf­ schrift gegen den Kolonialismus – er enthält keine eth­ nografischen oder historischen Einordnungsversuche –, sondern eine fundierte Auseinandersetzung mit den aktu­ ellsten ästhetischen Fragestellungen der Zeit. Einstein erweist sich dabei als ungemein geschickter Sprachkünst­ ler, der sich der prekären Beziehung von gestalteter Form und Erscheinung, von Sprache und Wirklichkeit bewusst ist. Wo nötig, werden die Konventionen der Sprache dezi­ diert dem exklamatischen Ausdruckswillen unterworfen und die abstrakte Generalisierung, wie „man“ über Kunst zu urteilen hat, den stereotyp denkenden Europäern zugeordnet, wenn der Text an sie appelliert: „Ich glaube, sicherer als alle mögliche Kenntnis ethnographischer usw. Art gilt die Tatsache: die afrikanischen Skulpturen! Man wird das Gegenständliche, respektive die Gegen­ stände der Umgebungsassoziationen ausschalten und diese Bildungen als Gebilde analysieren. Man wird ver­ suchen, ob sich aus dem Formalen der Skulpturen die Gesamtvorstellung einer Form ergibt, die denen über Kunstformen homogen ist. Eines jedoch wird unbedingt zu befolgen, eines zu vermeiden sein: man halte sich an die Anschauung und schreite innerhalb ihrer spezifi­ schen Gesetze fort; nirgendwo aber unterschiebe man der Anschauung oder dem aufgespürten Schöpferischen die Struktur der eigenen Überlegung.“ Nicht zuletzt diese sprachlich-rhetorischen Kunstgriffe, mit denen Einstein die afrikanische Kunst ins kunsttheoretische Bewusst­ sein rückte, machen die Negerplastik zu einem anti-impe­ rialistischen Werk.

ANNEKA METZGER  ist Referentin der Archivdirektion der Akademie der Künste, Berlin.

Das Archiv des Schriftstellers und Kunsthistorikers Carl Einstein wird im Literaturarchiv der Akademie der Künste verwahrt: https://archiv.adk.de/bigobjekt/7062. Das Archiv beginnt derzeit eine Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt (HKW), Berlin, das eine Ausstellung vorbereitet, die sich dem Werk Carl Einsteins um 1930 widmet. Diese Ausstellung – im Rahmen des Langzeitprojekts „Kanon-Fragen“ – wird kuratiert von dem Kunsthistoriker Tom Holert und Anselm Franke, Bereichsleiter Bildende Kunst und Film des HKW. In diesem Zusammenhang wird der literarische Nachlass Carl Einsteins an der Akademie der Künste digitalisiert und online zur Verfügung gestellt.

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WHAT

MATTERS Nana Adusei-Poku

Glenn Ligon, Condition Report, 2000, zwei Teile, je 81,3 × 57,8 cm

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Welche Erfahrungen machen Menschen, deren Stimmen aus dem Diskurs des politischen Mainstreams ausgegrenzt werden? Die Au­ torin und Theoretikerin Nana Adusei-Poku erläuterte im Rahmen des Panels Uncertain Bodies, „worauf es ankommt“. Ein Auszug

Studierende protestieren gegen Rassismus an der Stellenbosch-Universität, Südafrika

Der Titel meines Vortrags lautet „What Matters – Worauf es an­kommt“, denn darüber denke ich in letzter Zeit sehr viel nach: über das, „was auf dem Spiel steht“, eine Frage, die aus einem Gefühl der Unsicherheit heraus kommt und für mich als Pädagogin, als Nicht-Weiße Person, als queere Schwarze Frau in Europa, die oft zwischen den USA und Europa pendelt, immer wieder aufkommt. Untitled „I am a Man“ von Glenn Ligon geht zurück auf ein Protestschild, das während der Bürgerrechtsbewegung häufig zu sehen war. Genauer gesagt wurde es zur Zeit der Bürgerrechtsbe­ wegung während des Müllabfuhrstreiks 1968 in Tennessee benutzt. Ligon ist ein amerikanischer Maler, der in der New Yorker Bronx geboren wurde. Dieses Werk ist von 1991. 2000 schuf er eine Erwei­ terung unter dem Titel Condition Report. Warum malt ein Schwar­ zer Mann „I am a man“ nach diesem Protestschild aus einer Zeit, als er drei Jahre alt war? Eine mögliche Erklärung lautet, es sei eine Reaktion auf die HIV/AIDS-Krise in New York und die ReaganAdministration gewesen und habe die Situation der Schwarzen in den frühen 1990er Jahren hinterfragt. Ich zeige dieses Bildes zum einen, weil ich das Kunstwerk wirklich sehr mag, und zum anderen, weil seine Forderung bis heute nichts an Relevanz verloren hat. Verwendet man wie Ligon Emailfarbe und Ölfarbe zusammen, ergeben sich beim Trocknen sofort Risse, sodass die Zeit schon im Entstehungsprozess ihre Spuren hinterlässt und das Gemälde auf materieller Ebene historisiert. Für mich treffen Schild, Gemälde und Symbol die Essenz dessen, worum es bei der Gewalt gegen Schwarze Körper immer wieder geht. Aber nicht nur körperliche, auch epistemologische Gewalt ist mit diesem Bild verbunden sowie die Frage, warum Schwarze Personen ihr Menschsein überhaupt einfordern müssen. Die Frage nach dem Menschsein, wer als Mensch zählt und wer nicht, stellt sich mit jeder Schwarzen Per­ son, die auf der Straße erschossen wird. Und ich rede nicht nur von Schwarzen Männern, ich rede von Schwarzen Frauen, ich rede von Schwarzen Trans-Menschen, ich rede von Schwarzen Personen mit Behinderungen, körperlichen wie geistigen, ich rede auch von all jenen Studierenden, die in meine Seminare kommen und bei­ spielsweise diese Arbeit von Glenn Ligon nicht kennen, ebenso wenig wie die Geschichte der Sklaverei und der Rassifizierung. Das

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ist die schleichende Gewalt, eine epistemologische Gewalt, die sowohl die Schwarze Geschichte als auch unsere Präsenz und unsere Körper in der Gegenwart auslöscht. Wenn ich dieses Gemälde mit dem Spruch „Black Lives Mat­ ter“ in Verbindung bringe, möchte ich damit klarstellen, dass diese Forderung immer noch relevant ist und nicht ohne ihren histori­ schen Kontext betrachtet werden kann. Ich werde Ihnen aber keine brutal ermordeten schwarzen Körper oder Ähnliches zeigen. Ich denke, die haben wir alle zur Genüge gesehen, sodass sich darum tatsächlich schon ein Wirtschaftszweig gebildet hat: die Ökono­ mie des Konsums von Schwarzem Schmerz und Tod, selbst wenn diese als Beweismittel angeführt werden, wie im Fall von Eric Gar­ ner, der „Ich bekomme keine Luft mehr“ gerufen hatte. Diese Bil­ der haben heute mehr Unterhaltungswert, als dass sie forensische Beweisstücke darstellten oder gar einen Grund für Empathie und Veränderung, wie einige vielleicht argumentieren würden. Ich finde es extrem wichtig, zu betonen, dass #Blacklives­ matter von Schwarzen Queer-Frauen ins Leben gerufen wurde, denn das wissen die meisten gar nicht. Und sie wissen auch nichts von dem Folge-Hashtag, der lautet: #SayHerName (sag ihren Namen). #SayHerName wurde eingeführt in Zusammenarbeit mit der Theoretikerin Kimberlé Crenshaw, deren Texte sich großer Beliebtheit erfreuten, nachdem sie in vielen juristischen Fällen auf das Konzept der Intersektionalität hingewiesen hatte, also die Über­ schneidung von verschiedenen Diskriminierungsformen in einer Person (auch „multidimensionale Diskriminierung“). In der Darstel­ lung wie im Diskurs von und über #BlacklLivesmatter werden Schwarze Frauen und Schwarze Trans-Menschen konsequent mar­ ginalisiert. Ob es um Gender geht oder um Sexualität, um ethni­ sche oder um Klassenzugehörigkeit, um Alter, Behinderung, NichtBehinderung etc., wir müssen stets bedenken, dass diese unterschiedlichen Kategorien in ihrem Zusammenspiel die Posi­ tion schaffen, die wir in der Welt innehaben. Für einige schaffen sie Gewissheit und Vorrechte, für andere hingegen reproduzieren sie Gewalt und Ungewissheit hinsichtlich ihrer Sicherheit und ihrer Existenzgrundlage. Der Kampf gegen das heteropatriarchale Pro­ jekt, das eine Auseinandersetzung mit diesen Themen unterdrückt, ist für mich aktuell der wichtigste Kampf. Solange wir diese Über­ schneidungen nicht in unsere Überlegungen einbeziehen, in unse­ ren Alltag, unseren Aktivismus, unsere Solidarität, unsere Lehre und unser Kunstschaffen, werden wir nicht weiterkommen. NANA ADUSEI-POKU ist Theoretikerin, Autorin und Pädagogin und lehrt in den Studiengängen Kunst & Medien und Fine Arts (Master) an der Zürcher Hochschule der Künste. Unter dem Namen N+ entwickelt sie gemeinsam mit Künstler*in NIC Kay Projekte, in denen sich Performance, Pädagogik und Aktivismus überschneiden und vermischen.

Das Panel fand am 3. Januar 2017 im Rahmen des Ausstel­ lungsprojekts Uncertain States – Künstlerisches Handeln in Ausnahmezuständen an der Akademie der Künste, Berlin, statt. Aus dem Englischen von Gaby Gehlen.

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Im Herbst 2012 nahm die Alle School of Fine Arts and Design in Addis Abeba das Institut für Raumexperimente und seine Teilnehmenden für zehn Wochen im Rahmen eines kollaborativen Lehr- und Lernexperimentes bei sich auf. Kunst bietet Orte der Verbundenheit, an denen unterschiedliche Arten der Wahrnehmung und des Seins koexistieren. Dies spiegelt sich in der Lyrik-Affinität unseres Programms wieder, wo sogar die Betonung eines Wortes Teil des poetischen Momentes wird: Wenn ich ‚heart‘ (Herz) sage, in der Absicht dich zu erreichen und zu berühren, kann es sein, dass du ‚art‘ (Kunst) verstehst. Olafur Eliasson (Gründungsdirektor des Instituts für Raumexperimente)

Mihret Kebede

SAGEN, ÜBER DIE STILLE Dieses Gedicht. Dieses Gedicht handelt, ist das Gegenteil und das Gleiche, wie Mihrets Gedicht: Inhalt und Veränderung werden vermischt. Dieses Gedicht entsteht durch das, was es sagt, das es ist, wenn es fragt: Geliebte, Stadt, was bist du so still? Dieses Gedicht spricht, von Menelik, dem König. Von Gold und Ideen, Butter, Stolz und Milch. Dieses Gedicht lässt Verstimmtes, Geschichte in sich, lässt die Stille nicht zu, nimmt sie auf. Dieses Gedicht ruft nach allen Bürgerinnen und Bürgern einer Stadt, als seien sie einer oder eine. Dieses Gedicht ist selbst eine Stadt, eine Sage, die nach Worten klagt, um für Verlorene, auf Wahrheit zu bauen: mit Wegen, Häusern, Hühnern, Kühltruhen, Händen und dem sanften Mond, mit Abendlicht und Zähnen, Zungen, Zäunen und Injera-Brot. Diese Stadt, sie brütet, hütet sich, fragt nach den Stimmen: Wieso sind sie so still? Dieses Gedicht ist voller Liebe. Es beruht auf Klängen, Kehllauten, einem warmen Vokal, und sehr vielen I’s. Dieses Gedicht ist Addis Abeba. Ist Ankara. Athen. Alabama. Jakata. Aber auch Wien. Es schämt sich nicht, es trägt das Gold, von dem es spricht. Dieses Gedicht handelt, wie Butter, Sahne und Milch, vom richtigen Filtern und Schütteln: vom Frei Schütteln, Auf Schütteln Aus Schütteln Um Schütteln Wach Schütteln Nach Schütteln, Vor Schütteln Voll Schütteln Voll – Dieses Gedicht fragt nach Königen, wie nach großen Ideen. Es macht die Stimmen zum König. Macht mächtig, macht Macht. Es handelt vom Handeln, aus der Stille. Dieses Gedicht ist nicht still.

MIHRET KEBEDE  tritt am 5. August an der Akademie der Künste im Rahmen von Poetry Jazz: Wax and Gold auf, einer Poesiereihe des

Amharisches Gedicht von Mihret Kebede

Instituts für Raumexperimente, Berlin, in

Resonanz-Gedicht von Rike Scheffer

Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin.

Englische Übersetzung von Nebiy Mekonnen und Eric Ellingsen

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TALES OF SILENCE For he who listens silently to silence, amidst serenity so tranquil, amidst those silenced, and silence spoken through tales of how Menelik aptly said: silence has its own say! From what you and I talked about, so far, so long, which one is left to love, which one is left to hate? From the status cue above, from that forbore talking to the villagers from above, and to the person made of talk, with no benefit even for himself, who by a void thought to try to shadow tales spying on the very truth of the people. Woe to him, who by a slight sound became a coward, inflicting hidden injury, letting thousands get killed. Countrymen! What is this mishap, this catastrophe that rained on our people? Is a stronger silence needed to be heard? Why is the city at the centre of silence while it has some truth to tell? Should I challenge what reigns with new telling stories telling silence on behalf of the people who lost their voice to history? And I say vehemently, as Menelik aptly said: silence has its own say! Still my thoughts punished by other thoughts, thinking how many kings shall we expect, how many tales shall sound unheard silence anew? Now my country whips a cream like butter extracted from shaken milk. Still, now, here I am with a stringent question ever unanalysed ever unanswered. Though thought so silent, so through thought so unquiet, so the neighbourhood tells me its tale in tranquillity, so narrating its history, dissolving its history and stealing mine. Now my old neighbour’s old tale tells like a dagger: ‘The mere ancient silence, a bolt from the blue for the king, a whisper to God.’ So said the old neighbour, so made us in despair, so nullifies my life, so by a zero cancelled. So he, by telling his tale of past silence was loud enough to be heard. And this reduces me to a non-acting generation that can’t make its own history its own history. And yet, here I am, still here, still losing a city within a city. Still asking a question that I fight still in each passing day: ‘O! Dear city, dear city, In your silent village, you are within a “Wax – and – Gold” complexion. And to distil the Gold, how many eras shall we exhaust? How many thoughts shall we crush until we raise a sound king, who can listen to our silence.’


NICHT DAS LAUTSTARKE TROMMELN IST UNSERE AUFGABE,

SONDERN DAS NACHDENKEN

Jeanine Meerapfel, Filmemacherin und Präsidentin der Akademie der Künste, im Gespräch mit Rainer Esser, Geschäftsführer der ZEIT-Verlagsgruppe und Stellvertretender Vorsitzender der Ge­ sellschaft der Freunde der Akademie der Künste, Berlin RE

Über 300 Jahre Akademie der Künste und Sie sind die erste Präsidentin. Weshalb hat es so lange gedauert, bis eine kluge Frau hier Präsidentin geworden ist? JM   Dass es Jahrhunderte gedauert hat, bis überhaupt eine Frau als Mitglied gewählt wurde, spricht Bände. Ich habe aber stets meine Hoffnung betont, nicht wegen meines Geschlechts gewählt worden zu sein, sondern in dem Vertrauen, dass ich als Präsiden­ tin vernünftige Arbeit leisten würde. Über mein Werk kann man ja sehen, was für ein Mensch ich bin. Wenn man Filme macht und 100 Mitarbeiter am Set hat, muss man wissen, wie man führt, was man will. Außerdem habe ich anderthalb Jahre lang die Kunsthochschule für Medien Köln geleitet. Das heißt, ich kenne mich in diesen Struk­ turen etwas aus. RE   Die Akademie der Künste bedeutet ein hohes Maß an Verantwortung. Welches sind die Akzente, die Sie setzen möchten? JM   Ich bemühe mich um Internationalisierung und habe erreicht, dass alle unsere Mitteilungen zweisprachig sind. Lingua franca ist Englisch. Denn Berlin ist eine kosmopolitische Stadt und Deutsch­ land ein kosmopolitisches, ein europäisches Land. Die Akademie soll entsprechend offen sein für alle Menschen – auch die, die nicht Deutsch sprechen. Ich versuche auch viele Gäste aus dem Aus­ land in die Akademie-Gespräche einzubeziehen, setze mich dafür ein, dass wir europäisch denken. Ebenso wichtig ist die politische Auseinandersetzung mit der Zeit, in der wir leben. Das rücken wir verstärkt in den Fokus.

JOURNAL DER KÜNSTE 03

RE   Sie haben im Augenblick viel zu tun. 20 bis 30 Jahre lang konnte die Politik mit kleinen Auseinandersetzungen „vor sich hinwerkeln“, denn die letzten großen Aufregungen gab es zu Zeiten von Helmut Schmidt mit der Roten Armee Fraktion und im Anschluss daran mit den Friedensdemonstrationen gegen die Nachrüstung. Dann kam Helmut Kohl, 16 Jahre mit ruhi­ ger Hand. Mit Gerhard Schröder und seiner Agenda gab es erneut ein bisschen Aufregung und darauf folgten bisher 12 Jahre Angela Merkel, wieder ruhige Hand. Doch die heutigen Zeiten sind unruhig. Der Brexit war der erste Weckruf, dann die US-Wahl. Es sind hochpolitische Zeiten. Ist es im Rahmen Ihrer Tätigkeit spannender geworden, Einfluss auf die Gesell­ schaft zu nehmen? JM   Wir haben den Auftrag, die Bundesregierung zu beraten. Wenn eine rechtspopulistische Partei in den Landtag einzieht, sagen wir unsere Meinung. Und wenn es in der Türkei so weit kommt, dass ein deutsch-türkischer Journalist festgenommen wird, nur weil er dem türkischen Präsidenten nicht passt, dann veröffentlichen wir eine Erklärung dazu. Den Text zur Türkei haben wir bei der letzten Mitgliederversammlung gemeinsam verabschiedet. Die ruhige Zeit, von der Sie sprechen, ist tatsächlich vorbei. Aber eventuell woll­ ten wir auch nicht sehen, dass wir sie nur hatten, weil es anderswo alles andere als ruhig zuging. Vielleicht müssen wir in Europa genauer hinschauen, was um uns herum vorgeht. Auf jeden Fall ist es eine Zeit, in der Künstler, Journalisten, überhaupt Menschen, die bewusst in ihrer Zeit leben, überlegen müssen: Wie geht es wei­ ter, was können wir dazu beitragen, Aufklärung zu betreiben? Das sind Fragen, die uns beschäftigen.

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RE   Auch viele junge Leute, die sich für Politik nicht interes­ sierten, gehen jetzt auf die Straße und demonstrieren für Europa. Das ist fantastisch. Andererseits leben wir in einer Zeit, in der die so genannte Ökonomie der Aufmerksamkeit immer wichtiger wird. Jeder kann in kürzester Zeit irgendwo hinfliegen, kann online Wissen aller Art abrufen, kann Geschäfte machen, die Kommunikation ist immens schnell geworden. In einer solchen Situation muss auch eine Akade­ mie stärker um Aufmerksamkeit kämpfen. JM   Das habe ich bewusst nicht zu meiner Priorität gemacht. Nicht das lautstarke Trommeln ist unsere Aufgabe, sondern das Nach­ denken. Jeder, der etwas produziert, fragt sich: Wie erreichen wir die Massen, wie laut müssen wir trommeln? Das ist nicht die Hal­ tung der Akademie, es war auch nie meine Haltung als Künstlerin. Gerade weil wir in einer überhitzten Gesellschaft leben, müssen wir haltmachen, müssen uns umschauen, wo wir uns befinden. Wie geht es weiter, was können wir tun, um die Werte zu erhalten, die uns wichtig sind? Ich würde daher gerne von Ihnen hören, ob Sie diese Themen auch bei der ZEIT besprechen.

70 Jahre Frieden ziehen nicht automatisch weitere 70 Jahre Frieden nach sich

den haben. Ich würde mir wünschen, dass sich die Akademie ein wenig mehr in diese Richtung öffnet. JM   Wie stellen Sie sich das konkret vor? RE   Durch Themensetzung und die entsprechende Einladung von Multiplikatoren. Das ist auch bei der ZEIT ein häufiges Thema. Sich denen gegenüber zu öffnen, deren Bildungsstand nicht so hoch ist, die sich aber eben auch für Kunst und Kul­ tur interessieren – ohne dass das Niveau sinkt. Man muss das Spektrum erweitern, muss neben den sehr gebildeten Krei­ sen neue Gruppen einbeziehen. JM   Das ist eine Gratwanderung. Einerseits will man junge Leute ansprechen und Menschen, die sich gewöhnlich nicht so intensiv mit Kultur befassen, andererseits will man nicht populistisch wer­ den. Auch aus diesem Grund verstehe ich – wie schon mein Vor­ gänger Klaus Staeck – die Akademie als Arbeitsakademie. Also nicht als Institution, die sich zurückzieht und im Elfenbeinturm nachdenkt, sondern als eine, die produziert. Das haben wir in unse­ ren letzten Ausstellungen – beispielsweise in Uncertain States – gezeigt, bei denen alle Sektionen zusammengearbeitet haben, gemeinsam mit dem Programmbereich und dem Archiv. Die Aka­ demie hat sich sehr weit geöffnet. Aber man kommt irgendwann an eine bestimmte Grenze. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich mache ein Akademie-Gespräch über Europa. Natürlich könnte ich einen Menschen vom rechten Rand einladen und damit Aufsehen erre­ gen. Dann würde die Presse kommen, es wäre das Thema des Tages. Das tue ich aber nicht. RE

Das machen wir auf unseren ZEIT-Veranstaltungen übri­ gens auch nicht. JM   Wo kann ich also andere Gruppen dazuholen? Das Beste ist tatsächlich, sich an Multiplikatoren zu wenden – gute Erfahrun­ gen haben wir mit dem Symposium Gedächtnis und Gerechtigkeit gemacht, das wir gemeinsam mit einer Organisation von Menschen­ rechtsanwälten veranstaltet haben, dem European Center for Con­ stitutional and Human Rights (ECCHR). Sie haben ihre Klientel mit­ gebracht, Menschen, die vermutlich noch nie in der Akademie waren. Das fand ich sehr spannend. RE

RE

Die ZEIT ist sicherlich eine etwas andere Zeitung, weil wir viele Leserinnen und Leser haben, die so denken, wie Sie es eben über die Akademie und sich selbst beschrieben haben: Es sind Menschen, die eher an nachhaltiger Entwicklung, an Bildung und an den Künsten interessiert sind als am Trom­ melwirbel. Insofern sind die ZEIT und die Menschen, die für sie arbeiten, prädestinierte Freunde der Akademie. JM   Was wünschen Sie sich Ihrerseits von der Akademie? RE   Die Akademie ist zu einem großen Teil – und das meine ich als Qualität – recht elitär. Sie hat etwas so Besonderes, Nachhaltiges, das man auch nutzen sollte, um Menschen Kul­ tur näherzubringen, die von Haus aus nicht so viel damit zu tun haben – nicht zuletzt, weil sie bisher keinen Einlass gefun­

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Sie sagten vorhin, Deutschland sei ein kosmopolitisches Land. Und auch in dem Gespräch mit Louis Lewitan im ZEITMagazin vom November 2015 haben Sie sich sehr positiv über die Willkommenskultur geäußert. Damals herrschte eine sehr offene, positive Atmosphäre – und dann hat es diesen Back­ lash gegeben. Hat sich Ihr Bild von Deutschland als offenem Land wieder verfinstert? JM   Nein. Verfinstert hat sich mein Blick durch die Entwicklungen, die ich in Ungarn, in Polen, in den USA, in England beobachte. Es ist an der Zeit, noch intensiver darüber nachzudenken, was wir dem Rechtspopulismus entgegensetzen können. Das wird aller­ dings schwierig, weil wir unser eigenes Niveau nicht senken dür­ fen. Und doch glaube ich, dass Deutschland – zumindest im Moment – sehr gute Chancen hat, kosmopolitisch, offen und demo­ kratisch zu bleiben.


RE   Da stimme ich Ihnen zu. Im Gegensatz zu den USA haben wir über 300 Zeitungen mit größtenteils ordentlichem Niveau, haben Nachrichtensender, die nicht ideologisch geprägt sind, haben das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Auch die schreck­ liche Vergangenheit spielte eine Rolle, weil sie vielen Men­ schen hier bewusst ist und weil weiterhin in den Schulen daran erinnert wird. Geschichte ist ein fortlaufender, organischer Prozess, da gibt es keinen Schlussstrich. Insofern ist der Popu­ lismus in Deutschland, der jetzt ja wieder deutlich unter 10 Prozent liegt, keine eklatante Gefahr. JM   Andererseits gibt es natürlich immer wieder Anzeichen dafür, aufmerksam zu bleiben. Ich hatte eine lange Diskussion mit dem Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz über die Tatsa­ che, dass die NPD vom Bundesverfassungsgericht nicht verboten wurde. Herr Benz und viele andere haben gute Gründe zu sagen, besser so. Ich empfinde es nicht so. Ein Land muss eine klare Hal­ tung zur eigenen Geschichte haben: Die NPD sollte verboten wer­ den. Vielleicht übertreibe ich, aber das sind die Tage, an denen ich überlege, ob meine Koffer in Reichweite sind. RE

Sie haben einen geschärften Blick auf Deutschland, weil Sie als junge Frau aus dem Ausland hierhergekommen sind. JM   Ich denke, dass viele Menschen diesen Blick haben. Wir leben ja in eben diesem Deutschland, das während der Studentenrevolte in den 1960er Jahren aufgewacht ist und die Elterngeneration gefragt hat: Was ist los, warum habt ihr nicht geredet, was habt ihr gemacht? Diese jungen Deutschen haben das Gesicht des Landes für immer verändert. RE

Aber 70 Jahre Frieden ziehen nicht automatisch weitere 70 Jahre Frieden nach sich. Krieg hat es immer gegeben. Alle zehn bis zwanzig Jahre zogen Franzosen gegen Deutsche oder umgekehrt und Deutsche gegen Polen und Dänen. Die über 70 Jahre Frieden sind also eher eine Ausnahme denn die Regel. JM   Deshalb ist Europa so wichtig. Das Konzept einer europäi­ schen, transnationalen Republik ist eine bedeutsame Idee. Viel­ leicht lässt sie sich nicht realisieren, aber solange es diese Utopie gibt, besteht Grund zur Hoffnung. RE   Das große Thema Gerechtigkeit hat sich auch der Kanz­ lerkandidat der SPD, Martin Schulz, auf die Fahnen geschrie­ ben. Haben Sie den Eindruck, dass es in Deutschland relativ viele Menschen gibt, denen es nicht gut geht und die aus eige­ ner Kraft ihre Umstände nicht verbessern können? JM   Verglichen mit anderen Ländern ist die Zahl nicht so hoch, aber es sind dennoch zu viele. Und sicherlich müssen wir als Intellektu­ elle und als Kulturschaffende uns um diese Themen verstärkt küm­ mern. Und wir müssen auch fragen: Woher kommen diese Unter­ schiede? Gibt es Wege, die die Kultur gehen kann, um sie zu ändern? RE   Wir müssen uns eingestehen, dass wir für vieles, was passiert, mitverantwortlich sind. JM   Und das ist der Punkt, oder? Dass wir über unsere gesell­ schaftliche Verantwortung mit den Mitteln der Kunst nachdenken.

JOURNAL DER KÜNSTE 03

Ein Programm, das uns hier viel beibringen kann, ist die Konfron­ tation zwischen Benjamin und Brecht. Wir werden im Herbst die­ ses Jahres – auch dank der Unterstützung des Freundeskreises – eine große Ausstellung unter dem Titel Benjamin und Brecht. Denken in Extremen eröffnen. Stellen wir uns vor, es gelingt uns, bei einem jungen oder auch älteren Menschen die Lust zu wecken darüber nachzudenken, was Benjamin zu Brecht und was Brecht zu Benjamin gesagt hat. Wie und warum haben sie die Dinge anders gesehen? Das ist unsere Aufgabe! RE   Und all dies bei einem auch nicht gerade überborden­ den Programmbudget … JM   Deswegen ist ja auch die Rolle der Freunde der Akademie so wichtig. Sie haben in den USA studiert und gelebt, wo es kaum staatliche Kulturförderung gibt, aber sehr viele Mäzene. Wäre das ein System, dass Ihnen auch für Deutschland vorschwebt? RE   Kulturhistorisch bedingt ist in den USA der Staat auf vielen Ebenen weniger aktiv als bei uns. Als ich in Georgia studierte, war ich beinahe jeden Abend eingeladen durch diverse private Initiativen, die Treffen organisiert haben. Der Staat unternimmt wenig in dieser Richtung, dafür sind die Menschen viel hilfsbereiter, wenn es drauf ankommt. Viele Menschen haben mit Bildung, mit Zeitungen, mit Büchern zwar relativ wenig zu tun. Gleichwohl gibt es immer wieder positive Ausreißer. Dazu gehören auch Unternehmer, die der Universität, an der sie studiert haben, zehn Millionen Dollar geben und sagen: Unterstützt mit den Zinsen laufende Pro­ jekte. Dieser Gemeinsinn ist in den USA in einer bestimmten Schicht weit ausgeprägter als in Deutschland. Hier wird gerne das, was man erwirtschaftet hat, den Kindern vererbt. Das ist gut so, aber wenn man einen Teil der Gemeinschaft gäbe, wäre es noch besser. JM   Das ist allerdings etwas, was sich aus der Geschichte des Landes entwickelt hat. Ich finde es durchaus wichtig, dass der Staat sich für die Kultur und die Kunst zuständig fühlt. Aber natürlich: Eigeninitiative ist nötig. Es wäre wünschenswert, dass die Gesell­ schaft der Freunde der Akademie etwas ist, wozu man gehören muss, wenn man etwas gelten will … Wenn man ein wunderschö­ nes Buch liest und sich dadurch etwas in der eigenen Fantasie auf­ tut, ist das eine unglaubliche Bereicherung. Dasselbe passiert mit der Kultur und der Kunst, auch wenn sie auf den ersten Blick eli­ tär oder schwierig erscheinen mag. Zu vermitteln, welcher Spaß und welche Freude damit verbunden sind – das, glaube ich, kön­ nen Freunde einer Akademie leisten: indem sie zeigen, es ist eine pure Freude, was man dort bekommt. Nicht Verpflichtung, Freude. Wenn wir das gemeinsam hinbekommen, wäre es wunderbar.

Das Gespräch fand am 29. März 2017 in der Akademie der Künste, Berlin, am Pariser Platz statt.

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DIE PLEITE, 2005; Plakatierung in Berlin vom 1.10. bis 1.12.2005

DIE AKTUALITÄT DER GESCHICHTE KATHARINA SIEVERDING Anke Hervol

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2017 konfrontieren uns die Folgen der Finanzkrise und der Anstieg der Migration in die Europäische Union mit Entwicklungen, die viele für Phänomene der Vergangen­ heit hielten: Nationalistische und antiliberale Parteien erleben einen Zustrom und bedrohen die Demokratie in Europa, die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise, das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber etablierten Medien wächst – geschürt durch einzelne Demagogen – und die Verbreitung einer fremdenfeindlichen Einstellung ist unübersehbar. „Die Akademie der Künste, Berlin, und ihre Mitglieder haben den Auftrag“, so die Jury des KätheKollwitz-Preises 2017, Jochen Gerz, Karin Sander und Klaus Staeck, „in Zeiten des Populismus, der Regression und der Nostalgie die eigene Position und das Wirken ihrer Institution im Kontext, als Teil der Gegenwart und der Vergangenheit zu verdeutlichen. Was heute Tag für Tag durch den Reißwolf der Aktualität geht, ist die Aktu­ alität der Geschichte. Was nicht heutig ist, ist morgen weg. Auf diesem blütenweißen Malgrund der Amnesie gedeiht die Nostalgie nach einer immerzu gleichen Zeit, einem bildhaften Paradies, das sich weder ändern will noch muss. Die Kunst ist keine Pille gegen diese Nos­ talgie, das erfuhr schon Käthe Kollwitz als Frau und als Künstlerin in ihrer Zeit. Man könnte deshalb sagen: Das müssen wir heute nicht mehr lernen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Gerade das ist es, was alle Gesellschafts­ schichten täglich neu erlernen müssen. Auch die Kunst ist Teil des Spiels, das verloren werden kann. Und auch Käthe Kollwitz forderte ihre Kollegen und Kolleginnen auf, die Gesellschaft nicht zu vergessen, wenn sie an die

künstlerische Produktion gehen. Die Gesellschaft, das ist jede und jeder vor sich selbst.“ Katharina Sieverding ist eine Ausnahmekünstlerin. Sie stellt seit den 1960er Jahren grundsätzliche Fragen zu den künstlerischen, poli­ tischen und gesellschaftlichen Bedingungen für Produk­ tionsprozesse und für die Rezeption der Kunst. Als erste deutsche Künstlerin leitete Katharina Sie­ verding vor fünfzig Jahren das Zeitalter der großforma­ tigen Fotokunst ein. Ihr Grundthema ist seitdem die „Identität als Individualität und Dividualität und als kol­ lektives Individuum“. Film, Fotografie und die mit diesen Medien möglichen Transformationsprozesse standen stets im Hauptfokus ihres Schaffens. Sie erregte inter­ nationale Aufmerksamkeit mit ihren Close-up- und Enface-Porträts, Color-Großfotos, monumentalen raum­ bezogenen Multi-Channel-Projektionen, Fotoserien von mehrfach übereinander geschichteten, re-fotografier­ ten weiblichen und männlichen Ektachrome-Porträts. Die Düsseldorferin vereint in ihrem Œuvre Aspekte des Archivierens und des kulturellen Gedächtnisses, der Selbstreflexion, das Analytische sowie den Einfluss der Massenmedien und neuester Technologien auf das Indi­ viduum, dem sich heute keiner mehr entziehen kann. Ihr kreativer Umgang mit dem Politischen – nicht zitieren, benutzen, sondern „politisch schaffen“ – zeichnet sie als Käthe-Kollwitz-Preisträgerin 2017 besonders aus. Für ihre Ausstellung anlässlich der Ehrung hat die Künstlerin eine zusammenhängende ortsspezifische künstlerische Intervention mit 19 großformatigen Arbei­ ten im Format 252 × 356 cm entwickelt, die zum Teil seit


den 1990er Jahren im städtisch-öffentlichen Raum groß­ flächig plakatiert wurden: Zu sehen sind Werke wie SCHLACHTFELD DEUTSCHLAND, das anlässlich der RAF-Debatte 1978 entstanden ist, BOMBENSICHER BUNDESKUNSTHALLE BONN, 1983 in einer Plakat­ mappe mit Künstlern für die Bürgerinitiative Bonn für das Bundeskunsthallenprojekt gefertigt, DEUTSCHLAND WIRD DEUTSCHER und DIE PLEITE, 1993 und 2005 beide in Berlin großflächig im öffentlichen Raum plaka­ tiert, oder auch ART GOES HEILIGENDAMM, 2007/2008 als Teil künstlerischer Interventionen vor Ort anlässlich des G8-Gipfels entstanden. Sieverdings jüngstes Pro­ jekt ist eine Plakataktion an über 60 Stellen im öffentli­ chen Raum, die in Düsseldorf gemeinsam mit der Flücht­ lingsinitiative STAY! und der fiftyfifty Galerie ins Leben gerufen wurde und ein deutliches Statement gegen Ras­ sismus und Populismus formuliert. „Flucht ist ein Men­ schenrecht!“, so Katharina Sieverding. Künstlerisch zitiert ihre Arbeit GLOBAL DESIRE II einerseits die Biografie des Palästinensers Edward W. Said, andererseits kom­ binierte sie für die Montage die Luftaufnahme von einem syrischen Flüchtlingscamp in Jordanien, in dem mehr als

100.000 Menschen leben, mit dem Foto zweier russischer Soldaten mit einem Geschoss. Eine zeitgeschichtliche Referenz auf Ereignisse in Düsseldorf und das Kunstgeschehen weltweit ist ein mehr als 40-jähriges Fotoarchiv, das sie erstmals 2010 aufgearbeitet hat. Basis dieser Revision waren jedoch nicht Negative, sondern sogenannte Teststreifen (Test­ cuts), eigentlich fragmentarische Nebenprodukte des analogen Vergrößerungsprozesses. In digitalen Monta­ gen aneinandergereiht, liefern diese einst zufälligen Bild­ ausschnitte jeweils 580 Fotomontage-Triptychen, um eine individuelle, ahistorische Erinnerungskonstruktion von Personen, Ausstellungen und Ereignissen seit 1966 erlebbar zu machen. In der 9-Kanal-Installation TEST­ CUTS 1966–2010 werden diese friesartig auf die Wand projiziert. In zeitversetzten Intervallen wird das Konvo­ lut ständig wechselnder fotografischer Motive zugespielt, so dass eine Annäherung an kinematografische Prozesse erfolgt. Fluktuierende Bildkonstellationen entwerfen ein visuelles System aus inhaltlichen und motivischen Schnittstellen, Verbindungslinien, Referenzebenen und Reflexionsräumen.

ANKE HERVOL ist Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste, Berlin.

Die Ausstellung Käthe-Kollwitz-Preis 2017. Katharina Sieverding findet vom 12. Juli bis 27. August in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, statt. Sie gibt einen umfangreichen Überblick über Sieverdings öffentliches Handeln, Wirken und die Kunstszene weltweit und ergänzt so die umfangreiche Retrospektive Kunst und Kapital. Werke von 1967 bis 2017, die bis zum 16. Juli 2017 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn zu sehen war.

Kunst existiert nicht im Elfenbeinturm, sondern im gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Susanne Kleine, Kuratorin, Bonn

BOMBENSICHER BUNDESKUNSTHALLE BONN. Die letzten Knöpfe sind gedrückt., 1983 Plakatmappe 11 namhafter Künstler, initiiert von der Bürgerinitiative Bonn 1983 zur Unterstützung des Bundeskunsthallenprojekts

GLOBAL DESIRE II, 2017 Plakataktion fiftyfifty, Düsseldorf

JOURNAL DER KÜNSTE 03

XI/78, SCHLACHTFELD DEUTSCHLAND, 1978

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JUNGE AKADEMIE

KAFFEEFAHRT MIT STIPENDIATEN Eine Kurzgeschichte von Patrick Hofmann

Drei Tage, nachdem ich die Doodle-Umfrage abgeschickt habe, um einen Termin für eine Gesprächsrunde mit den Stipendiaten der JUNGEN AKADEMIE zu finden, habe ich zwei positive Antworten für zwei verschiedene Ter­ mine. Easy scheduling … Aber vielleicht ist die Akademie der Künste auch nicht der richtige Ort. Christi Himmel­ fahrt steht vor der Tür. Ein Ausflug am Herrentag? Ich rufe meine Tante Heidrun an. Sie ist weit über die Familie hinaus bekannt für zwei Dinge: ihren Kosmo­ politismus und ihren Kaffee. 1973, zu den Weltfestspielen, schenkte ihr eine italienische Studentin eine EspressoMaschine. Ein vielbestauntes Ding in der DDR. Ich erzähle von den tollen Künstlern, die gerade in der Stadt sind, schwärme von der Authentizität eines Schreber­ gartens. Sie sagt, die Männer seien an dem Donnerstag sowieso alle unterwegs: Ich könne ruhig vorbeikommen. Ich verspreche, eine Quarktorte zu backen.

Seit 2003 haben wir diese Mauern. Mitten durch Bagdad. Mauern, die die Stadt zu vielen kleinen Städten machen. Akram Assam

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Auf die neue Einladung bekomme ich vier positive Ant­ worten. Ich hole die Stipendiaten am Hanseatenweg ab. Akram Assam, der Theaterregisseur aus Bagdad, und Arturo Domínguez Lugo, der Choreograf und Kostüm­ designer aus Mexiko-Stadt, wohnen in den Ateliers dort. Der deutsche Filmemacher und Drehbuchautor Nikias Chryssos kommt als letzter. Er lebt seit zehn Jahren in Berlin. Lucía Simón Medina hatte kurz vorher abgesagt. Also eine Herrenrunde. Nikias und Arturo setzen sich auf die Rückbank, Akram nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Die Fenster offen. Ein sonniger Tag. Mein alter Peugeot schafft sogleich Nähe zwischen uns. Was bedeutet das Stipendium für euch? Nikias macht den Anfang: Als Filmemacher kommt man ja sehr früh – zumindest fühlt sich das so an – in eine sehr kommerzialisierte Umgebung. Da geht es schnell um Jobs, Jobperspektiven und Business und weniger um die Kunst des Filmemachens. Als ich an der Film­ akademie studierte, sagte ein Professor, ein großer deutscher TV-Produzent, zu mir: Oh, du hast dich für den nicht-kommerziellen Weg entschieden!, was mich überraschte, denn mir war nicht bewusst, dass ich so eine Entscheidung getroffen hatte. Für mich ist eine Institution wie die Akademie der Künste eine ganz besondere Situation. Dadurch kommt man raus aus dem

Mikrokosmos der deutschen Filmindustrie, wovon ich natürlich auch ein Teil bin. Ich möchte eine Balance finden zwischen Film als Job und Film als Kunstform. Meine Situation in Bagdad, meint Akram, ist anders. Die Künstler bekommen keine Unterstützung vom Staat. Der ist auf den Krieg mit Isis fokussiert. Man muss sein Projekt selbst auf die Beine bringen. Mit privatem Geld. Ich bemühe mich immer um Kontakte zu Stiftungen oder zu Plätzen außerhalb von Irak. In Berlin geben sie mir perfekte Voraussetzungen: ein kleines Budget für mein Projekt und für mein Leben. Ich kann Theatervorstellungen und -schulen besuchen, Workshops, um mich und meine Arbeit zu verbessern. Ich kann hier etwas lernen. In Irak haben wir die ganze Zeit Krieg. Seit 2003 ist die Situation sehr schwierig. Wir haben keine Schulen für die zeitgenössischen Künste. Wir haben ein College und ein Institut der Bildenden Künste. Die sind sehr klassisch orientiert. In Mexiko, so Arturo, der dritte im Bunde, bin ich mit meinem Tanzensemble Amplio Espectro beschäftigt. Ich muss dort so viele Dinge erledigen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich jetzt Zeit, mich einer einzigen Sache zu widmen. Mein Projekt ist sehr interdisziplinär und von vielen Themen inspiriert: Modefotografie, Theater, Visual Arts, Video. Die Möglichkeiten hier sind ganz neu. Mit den anderen Künstlern. Zu Hause muss ich mit meinen Projekten Geld verdienen. Wie arbeitet ihr zusammen? Nikias beugt sich vor, damit ich ihn besser verstehe. Das Wichtigste ist erst einmal, ob wir uns in dieser Gruppe wohlfühlen. Die Leute kommen aus sechs verschiedenen Bereichen und sind sehr unterschiedliche Persönlichkeiten. Die Architekten haben normale Jobs. Was die Komponisten machen, ist sehr abstrakt und für die meisten nicht so leicht verständlich. Ich bin sehr neugierig, gerade was die Sachen betrifft, die ich nicht verstehe, wie Neue Musik. Für mich ist es ein Geschenk, einfach dazusitzen und jemand erzählt mir etwas Neues. Ob man dann etwas gemeinsam macht, ist erst einmal nicht so wichtig. Als Filmemacher arbeite ich sowieso mit Leuten aus unterschiedlichen Bereichen zusammen.


Die Zusammenarbeit, sagt Arturo, ist nicht nur, ein Stück zu machen. Seine schwarzen Haare fallen ihm links über die Schulter. Zwei Ohrringe links, eine große Tätowierung auf dem rechten Unterarm, blaulackierte Fingernägel. Zusammenarbeit ist für mich schon die Verbindung mit anderen Menschen. Woher sie sind, ist für mich nicht so wichtig. Durch die Mitte, Alexanderplatz. East Side Gallery. Akram zieht einen interessanten Vergleich: Seit ich das erste Mal hier war, vor drei Jahren, habe ich die Vorstellung, dass Berlin und Bagdad gleich sind, aber zeitversetzt. Nach dem Weltkrieg gab es in Berlin die Mauer. Jetzt haben wir in Bagdad die gleiche Mauer. Zwischen den Stadtteilen. Das war die Idee der amerikanischen Armee, um die einzelnen Gebiete der Stadt besser kontrollieren zu können. Seit 2003 haben wir diese Mauern. Mitten durch die Stadt. Mauern, die die Stadt zu vielen kleinen Städten machen. Wir können da nicht durch. Wir müssen immer zum Checkpoint. Am Checkpoint untersuchen sie dich und dein Auto. Wenn ich hier durch die Stadt gehe und Teile der Mauer sehe, sehe ich das gleiche wie in Bagdad. Das gleiche Design. Die gleichen Mauern, nur die Zeit ist verschieden. Das ist unsere Situation. Wir haben keinen Freiraum. Wir verlieren unsere Kulturgebäude. Die Regierung kümmert sich nicht um die alten Gebäude. Anders als hier. Hier wird alles restauriert. Eines der ältesten und schönsten Kinos Iraks hat der Staat weggegeben. Jetzt sind dort Autowerkstätten drin und Geschäfte für Ersatzteile. So geht der Staat mit der Geschichte um. Ich will nicht schlecht über mein Land reden. Aber das ist unsere Situation. Und das sind Effekte der Mauer. Die sieht man überall. In der Mitte der Stadt gibt es die Green Zone. Vielleicht habt ihr davon gehört. Das Regierungsviertel, die amerikanische Botschaft und eine Mauer drumherum. Die größte amerikanische Botschaft in der Welt. Ich fahre hoch auf die Frankfurter Allee und dann immer die B1 entlang, an der Stasi-Zentrale in der Norman­ nenstraße vorbei, bis zum Tierpark und noch ein Stück. Habt ihr schon konkrete Projekte? Anfangs dachte ich ja, wir haben hier jeden Tag Unterricht. Akram lacht. Er trägt einen grauen Pullover und Jeans. So hatte ich das Wort Akademie verstanden. Mein Fehler. Aber es ist ganz anders. Sie haben uns ein Programm geschickt. Wir folgen einem Programm. Im Moment, sagt Nikias, reichen wir Ideen ein. Für September. Da gibt es einen Workshop und dann eine Ausstellung. Vielleicht mache ich etwas über den Bau, also das Gebäude der Akademie. Es gibt dort ein Studio für elektroakustische Musik mit einem ganz alten Synthesizer, aus Ostdeutschland, glaube ich. Es soll ziemlich schwierig sein, Töne aus dem rauszukriegen. Es dauert immer so 30 Minuten, bis der einen Sound ausspuckt. Vielleicht kann ich dazu etwas mit einem anderen Stipendiaten machen, vielleicht mit einer Komponistin. Vielleicht kann dieser Synthesizer, er lacht, irgendeinen Geist in dem Haus hervorlocken. Angekommen in Karlshorst, müssen wir noch eine Weile durch die Kleingartenanlage laufen. Der Tisch ist schon

JOURNAL DER KÜNSTE 03

gedeckt. Ich packe die Quarktorte aus, schneide die Stücke, während sich meine Tante mit den Stipen­ diaten bekanntmacht. Ihr Englisch ist gut.

Erinnerungen der anderen Künstler vergleichen. Heidrun reicht die erste Tasse über den Tisch zu Arturo. Was für Erinnerungen?

Wie viele Wochen seid ihr schon in Berlin? Vier Wochen, sagt Akram. Wie ist es? Nice, sagt Akram. It’s great, sagt Arturo. Weshalb? Arturo lacht. Es ist eine große Stadt. Die Leute sind amazing. Aber deine Stadt ist größer. Ja, aber ganz anders. Mexico-City ist verrückt. Eine harte Stadt. Hier ist es inspirierender für mich. Die Ruhe. In Mexico-City rennen die Leute die ganze Zeit herum. Hier die Parks … Also ist das eine Art Urlaub für dich? Arturo lacht. Für mich, sagt Akram, ist es nicht das erste Mal in Berlin. Das erste Mal war ich hier für einen Workshop, und die ganze Zeit waren wir als Gruppe unterwegs. Jetzt bin ich hier allein oder mit meinen Freunden. Ich entdecke die Stadt. Es gibt viel mehr Möglichkeiten als in Bagdad. Wir haben nicht viele Theater. Wir haben keine Street Art. Wir haben das Nationaltheater, wo ich jetzt arbeite. Wir haben das Arabische Theater und einen Raum für die Jungen, das wir Form-Theater nennen. In Berlin kann ich ganz einfach ein Theaterstück auswählen und mit der U-Bahn hinfahren. Außerdem ist die Performance hier ganz anders. Ja, in Mexico-City gibt es zwar auch viele Kulturver­ anstaltungen, aber nicht so viele Optionen. Tanz und Performance-Theater sind noch nicht so entwickelt wie hier. Gestern waren Akram und ich in der Schaubühne. Es war fantastisch. Ja, drei Bühnen in einem Ort. Meine Tante geht in den Bungalow und kommt mit einem blinkenden Gestell voll bunter kleiner Verpack­ ungen zurück. Ich verstehe nicht. Dann trägt sie einen schwarz-silbernen Kasten aus dem Häuschen, stellt ihn auf den Beistelltisch, steckt das Kabel in eine Verlängerungsschnur auf dem Boden. Ich bin sprachlos. Wo sind deine Espresso-Maschinen? Heidrun zuckt die Achseln. Rainer, my husband, hat mir die zum Geburtstag geschenkt. Und die anderen Maschinen weggeräumt. Sie verzieht das Gesicht. Die Stipendiaten nehmen es gelassen. Es sei doch großartig, mit Einheimischen Kaffee zu trinken. Ich will gerade den Kuchen verteilen, als mein Onkel mit seinen beiden Söhnen und noch drei Kumpanen auf Fahrrädern klingelnd durchs Gartentor fährt. Na, was gibts denn hier Feines? Auch das noch, denke ich. Heidrun runzelt die Stirn und wirft die Kaffeemaschine an. Zum Glück sind die Männer nur leicht alkoholisiert. Sie sprechen nicht nur Englisch, sondern interessieren sich für die Gäste, fragen nach der Akademie und was die drei dort machen. Ich habe, sagt Akram, mit meinem Projekt angefangen. Es geht um meine Erinnerungen. Die möchte ich mit den

Erinnerungen aus meinem ganzen Leben. Die möchte ich auf die Bühne bringen. Ich möchte – auf verschiedene Weise – darüber sprechen, woran ich mich erinnere. Als eine Performance. Vielleicht eine Stunde lang. Über vier Abschnitte meines Lebens. Das will ich im September probieren und dann auch darüber diskutieren. Ich verbringe hier drei Monate, und jeden Tag wird sich etwas ändern. Wenn ich rausgehe und Theatervor­stellungen oder Performances besuche, sehe ich, was das Publikum hier braucht, was es möchte, was es für Unterschiede im Vergleich mit Bagdad gibt. Das fließt in mein Projekt ein. Die zweite Tasse bekommt Akram, der sich höflich bedankt. Ich mag, sagt Arturo, die Transformation der Körper der Objekte. Ich mag es, einen Körper in einen Raum zu stellen und zu sehen, was die Transformation des Körpers ist. Alles ist für mich ein Körper. Diese Kaffeetasse hier ist ein Körper. Der Tisch ist ein Körper.

Für mich ist es ein Geschenk, einfach dazusitzen und jemand erzählt mir etwas Neues. Nikias Chryssos

Mein Cousin Steffen sieht ihn gespannt an. Ich kann das auf Englisch nicht so gut erklären. Ich denke die ganze Zeit auf Spanisch. Mich interessiert das Unsichtbare, springt Nikias ein. Unsere blinden Flecken, die toten Winkel unserer Weltsicht. Das, worauf wir nicht achten, worüber wir hinwegsehen, Dinge, die uns vielleicht unangenehm sind oder die nicht zu unserem Selbstbild passen. Wie ich das sichtbar machen kann als Filmemacher. Zum Beispiel? Naja, das ist etwas plakativ, aber wir kritisieren andere Länder, etwa wegen Verletzungen der Menschenrechte, machen aber Geschäfte mit ihnen, vielleicht sogar Waffengeschäfte. Die Kaffeemaschine kocht eine Tasse nach der ande­ ren. Jeder kann sich eine Sorte aus dem Gestell aussuchen. Mich interessieren, sagt Nikias, auch Heilungsrituale, Trance-Zustände, Voodoo. Das zu erforschen. Mittlerweile haben alle ein – kleineres – Stück Kuchen

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vor sich. Schokolade gibt es auch. Mein Cousin Sven holt noch Kekse aus dem Bungalow. Als Heidrun der Dampfpresse die letzte Tasse für sich selbst abzapft, quietscht die Maschine, als ob sie sich eine Pause verdient hätte. Heidrun schlägt einmal drauf. Bei einer großen Runde kommt die Maschine an ihre Grenzen. Schmeckt doch, sagt einer der Freunde von Rainer, seine Kaffeetasse absetzend. Heidrun bedenkt ihn mit einem verächtlichen Blick. Und ob der schmeckt, sagt Rainer und bestellt eine zweite Tasse. Die kannst du dir schön selber machen, sagt Heidrun auf Deutsch. Wie gefällt euch Berlin?, fragt Steffen. Es ist so natürlich hier, sagt Arturo. Die Parks. In MexicoCity ist die Natur so weit weg. Berlin ist nicht überall so grün, wendet Nikias ein. Warst du auch schon in anderen Bezirken? Ja. Immer, wenn ich ihn anrufe, Akram lacht, sagt er, er ist draußen. Arturo lächelt. Ja, aber trotzdem. Es ist verschieden hier. Nicht so chaotisch. Oder anders chaotisch. Ich weiß nicht. Lachen. Noch jemand eine Tasse?, fragt Rainer auf Englisch. So viel hält die gar nicht aus, entgegnet Heidrun. Ich glaube, auch die Künstler spüren die Spannung. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, hierherzukommen? Einen Kaffee könnt ihr doch noch trinken?, sagt Rainer. Das Ding hält keine zehn Tassen mehr durch, sagt Heidrun. Und ob! 15 Tassen! Locker! Rainer schaut erst seine Söhne, dann seine Kumpel an. 15 more cups? Heidrun lacht höhnisch. No chance! I bet yes!, sagt er. I bet no!, sagt sie. Ich blicke beunruhigt zu den Stipendiaten, ob wir uns nicht schnell noch verabschieden sollten, bevor der Ehekrieg eskaliert. Aber sie schauen gespannt auf das Paar. Und wenn ich gewinne, entsorgst du das Ding und bringst mir meine Italiener zurück. Abgemacht! Na gut, denke ich: Trinken wir die blöde Maschine kaputt, damit meine Tante endlich wieder guten Espresso kochen kann. Meine Tante holt noch zwei Kartons mit kleinen bunten Kaffeepatronen aus dem Bungalow. Ein kleiner Pfeif­ ton, den die Maschine nach der dritten Tasse von sich gibt und bei der fünften sogar noch etwas lauter, treibt sie und die Kaffeetrinker an. Das Fiepen der Dampf­ maschine wird immer lauter. Bei der achten Füllung verbrennt sich Heidrun die Finger … Wir starren auf die Maschine, wie sie knirschend und pfeifend arbeitet bei der neunten Tasse. Wie sie den Sud aus sich presst für die zehnte. Bei der elften Tasse pfeift der Kasten auf dem letzten Loch. Es kann nicht mehr lange dauern, und das Ding fliegt uns um die Ohren. Die Kumpel meines Onkels rücken etwas ab von dem Beistelltisch. Ich trinke eigentlich kaum Kaffee. Die

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drei­zehnte Tasse wird meine dritte. Ich werde nicht schlafen können. Dabei produziert das Maschinchen ein flehentliches Falsett, was einen der Männer großes Mitleid empfinden lässt. Er könne dieses schreckliche Heulen der sterbenden Maschine nicht mehr hören. Wir hätten mittlerweile doch alle genügend Filme im Kino oder Fernsehen gesehen, wo Roboter von Menschen geschun­den, drangsaliert, gedemütigt und zerstört würden. Das muss doch nicht sein. Schluss! Aber Heidrun lädt die Maschine ein weiteres Mal. Es hört sich schrecklich an, wie die sich quält, den Dampf durch ihre überhitzten Leitungen zu pressen. An man­ chen Stellen schmilzt die Plastikverkleidung, läuft die Farbe von den Gehäuseteilen. Das Gerät pfeift immer noch. Hoch und schmerzlich. Eigentlich schreit es um Hilfe. Schmerzen auf einigen Gesichtern drum herum. Auch diese Tasse kommt noch raus, obwohl Steffen und Sven, die daran nippen, sagen, das schmecke nach verkohltem Toastbrot. Aber der Kaffee muss getrunken werden, darauf besteht Heidrun. Und noch eine Füllung. Die fünfzehnte. Da wackelt das arme, kleine Ding wie im Todeskampf, erbebt – und ist Sense. Aus. Schluss. Rührt sich nicht mehr. Wir atmen alle aus. Uns ist heiß. Aber wir sind erleichtert. Der Reihe nach suchen wir die Toilette auf. Zeit, sich zu verabschieden. Die Fenster des Peugeots unten. Warme Luft. Herrlicher Frühsommer. Wir erholen uns. Im Rückspiegel sehe ich Arturo lächeln. Was für Beschränkungen oder Schwierigkeiten gibt es für euch in Berlin?, frage ich nach einer Weile. Ich bin jetzt das fünfte Mal in Berlin. Manchmal denke ich, es ist alles viel einfacher. Manchmal ist es aber auch komplizierter. Ich war bei fünf oder sechs Banken, um ein Konto zu eröffnen. Zwei der Banken sagten, dass es ein Problem sei, dass ich nicht Deutsch spreche. Drei sagten, weil ich aus Irak sei. Da gebe es neue Gesetze. Ich weiß nicht, vielleicht haben einige von den Flüchtlingen hier Ärger gemacht. Die Banken sagten, wenn ich nur drei Monate hier wäre, geht das nicht. Aber ein Konto würde mir helfen, um vielleicht in Zukunft nach Deutschland zu kommen und eine Arbeit oder vielleicht einen Master zu machen. Von Bagdad aus kann ich kein Konto eröffnen. Ich müsste nach Beirut gehen, um ein Konto im Ausland zu eröffnen. Was war für euch bislang das Überraschendste?

Das ist meine Mentorin. Dass das alles auf mich persönlich zugeschnitten ist, diese Aufmerksamkeit ist für mich das Überraschendste. Morgen, sagt Akram, habe ich ein Meeting am Deutschen Theater mit einem berühmten Regisseur. Mit ihm werde ich auch über mein Projekt sprechen. Ich habe eine halbe Stunde mit ihm. Er hat mich zu den Proben eingeladen. Demnächst ist die Premiere und ich habe Freikarten. Und für dich?, frage ich Nikias, als wir uns dem Tiergar­ ten nähern. Ich lebe ja hier. Aber durch das Stipendium habe ich quasi einen geheimen Garten in der Stadt entdeckt. Ich war vorher nie im Hansaviertel. Auch die AdK habe ich als Institution jetzt erst entdeckt. Ihre Geschichte. Das ist wie eine kleine Tür, die jetzt offen ist. Das reicht von experimentellen Konzerten bis zu Kontakten zu Akademie­-Mitgliedern. Viele kleine Dinge, die sich jetzt auftun. Als wir uns am Hanseatenweg verabschieden, fragt Nikias die anderen, ob sie am Wochenende mit in einen Park kommen wollen, mit vielen Leuten aus Thailand und Streetfood. Er habe davon gehört. Wo und wann genau, könne er ihnen noch schreiben. Wie wär’s mit einer Doodle-Umfrage?, sage ich. Das Gespräch mit den drei Stipendiaten fand an dem näm­l ichen Feiertag nicht im Schrebergarten, sondern im Atelier 1 der Akademie der Künste am Hanseatenweg statt. Die Fragen und ihre Antworten und Kommentare sind allerdings dem Gespräch getreu.

PATRICK HOFMANN  geboren 1971 in Borna, lebte sieben Jahre in Athen, wo er u. a. in der Autovermietungsbranche,

Akram auf dem Beifahrersitz schaut mich an. Bevor ich herkam, erhielt ich eine Menge E-Mails. Ich wurde gefragt, was ich brauche. Ich antwortete, dass ich gern eine Tanz-Akademie sehen würde und andere KunstInstitute, wie sie arbeiten, dass ich gern hinter die Bühnen schauen würde. Meine Ansprechpartnerin, Petra Kohse, hat mir das alles vermittelt und noch Weiteres für mich vorbereitet. Woran ich gar nicht gedacht habe, weil ich das hier ja nicht kenne. Sie macht für mich Termine, macht mir Vorschläge und ich gehe hin, sehe mir das an, spreche mit Künstlern.

als Journalist, Chauffeur, freiberuflicher Übersetzer und

Ja, sagt Arturo. Auch mit Nele Hertling läuft das so. Sie stellt die Verbindungen zu anderen Künstlern her. Das ist großartig. Mit Constanze Marquard. Oder Meg Stuart.

akademie/junge-akademie. Die Werkpräsentation der

Deutschlehrer tätig war. In Sinn und Form veröffentlichte er 2008 „Drei Erzählungen“. Sein Roman Die letzte Sau erschien 2009 bei Schöffling & Co. 2010 wurde er mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. Patrick Hofmann lebt in Berlin.

Porträts und ein Film zur Vorstellung der Berlin-Stipendia­ tinnen und -Stipendiaten 2017 finden sich unter adk.de/de/ Stipendiaten 2017 findet als AGORA ARTES vom 28. April bis 13. Mai 2018 statt.


DIE DOPPELTE INJEKTION Johannes Odenthal

Jagoda Szmytka wurde 1982 in der polnischen Klein­ stadt Legnica geboren. Sie gehört zu den erfolgreichs­ ten Vertretern einer experimentellen Tonkünstler-Gene­ ration. Sie selbst sieht sich als Teil der Generation Y, der Digital Nativs, der Millennial-Generation. In ihren Performances, Kompositionen, Interventio­ nen erkundet Jagoda Szmytka immer neue Situationen, neue Publika, neue ästhetische Sprachen. Sie ist im eigentlichen Sinne eine Grenzgängerin, die sich selbst mit ihrem Körper ihrem jeweiligen Umfeld ausliefert. Als erste Stipendiatin der Villa Serpentara nach der Res­ taurierung des romantischen Einsiedlerortes befragte die Kosmopolitin die Ursprünge ihrer künstlerischen Arbeit. Ihre Kindheit verbrachte sie in einer katholisch geprägten polnischen Kleinstadt. Ich erinnere mich, wie eines Tages eine Kirchenprozession in das Haus meiner Großeltern kam. Es war alles voller blühendem violetten Flieder rundherum um das Haus. Ich erinnere diesen Duft. In diesem ganzen Duft kehrte diese Prozession vorwiegend alter Damen mit einem heiligen Marienbild in unserem privaten Haus ein. Stell dir diese unglaubliche Szene vor: ein heiliges Marienbild für einen Abend in deiner Wohnung. Das ist doch wie ein Theaterstück. Das hat mich sehr beeindruckt. Und ich habe verstanden, dass man von einem Moment zum nächsten aus einem Raum einen anderen Raum er-

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schaffen kann. Und das ist das zweite, was mich fasziniert. Dass ich mit den Mitteln der Kunst eine Situation intensivieren kann, dass ich die Dosis erhöhen kann, die Dosis der Kommunikation. Es ist für mich die doppelte Injektion. Das Gespräch zwischen Freunden ist eine Injektion. Aber wenn du zu einem sehr besonderen Ort gehst und das gleiche Gespräch führst, dann kann das die Verzehnfachung der Injektion bedeuten. So wurde Jagoda Szmytka in einer installativen Situ­ ation zum Teil des öffentlichen Raums. In dem Projekt Poesie des Wohnens war sie selbst für 14 Tage tagtäg­ lich Ansprechpartnerin in ihrer privaten Sphäre auf einem belebten Frankfurter Platz. Auf dem Eclat-Festival in Stuttgart inszenierte sie vor dem Stipendium in der Villa Serpentara das Perfor­ mance-Stück Diy or Die. Do it yourself ist eine Anspie­ lung auf die Paintball-Szene, in der sie wesentliche Anregungen für ihre Auftragsproduktion fand. Die radi­ kale Befragung der eigenen Existenz in einer von Spiel und digitaler Wirklichkeit bestimmten Gegenwart führt sie in immer neue Zusammenhänge. Meine Eltern haben mir niemals Spielregeln gegeben. Ich konnte immer das machen, was ich wollte, und wurde darin unterstützt. So habe ich nie gesellschaftliche Regeln kennengelernt. Das hat mich sehr viel Zeit gekostet, zu verstehen, was ist gut und was ist schlecht für

mich. In meinen Arbeiten spiele ich mit diesen Möglichkeiten, mit dem absolut offenen gesellschaftlichen Raum und der Setzung von Regeln. Wenn ich meinen Lebensraum auf einem öffentlichen Platz zum Kunstwerk erkläre und mich 10 Stunden jeden Tag zur Verfügung stelle, dann entwickle ich ein Spielsystem mit den Besuchern. Ich habe den Eindruck, dass die Kunst und die Musik oft so machtlos sind, weil sie keine Beziehung zu irgendjemanden aufbauen. Was ich meine ist, dass da eine Grup­pe von Menschen zu einer Ausstellung oder zu einem Konzert kommt, ohne eine Beziehung zum Leben zu haben. Da entsteht keine Kraft. Deswegen faszinieren mich die Spiele so. Da wird etwas umgesetzt, ausgeführt. Das ist so wunderbar, wenn alle Menschen spielen, wenn alle beteiligt sind mit ihrem Leben. Die Zitate von Jagoda Szmytka stammen aus einem unver­ öffentlichten Interview mit Johannes Odenthal.

Das Villa-Serpentara-Stipendium wird jährlich von der Akademie der Künste, Berlin, vergeben. Es ermöglicht Künstlerinnen und Künstlern einen dreimonatigen Aufenthalt in der Villa Serpentara, betreut von der JUNGEN AKADEMIE und vor Ort unterstützt von der Deutschen Akademie in Rom.

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JUNGE AKADEMIE 30

AGORA ARTES

Programm-Nacht zur Werkpräsentation der Stipendiaten der JUNGEN AKADEMIE 2016. Impressionen von Julia Baier, 29. April 2017 Zu sehen waren zum Großteil gemeinsam erarbeitete Werke von María Korol und Robel Temesgen (Bildende Kunst), Martina Schlusnus (Baukunst), Elena Rykova und Niklas Seidl (Musik), Kaan Koç und Sergey Lebedev (Lite­ ratur), Jason Danino Holt und Rima Pipoyan (Darstellende Kunst), Elena Zieser und Rafael Jové (Film- und Medien­ kunst) sowie Paulette Penje (Saarland-Stipendium).


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DER LUXUS, DEN MAN GEWINNT,

WENN MAN NICHTS ZU VERLIEREN HAT Annett Busch und Tobias Hering

DIE FILME VON DANIÈLE HUILLET UND JEAN-MARIE STRAUB „Nicht versöhnt zu sein ist auch eine Haltung, Filme zu machen. Eine hartnäckige Verweigerung entgegen aller Kräfte, die auf eine Homogenisierung hinwirken“, schreibt der Filmkritiker Serge Daney in den Cahiers du Cinema 1975 anlässlich des Kinostarts von Moses und Aron, der aufwendigen Inszenierung der Schönberg-Oper durch Jean-Marie Straub und Danièle Huillet in einer antiken Arena in den italienischen Abruzzen. Im Akt des Widerstands, in seiner po­ litischen wie physikalischen Bedeutung, findet sich ein elementa­ rer und weitreichender Zugang zum Werk von Huillet-Straub, auf so vielen verschiedenen Ebenen. Darin liegt immer auch die Ver­ teidigung von etwas Bestehendem und zugleich die Behauptung einer Potenz, die Bedingung einer Möglichkeit, die erst noch er­ schaffen werden muss. Wogegen der Widerstand sich genau rich­ tet? Und wofür er kämpft? Die Verweigerung der Homogenisierung, einer forcierten Glättung und Einebnung, fordert zugleich eine Fülle, eine Sinnlichkeit und Reichhaltigkeit – eine undisziplinierte Le­ bendigkeit. In diesem Sinn wird Widerstand zur Lebenshaltung und Form, zur Antriebskraft, eine offene Form, eine Öffnung zu erar­ beiten. Und so etwas gelingt nur mit Humor, Kreativität und Gene­ rosität, nicht mit störrischer Verbissenheit. (von oben): Szenen aus Schwarze Sünde, 1988; Incantati, 2002; Kommunisten, 2015

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Die Haltung des Widerstands begründet sich bei Jean-Marie Straub auch in seiner Biografie. Er formuliert zuerst und immer wieder Widerstand gegen Faschismus; Ende der 1950er Jahre führte dann die konkrete Kriegsdienstverweigerung, mit der französischen Armee am Algerienkrieg teilzunehmen, zur Flucht nach Deutschland und zum vorübergehenden Wohnsitz in München. Nach Machorka-Muff (1962) legen Jean-Marie Straub und Danièle Huillet mit Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht (1964) dann einen zweiten Film vor, der in Deutschland und insbesondere in Ber­ lin fast ausschließlich auf Ablehnung stößt. Während der Berlinale 1965 wird der Film auf Initiative von Enno Patalas und Frieda Grafe in einem Sonderprogramm gezeigt und provoziert Aversion – bei den Zuschauern, vor allem aber bei der Kritik. Wenn man so will, entsteht beinahe jeder Film von StraubHuillet allen Widerständen zum Trotz. Und gelingt nur durch ein Netzwerk und die Mithilfe etlicher Verbündeter, die Herstellung und Vertrieb der Filme über viele Jahre hinweg unterstützen. Darüber entwickelt sich eine Ökonomie, die genauso Bestandteil einer radi­ kalen, politischen Ästhetik wird – in dem Sinn, wie in jeder Ent­ scheidung auch eine Gewichtung ihrer Notwendigkeit liegt. Der Luxus, den sie sich leisten, ist, sich die notwendige Zeit zu neh­ men, und uns Zuschauenden Zeit zu geben, etwas wahrzunehmen, zu sehen, zu hören, als wäre es zum ersten Mal. „Das geht auf die Knochen“, sagen Straub und Huillet immer wieder. Die Kontinuität ihrer Arbeit ist ein Kraftakt und eine widerständige Praxis, die man gar nicht genug würdigen kann. Und jeder Film beherbergt Men­ schen und Landschaften, die auf die eine oder andere Weise wider­ stehen oder eine solche Geschichte in sich tragen. Die Figuren und die so unterschiedlichen Quellen ihrer Aus­ einandersetzungen finden Straub und Huillet bei Heinrich Böll, bei Johann Sebastian Bach, Berthold Brecht, Pierre Corneille, Franz Kafka, Arnold Schönberg, Mahmoud Hussein, Stéphane Mallarmé und Friedrich Hölderlin, aber auch in den Bildern von Paul Cézanne – oder, weniger prominent später bei dem Soziologen Jean-Yves Petiteau und bei widerspenstigen Alliierten wie dem Nationalisten Maurice Barrès oder dem Katholiken Georges Bernanos; mit ihrem Umzug nach Rom wurden die italienischen kommunistisch-moder­ nistischen Kriegs- und Nachkriegsautoren wichtig, wie Franco Fortini, Cesare Pavese, Elio Vittorini. Nach dem Tod von Danièle Huillet setzt Jean-Marie Straub diese Arbeit fort, mit Texten von Dante, Michel de Montaigne, Jean Sandretto und immer wieder André Malraux. Straub und Huillet adaptieren nicht, verfilmen nicht, sie lesen gegen den Strich. Die Figuren, die Darsteller, nur sehr selten Profi-Schauspieler, sind angewiesen, der Verlockung der Repräsentation zu widerstehen. Sie spielen nicht, sie tun nicht so als ob. Mit der Trägheit ihrer Körper wiederum widerstehen sie dem Text, der Beschleunigung der Worte, da sie die Sprache, die Erzäh­ lung nicht in eine Handlung überführen. Meist unter freiem Him­ mel stehen, sitzen oder liegen sie, bleiben mit dem Ort, der Erde, dem Grund verbunden.1 Das Sprechen, laut Lesen und Rezitieren, Sprech-Gesang unter freiem Himmel, in einer Lichtung, auf einem Hügel, in einem Wald, auf einem Baum, all das fordert die Sinne und den Zufall her­ Dreharbeiten zu Moses und Aron, 1974

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Scriptseite aus Schwarze Sünde

Jean-Marie Straub und Danièle Huillet in den Gärten des Palais de Chaillot, Paris, 1990er Jahre

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aus. Auf das Wetter ist kein Verlass. Die Wolken, die Sonne, der Wind können das Licht, also die Stimmung einer Situation, die Wir­ kung eines Texts grundlegend verändern. Das klingt simpel, erfor­ dert aber viel Anstrengung, Zeit und Aufwand im Detail – von der Bestimmung des Drehorts bis zur Lichtbestimmung der Kopie. Mit der gründlichen Sorgfalt wird ein Rahmen geschaffen, der dem Zufall seinen Raum lässt. Jean-Marie Straub und Danièle Huillet erproben und verankern die historischen Texte im Leben und in der Gegenwart. Das ist ihre dokumentarische Qualität, Bild und Ton nicht von der Wirklichkeit ihrer Entstehung abzukoppeln.2 Auf eine Art geben die Filmemacher die Texte denen zurück, denen sie gehö­ ren, den Leuten, von denen die Texte handeln, Arbeitern, Bauern. Das stimmt nun nicht für jeden Film, vor allem aber in Italien, bei der Arbeit mit den Texten von Pavese und Vittorini, wird diese Ebene explizit hergestellt. Darin liegt auch ein Widerstand gegen eine gewisse Intel­ lektualität, gegen die Verselbstständigung von Text, Bild und Ton als Ideen und Kommunikation, abgelöst vom konkreten Ausgangs­ punkt und seinen Umständen. Die Filme von Straub-Huillet sper­ ren sich gegen ihr Diskursivwerden und erfordern eine besondere Anstrengung, mit ihnen und über sie zu sprechen. Die Aufmerk­ samkeit der Filmemacher gilt der Materie und wie sie sich über­ setzt und der Übersetzung widersteht, sich mit ihr verändert, als kinematografisches Bild. Diese Stofflichkeit des analogen Bildes und sein graduell unscharfer Informationsgehalt wurden mit der Digitalisierung radikal in Frage gestellt. In den späten 1990er Jah­ ren kritisierten Straub-Huillet diese Entwicklung als Beherrschung der Gesellschaft durch auf Medien reduzierte Bilder und einher­ gehend damit den Verlust des widerständigen Potenzials von Bild und Ton. Ihr Refugium und die Basis weiterer Arbeit war zu die­ ser Zeit ein kleines Städtchen in der Toskana, Buti, mit dem bis heute aktiven Volkstheater Francesco di Bartolo. In dieser Land­ schaft, mit diesem Ensemble entstanden eine Reihe von Filmen mit Texten von Pavese und Vittorini, gedreht auf 35 mm. Malraux zufolge ist Kunst der einzige Widerstand gegen den Tod, und Widerstand besteht auch darin, weiterzumachen. Nach dem Tod von Danièle Huillet 2006 gelingt es Jean-Marie Straub, allen Wid­ rigkeiten zum Trotz kontinuierlich an einem eigenen kleinen Oeu­ vre zu arbeiten, unzeitgemäß, gegen die Zeit und auf die Zeit wir­ kend, gedreht auf MiniDV und HD. Im Sprechen über die Filme gibt es aber noch eine weitere Ebene. Wer Jean-Marie Straub und Danièle Huillet einmal nach einer Filmvorführung erlebt hat, wird wissen, dass Straub viel redet und Huillet wenig. Mit den Filmen zu reisen, den Filmen bei der Vorführung nahe zu sein und mit dem Publikum darüber zu streiten, war über viele Jahre ein wichtiger Bestandteil ihrer Pra­ xis. Oft gab es dabei den Moment, dass Straub sein eigenes Reden als Geschwätz abtat und darauf verwies, dass mit dem Film alles gesagt sei. Das Sprechen im Film, durch den Film, über den Film nimmt immer andere Bedeutungen an. In diesem Setting der ver­ teilten Rollen bremste Danièle Huillet und korrigierte, machte wenige Worte, aber faktische, manchmal taktische Eingriffe. Man muss sich die produktive Zusammenarbeit von Straub und Huillet


vermutlich auch als eine Entwicklung durch Widerstände und in ihnen vorstellen. Serge Daney hat dieses Bild noch etwas weitergeführt, anläss­ lich des Films Von der Wolke zum Widerstand (1978). „[M]ir scheint, dass Jean-Marie Straub und Danièle Huillet insgeheim von etwas sprechen, das weitgehend verborgen bleibt (da die Solidität der sozialen Verbundenheit von dieser Ignoranz lebt): dass es da eine tiefgründige Gleichgültigkeit der Frauen gebe, gegenüber dem Glauben an ein Ideal. […] Denjenigen widerstehen, die Widerstand leisten, den Männern: Frauen, Steine.“3  Denn der Stein werde nicht von den Worten berührt, zitiert Daney aus Pavese. „Sagen Sie’s den Steinen“, antwortete Danièle Huillet einem Schauspieler bei den Proben zur Antigone (1991) an der Berliner Schaubühne, als der nicht recht wusste, an wen er seine Worte richten sollte. Die Worte an „die Dinge der Welt“ zu richten, an die Steine, die nicht davon berührt werden, die uns keine Antwort schuldig sind und uns alle überleben. „Kunst ist Widerstand gegen Kommunika­ tion“, schreibt Gilles Deleuze. In diesem Sinne liegt das Werk von Huillet-Straub offener da denn je, bereit, mit ihm die Gegenwart zu erforschen. 1 Eine Zeitlang sah die Kritik in diesen späteren Filmen ein ökologisches Kino. Jean-Marie Straub verbindet die Sorge um die Erde aber vielmehr mit etwas, das er die „kommunistische Utopie Hölderlins“ nennt. „Luft, die den Neugeborenen um­ fängt …“ 2 Irgendwann haben Straub und Huillet für sich entdeckt, dass sie bei gleichbleibender Szenenfolge mehrere Fassungen eines Films entstehen lassen können, indem sie andere Mo­ mente wählen, andere Aufnahmen derselben Einstellung. Ir­ gendwann haben Straub und Huillet für sich entdeckt, dass sie bei gleichbleibender Szenenfolge mehrere Fassungen eines Films entstehen lassen können, indem sie andere Momente wählen, andere Aufnahmen derselben Einstellung. 3 Serge Daney, „A Morals of Perception“, www.diagonalt­ houghts.com/?p=1529, von der englischen Übersetzung von Stoffel Debuysere ins Deutsche übertragen. Ursprünglich er­ schienen als „Une Morale de la Perception (De la nuée à la ré­ sistance de Straub-Huillet)“ in La Rampe. Cahier critique 1970– 1982, Gallimard, Paris 1983.

ANNETT BUSCH arbeitet als freie Autorin, Kuratorin und Übersetzerin und lebt in Trondheim und Berlin. TOBIAS HERING arbeitet als freier Kurator und Publizist und lebt in Berlin.

Annett Busch und Tobias Hering kuratieren die Ausstellung und den Veranstaltungszyklus Sagen Sie’s den Steinen – Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub, 14. September bis 19. November 2017. Ab dem 15. Oktober ist eine vollständige Retrospektive der Filme zu sehen, verteilt auf vier Leinwände: in der Akademie der Künste, Berlin, sowie in den Berliner Kinos Brotfabrik, Zeughauskino und fsk. Filmstills aus Fortini/Cani, 1976

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CARTE BLANCHE

CHRISTINA KUBISCH

ANALYZING SILENCE

Das Wort Stille hat in den meisten Sprachen der Welt einen beson­ deren Klang. Es ist ein musikalisches Wort, oft lautmalerisch, nie hart. Ein Wort, das zum Hören einlädt. Seit längerer Zeit sammle ich die gesprochene „Stille“ in allen mir zugänglichen Sprachen der Welt. Dazu gehören Schriftspra­ chen, aber auch nur mündlich überlieferte Sprachen. Viele Worte, die Stille bedeuten, klingen je nach Kulturkreis und Kontinent sehr ähnlich, andere stehen ganz für sich, sind lautmalerisch und magisch. Vor allem in asiatischen und arabischen Ländern gibt es mehr als ein Wort für Stille: Je nach Situation kann die Stille unter­ schiedlich benannt werden. In manchen Sprachen gibt es wiede­ rum überhaupt kein Wort für Stille, sondern nur eine Art Umschreibung: der Ort, wo man keine Geräusch hört. Länder, die mit­ einander verfeindet sind, können das gleiche Wort für Stille haben. In Japan und China gibt es alte und neuere Worte für Stille. Emig­ ranten müssen oft länger nachdenken, um sich an die „Stille“ in ihrer Heimatsprache zu erinnern. Beim Aufnehmen bitte ich die Person, das Wort Stille ruhig zu sprechen und zu wiederholen. Dabei verselbstständigt sich der Klang, wird abstrakt und die semantische Bedeutung verliert an Bedeutung. Die rund 120 Sprachen, in denen ich bisher das Wort Stille aufgenommen habe, stellen nur einen Bruchteil der noch beste­ henden ca. 6000 Sprachen der Welt dar, die sich zunehmend ver­ ringern. Einige werden kaum noch gesprochen, von den offiziel­ len Weltsprachen verdrängt, ausgelöscht durch Kriege, nicht mehr an die Kinder weitergegeben. Nicht nur die Artenvielfalt der über­ lieferten Kulturen, auch die der Stille wird immer geringer. Die Sprechenden sind Freunde, Musiker und Künstlerkollegen oder teilweise auf meinen Reisen zufällig angesprochene Menschen. Manchmal hört man im Hintergrund einen Urwald, eine Straße, andere Stimmen. Das aufgenommene Wort wird mittels Computer als Sona­ gramm, als grafische Darstellung von Frequenzen, visualisiert. Die in helleren und dunkleren Strichen erscheinenden Bilder ergeben in ruhigem Wechsel einen Fluss von abstrakten Linien und Flächen. Man kann sie als reines Bildmaterial sehen oder auch versu­ chen, den Ursprung der Worte in den verschiedenen Sprachen für sich selbst erfahrbar zu machen. Über das Auge die Stille zu hören. CHRISTINA KUBISCH  ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Musik.

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ARABISCH

BAKOKO

CHINESISCH

DEUTSCH

FRANZÖSISCH

INDONESISCH

ISLÄNDISCH

ISIZULU

JAPANISCH

KOREANISCH

PERSISCH

HINDI

THAILÄNDISCH

UNGARISCH

SCHWEIZERDEUTSCH


Die Choreografin Meg Stuart erinnert in ihrer Valeska-Gert-Gastprofessur an die schillernde Namensgeberin.

ZIEGENSTALL-BAR REVISITED Petra Kohse

Valeska Gert, Negertanz, 1920er Jahre

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Am Anfang sitzen ein Dutzend Darsteller*innen in rotschwarzer Kleidung im Clubraum der Akademie am Pari­ ser Platz auf dem Tresen und wippen mit den Beinen. Sie recken und räkeln sich, beugen sich vor und zurück, schütteln den Kopf und geben unterschiedliche Töne von sich, von Murmeln bis Schreien, dazwischen versteht man Textfragmente über das Leben der Tänzerin Valeska Gert. Später schreiten sie bizarr verkleidet durch den Raum, rücken Zuschauer*innen zu Leibe, werfen sich an Wände, verknäulen sich zuckend ineinander oder errichten sich auf der Terrasse zum Pariser Platz ein Zelt. Seltsame bis groteske Szenen, in denen Studierende der Tanzwissenschaft der Freien Universität Berlin eine körperliche Recherche über die 1892 in Berlin geborene Avantgarde-Tänzerin zusammenfassen, die sie in den vorangegangenen Monaten unter Anleitung der Choreo­ grafin Meg Stuart unternommen haben. Als bereits 21. Inhaberin der Valeska-Gert-Gastprofessur, die die Aka­ demie gemeinsam mit der FU Berlin und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) seit 2006 aus­ richtet, war Meg Stuart (Akademie-Mitglied seit 2014) im Wintersemester 2016/17 die erste, die sich die Namenspatronin der künstlerischen Professur selbst zum Thema gemacht hat. Valeska Gert reüssierte in den 1920er Jahren mit teil­ weise schockierend-expressiven und experimentell-iro­ nischen Darbietungen, die von den Nazis später als „ent­ artet“ eingestuft wurden. Nach ihrer Rückkehr aus der Emigration eröffnete sie Anfang der 1950er Jahre in Kampen auf Sylt die Ziegenstall-Bar, auf die die Ein­ gangsszene der Studierenden anspielt. Und sie trug gern Rot und Schwarz. In der Arbeit mit den Studierenden regte Meg Stuart persönliche Bezugnahmen an, die assoziativ überformt wurden und dann in eine kollektiv angeeignete Bewe­ gungssprache mündeten. Was im Ergebnis wirklich sehenswert war, auch wenn die Vielzahl der Besucher*innen die Sichtbarkeit der Performance doch etwas beeinträchtigte – die Studierenden mussten sich regelrecht ihren Weg durch die Menge bahnen, die von der (eintrittsfreien) Gelegenheit, einmal eine ganz andere Arbeit von Meg Stuart zu sehen, angelockt worden war. Wobei die Ergebnisse dieser künstlerischen Profes­ suren ja gar nicht das Wichtigste sind. Was zählt, ist der Prozess, das körperliche Nachvollziehen und Begreifen des künstlerischen Vorgangs schon während eines kunst­ wissenschaftlichen Studiums, in dem die Kunst sonst nur beschrieben, analysiert und reflektiert wird. Den­ noch streben viele Professor*innen – auch weil die Räume der Akademie nicht notwendigerweise Schau­ platz der Schlusspräsentation sind, aber potenziell zur


Proben im Clubraum der Akademie der Künste am Pariser Platz, fotografiert von Manfred Mayer

Verfügung stehen – am Ende eine Aufführung an, und im Laufe der Jahre sind die öffentlichen Einblicke in die Valeska-Gert-Gastprofessuren zu einem – siehe Meg Stuart – gar nicht mehr so geheimen Tipp für Tanzinte­ ressierte geworden. Am Anfang steht jeweils eine Lecture des oder der neu Antretenden, die von einer Einführung durch die Tanzwissenschaftsprofessorin Gabriele Brandstetter und einem Gespräch mit einer Persönlichkeit aus der Berli­ ner Tanzszene gerahmt und ergänzt wird. Bei Meg Stu­ art war das die HAU-Chefin Annemie Vanackere, in deren Haus Meg Stuart mit ihrer Brüsseler Gruppe Damaged Goods schon etliche Male gastiert hat. Die Lecture selbst gestaltete Meg Stuart durchaus körperlich: Immer wie­ der legte sie das Mikro auf den hellen Teppich, auf dem sie barfuß stand, und demonstrierte, wie sich ihre Art zu tanzen vom Moment ihrer Bewerbung für ein Studium bis heute verändert hat. Der Körper als Archiv. Auch Deborah Hay – ebenfalls US-Amerikanerin wie Meg Stuart, allerdings eine Generation älter und ehe­ maliges Mitglied der Künstlergruppe Judson Dance Theatre – hatte bei der Einführung ihrer Gastprofessur im Sommersemester 2016 performt und anschaulich gemacht, zu welchen zunächst ganz und gar nicht tän­ zerisch anmutenden Fragestellungen ein Körper in der Lage ist. Mit ihr sprach im Anschluss Renate Graziadei von laborgras. Für die Benennung der Valeska-Gert-Gastprofessur gibt es einen Beirat, der aus Gabriele Brandstetter und Erika Fischer-Lichte als Gründungsmitgliedern dieser Einrichtung seitens der FU Berlin besteht, aus Nele Hertling für die Akademie der Künste, die zum Zeitpunkt der Gründung auch Direktorin des Künst­ lerprogrammes des DAAD war, aus einer heutigen Mitarbeiterin des DAAD, Julia Gerlach, und neuerdings auch der Rundfunkjournalistin und Tanzspezialistin Claudia Henne.

Jonathan Burrows und Rosemary Butcher wurden bereits eingeladen, Laurent Chetouane, Cesc Gelabert, Anna Huber, Janez Janša, Xavier Le Roy oder Koffi Kôkô, der die Studierenden im Wintersemester 2014/2015 auf der großen Bühne zum Tanzen brachte, als hätten sie nie etwas anderes getan. Oder Joachim Schloemer, der mit seinem Seminar den Tanz-Kurzfilm „Night Shift“ gedreht hat. Aktuell gastiert die dänische Tänzerin und Konzept­ künstlerin Mette Ingvartsen als Professorin und hat sich Ende April mit einer Lecture über die Pornografisierung der Gesellschaft und der Kunst eingeführt. Die nächste Professur wird ab Oktober die Brasilianerin Lia Rodrigues übernehmen, die kraftvoll und elementar gesellschaft­ liche Panoramen choreografiert, die stets auch soziale Happenings sind. Tanzwissenschaftsstudentin müsste man sein …

PETRA KOHSE  ist Sekretärin der Sektion Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin.

Ausführliche Informationen zu den Inhaberinnen und Inhabern der Valeska-Gert-Gastprofessur finden sich unter adk.de/de/akademie/sektionen/darstellende-kunst/ valeska-gert_professoren.htm. Lia Rodrigues wird ihre Antrittsvorlesung am 17. Oktober 2017 halten.

Valeska Gert, Tod II, 1920er Jahre

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NEUES AUS DEM ARCHIV 44

DAS ARCHIV IM DIGITALEN ZEITALTER Werner Heegewaldt

Wie sieht das Archiv der Zukunft aus? Ist es ein virtuel­ ler Raum, in dem weltweit elektronisch kommuniziert werden kann? Ein digitaler Wissensspeicher, der Texte, Bilder, audiovisuelle Medien und digitale Anwendungen verschiedenster Art miteinander vernetzt und sie jeder­ zeit und überall abrufbar, kopier- und wiederverwen­ dungsfähig, aber auch manipulierbar macht? Gehört künftig das Lesen und Analysieren von Metadaten zu den Schlüsselkompetenzen, um Zusammenhänge verste­ hen zu können? Und – vielleicht die wichtigste Frage – wird künftig nur noch wahrgenommen, was im Netz ist, was digital verfügbar ist? Oder zählt weiterhin die Aura des analogen Originals? Sind die Archivar/innen auch künftig unverzichtbar, um den Zugang zu authentischen und durch Kontextangaben verständlichen Quellen zu gewähren? Ist das Archiv auch weiterhin als physischer Ort der Forschung, Vermittlung und des sozialen Aus­ tauschs notwendig? Wir wissen die Antworten – noch – nicht. Auch soll­ ten wir nicht der Gefahr erliegen, die digitale und ana­ loge Welt als unversöhnliche Gegensätze zu begreifen. Klar ist, dass die digitale Revolution unser Leben grund­ legend verwandelt und auch die Gedächtnisinstitutio­ nen vor tiefgreifende Herausforderungen stellt, ihnen aber auch vielfältige neue Möglichkeiten bietet. Zu den Chancen gehören sicherlich der schnelle und barriere­ freie Zugang zu Informationen sowie neue Wege um zu kommunizieren und zu partizipieren. Die Herausforde­ rungen sind vor allem technischer und finanzieller Natur. In Zeiten knapper öffentlicher Kassen stehen Mittel und Personal oft nicht zur Verfügung. Das Archiv muss intel­ ligente Lösungen finden, um Projekte und technische Einrichtungen durch Drittmittel zu finanzieren, und ver­ suchen, die Bedingungen der Förderprogramme mit den eigenen Vorstellungen und Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Zugleich müssen sich Archivar/innen in einem Bereich professionalisieren, der besonderes technisches Wissen und eine enge Zusammenarbeit mit IT-Fachleuten erfordert. Um auch das Archiv der Akademie der Künste zukunftsfähig zu machen, wird es in den nächsten Jah­ ren notwendig sein, sowohl die digitale Infrastruktur als auch digitale Informations- und Vermittlungsangebote auszubauen. Ein wichtiger Schritt in diesem Prozess war die Onlinestellung der Archivdatenbank, die Ende 2015 erfolgte. Die Datenbank enthält neben Basisin­ formationen zu 1.130 Künstlerarchiven und zahlreichen Sammlungen (Inhalt, Umfang, Benutzbarkeit, weiter­ führende Literatur) eine detaillierte Beschreibung von mehr als einer Million Archivalien und Kunstobjekten. Schon die nüchterne Beschreibung der Manuskripte, Architekturpläne, Bilder, Tonträger, Videos, Gemälde, Skulpturen und Bühnenrequisiten spiegelt die künstle­ rische und kulturelle Vielfalt wider, die das Archiv der Künste auszeichnet. In der Datenbank wird auf einzigar­ tige und für die Forschung fruchtbare Weise die alle

Kunstsparten übergreifende Vernetzung der Bestände transparent, die das Profil des Archivs ausmacht. Bereits eine einfache Datenbanksuche dokumentiert das Geflecht von persönlichen Beziehungen und Arbeitsverbindungen, das über Gattungsgrenzen hin­ ausgeht und sicher ein Kennzeichen der Moderne war. Ein Beispiel mag genügen: Von Peter Weiss’ Theater­ stück „Die Ermittlung“ über die Auschwitz-Prozesse ist die Textgenese im Peter-Weiss-Archiv der Litera­ turabteilung dokumentiert, die Bearbeitung und Urauf­ führung in den Archiven von Erwin Piscator und der Freien Volksbühne in der Darstellenden Kunst, Quellen zu den Bühnenmusiken von Luigi Nono und Paul Dessau finden sich im Paul-Dessau-Archiv der Abteilung Musik und schließlich die Reaktionen in den Beständen von Ost- und West-Akademie, deren Mitglied Peter Weiss war. Zu den Angeboten der Datenbank gehören auch 460.000 digitale Medien, die je nach Rechtesituation zum Download zur Verfügung stehen oder im Lesesaal einsehbar sind. Dabei handelt es sich überwiegend um Text- und Bilddateien, da hier im Gegensatz zu den audiovisuellen Medien bereits Formate für die Lang­ zeitarchivierung vorliegen und diese einen geringeren

Einstiegsseite der Archivdatenbank (https://archiv.adk.de)

Speicherumfang als Film- oder Tondateien haben. Voll­ ständig digitalisiert liegen die Unterlagen der Preußi­ schen Akademie der Künste vor. Über 2.800 Akten von deren Gründung 1696 bis zur Auflösung des Staates Preu­ ßen im Jahre 1947 sind frei zugänglich, können gelesen und heruntergeladen werden. Über den Rahmen der Aka­ demie-Geschichte hinaus bilden sie eine herausragende Quelle zur Kunst- und Kulturgeschichte Preußens und seiner Metropole. Weitere Projekte sind in Bearbeitung.


Das weltweit stark rezipierte grafische Werk von John Heartfield soll zu seinem 50. Todestag im April 2018 in einem Online-Katalog vollständig publiziert werden. Dazu gehören neben den berühmten Fotomontagen insgesamt 6.200 seiner grafischen Arbeiten. Ein Bei­ spiel aus den neu entstandenen „Digital Humanities“, die mit Hilfe digitaler Technologie geistes- und kultur­ wissenschaftliche Themen erforschen und präsentie­ ren, ist die hybride Werkausgabe des Komponisten Bernd Alois Zimmermann. In Kooperation mit der Aka­ demie der Künste, die den Nachlass verwahrt, wird eine von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wis­ senschaften sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz gemeinsam getragene histo­ risch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe erarbeitet. Die Erfahrungen mit der Datenbank zeigen, dass sich bereits eine Veränderung des Benutzerverhaltens abzeichnet. Die erste Recherche erfolgt online. Anfra­ gen sind wesentlich genauer, Lesesaalaufenthalte sind besser vorbereitet und von kürzerer Dauer. Manche Archivnutzungen beschränken sich auf E-Mail-Kon­ takte und die Auslösung von Kopieraufträgen, eine Ein­ sichtnahme in das Original vor Ort entfällt. Ein nächs­ ter Schritt ist die stärkere Vernetzung der Datenbank mit fachspezifischen Webseiten und die Einspeisung der Informationen in Kultur- und Wissensportale. Noch in diesem Jahr sollen Daten in die Deutsche Digitale Bibliothek und den Kalliope-Verbund für Nachlässe und Autografensammlungen importiert werden. Mit dieser Vernetzung sind verschiedene Erwartungen verbunden. Die Bestände können sichtbarer gemacht, inhaltlich Zusammengehöriges kann virtuell miteinander verknüpft werden. Ein größeres, nicht nur fachspezifisch interes­ siertes Publikum kann angesprochen und ihm ein freier Zugang zum Kultur- und Wissenserbe eröffnet werden. Nicht zuletzt soll dadurch auch eine vertrauenswürdige Quelle für Informationen zu Kunst und Kultur geschaf­ fen werden. Wie wichtig kontextualisierte und autori­ sierte Informationen sind, wird in Zeiten von Fake-News und manipulierten Bildern alltäglich offenbar. Parallel dazu werden Online-Medien als Kommuni­ kationsformen des Archivs ausgebaut. Der Relaunch der Webseite ist weitgehend abgeschlossen. Gerade wird an einer Aktualisierung der englischen Version gearbeitet. Neben Informationen über Ausstellungen, Veranstaltungen und Publikationen wird die Web­ seite stärker dazu genutzt, um von der Arbeit des Archivs zu berichten. Dazu gehören Neuerwer­ bungen, Arbeitsschwerpunkte, Kooperationen, Forschungs- und Drittmittelprojekte oder auch spezifische Informationen für unsere Nutzer/ innen. Neue Formate wie virtuelle Ausstel­ lungen treten hinzu. Im Rahmen des Heart­ field-Projektes entsteht eine deutsche-eng­ lische Ausstellung im Netz, die herausragende Werke John Heartfields und seine Zusammen­ arbeit mit Künstlern wie George Grosz, Erwin Piscator oder Kurt Tucholsky aufbereitet. Aus­ gewählte Bilder, Texte sowie Audio- und Filmdo­ kumente werden von Wissenschaftler/innen und Künstler/innen kommentiert. Neben einer kuratierten Führung ist auch ein individuelles „Schlendern“ durch die Ausstellung möglich. Die Möglichkeit interaktiver Nutzung soll ein jüngeres Publikum ansprechen, das mit herkömmlichen Ausstellungen und Printmedien

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weniger erreicht wird. Damit werden vor allem Schulen und andere Bildungseinrichtungen adressiert. Die Akti­ vitäten in Social-Media-Foren, wie Facebook und Ins­ tagram, sollen ebenfalls das Interesse eines jüngeren Publikums für die Veranstaltungen des Archivs, aber auch für dessen Arbeit wecken. Die schwierigste Aufgabe für das Archiv ist sicher­ lich der Aufbau einer Infrastruktur, mit der originär digi­ tales Archivgut übernommen, weitergenutzt und für lange Zeit gesichert werden kann. Die neuen digitalen Organisations- und Aufzeichnungsmedien sind flüch­ tig, altern schnell und benötigen technische Hilfsmit­ tel für ihre Interpretation. Um sie zu sichern, ist die Ein­ richtung eines digitalen Magazins notwendig, das international anerkannten Normen und Standards genügt, wie es das Referenzmodell Open Archival Infor­ mation System (OAIS) bietet. Ein digitales Magazin dient dazu, Daten ganz unterschiedlicher Ausgangsformen in archivierungsfähige Standardformate zu überführen, mit Kontextinformationen (Metadaten) zu versehen und diese unabhängig von den Trägermedien dauerhaft zu verwalten, zu sichern und zugänglich zu machen. Da digitale Daten stetigen Veränderungen unterliegen, bedarf es besonderer technischer Maßnahmen, um ihre Integrität und Unversehrtheit zu überprüfen und sicher­ zustellen. Das Ausmaß der Aufgabe wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, aus welchen Entstehungs­ zusammenhängen künftig Daten zur Übernahme anste­ hen. Neben klassischen Text-, Tabellen- und Bildda­ teien oder dem E-Mail-Verkehr der Akademie gehören dazu auch Ergebnisse aus komplizierten Anwendungen, wie z. B. Computer-Aided-Design-Programmen in der Architektur oder Notations- oder Kompositionssoftware

Audiodigitalisierung im Medienarchiv, Akademie der Künste, Berlin

in der Musik. Die Akademie wird diese Aufgabe sicher­ lich nicht alleine bewältigen können und sich dafür geeignete Partner suchen müssen. Erste Kooperatio­ nen bestehen bereits. Bei der digitalen Sicherung des filmischen Erbes von Bertolt Brecht arbeitet das Archiv erfolgreich mit der Deutschen Kinemathek zusammen. In einem Pilotprojekt zur E-Mail-Archivierung werden zusammen mit Kolleg/innen aus Staats- und Wissen­ schaftsarchiven Lösungen gesucht, um das wichtigste Kommunikationsmittel der Gegenwart dauerhaft und revisionssicher zu archivieren. Die hier nur angeschnittenen Themen zeigen, wel­ che Chancen sich dem Archiv bieten, aber auch welche Probleme der digitale Wandel für die Archive in sich birgt. Die Herausforderung erfolgreich zu meistern, wird eine zentrale Aufgabe der nächsten Jahre sein. WERNER HEEGEWALDT  ist Direktor des Archivs der Akademie der Künste, Berlin.

Jan Zappe, ASCII-Grafik, Feldhase von Albrecht Dürer, 2010

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WELCHE SPUREN HINTERLÄSST EIN MENSCH? Torsten Musial

ZUM FILM NACHREDE AUF KLARA HEYDEBRECK

NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCKE

Anfang März 1969 flog Eberhard Fechner mit einem kleinen Drehteam nach Berlin. Sein Auftrag: ein Doku­ mentarfilm über den Selbstmord eines alten Menschen und die Frage nach den Ursachen und Motiven der Tat. Berlin war als Drehort ausgesucht worden, weil es hier die höchste Zahl an Selbstmorden in der Bundesrepu­ blik gab. Vorab hatte Fechner bereits Kontakt zur Ber­ liner Polizei aufgenommen. Früh am Morgen des 11. März 1969 machten sich dann Eberhard Fechner und sein Kameramann Rudolf Körösi auf den Weg zur Mordkommission in der Berliner Keith­ straße. In der Nacht war noch einmal Schnee gefallen, so dass sie nur langsam vorankamen. Kaum hatten sie das Polizeirevier erreicht, kam ihnen sogleich, aufgeregt mit einem Zettel wedelnd, Kriminaloberrat Kleindien ent­ gegen: „Herr Fechner, ich glaube, wir haben da einen passenden Fall für Sie!“

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Der „Fall“ war der Selbstmord der Rentnerin Klara Heydebreck, einer alleinstehenden, unverheirateten 72-jährigen Frau. Am Tag zuvor hatte sie sich in ihrer kleinen Wohnung in den Sessel gesetzt und eine Hand­ voll Schlaftabletten der Marke Betadorm eingenom­ men. Gegen Abend war sie von der Feuerwehr gefun­ den worden, aber kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus gestorben. Sie war ohne erkennbares Motiv aus dem Leben geschieden. Um sich vor Erwartungen oder vorgefassten Meinun­ gen zu schützen, hatte Fechner auf eine ausgearbeitete Konzeption oder gar ein Drehbuch verzichtet. Das war nicht ohne Risiko, denn es war sein erster Dokumentar­ film. Zunächst jedoch ging es ihm um eine Bestandsauf­ nahme. Daher führte er mit seinem Team in den folgen­ den Tagen insgesamt 37 Einzelinterviews, im Krankenhaus, auf dem Polizeirevier, bei der Feuerwehr, mit ehemali­ gen Arbeitgebern, Verwandten, Nachbarn, ihrem Arzt und dem Kaufmann an der Ecke. Sie konnten auch in der Wohnung drehen, in der Klara Heydebreck 56 Jahre gelebt hatte, seit sie dort mit 17 gemeinsam mit ihrer Mutter eingezogen war. Vor allem aber durften sie den Nachlass Klara Heydebrecks sich­ ten, in dem sich erstaunlich viele Dokumente ihres Lebens befanden. Und so trat schon bald die ursprüng­ liche Absicht des Projektes – die Frage nach der Ursa­ che des Selbstmordes – in den Hintergrund vor der Suche nach einem Menschen, nach einem Bericht von seinem Leben. Zurückgekehrt nach Hamburg suchte Fechner gemein­ sam mit seiner Cutterin Brigitte Kirsche nach einer geeig­ neten Form, aus dem gedrehten Rohmaterial das Leben der Selbstmörderin zu rekonstruieren. Sie fanden sie schließlich, indem sie die Fragen des Interviewers weg­ schnitten, die einzelnen Interviews zerlegten und neu mit den anderen auf eine Weise in- und zueinander mon­ tierten, dass sich eine Art Dialog ergab, der so nie statt­ gefunden hatte. Ergänzt oder korrigiert wurden die Aus­ sagen durch Einblendungen der aufgefundenen Dokumente. Der nur sparsam eingesetzte Kommentar diente nicht der Bestätigung vorher aufgestellter Behauptungen, sondern lediglich der notwendigen Ver­ bindung einzelner Aussagen, um einen lebendigen Erzählfluss zu entwickeln. Diese Methode Fechners, einzelne frei verfügbare Versatzstücke aus dem ursprünglichen Zusammenhang zu reißen und sie neu mit anderen, passenden Schnip­ seln zu komponieren, ist in gewisser Weise manipula­ tiv. Denn dadurch wird der Eindruck erweckt, dass die Interviewten sich aufeinander beziehen, dem schein­ baren Dialogpartner widersprechen oder ihn ergänzen. Doch gerade das trägt zur suggestiven Wirkung des Films bei. Mit seinem Film Nachrede auf Klara Heydebreck kann und will Fechner dokumentieren, aber nicht kommentie­ ren. Entstanden ist so eine stille, schöne und beein­-

druckende Rekonstruktion eines Lebens, für die Eberhard Fechner mit dem Adolf-Grimme-Preis mit Sil­ ber ausgezeichnet wurde. In den letzten Szenen sieht man den neuen Mieter beim Ausmessen der Wohnung. Von den Möbeln will er keine übernehmen und gibt alles an einen Trödler. So ist der letzte Satz des Filmkommentars zugleich ein nüch­ ternes Fazit: „… alles, was an Klara Heydebreck erinnert, (wird) ausgeräumt. Auf ihrem Postscheckkonto blieb ein Restguthaben von 6 Mark 49.“ Neben Fechners Film erinnern heute nur noch ein­ zelne persönliche Dokumente, wie die abgebildete Arbeitslosengrundkarte der BVG, an Klara Heydebreck. Der Filmemacher hat sie aufbewahrt, und sie ist heute Bestandteil des Eberhard-Fechner-Archivs in der Aka­ demie der Künste. Eberhard Fechner, 1984 Gründungs­ mitglied der Sektion Film- und Medienkunst, und seine Frau und langjährige Regieassistentin Jannet Fechner haben sein Archiv der Akademie der Künste in ihrem Tes­ tament vermacht. Nach Jannet Fechners Tod kam das Archiv im Jahre 2016 hierher. Mit einem Umfang von 44 laufenden Metern zählt es zu den größeren Archiven. Es enthält zahlreiche Dreh­ buchfassungen, Fotos von den Dreharbeiten, Produk­ tionsunterlagen und eine umfangreiche Korrespondenz von mehreren tausend Blatt, u. a. mit Günter Grass, Wal­ ter Jens, Egon Monk und Walter Kempowski. Vor allem aber die vollständigen Interviews, über 1.500 Stunden Tonbandaufnahmen, mit den Protagonisten seiner Doku­ mentarfilme wie Comedian Harmonists, Der Prozess oder Wolfskinder. Da die Interviews nur zu einem geringen Teil in die Filme eingegangen sind, besitzen diese Aufnah­ men einen großen Quellenwert. Gegenwärtig wird inten­ siv an der Erschließung des Archivs gearbeitet. Wenn es am 1. Dezember 2017 mit einer Veranstaltung im Akade­ mie-Gebäude am Pariser Platz feierlich eröffnet wird, steht es nahezu vollständig der Forschung zur Verfügung. Doch das Archiv wird auch selbst forschen und pub­ lizieren. So ist für 2019 ein Band über Eberhard Fechner in der neuen Schriftenreihe „Fernsehen. Geschichte. Ästhetik“ geplant. Auch sind mit Beteiligung des Archivs bereits DVD-Editionen der Filme Der Prozess, Damenstift und La Paloma erschienen. Weitere Filme werden in den nächsten Jahren folgen.

TORSTEN MUSIAL  ist Leiter des Archivs Film- und Medienkunst der Akademie der Künste, Berlin.


ArbeitslosengrundkarteJOURNAL der BVG von Klara Heydebreck, 1956 DER KĂœNSTE 03

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NEUES AUS DEM ARCHIV

LUC BONDY UND ILSE RITTER

Ilse Ritter

„SO EINE GANZ OFFENE BEZIEHUNG” 48

Ilse Ritter in Macbeth, Regie: Luc Bondy, Schauspiel Köln 1982


Vorabdruck aus: In die Luft schreiben. Luc Bondy und sein Theater. Herausgegeben von Geoffrey Layton im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin. Das Buch entsteht anlässlich der Archivübernah­­me des Theaterregisseurs Luc Bondy und wird an sei­ nem zweiten Todestag, dem 28. November 2017, in der Akademie der Künste vorgestellt.

Ilse Ritter, o. J.

Kennengelernt haben wir uns 1972, als Luc am Schau­ spielhaus Düsseldorf für Leonce und Lena probierte. Ich war nicht dabei, weil ich anders besetzt war. Aber aus irgendeinem Grund hatte Luc sofort ein Auge auf mich geworfen. Ich durfte immer bei den Proben zuschauen. Und dann sind wir einmal nach einer Probe durch die Stadt gegangen, und da begegneten wir auf der Straße einem Mann, der hatte lauter Goldhamster, die er zum Verkauf anbot. Luc hat einen gekauft und mir auf den Schoß gesetzt. „Das ist jetzt deiner. Schenk ich dir.“ Dann saß ich immer auf der Probe mit dem Goldhamster. Einmal hat er ein kreisrundes Loch in meine Lederhose hineingenagt. Ich habe immer meine Studien an dem Goldhamster gemacht, weil ich zur gleichen Zeit am Theater eine Maus gespielt habe. Ich hab an diesem Hamster geübt, wie man eine Maus ist. Klaus, die Klettermaus aus dem Hackebackewald, so hieß das Stück. Es war ein Stück über die Demokratie, die Einführung der Demokratie im Hackebackewald. Die gleiche Rolle, die der Luc auch mal gespielt hat. Mit großen Ohren. Ich weiß nicht, ob ich die frivole Maus war oder die arbeitsame. Ich musste jedenfalls immer Nüsse sammeln. Das klingt nach Arbeit. Ich trug riesengroße Ohren, einen langen Schwanz und ’ne grüne Latzhose. Ich hatte für den Hamster einen Käfig organisiert. Aber ich fand, dass er auch mal Freiheit erleben müsste. Und da ließ ich ihn im Zimmer herumlaufen. Flitz. Flitz. Und irgendwann war er weg. Die Hamster können ja nicht laut bellen oder so was. Der Hamster war also weg. Luc hat manchmal bei mir übernachtet, muss ich gestehen. Ich hatte nur eine Matratze, die bestand aus zwei Teilen, und einen Flokati-Teppich. Ich war ja noch jung und mittel­ los. Und da haben wir bemerkt, dass es eigenartig riecht. Wir suchten nach der Ursache und fanden sie schließ­ lich unter dem Flokati-Teppich. Da lag der Hamster: tot

JOURNAL DER KÜNSTE 03

und platt. Entsetzen und Trauer. Der Hamster war hin, aber die Liebe hat noch gedauert. In dieser Wohnung in Düsseldorf. – Das war das. Die Wupper an der Schaubühne Berlin 1976 war meine erste Arbeit mit Luc. Da war er mir eine große Stütze. Die Kollegen an der Schaubühne waren alle neunmalklug, und da mochte ich nicht mitmachen. Und Luc auch nicht. Er liebte die Lasker-Schüler. Wir haben die Gedichte verschlun­ gen. Und ich habe selbst Gedichte geschrieben, die Luc seinem Vater François zu lesen gab, und der war begeis­ tert. Er war ja Literaturkritiker. Das will was heißen. Die alte Mutter Pius, die ich gespielt habe, war sehr gelenkig und anmutig. Ich habe keine alte Frau gespielt. Luc interessierte sich nicht für eine realistische Nach­ ahmung des Alters. Mutter Pius hatte eine Aura. Sie war ein geheimnisvolles Wesen. Eine poetische Erfin­ dung. Sie war omnipräsent. Sie konnte Geschichten erzählen. Sie hatte eher etwas mit den unheimlichen Stadtstreichern zu tun, mit dem Pendelfrederich und dem gläsernen Amadeus. Jutta Lampe spielte Frau Sonntag mit kostbaren Ellenbogen. Sie hatte die Angewohnheit, sich beim Pro­ bieren selbst zu unterbrechen. Eine Masche, die an der Schaubühne umging. Damit brachte sie Luc an den Rand der Verzweiflung. Jutta konnte manchmal die First Lady he­rauskehren oder besser gesagt: die Äbtissin einer strengen Klosterschule namens Schaubühne. Und dann wurde Luc krank. Mitten in der Produktion. Peter Stein hat die Proben übernommen. Ich bin immer zu Luc ins Krankenhaus gegangen. Aber er war seelisch erstaunlich gut beieinander. Wahrscheinlich, weil er so umsorgt war von der ganzen Familie. Er war nicht weh­ leidig. Einmal hat er gefragt: Glaubst du, dass ich noch lange lebe? Irgendwann hat Luc mir auch einen Heirats­ antrag gemacht. Aber ich bin sicher, ich war nicht die Einzige. Er kam gerade von seinem Psychologen. Und der Psychologe hat ihm geraten, sich ein stabiles Zuhause zu verschaffen. Eine Familie zu gründen. Luc ging los und suchte sich ein stabiles Zuhause, und alle Frauen, die dafür infrage kamen, bekamen von ihm einen Heiratsantrag. „Weißt du, was wir machen?“, hat er mir gesagt, „so eine ganz offene Beziehung!“ Und ich dachte bei mir: So ein richtig stabiles Zuhause wird das aber nicht werden. Da hatte ich Angst. Ich wollte beschützt sein. Ich bin sicher, er hat Angela auch gefragt. Aber er war bezaubernd. Ich hab ihm gesagt: „Lass mich noch­ mal drüber nachdenken.“ Berlin 1977. Schaubühne. Man spielt nicht mit der Liebe. Da war ein Esel auf der Bühne, der hat sich unheimlich wohl gefühlt und uns allen die Show gestohlen. Wenn ich Esel gewesen wäre, hätte ich es auch so gemacht. Da hat der Luc ein heiliges Theatergesetz gebrochen: keine kleinen Kinder und keine Tiere. – Die Liebessze­ nen waren ohne Esel. Köln 1982, Am Ziel von Thomas Bernhard. Da hat mich der Luc einmal entdeckt, wie ich heulend in einer Besen­ kammer saß, weil ich wirklich diese verzweifelte, unter­ drückte Tochter geworden war und mich auch im Leben so hoffnungslos unfähig fühlte. Er hatte sich ausschließ­ lich Christa Berndl gewidmet, die die tyrannische Mut­ ter spielte, und ließ mir alle Freiheit. Ich brachte immer wieder alles durcheinander. Ich fühlte die Unterwürfig­ keit und Weltfremdheit dieser Person in mir. Ein Leben als Tochter, die sich nicht entfalten kann. Bernhard kam in eine der Vorstellungen. Neulich hatte ich plötzlich wieder den Brief in der Hand, den er

anschließend Jürgen Flimm geschrieben hat. „Exzellente Schauspieler. Danke. Das Theater, das ich schon gelernt hatte zu hassen, habe ich wieder geliebt.“ Er hat darauf­ hin das Stück geschrieben: Ritter, Dene, Voss. Köln im Winter 1982: Macbeth. Drei Monate Proben in einer Fabrikhalle am Stadtrand. Es war so kalt. Wir hat­ ten Decken. Eine Gegenbesetzung: Hermann Lause mit seiner nölenden Stimme und ich als Ehepaar Macbeth. Das Gegenteil von monumental. Ein Anti-Held und seine zierliche, aber zähe Lady. Die Erotik des Ehepaars Mac­ beth wurde stimuliert vom Mord. Als seine Lady trug ich ein wunderbares Kostüm im Renaissance-Stil, das aus dem Leder von ungeborenen Kälbern geschneidert war. Am Schluss habe ich gedacht: Luc mag mich nicht mehr. Ich spielte in einer der letzten Inszenierungen von Luc: 2013, zwei Jahre, bevor er starb, Don Juan kommt aus dem Krieg von Horvath am Berliner Ensemble. Ein Stück wie vom Tod geschwängert. Die Theaterlandschaft begann sich zu verändern. Schon seit dem Mauerfall. Die Neuen interessierten sich nicht mehr für die menschliche Seele. Nur noch für Fakten, fürs Materielle. Die gingen an die Rampe und schrien. Kein Esprit. Kein Charme. Sie nannten unser Theater bürgerlich. Dabei hatten wir gar kein Problem mehr mit der Bürgerlichkeit. Wenn der Mensch keine Seele mehr hat, was will man dann noch von ihm erzäh­ len? Luc hat sich auch für die Politisierung des Thea­ ters im Zuge der Studentenrevolte nicht interessiert. Wir waren auf Seelensuche. Man muss immer wieder neu das Leben erfinden. Ich habe schon ganz früh im Leben so ein Spiel entwi­ ckelt, das bestand darin, mich in das hineinzuversetzen, was mir gegenüber war. Dieses Spiel mit dem Dasein, das habe ich schon sehr früh getrieben. Mein Gefühl von mir selber war nie besonders abgeschlossen. Oder nie aus­ gesprochen definitiv. Ich glaube, der Luc hatte das auch. Mein Gott, wie jung er war. Wie unglaublich lebendig. Wach. Offen. Diese Vitalität. Diese Wärme. Diese Emp­ findsamkeit! Fein und glühend. So habe ich ihn kennen­ gelernt. Und so ist er geblieben. Ein Kämpfer gegen den Tod. Sein Leben lang.

Luc Bondy, 1970er Jahre

ILSE RITTER  arbeitete als Schauspielerin unter anderem mit den Regisseuren Luc Bondy, Frank Castorf, Thea Dorn, Hans Kresnik, Christoph Marthaler, Hans Neuenfels, Claus Peymann, Falk Richter, Peter Stein, Robert Wilson und Peter Zadek zusammen.

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KUNSTWELTEN

PROJEKTE

Marion Neumann

DEMOKRATIEBAHNHOF ANKLAM Der leerstehende Bahnhof von Anklam mit dem verlas­ senen Vorplatz ist ein unwirtlicher Ort für Ankommende und ein Ort, von wo aus viele junge Menschen ihre Stadt verlassen. Doch seit drei Jahren ändert sich das: Das Projekt „Demokratiebahnhof Anklam“ lädt junge und ältere Anklamer und ihre Gäste ein, Haus, Garten und Vorplatz zu gestalten und zu bleiben. Bei einem Som­ merfest vom 6.–10. Juni stellten drei Workshops zur Ver­ schönerung des Geländes ihre Ergebnisse vor. In der Nacht vor dem Sommerfest wurde der Demokra­ tiebahnhof mit Farbbeuteln und Molotowcocktails bewor­ fen. Im Haus schlafende Jugendliche löschten den Brand. Der von KUNSTWELTEN unterstützte Demokratie­ bahnhof Anklam ist mit dem diesjährigen Sonderpreis der BKM KULTUR ÖFFNET WELTEN ausgezeichnet wor­ den, den Staatsministerin Monika Grütters am 26. April 2017 in Düsseldorf überreichte.

UND PREISE KINDER IM EXIL Vor mehr als 70 Jahren mussten die Kinder von Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Helene Weigel, Paul Des­ sau, George Grosz, Wieland Herzfelde, Alfred Kerr, Anna Seghers, Friedrich Wolf, Arnold Zweig und anderen mit ihren Eltern ins Exil gehen. Die oft traumatischen Erfah­ rungen und Geschichten dieser 26 Kinder von Künstlern gleichen denen Hunderttausender Kinder, die heute auf der Flucht sind. Die historische Ausstellung KINDER IM EXIL macht mit Fotos, Briefen und Werkmanuskripten aus dem Aka­ demie-Archiv, insbesondere aus den Nachlässen von Künstlern, die mit ihren Kindern zwischen 1933 und 1945 ins Exil gehen mussten, Fluchtbiografien von Kindern anschaulich. Der aktuelle Teil stellt Ergebnisse von KUNSTWELTEN-Projekten von Kindern und Künstlern zum Exil vor. Hier nur einige wenige Beispiele: Grund­ schüler aus Neukölln bauten ein Modell nach Bruno Tauts 1938 entworfenem Grundriss für eine Schule in Izmir. 51 Mädchen und Jungen der Grundschule am Koppenplatz überraschten die vielen Besucher der Akademie mit der Aufführung eines Theaterstücks nach der Geschichte von Mary Miller und ihrem Hund Yo-Yo von Margarete Steffin, der jungen Mitarbeiterin und Freundin von Bertolt Brecht, die sie im finnischen Exil geschrieben hatte. Die Regis­ seure und Bühnenbildner Moritz Nitsche und Michael Graessner bauten gemeinsam mit den Kindern das Büh­ nenbild und inszenierten das von Gesine Bey geschrie­ bene Stück in nur zwei Wochen. Judith Kerrs Erinnerun­ gen an die wechselnden Orte ihres Exils veranlassten Willkommensschüler aus Weißensee zu einem Animati­ onsfilm über ihre Beobachtungen und Erfahrungen in der ihnen noch fremden Stadt. Eine Gruppe unbegleiteter geflüchteter Jungen aus Cottbus sah im Musikarchiv eine Rekonstruktion von Charlie Chaplins Film Zirkus mit Musik von Hanns Eisler, durch die Eisler einige Zeit in

Hollywood finanziell abgesichert war. In Cottbus dreh­ ten sie einen Musikfilm über Freundschaften. Mädchen und Jungen der Carl von Linné-Schule in Lichtenberg (Schwerpunkt körperliche Beeinträchtigung) spielten zur Eröffnung von KINDER IM EXIL die Geschichte des Mäd­ chens Max und eines gleichnamigen Nilpferds, das sie beschützt, nach Alfred Döblins Exilgeschichte Max. Das Ausstellungsprogramm Kinder im Exil wurde für den BKM-Preis Kulturelle Bildung 2017 nominiert. Nach den bisherigen Stationen in der Akademie der Künste, der Staatlichen Ballettschule und Schule für Artistik Berlin sowie den Rathäusern von Zerbst und Uecker­ münde wird die Ausstellung mit jeweils neuen Begleit­ programmen in Ludwigshafen und Linz zu sehen sein.

KUNSTWELTEN IN BITTERFELD-WOLFEN Seit 2007 findet KUNSTWELTEN in Bitterfeld-Wolfen und seit einigen Jahren auch in anderen Städten des Landkreises Anhalt-Bitterfeld statt. Mitglieder und Sti­ pendiaten der Akademie der Künste und ihre Gäste haben seitdem an die 4.000 Schüler vieler Schultypen getrof­ fen, ihnen ihre Bücher, Filme, Bilder, Fotos, Plakate, Inszenierungen, Bauwerke, Pläne vorgestellt und gemeinsam in Kunstwerkstätten gearbeitet. Beim Sch­ reiben, Zeichnen, Fotografieren, Filmen, Komponieren und Tanzen haben die Mädchen und Jungen ihre eigene Kreativität unter Beweis gestellt. 10 Jahre KUNSTWELTEN in Bitterfeld-Wolfen wurde für die Endrunde des Wettbewerbs KINDER ZUM OLYMP der Kulturstiftung der Länder ausgewählt.

MARION NEUMANN  ist Leiterin des Fachbereichs KUNSTWELTEN – Kulturelle Vermittlung der Akademie der Künste, Berlin.

GARTENBAUTAGE IM DEMOKRATIEBAHNHOF ANKLAM Die Lokführer hatten die beste Aussicht auf den Fort­ schritt der Arbeiten. Neugierig blickten sie aus ihrem Fenster auf den Garten neben der Strecke von Stral­ sund nach Berlin. Vom 6. bis 10. Juni arbeiteten Jugend­ liche des Kultur-und Jugendzentrums gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern aus Anklam im Garten des „Demokratiebahnhofs“. Der Garten, an dem alle aus Ber­ lin kommenden Bahnreisenden vorbeigehen, ist offe­ ner Begegnungsort, Aktionsraum und „Schaufenster“ des Jugendzentrums. Ziel der Gartenbautage war es, durch das gemeinsame und sichtbare Arbeiten Anknüp­ fungsstellen für den Demokratiebahnhof herzustellen – zwischen dem Kulturzentrum und Schülerinnen und Schülern sowie zwischen dem Kulturzentrum und den oftmals skeptischen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt Anklam. In drei Werkstätten gestalteten die Künstler Ute Gall­ meister, Felix Lüdicke und Jakob Michael Birn den wenig einladenden Eingangsbereich freundlicher und stärkten so die räumliche Gliederung des Gartens. Gearbeitet

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Felix Lüdicke

wurde mit Recyclingmaterialien, die das Bahnhofsteam vorab zusammengetragen hatte. Beim „Steinpatchwork“ mit Felix Lüdicke errichteten die Jugendlichen und Schüler aus alten Ziegelsteinen und Betonplatten mosaikartige Wegeflächen im Ein­ gangsbereich und kleine Mäuerchen für ein Kräuterbeet. Der „Stickzaun“ mit Ute Gallmeister widmete sich dem Gitterzaun entlang der Gleise und gestaltete durch das Einflechten farbiger Textilbänder eine lebhafte, filigrane Grenze. Und in der „Sitz-Bühne-Bar“ mit Jakob Michael Birn entstanden aus Holzpaletten flexible Möblierungs­ elemente für den Garten. Nach vier Tagen kreativer Arbeit – Entwicklung von Mustern und Prototypen einerseits, intensive Arbeit beim Verladen von 5 Tonnen Sand und Steine andererseits – konnten sich die Ergebnisse am darauffolgenden Sams­ tag bei einem öffentlichen Gartenfest bestaunen lassen. Bei Waffeln, Kaffee und Zuckerwatte konnten Teilneh­ mende und Gäste das Werk nicht nur begutachten, son­ dern auch ausprobieren und vor allem: gemeinsam feiern.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 4–7 C-Prints, © Leonce Raphael Ag­ bodjelou, Courtesy of Jack Bell Gallery, London | S. 9–13 Courtesy of Martha Rosler | S. 14 oben Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv. PL 148, Foto Eric Tschernow; unten Klassik Stiftung Weimar, Museen, Inv. DK 713/ 2004, Foto Hannes Bertram; S. 15 Foto Joerg F. Mueller; S. 16 Foto oben Joa­ chim Weinhold; unten Anna Schultz | S. 17 Akademie der Künste, Berlin, Bibl. Einstein 2454 | S. 18 Iris Print und Iris Print mit Serigraf, © Glenn Ligon; Cour­ tesy of the artist, Luhring Augustine, New York, Regen Projects, Los Angeles, and Thomas Dane Gallery, London; S. 19 Foto Open Stellenbosch/Facebook | S. 22 Foto Miriam Papastefanou | S. 24 D/A/C Process, Offset Print, © Katha­ rina Sieverding, VG Bild-Kunst, Bonn 2017 Foto © Ulrich Urban, VG BildKunst, Bonn 2017; S. 25 links Offset Print, © Katharina Sieverding, VG BildKunst, Bonn 2017 Foto © Klaus Mettig, VG Bild-Kunst, Bonn 2017; rechts © Ka­ tharina Sieverding, VG Bild-Kunst, Bonn 2017; unten S. 29 Fotos Johannes Odenthal | S. 30+31 Fotos © Julia Baier | S. 32 Courtesy of Cineteca di Bologna/ Fondo Straub-Huillet; S. 33–35 BELVA Film | S. 36–41 © Christina Kubisch, VG Bild-Kunst, Bonn 2017 | S. 42 oben Aka­ demie der Künste, Berlin, Valeska-GertArchiv Nr. 486_001, Foto Atlantic Photo-Co. Berlin; unten Foto Manfred Mayer | S. 43 links oben Foto Eva Wür­ dinger; rechts oben Foto Manfred Mayer; unten Akademie der Künste, Ber­ lin, Valeska-Gert-Archiv Nr. 486_008, Foto Suse Byk | S. 44 © Akademie der Künste, Berlin | S. 45 oben © Foto ErikJan Ouwerkerk, 2016; unten © Jan Zappe | S. 47 Akademie der Künste, Ber­ lin, Eberhard-Fechner-Archiv Nr. 16 | S. 48 Foto Stefan Odry | S. 49 links Foto Helga Kneidl; rechts Foto Ulrich Horn | S. 50 Fotos Felix Lüdicke

Journal der Künste, Ausgabe 3, Juli 2017 Auflage: 4.000

Wir danken allen Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Das Journal der Künste erscheint viermal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt. © 2017 Akademie der Künste © für die Texte bei den Autorinnen und Autoren © für die Kunstwerke bei den Künst­ lerinnen und Künstlern Verantwortlich für den Inhalt: Werner Heegewaldt, Johannes Odenthal (V.i.S.d.P.), Kathrin Röggla Redaktion: Martin Hager Marie Altenhofen Anneka Metzger Korrektur: Claudius Prößer Gestaltung: Heimann + Schwantes, Berlin www.heimannundschwantes.de Lithografie: Max Color, Berlin Druck: Druckerei Conrad GmbH, Berlin Sollten Sie Einzelexemplare oder ein Abonnement wünschen, wenden Sie sich bitte an info@adk.de. ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe: https://issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-1000 info@adk.de, www.adk.de akademiederkuenste

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien



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