Journal der Künste 12 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE 12

GEDÄCHTNISFRAGEN FOTOGRAFIE PLUS DYNAMIT URBAINABLE/STADTHALTIG DUNKELDEUTSCHLAND

DEUTSCHE AUSGABE MÄRZ 2020


S. 3

S. 24

S. 52  WHITE DIMENSIONS, REVISITED

EDITORIAL

DUNKELDEUTSCHLAND FÜNF ERINNERUNGEN AUS DEM GESELLSCHAFTLICHEN UNBEWUSSTEN

WEISSHEITEN

Johannes Odenthal

Robert Kudielka

Katharina Warda S. 4  URBAINABLE/STADTHALTIG

S. 56

LEITMOTIVE ZUR AUFRECHTERHALTUNG DES FREIHEITSVERSPRECHENS DER STADT IN ZEITEN DER KLIMAKRISE

S. 27

Tim Rieniets, Matthias Sauerbruch und Jörn Walter

Ixmucané Aguilar

S. 8  GEDÄCHTNIS

S. 32  CARTE BLANCHE

EINFÜHRUNG

VOM ZWECK ZUM ZAUBER DIE BIBLIOTHEK IM WANDEL

EVEN FRIDAY’S SUN SETS

HEIMKEHR, SONNENFINSTERNIS STROPHEN ZUM TOD GYÖRGY KONRÁDS János Szegő

S. 58

Johannes Odenthal

MOMENTAUFNAHME Helmut Oehring

Francine Houben/Mecanoo S. 60  NEUES AUS DEM ARCHIV S. 9–11, 15–16, 21–22 S. 39

TIME MACHINE Michael Ruetz

FACKELMARSCH MIT BLOB, ODER: WIR UND ANDERE PHANTOME

KRIEG IM ÄTHER HEDDA ZINNERS ARBEITEN FÜR DEN RUNDFUNK DER KOMINTERN Carsten Wurm

Enis Maci S. 12 S. 62

DER KÖRPER ALS MEDIUM DES INDIVIDUELLEN, KOLLEKTIVEN UND KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES Aleida Assmann

S. 42  NEUES AUS DEM ARCHIV: FUNDSTÜCK

IN DER ÜBERHÖHUNG STECKT OFT MEHR WAHRHEIT ALS IM ZWANG, ETWAS REALISTISCH ZU GESTALTEN

„ICH   BIN SEHR SCHWACH IM MASCHINESCHREIBEN, DAFÜR ABER PÜNKTLICH IN DER FERTIGSTELLUNG“ Matthias Dell

Julia Glänzel S. 18 S. 64

WAS WAR UND ZU WELCHEM ENDE KAM DIE POLITISCHE ENERGIE DER OSTDEUTSCHEN? Klaus Wolfram

S. 44  FOTOGRAFIE PLUS DYNAMIT

WAFFENBRÜDER OB SCHWARZ, OB WEISS, 1931–1971 Maria Gough

„EIN   JEDER ZUSCHAUER ZAHLT 8 GROSCHEN …, DIE DAMEN BEZAHLEN NICHTS.“ DIE AUSSTELLUNGSKATALOGE DER AKADEMIE DER KÜNSTE 1786–1943 Susanne Nagel und Werner Heegewaldt

S. 23 S. 49  LABOR BEETHOVEN 2020

„EIN   SELTSAMER, FAST FANTASTISCHER MOMENT VON VOLKSSOUVERÄNITÄT“

EIN ENTFALTUNGSRAUM VON IDEEN

Volker Braun

Caspar Johannes Walter

S. 66  FREUNDESKREIS

FÜLLE DES WOHLLAUTS BEETHOVEN DISKOGRAFISCH Clemens Trautmann


EDITORIAL

Die Themen Europa, das Kulturelle Gedächtnis und Nachhaltigkeit hatte, verdeutlicht, dass kollektive Erinnerungen auch jenseits begleiten die Akademie der Künste im Jahr 2020. Mit der 12. Aus- staatlicher und medialer Repräsentation fortwirken und die Gegengabe des Journals geben wir Einblicke in die konkreten Projekte wart bestimmen. des Jahres, greifen aber auch die Diskussionen auf, die an die Die Foto-Serien zur Transformation von Ostberlin in den letzSchwerpunkte des letzten Jahres anschließen und auf Plattformen ten 50 Jahren von Michael Ruetz dokumentieren den beschriebefür 2021 ausgerichtet sind. nen Verdrängungsprozess von geschichtlicher, kollektiver und indi„urbainable/stadthaltig“ ist das zentrale Ausstellungsprojekt vidueller Erfahrung. Auf diesen Brüchen und Verschiebungen von der Sektion Baukunst. Es widmet sich dem Konzept der Dichte, das gesellschaftlicher Selbstwahrnehmung oder Wirklichkeit basierte exemplarisch in der europäischen Stadt formuliert wird. Matthias auch der große Erfolg der im letzten Heft vorgestellten Ausstellung Sauerbruch, Jörn Walter und Tim Rieniets skizzieren dieses Poten- von Helga Paris in den Räumen am Pariser Platz, die als starke zial für die Vision einer nachhaltigen Entwicklung des gesellschaft- ästhetische Antwort auf die Feierlichkeiten von 30 Jahre Mauerfall lichen Lebens. Dieses Thema nimmt auch die Carte blanche auf wahrgenommen wurde. mit dem beispielhaften Einfluss, den ein Neudenken der Institution Mit Beiträgen von Enis Maci zur Rhetorik der neuen Rechten, Bibliothek als Transformationsraum urbaner Konfliktfelder bedeu- zum politischen Widerstand mit künstlerischen Mitteln im Werk von ten kann. Dafür stehen die Entwürfe und Bauwerke von Akademie- John Heartfield, dessen Ausstellung am Pariser Platz einen einzigMitglied Francine Houben und ihres Architekturbüros Mecanoo. artigen Überblick über die Techniken politischer Intervention gibt, Durch die Mitglieder der Akademie, das Archiv und bald 325 und einem Rückblick auf die filmischen Interventionen von ­Christoph Jahre Institutionsgeschichte ist die Akademie der Künste eine der Schlingensief am Beispiel eines Fundstücks aus dem Archiv nimmt zentralen Institutionen von Erinnerung und Kulturellem Gedächtnis. die Akademie das politische Potenzial künstlerischer Methoden in Kulturelles Gedächtnis ist heute nicht allein ein historisches Thema, einer historischen und aktuellen Perspektive in den Blick. sondern politisch umkämpftes Territorium und – global gesehen – Mit dem „Labor B ­ eethoven“ findet ein Akademie-Projekt ein zentrales Leitmotiv der aktuellen Kunstszene. Zwischen natio- in diesem März seinen Abschluss, das an die Innovationskraft nalen Narrativen und individuellen Geschichten werden die Künste ­Beethovens in der aktuellen Musikszene mit einer internationazu einem Raum der Erinnerung, der Emanzipation und des Wider- len Kooperation junger Komponist*innen und Musiker*innen aus stands. Der Vortrag von Aleida Assmann, den sie im September Tel Aviv, T ­ hessaloniki, Basel und Berlin anschließt. anlässlich des Tanzprojekts Was der Körper erinnert hielt, rückt Robert Kudielka thematisiert das Material der Farbe Weiß als die Erkenntnis ins Zentrum, dass die Körper-Erinnerung das inkar- Ausgangspunkt eines Forschungsprojekts der Sektion Bildende nierte Wissen, den Kanon von Kulturellem Gedächtnis immer neu Kunst, das als Ausstellung für den Herbst 2021 konzipiert ist. aktualisiert und dem exkarniertem Raum der Archive und Museen Wir erinnern an den Komponisten Georg Katzer, der das Elektro­ Leben einhaucht. Dafür steht exemplarisch die Fotoarbeit von akustische Studio der Akademie gegründet hat, ebenso wie an ­­Ixmucané Aguilar zu den Nachfahren des Genozids an den Herero den großen europäischen Schriftsteller György Konrád, der in den und Nama in Namibia, eine Abschlussarbeit an der Kunsthoch- 1990er Jahren die Akademie nach der Wende als ihr Präsident entschule Berlin-Weißensee. scheidend geprägt hat. Beide sind 2019 verstorben. Wie Gedächtnis und Gerechtigkeit auch die aktuelle Situation In der Rubrik „Neues aus dem Archiv“ stellen wir die fast verin Deutschland betreffen, zeigt die deutsch-deutsche Geschichte gessene Schriftstellerin Hedda Zinner, den Filmemacher Eberhard seit dem Ende der DDR. Einer der Mitinitiatoren der Bürgerbewe- Fechner sowie die neu digitalisierten Ausstellungskataloge der gung „Neues Forum“ im September 1989, Klaus Wolfram, fragt Akademie zwischen 1786 und 1943 vor. danach, wo die Energie dieses politischen Aufbruchs der OstdeutUnd last, but not least erinnert der Präsident der Deutschen schen nach 30 Jahren geblieben ist. Sichtbar wird, wie eine domi- Grammophon, Clemens Trautmann, als Mitglied des Freundes­ nierende westdeutsche Erzählung in den Medien andere Perspek- kreises die epochalen Einspielungen von Beethoven-Werken. tiven verdrängt und entmachtet. Dafür steht auch der persönliche Essay „Dunkeldeutschland“ der jungen Autorin und Akademie­Johannes Odenthal Programmbeauftragter der Akademie der Künste Mitarbeiterin Katharina Warda. Volker Brauns Redebeitrag nach den kontroversen Debatten in der Mitgliederversammlung der ­Akademie, zu der Jeanine Meerapfel Klaus Wolfram eingeladen


URBAINABLE / STADTHALTIG LEITMOTIVE ZUR AUFRECHTERHALTUNG DES FREIHEITSVERSPRECHENS DER STADT IN ZEITEN DER KLIMAKRISE  Tim Rieniets, Matthias Sauerbruch und Jörn Walter

DIE HYPOTHESE: Die Stadt selbst bietet die Systeme, die die größten Potenziale für eine nach­haltige Entwicklung in sich bergen.

Die Sektion Baukunst hat seit 2011 große Ausstellungen in der Akademie der Künste abgehalten, die sich mit den Tendenzen der europäischen Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts auseinandergesetzt haben. „Die Wiederkehr der Landschaft“ hat die Veränderungen des Verhältnisses von Stadt und Land dokumentiert, die allgemeine Verstädterung problematisiert und ein neues Verhältnis zur „städtischen Natur“ eingefordert. „Kultur:Stadt“ hat die verschiedenen Rollen von Kulturbauten im Kontext des Wandels vom zweiten zum dritten beziehungsweise vierten Industriezeitalter beleuchtet. Die Hypothese der Ausstellung konzentrierte sich auf die Rolle von architektonischen Interventionen als Katalysatoren, Verstärker und Garanten urbanen Lebens. Das Zentrum der Betrachtung von „Demopolis“ lag auf den Veränderungen des öffentlichen Raums im Zeitalter des Neoliberalismus und der Social Media; die Ausstellung plädierte für neue Stadträume als Schauplätze widerständigen Zusammenlebens. „urbainable/stadthaltig“ (5.9. – 22.11.2020), die vierte Ausstellung in dieser Serie, wird sich mit der Rolle der Stadt und ihrer Archi­ tektur in Zeiten neuer Herausforderungen wie des Klimawandels, der Digitalisierung, des demografischen Wandels und der Auflösung fester sozialer Netzwerke auseinandersetzen. Ihre Hypothese ­lautet, dass die Stadt selbst die Systeme bietet, die die größten Potenziale für eine nachhaltige Entwicklung in sich bergen. Die Stadt war und ist ein Zivilisationsmotor. Ihre Entwicklung ist existenziell mit der Verfeinerung gesellschaftlicher, kultureller und technischer Systeme verknüpft. Heute benötigen wir diesen Zivilisationsmotor dringender denn je, denn unsere Gesellschaft steht vor großen Herausforderungen, die sich vor allem in Städten manifestieren und auch dort gelöst werden müssen. Zu nennen sind die Veränderung der Gesellschaft durch Emanzipation, Alterung und Zuwanderung sowie die wachsenden ökonomischen, kulturellen und sozialen Differenzen. Über allem steht die fundamentale Frage nach dem Umgang mit dem Klimawandel und seinen

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Berlin, ehemaliger Flughafen Tempelhof, 2017


Auswirkungen. In dem scheinbar minimalen Ziel, den durchschnittlichen Temperaturanstieg des Planeten zwischen 2 und 1,5 Grad Celsius zu halten, verbirgt sich notwendigerweise eine Revolution aller Grundlagen unseres urbanen Lebens. Die Kontinuität und Nachhaltigkeit der ethischen Grundlagen, die die Stadt in Europa so attraktiv machen, nämlich die Versprechen von wirtschaftlicher Unabhängigkeit, sozialem Zusammenhalt und individueller Freiheit, scheinen nur durch Veränderung garantiert werden zu können. Wie sich diese Veränderungen im gebauten Raum manifestieren, ist die zentrale Frage, die sich Architekten und Planer in der Gegenwart stellen: Was bedeutet der umfassende Wandel für die gebaute Umwelt, wie ist er konkret zu bewerkstelligen und zu gestalten? Inwieweit können Maßnahmen des Städte­ baus und der Architektur die Reformen befördern? Wie können in der Stadt etwaige mit der Veränderung von Lebensstilen verbundene Verluste kompensiert, neue Technologien integriert, neue ­Verhaltensformen eingeübt und letztlich zu einer funktionierenden Kultur sublimiert werden? Die Ausstellung besteht aus zwei Teilen, einem allgemeinen und einem Projektteil. Im allgemeinen Teil werden Leitmotive erläutert, die wir als allgemeine Parameter aktueller Stadtentwicklung und architektonischer Intervention zur Diskussion stellen. Es ist geplant, diesen Teil in Form einer Fotoinstallation zu kommunizieren, die mit Texten und Grafiken die entsprechenden Themen aufruft und sie mit den Fotografien des Berliner Künstlers Erik-Jan Ouwerkerk in lebensgroße Raum-Bild-Situationen übersetzt. Der zweite Teil der Ausstellung wird „Biennale-Format“ haben. Jedes Teilnehmer-Team bekommt einen Raum zur Verfügung gestellt und kann diesen Raum nach eigenem Bedarf und Notwendigkeit gestalten. Wir rechnen mit ca. 36 Beiträgen, die in erster Linie von Mitgliedern der Sektion und jeweils einem (oder mehreren) Gästen der entsprechenden Wahl bestritten werden. Die Beiträge werden vom Kuratorenteam in einen abwechslungsreichen und vielfältigen Ausstellungsparcours strukturiert, der sowohl inhaltlich als auch formal die Vielfalt und den Facettenreichtum der Debatte über die Stadt verkörpern wird. Die Ausstellung erlaubt dem Betrachter somit beide Perspektiven: eine induktive Herangehensweise, die vom Projektbeispiel auf übergreifende Prinzipien schließen lässt, sowie ein deduktives Vorgehen, was aus den grundsätzlichen Strategien auf die Lösungen im Einzelfall ableitet.

TIM RIENIETS ist Professor für Stadt und Raumentwicklung am Institut für Entwerfen und Städtebau (IES), Leibniz Universität Hannover. MATTHIAS SAUERBRUCH, Architekt, ist seit 2006 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Baukunst. Seit 2018 ist er Direktor der Sektion Baukunst. JÖRN WALTER, Stadtplaner, ist seit 2000 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Baukunst. Seit 2018 ist er Stellvertretender Direktor der Sektion.

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DIE LEITMOTIVE: Darunter verstehen wir grundsätzliche Hand-

lungsrahmen für die Strategien, mit denen wir auch unter den veränderten Rand­bedingungen der Gegenwart die Freiheitsversprechen der Stadt aufrechtzuerhalten hoffen. Diese Leitmotive sind im Einzelnen:

NATUR MITDENKEN Die mittlerweile 100 Jahre alte Vision von der Auflösung der Städte in die Landschaft scheint sich in eher problematischer Weise erfüllt zu ­haben. Die Stadt besteht heute aus einem Netz von Infrastrukturen, das – mal weniger, mal mehr besiedelt – ganze Regionen abdeckt. Dementsprechend sind wir um die rationale Organisation dieser Regionalstadt bemüht. Wir meinen, dass sich die Siedlungskulisse – zum Schutz der Landschaft – nicht weiter ausdehnen darf, auch wenn die Stadt wächst. Der Erhalt landwirtschaftlicher Flächen und grüner Naherholungsgebiete ist als Teil des Gesamtorganismus zu denken. Die Industriestadt wurde als Maschine gesehen, die automobile Stadt als Metabolismus. Die ­Klimastadt muss sich als vielfältige Landschaft verstehen. Ihre Infrastrukturen folgen den Leitbildern der Klimaneutralität und des sinnlich anregenden Wohn- und Lebensortes. Dazu gehört die Synergie und Balance zwischen anorganischer und vegetaler Architektur, zwischen Quartier und Park, zwischen Gebäude und Garten, zwischen Wohnung und Terrasse. Pflanzenwachstum ist ein natürlicher Weg, den Grenzsituationen in urbanen Zentren sowohl bei der Luftverschmutzung als auch der sommerlichen Überhitzung entgegen­ zuwirken und der Atmosphäre CO₂ zu entziehen.


KULTURTECHNIKEN DER DICHTE

TECHNISCHE INNOVATION

Der Erhalt von Naturräumen verlangt im Umkehrschluss die Verdichtung bebauter Flächen. In der baulichen Dichte sehen wir heute nicht notwendigerweise ein Problem – wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts –, sondern eher einen Beitrag zur Problemlösung: Die dichte Stadt erlaubt die energetische Optimierung aller Infrastruktursysteme, sie funktioniert als Katalysator angemessener Verhaltensweisen und Inkubator neuer sozialer Situationen. Wo traditionelle Beziehungen in Familie und Arbeit über die Jahre erodiert ­wurden, entsteht neuer zwischenmenschlicher Kontakt aus schierer Proximität. Im Gegensatz zu den heroischen Visionen am Anfang des 20. Jahrhunderts sind zeitgenössische Stadtkonzepte von einer gewissen Vielfalt und Pragmatik gekennzeichnet. Die Durch­ mischung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit ist ebenso Teil dieser Vorstellungen wie die Koexistenz unterschiedlicher Bevölkerungsschichten, verschiedener Religions- und Kulturgemeinschaften und die Pluralität von unterschiedlichen ­Lebensstilen und deren Ausdruck.

Der Bausektor produziert aktuell ca. 40 Prozent aller Treibhausgase, die in die Atmosphäre abgegeben werden. Ein Teil der Lösung der Klimaprobleme wird also zweifelsohne durch strategische und technische Optimierung beim Bauen und ­Betrieb von Gebäuden und Infrastrukturen zu erzielen sein. Die vorrangige Betrachtung des Städtebaus und der Architektur nach den Kriterien der nachhaltigen Entwicklung führt zu einem neuen Paradigma, das den Strategien der Moderne neue Akzente verleiht. Experimente mit neuen Arten der Energiegewinnung, der bewusste Einsatz ökologisch schonender Materialien und Verarbeitungsweisen, die Einführung von Kreislaufwirtschaft, die Reduzierung von Bedarfen führen zu neuen Lösungen. So wie sich die europäische Stadt unter dem Einfluss historischer Technologie, etwa im militärischen Bereich, oder den verschiedenen Stadien der Industrialisierung und Motorisierung immer wieder verwandelt hat, befinden wir uns auch heute in einer sich sehr stark verändernden technologischen Entwicklung, ­deren Ergebnisse im Sinne der Fortschreibung der vorhandenen Kultur zu verarbeiten sind.

WEITERBAUEN Im Kontext weltweiter Kommunikation und der daraus folgenden Globalisierung wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen entsteht einerseits eine bisher ungekannte Erweiterung unseres Erfahrungs- und Aktionshorizontes, andererseits aber bei vielen Menschen auch ein erhöhter Bedarf an Abgrenzung und Identitätsstiftung. Für viele Europäer ist unter anderen Phänomenen die ­eigene Stadt – über ihre Funktion als Wohn- und Arbeitsort hinaus – ein solches Vehikel der Differenzierung, stellt sie doch einen Spiegel und ein Behältnis der eigenen (Kultur-) Geschichte dar. Auch aus energetischer Sicht ist der Erhalt, die Adaption und die Fortschreibung vorhandener Strukturen mit Abstand die sparsamste und sinnvollste Herangehensweise an Bauaufgaben in der Stadt. Dies gilt nicht nur für Innenstädte mit denkmalgeschützter Substanz, sondern auch für das Erbe von Garten-, Vor- und Satellitenstädten. Denn in der Bausubstanz ist so viel gebaute Energie an CO₂ und Brennstoff eingebettet, dass ein Abriss durch optimierte Neubauten – wenn überhaupt – nur langfristig kompensiert werden kann. Gleichzeitig entsteht allein aus der Reaffirmation der eigenen Geschichte noch keine Zukunft. Deshalb bleiben neben der sinnvollen Optimierung des Vorgefundenen die Fortschreibung und Neuinterpretation der eigenen Identität essenzielle Aufgaben der zeitgenössischen Baukultur.

VITA ACTIVA Nachhaltige Entwicklung kann nur in stabilen gesellschaftlichen Verhältnissen gelingen, die einen gewissen Gemeinsinn entfalten. In Zeiten ubiquitärer Mobilität, zunehmend reibungsloser Infrastruktursysteme und ortsunabhängiger Sozialisierung in virtuellen Netzwerken scheint der Erhalt lokal verorteter Gemeinschaften schwerer denn je. Dementsprechend muss die Stadt Räume anbieten, die der Begegnung, dem gemeinsamen Erleben und der Produktion eines kollektiven Bewusstseins gewidmet sind. Wenn das moderne Leben, nach Hannah Arendt vor a­ llem vom Arbeiten und Konsumieren geprägt, beim Individuum zu einem Gefühl der Verlassenheit führt, so bedarf es in Zeiten fluktuierender Arbeitsverhältnisse mehr denn je der städtischen Bühne, des öffentlichen Anliegens, um die vielfältigen Elemente der Gesellschaft sichtbar zu machen und zusammenzubringen. Diese Bühnen finden sich ebenso an den zentralen Orten kollektiver Urbanität wie in den vielfachen transitorischen Situationen der zeitgenössischen urbanen Agglomeration.

FAST NETWORK – SLOW CITY Die autogerechte Stadt ist in vielerlei Hinsicht an ihre Grenzen gestoßen. Der Individualverkehr nimmt zu viel Platz in Anspruch und verursacht Luftverschmutzung und Treibhausgase. Alter­ native Systeme müssen das Mobilitätsangebot ­effizienter machen und in abgestimmten Verkehrsmodi die richtigen Fortbewegungsmittel für die entsprechenden Distanzen und Geschwindigkeiten anbieten. Teile der Stadt müssen dezidiert den Fußgängern und Radfahrern gehören. Wenn der durch Automobile in Anspruch genommene Raum in der Stadt reduziert werden kann, bieten sich überraschende Raumreserven, deren Potenzial zu erkunden ist. Gleichzeitig muss die Vernetzung von Städten und Stadtteilen in angemessener Form vorangetrieben werden. Dies gilt nicht nur für Mobilitätsnetzwerke, sondern auch für die ­Infrastruktur zur Datenübertragung. Wenn die Wirtschaft zumindest teilweise auch ohne Fabrikanlagen und Gütertransport blüht, entstehen andere Schwerpunkte für städtische Infrastrukturen.

TEILNEHMENDE BÜROS: Auer Weber, Stuttgart / Barkow Leibinger, Berlin / Bollinger + Grohmann Ingenieure, Frankfurt am Main / Brandlhuber +, Berlin / Michael Bräuer, Rostock / Brenne Architekten, Berlin / Werner Durth, Darmstadt / Dietmar Feichtinger Architectes, Montreuil / Gigon/Guyer Architekten, Zürich / gmp (Volkwin Marg), Hamburg / Grüntuch Ernst Architekten, Berlin / Hager Partner AG, Zürich / Peter Haimerl. Architektur, München / Thomas Herzog Architekten, München / Hoidn Wang Partner, Berlin / KCAP (Kees Christiaanse), Zürich / Keller Damm Kollegen GmbH Landschaftsarchitekten Stadtplaner, München / Lacaton & Vassal Architectes, Paris / Pierre Laconte, Kortenberg bei Brüssel / léonwohlhage Gesellschaft von Architekten mbH, Berlin / hg merz, Berlin / Günter Nagel und Partner, Hannover / Florian Nagler Architekten, München / Nieto Sobejano Arquitectos, Madrid / Arhitektuuribüroo R-Konsult (Irina Raud), Tallinn / Ian Ritchie Architects, London / Sauerbruch Hutton, Berlin / Schlaich, Bergemann und Partner, Berlin, Stuttgart / Schulitz Architekten GmbH, Braunschweig / Thomas Sieverts, München / Snøhetta (Kjetil Trædal Thorsen), Oslo / Staab Architekten GmbH, Berlin / Szyszkowitz-Kowalski Architekten, Graz / Christiane Thalgott, München / Transsolar Energietechnik (Thomas Auer), Stuttgart / Marco Venturi, Venedig / Jörn Walter, Hamburg

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D H N D CHT I GEDÄCHTNIS G D H N E T I D C N E I H Ä S E

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Unter dem Titel Where The Story Unfolds stellten die Stipendiat*innen der Jungen Akademie im Februar ihre aktuellen Arbeiten vor. Zwischen nationalen Narrativen und individuellen Geschichten werden die Künste zu einem Raum der Erinnerung, der Emanzipation und der Widerständigkeit. Künstler*innen wie Franziska Pflaum oder Artemiy Shokin untersuchen die Mechanismen und Grenzen medialer Narrative. In Center Shift #01 lässt die kurdisch-deutsche Künstlerin Cemile Sahin die Protagonistinnen ihrer Installation ein Re-Enactment inszenieren, in dem es um einen Mord geht, der nicht dokumentiert ist, sondern nur noch in den Bildern der verschiedenen Narrative existiert. Dabei simuliert die unmittelbare intime Kameraführung eine InstagramGeschichte, die Installation mit den Zuschauer*innen wird zu einem riesigen Tablet. Die sozialen Medien werden gleichsam zur zweidimensionalen Variation oraler Traditionen. Während in diesen künstlerischen Annäherungen einer jungen Generation an mögliche Erzählweisen von Gegenwart der virtuelle Raum zum Experimentierfeld von Wirklichkeit wird, basiert das Selbstverständnis von Archiven und Museen wesentlich immer noch auf dem Bewahren analoger Objekte. Dabei trifft das zu, was Jan Gerchow, Leiter des Historischen Museums Frankfurt, als strukturelle Amnesie beschreibt. Jede Auswahl, jede Sammlung, jedes Archiv muss notwendigerweise Objekte, Erzählungen, kulturelle Speicher aus­schließen. Deutlich wird das durch Perspektivwechsel wie den Feminismus, die postkoloniale Diskussion oder die fehlende Präsenz von Minderheiten. Aleida Assmann geht in ihrem Essay soweit, dass sie die Archive und Museen auch als exkarnierte Gedächtnisspeicher beschreibt, die eindeutig mit hegemonialer Vormacht verknüpft sind. Von zentraler Bedeutung war, dass die UNESCO für den globalen Süden mit dem Begriff des immateriellen Kulturerbes Anfang der 2000er Jahre eine andere, neue Perspektive auf das inkarnierte Wissen, auf das verkörperte Wissen erschlossen hat, die seitdem auch unser Verständnis von Kulturellem Gedächtnis radikal verändert. Begriffe wie die Performative Wende, Repertoire, Wiederholung oder Kanon verweisen auf den Aspekt einer lebendigen Erinnerungskultur. Am Beispiel der deutsch-deutschen Geschichte in der Zeit des Kalten Krieges, insbesondere auch mit und nach dem Mauerfall, werden diese Aspekte von Vorherrschaft durch die Gedächtnishoheit deutlich. Dafür stehen die Beiträge von Klaus Wolfram, Katharina Warda und Volker Braun. Die Fotoessays von Michael Ruetz und Ixmucané Aguilar dokumentieren die Transformationsprozesse von Kulturellem Gedächtnis in der Gegenwart am Beispiel von Zentrum und Peri­pherie, von deutscher Hauptstadt und kolonialer Vergangenheit. Für das Frühjahr 2021 plant die Akademie der Künste einen Themen­schwerpunkt zu dem, was das Kulturelle Gedächtnis für die Zukunft der Gesellschaften in Europa und weltweit bedeuten kann. Es geht um Themen der Gerechtigkeit, des Verdrängens und Transformierens von Traumata, um die Erinnerung als Basis für eine nach­ haltige Zukunft auf dem Planeten. Kulturelle Vielfalt ist ebenso bedeutsam wie Artenvielfalt, existenziell für eine humane Perspektive der Menschheit. Es geht um das kritische Lesen unserer eigenen Erzählung und um die wirksame Transformation von historischen Wissensspeichern für die Zukunft. Johannes Odenthal

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MICHAEL RUETZ – TIME MACHINE

Akademieplatz, Gendarmenmarkt 1077.00  11. April 1966

Gendarmenmarkt 1077.02  11. April 2016

MICHAEL RUETZ, Künstler, Berlin. Studium: Sinologie, Japanologie. Otto Steinert Preis. Villa Massimo Preis. Commandeur de‘l Ordre des Arts et des Lettres. Produktion von mehr als 40 Büchern für den amerikanischen und den internationalen Markt. C4-Professur für Kommunikationsdesign an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Seit 1996 Mitglied der Akademie der Künste. Das Projekt wird 2023 in Form einer Ausstellung und einer Monografie publiziert.

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Außenministerium der DDR, Marx-Engels-Platz, Schloßplatz 313.0  2. Februar 1992

Außenministerium der DDR, Marx-Engels-Platz, Schloßplatz 313A.03  13. Oktober 1994

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Außenministerium der DDR, Marx-Engels-Platz, Schloßplatz 313.11  6. Juli 1998

Außenministerium der DDR, Marx-Engels-Platz, Schloßplatz 313A.26  3. Februar 2016

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GEDÄCHTNIS

DER KÖRPER ALS MEDIUM DES INDIVIDUELLEN, KOLLEKTIVEN UND KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES

Aleida Assmann

INDIVIDUELLES GEDÄCHTNIS: ICH- UND MICH-GEDÄCHTNIS In einer Rede, die Günter Grass 2000 in Vilnius gehalten hat, hat der Autor eindrucksvoll beschrieben, was ihm auffällt, wenn er sich selbst beim Erinnern zuschaut. In diesem Text teilt er uns wichtige Beobachtungen über die Dynamik des persönlichen Erinnerns mit: „Ich erinnere mich … oder werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hinterlassen hat oder in verjährten Briefen mit tückischen Stichworten darauf wartete, erinnert zu werden. Diese und weitere Fallstricke bringen uns ins Stolpern. Aus dem Abseits taucht etwas auf, das nicht sogleich zu benennen ist. Sprachlose Gegenstände stoßen uns an, Dinge, die uns seit Jahren, so meinten wir, teilnahmslos umgaben, plaudern Geheimnisse aus: peinlich, peinlich!“1 Die Erinnerung, so zeigt er, wird nicht von unserem Willen aufgerufen, sondern kommt, wenn sie will, beziehungsweise: wenn sie von äußeren Impulsen ausgelöst wird. Erinnerungen werden „getriggert“, wie man heute sagt; wann und wo das geschieht, ist nicht planbar. Die Erinnerung funktioniert demnach ähnlich wie eine Wünschelrute, die an bestimmten Orten und Stellen ausschlägt und zu vibrieren beginnt. Was dann im Einzelnen aufgerufen wird und dabei hochkommt, lässt sich nie vorhersehen. Ich möchte von diesem Zitat ausgehend eine Unterscheidung zwischen „Ich-Gedächtnis“ und „Mich-­­Ge­ dächtnis“ vorschlagen. Das Ich-Gedächtnis ist das Gedächtnis, das wir bewohnen, das wir steuern können und über das wir mehr oder weniger souverän verfügen; das Mich-Gedächtnis ist dagegen das somatische Gedächtnis, das sich auf den Körper ausdehnt und über Sinnesreize stimuliert wird. Marcel Proust ist der Erzähler und Theoretiker dieses Mich-Gedächtnisses geworden, der in seinem Roman Auf der Suche nach der Verlorenen Zeit einen bestimmten Geschmack verewigt hat, der bei ihm durch ein in Lindenblütentee eingetauchtes Madeleine-Gebäck verursacht wurde. Alle Proust-Leser*innen kennen inzwischen genau diesen Geschmack, ohne jedoch die Proust’sche Erfahrung selbst reproduzieren zu können, die er in seinem Roman meisterhaft beschrieben hat. Eines der Bilder, das er benutzte, ist ein unter Wasser lagernder Anker, der gelichtet wird und langsam an die Oberfläche des Bewusstseins aufsteigt. Mit seiner Beschreibung der

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mémoire involontaire, des Mich-Gedächtnisses, hat Proust zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur das Gehirn, sondern auch der ganze Körper zum Medium der Erinnerung werden kann. Grass wusste natürlich genau, wem er diese Einsicht verdankt. Deshalb hat er nämlich eine Proust-Hommage in seinen Text eingefügt und sein ­Pendant für die Madeleine-Episode erfunden: „Auch während Reisen an Orte, die hinter uns liegen, zerstört wurden und nun fremd klingen, holt uns plötzlich Erinnerung ein. So geschah es mir im Frühjahr 1958, als ich zum ersten Mal nach Kriegsende die langsam aus abgeräumten Trümmern nachwachsende Stadt Gdansk besuchte und beiläufig hoffte, auf verbliebene Spuren von Danzig zu stoßen. […] Als ich das einstige Fischerdorf Brösen aufsuchte und den schlappen Anschlag der Ostsee als unverändert erkannte, stand ich plötzlich vor der verschlossenen Badeanstalt und dem gleichfalls vernagelten Kiosk seitlich vom Eingang. Und sogleich sah ich die billigste Freude meiner Kindheit aufschäumen: Brausepulver mit Himbeer, Zitrone und Waldmeistergeschmack, das in jenem Kiosk für Pfennige in Tütchen zu kaufen war. Doch kaum prickelte das erinnerte Erfrischungsgetränk, begann es sogleich Geschichten zu hecken, wahrhafte Lügengeschichten, die nur auf das richtige Kennwort gewartet hatten. Das harmlose und simpel wasserlösliche Brausepulver löste in meinem Kopf eine Kettenreaktion aus: aufschäumende frühe Liebe, dieses wiederholte und dann nie wieder erlebte Prickeln.“2 In diesem Text wird die Differenz in der Zeit betont und zwischen dem Ort der Jugend einerseits und der Rückkehr des Schriftstellers andererseits klar unterschieden. Es bedarf eben eines Bruchs und einer gewissen Zeitspanne, bevor sich der Effekt der unbewussten Erinnerung einstellen kann. Mehrere Jahre liegen zwischen dem Kriegsende und Grass’ erster Reise zurück an den Ort seiner Kindheit auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Nur etwas, was nicht kontinuierlich in der Wahrnehmung präsent oder im Bewusstsein verfügbar war, sondern was radikal entzogen war, sich stark verändert hat und längere Zeit in der Latenz eines „Verwahrensvergessens“ schlummerte, wo es frisch und gut ­konserviert ist, kann solche Überraschungen und Überrumpelungen auslösen.


TRAUMATISCHES GEDÄCHTNIS UND SEINE ÜBERTRAGUNG: „POSTMEMORY“ DER ZWEITEN GENERATION Die Beispiele von Grass und Proust suggerieren, Erinnern spiele sich als ein isoliertes und solipsistisches Geschehen ab, eingeschlossen in die Subjektivität eines großen Autors. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Der Soziologe Maurice Halbwachs, dem wir eine soziale Gedächtnistheorie aus den 1920er Jahren verdanken, hat betont, dass ein völlig einsamer Mensch gar kein Gedächtnis entwickeln könnte. Er stellte die wichtige Frage nach den sozialen Rahmenbedingungen des Erinnerns, ein Beispiel dafür sind die Erinnerungen im Familiengedächtnis. Es ist unstrittig, dass im Familiengedächtnis die Erinnerung der einzelnen Mitglieder durch die Erzählungen und Anekdoten erweitert und durch Fotos und andere Dokumente gestützt wird. Das Familiengedächtnis entsteht nicht durch Belehrung, sondern auch durch alltägliche kulturelle Praktiken.3 Im Falle einer Familie allerdings, deren Eltern durch Erfahrungen extremer Gewalt traumatisiert sind, kann das Trauma auch in anderer Weise, nämlich gerade durch Nicht-Erzählen und damit durch stumme Signale auf die Kinder übertragen werden. Das war die Erfahrung der Journalistin und Autorin Helen Epstein, der als junger Frau irgendwann auffiel, dass sie als Kind von ­Holocaust-Überlebenden unter ganz anderen Rahmenbedingungen aufgewachsen war als andere Jugendliche ihrer Umgebung. Sie stellte eine Liste der Besonderheiten der Familienkommunikation zusammen und veröffentlichte sie in einem Artikel.4 Der Artikel fand sofort ein lebhaftes Echo unter Leser*innen auf der ganzen Welt, die sich in Epsteins Skizze wiederfanden. Das war der Anfang eines intensiven jüdischen Selbstverständigungs-Diskurses über die „Zweite Generation“ (2G) – ein Label, das dann auch viele bekannte Künstler*innen (wie Sonia Pilcer oder Art Spiegelman) für sich in Anspruch genommen haben. Die Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch, selbst Mitglied der „Zweiten Generation“, hat diese Beobachtungen theoretisch erweitert und die Übertragung des Körpergedächtnisses von der ersten an die zweite und dritte Generation am Umgang mit Fotografien untersucht. Fotos von Familienmitgliedern, die den Holocaust nicht überlebt haben, gewinnen eine geradezu magische Bedeutung, weil sie in der Anwesenheit des Bildes zu­g leich die schmerzliche Abwesenheit der Person bewusst machen. Die Fotografien treten damit an die Stelle der toten Familienmitglieder, die förmlich mit am Tisch sitzen. Da sich um deren gewaltsamen Tod eine Aura des Schweigens gebildet hat, werden die Kinder nicht von Anfang an in eine Familienerzählung im Sinne eines „conversational remembering“ einbezogen, ­sondern zunächst mit Lücken und Geheimnissen konfrontiert, in denen sich das Trauma ihrer Fantasie bemächtigen kann. „Postmemory characterizes the experience of those who grew up dominated by narratives that preceded their birth, whose own belated stories are evacuated by stories of the previous generation shaped by traumatic events that can be neither understood or recreated.“5 Für diese Form der transgenerationellen Übertragung eines Körpergedächtnisses hat Hirsch den Begriff „postmemory“ geprägt. In ihrer Definition unterstreicht sie den paradoxalen Charakter des Begriffs durch eine

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Reihe von Widersprüchen wie die Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe, Erinnerung und Imagination, „vermittelt“ und „direkt“. „In my reading, postmemory is distinguished from memory by generational distance and from history by deep personal connection. Postmemory is a powerful and very particular form of memory precisely because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation. This is not to say that memory itself is unmediated, but that it is more directly connected to the past.“6 Mit ihrem Begriff „postmemory“ verweist Hirsch auf den Übergang von der Erfahrungsgeneration zu den Nachgeborenen, die noch in die lebendige Zirkulation des kommunikativen Gedächtnisses eingeschlossen sind, solange sie an den Familienerzählungen oder deren Schweigen partizipieren. Je nach Rahmen verändert die Fotografie ihren Status. „This is the transition from the representation of a person to a ghost to a pure picture.“7 Hirsch registriert unterschiedliche Intensitätsstufen der Fotografie; innerhalb eines Interaktions- und Kommunikationsrahmens halten sie eine bekannte Person in Erinnerung, in einer traumatisierten Familie werden die Bilder zu Geistern, und außerhalb des Familiengedächtnisses erlischt der Erinnerungswert und die Fotos w ­ erden zu reinen Bildern. Ihre enge Verbindung zum Trauma macht die Fotografien zu Vertretern und Ikonen der toten Familienmitglieder. Solche Fotografien sind rituelle Bezugspunkte der Erinnerung, aber als letzte Spur eines gewaltsam ausgelöschten Lebens besitzen sie zugleich auch einen besonderen Evidenzcharakter. Das Bild wird zum Stellvertreter der verlorenen Person und gewinnt damit einen geisterhaften Status zwischen Abwesenheit und Anwesenheit.

EXKARNATION UND INKARNATION: ZWEI THEORIEN DES KULTURELLEN GEDÄCHTNISSES 1979 UND 2003 Kulturen haben die Aufgabe, Informationen, die für die Identität einer Gruppe wichtig sind, über die Todesschwelle ihrer Mitglieder zu retten. Sie sind Langzeitprojekte, die nicht von heute auf morgen in die Welt gesetzt werden und in der Regel auch nicht von heute auf morgen verschwinden. Sie vermitteln Orientierung, ermöglichen Zugehörigkeit und öffnen einen Verweishorizont, der von den Mitgliedern der Gruppe auf unterschiedliche Weise genutzt, verändert, abgeschafft und umgeschaffen werden kann. Nachhaltigkeit ist deshalb nicht nur ein Desiderat für den Umgang mit ökologischen Ressourcen, sondern auch die Existenzform ­kultureller Überlieferungen. Die Reproduktion und Tra-

dierung kultureller Ressourcen versteht sich dabei ebenso wenig von selbst wie die Bestandswahrung natürlicher Ressourcen. Meine These ist nun, dass ebenso, wie ein ökologisches Denken erst vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung natürlicher Ressourcen entstanden ist, auch der Begriff des kulturellen Gedächtnisses erst mit einem wachsenden Bewusstsein der prekären historischen, politischen und medialen Voraussetzungen von Überlieferungen aufkam. Es waren vor allem drei Denkanstöße, die Jan Assmann und mich auf diesen Weg geführt haben. Der erste Anstoß geht auf einen Satz aus einer Rede zurück, die der malische Schriftsteller und Ethnologe Amadou Hampâté Bâ 1960 vor der UNESCO gehalten hat. Er lautete: „Mit jedem Greis, der in Afrika stirbt, verbrennt eine Bibliothek.“8 Damit brachte er der Weltöffentlichkeit schlagartig den prekären Status sogenannter „Gedächtniskulturen“ zu Bewusstsein, die sich nicht auf dauerhafte Institutionen wie Denkmäler, Traditionen, Museen und Archive stützen können, sondern allein in der Performanz der Wiederholungen und in der aufwendigen Praxis der Weitergabe von Generation zu Generation bestehen. Schlagartig wurde offenbar, dass Modernisierung und Globalisierung nicht nur das Aussterben von Tierarten beschleunigen, sondern auch den Verlust von Kulturen, Sprachen und Traditionen. Viele Stammesgesellschaften bemühten sich in den 1960er und 1970er Jahren, ihre Überlieferung durch Akte der Verschriftlichung vor dem Verschwinden zu retten. In postkolonialen Zeiten mussten Stammesgesellschaften das Medium ihrer Kolonisatoren nutzen, um die eigene Existenz und Identität für die Zukunft zu sichern. Ein zweiter Denkanstoß war für uns die Einführung der Digitalisierung in den 1980er und 1990er Jahren. Die elektronische Schrift hat unsere Vorstellung von Schreiben und Speichern tiefgreifend revolutioniert und eine Zukunft eingeleitet, die uns weiterhin in Bewegung hält. Der dritte Denkanstoß war die Rückkehr der Holocaust­erinnerung nach vier Jahrzehnten kollektiven Beschweigens. Auch dieser Anstoß war verbunden mit der Einsicht in die Fragilität des Erinnerns und die Dringlichkeit ihrer Stützen. Diese drei Anstöße haben neue grundlegende Fragen für uns zum Gegenstand kontinuierlicher Reflexion gemacht. Mithilfe des Begriffs „kulturelles Gedächtnis“ untersuchen wir seither die medialen Bedingungen kultureller Überlieferung und den Stoffwechsel von Erinnern und Vergessen innerhalb von Gesellschaften, Nationen und Religionen. Am Anfang stand dabei die Unterscheidung mündlich/schriftlich beziehungsweise zwischen schriftverwendenden Kulturen und oralen Gedächtniskulturen ohne Schrift. Schrift und Gedächtnis hieß deshalb auch die erste Publikation unseres Arbeitskreises, die auf eine Tagung am ZIF in Bielefeld im Jahre 1979 zurückgeht. Weil unsere Expertise in der Altertumswissenschaft und der Literaturwissenschaft lag, haben wir den Weg zum

Fotografien sind rituelle Bezugspunkte der Erinnerung, aber als letzte Spur eines gewaltsam ausgelöschten Lebens besitzen sie zugleich auch einen besonderen Evidenzcharakter. 14

kulturellen Gedächtnis über die Texte gefunden. Wir haben dabei die Schrift als externen Gedächtnisspeicher untersucht und gefragt: Was passiert mit einer Kultur, wenn sie aus der Mündlichkeit kommend auf das Medium Schrift umstellt? Platons Phaidros wurde dabei zu einem Schlüsseltext. Davon ausgehend haben wir die Gedächtnismöglichkeiten von Schriftkulturen wie Kanon und Zensur, Text und Kommentar immer weiter verfolgt und dabei irgendwann die Ursprünge unserer Fragestellung in Afrika vergessen. Wir haben uns auf den Pfad der „Exkarnation“ gemacht mit ihren externen Speichern wie Bibliotheken und Archiven und haben den Pfad der „Inkarnation“, die verkörperte Kultur, dabei mehr oder weniger aus den Augen verloren. Im Jahr 2003 hat die UNESCO mit dem neuen ­Konzept „intangible cultural heritage“ (immaterielles Kulturerbe) einen entscheidenden Prozess der Dekolonialisierung des Westens und der Emanzipation von Gedächtnis-­ Kulturen eingeleitet und eine flagrante kulturimperia­ listische Schieflage beendet. Die Qualität von Kulturen wurde bis dahin nämlich am Maßstab materieller ­Hinterlassenschaften westlicher Kulturen gemessen. Gedächtnis-Kulturen hatten bei der UNESCO in Sachen Kulturerbe nicht punkten können, denn sie hatten keine Museen, Archive oder Bibliotheken aufzuweisen und folglich, wie es hieß, auch keine Geschichte, sondern nur Griots, Barden und Folklore als physisch prekäre und ephemere Träger von Traditionen. Mit der Kategorie des „intangible cultural heritage“ änderte sich dieses Missverhältnis. Endlich wurde anerkannt, dass es nicht nur exkarnierte, sondern auch inkarnierte Medien des kulturellen Gedächtnisses gab und Kulturen auch durch Aufführungen und Praktiken, durch Singen und Tanzen, Musizieren und Erzählen, Kochen und Töpfern, Riten und Feste über Generationen hinweg aufrechterhalten werden. Das Buch, das das Umdenken in der UNESCO und die Wende zum immateriellen Kulturerbe eingeleitet hat, stammt von Diana Taylor. Es hat den Titel: The Archive and the Repertoire.9 Ich hatte im Juni 2018 Gelegenheit, ein Gespräch mit Diana Taylor an der Universität Zürich zu führen. Eine Schülerin von mir, die dort Junior-Professorin ist, hat das Treffen organisiert. Für mich war das die Gelegenheit, einen verlassenen Pfad unserer Forschung nach fast 40 Jahren wiederaufzunehmen. Diana Taylor lehrt an der NYU Performance Studies und ist im Norden Mexikos aufgewachsen. Sie stammt aus einer weißen Familie, hat aber seit ihrer Kindheit die kulturelle Grenze und das politische Machtgefälle zwischen der Nord- und SüdHemisphäre der Amerikas erfahren. Deshalb dient ihre Forschung auch der Dekolonialisierung Mittel- und ­Südamerikas und dem Aufbau eines sozialpolitischen Gegengedächtnisses. Denn wer Archive vorweisen kann, hat die politische Macht; Archive sind eine Waffe des Kolonialismus. „Wer schreibt, der bleibt“, war ein Slogan der Post, als es die noch gab und für sich Reklame machte. Schrift öffnete den Zugang zu Eliten und definierte ­nationale Identität; wer keine Archive aufzuweisen hatte, blieb unsichtbar und verstummte in der Geschichte der Sieger. Während Jan und ich an der Schwelle der digitalen Revolution die Medien des kulturellen Gedächtnisses erforschten und uns ins Studium exkarnierter Kulturen vertieften, erforschte Diana Taylor die Formen des verkörperten kulturellen Gedächtnisses. Ihre Schlüsselbegriffe sind „Performanz“ und „Repertoire“. Sie fragt:


MICHAEL RUETZ – TIME MACHINE

Palast der Republik, Humboldt Forum 312B.01  2. Februar 1991

Palast der Republik, Humboldt Forum 312B.16  22. Oktober 2006

Palast der Republik, Humboldt Forum 312B.24  31. Oktober 2010

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Potsdamer Platz 146.03  26. Mai 1990

Potsdamer Platz 146.10  9. Februar 1998

Potsdamer Platz 146.15  1. Mai 2006

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Wie überträgt einstudiertes Ausdrucksverhalten (per- und 60 Jahre ihres Lebens lang ihr Publikum auf der formance) kulturelles Gedächtnis und Identität? Der Bühne beeindruckte – doch von dieser Kunst ist uns Begriff Performance10 begründet, wie schon für Hampâté nichts überliefert. Der Graben zwischen exkarnierter Bâ, eine eigene Episteme, steht also für eine genuine und inkarnierter Kultur ist heute nicht mehr so tief. Form des Wissens, der Welterfahrung und Weltmodel- Der Begriff Performance lässt ja Platz für Körper und lierung (world making) sowie der Übertragung und Schrift, für Aufführung und Aufzeichnung. Sicher ist eine Überlieferung: Video-­Aufzeichnung keine Performance im engeren „Writing is one thing and knowledge is another. Wri- Sinne mehr, sondern ein Dokument einer solchen, aber ting is the photography of knowledge, but it is not know- erst mithilfe dieser Dokumente können wir auch eine ledge itself. Knowledge is a light which is in man. It is Geschichte der Aufführungen schreiben und Universitätsthe heritage of all the ancestors knew and have trans- Fächer können sich um die ephemeren Künste kümmern. mitted to us as seed, just as the mature baobab is con- Es ist wichtig, dass diese Geschichte Teil des allgemeitained in its seed.“11 nen Bewusstseins, Interesses und kulturellen GedächtDer Begriff der Performance hat vielen Fächern neue nisses wird. Perspektiven erschlossen und unseren Begriff von Kultur grundlegend umgebaut. Seine erstaunliche Produktivität hängt sicher auch mit dem breiten Bedeutungs-­ SICHERUNGSFORMEN DER DAUER Spektrum zusammen; es reicht vom Theatralischen und UND WIEDERHOLUNG Spektakulären als einer herausgehobenen Darbietung für Zuschauer*innen bis hin zu Formen allgemeiner Teil- Tatsächlich umfasst das kulturelle Gedächtnis beides: habe in sozialen Skripts und habitualisierten Handlungen Sicherungsformen der Dauer und der Wiederholung. Die auf der Bühne des Alltags. Der Performance-Begriff hat russischen Kultur-Semiotiker Jurij Lotman und Boris unsere Hierarchien durcheinandergebracht: Die Priorität Uspenskij haben Kulturen definiert als „das nicht verhat nun die Aufführung, die kollektives Leben formt und erbbare Gedächtnis eines Kollektivs“. Deshalb sind sie umformt, und dann erst kommt die schriftliche Produk- ein Langzeitprojekt, ein Kontinuum des Aufführens, Lertion, die den individuellen Ausdruck ermöglicht und betont. nens, Speicherns und Weitergebens. Dieses kulturelle Eine weitere neue Perspektive dieses Ansatzes besteht Gedächtnis darf nicht mit dem Speicher fixierter Dokudarin, dass es nicht-archivalische inkarnierte Übertra- mente (Akten, Bilder, Bücher, Artefakte) verwechselt gungs- und Überlieferungssysteme gibt. Ein solches werden, denn es entsteht und besteht überhaupt nur im inkarniertes Speichersystem ist das Repertoire. Auffüh- permanenten Austausch und in der Erneuerung. Die rungen sind zugleich kraftvolle Transfer-Akte, die sozia- Unterscheidung zwischen Sicherungsformen der Dauer les Wissen, Erinnerung und ein Gefühl gemeinsamer Iden- und Sicherungsformen der Wiederholung ist bereits in tität durch wiederholtes oder – wie Richard S ­ chechner meiner Unterscheidung zwischen Archiv und Kanon entes nennt – „twice-behaved behavior“ vermitteln. Das halten: Kanon ist die enge Auswahl dessen, was zur Repertoire ist ein verkörperter kollektiver Wissensspei- ­Aufführung gelangt und stets wiederholt werden muss, cher, auf den Individuen einer Gruppe zugreifen können. Archiv ist der stabile Rahmen einer Überlieferung, die Man kann aktiv an ihm teilhaben, zum Beispiel durch das gesammelt wird, gesichert ist und auch ohne RückhoSingen eines Liedes mit allen Strophen oder auch pas- lung und Wiederholung zeitresistent überdauert. Ich siv durch das Mitsummen der Melodie. spreche hier nicht von politischen Archiven, die geheim sind und der Stabilisierung der Macht dienen, sondern von historischen Archiven, die drei Merkmale aufweisen: BRÜCKEN, VERBINDUNGEN UND NEUE FRAGEN Materialität, Bestandsschutz und Zugänglichkeit. Ich möchte hier zwischen Gedächtnisspeichern und Die Dichotomie von Archiv und Repertoire eignet sich Erinnerungsmedien unterscheiden. Ein Archiv ist ein gut zur Politisierung und Konfrontation zwischen Kolo- Gedächtnisspeicher, Denkmäler oder Bücher sind Erinnisatoren und Kolonisierten. Damit hat sie ihre Bedeu- nerungsmedien. Was in Granit gemeißelt ist, verspricht tung aber noch nicht erschöpft. Diana Taylor hat gegen lange Haltbarkeit, und was man schwarz auf weiß besitzt, die Vertreibung des Körpers aus der westlichen Kultur das kann man getrost nach Hause tragen. Das ist aber angeschrieben und für die Anerkennung und Wiederher- nur die eine Seite der Medaille, weil Wiederholung, Relekstellung einer expressiven verkörperten Kultur plädiert. türe, Aktualisierung und Erneuerung – hier kommt die Damit hat sie aber zugleich auch die körperbetonte Dimension der Performanz ins Spiel – für die Erinnerung Seite westlicher Kultur aus dem Vergessen zurückgeholt. nicht weniger wichtig sind. Das kulturelle Gedächtnis ist Der Graben verläuft zwischen dem geschriebenen und wie das individuelle Gedächtnis deshalb auf externe gesprochenen Wort und zwischen dem Archiv bezie- Anstöße oder „trigger“ angewiesen. Was in Museen, hungsweise Museum als stabilem Zeichenträger für Archiven und Bibliotheken dauerhaft gespeichert ist, das Texte, Dokumente, Monumente, Artefakte einerseits muss zu bestimmten Gelegenheiten getriggert, sprich: und dem ephemeren Repertoire andererseits wie der immer wieder gelesen, ausgestellt, aufgeführt, inszegesprochenen Sprache, dem Tanz, dem Sport, dem Ritual. niert, kurz: reaktiviert werden. So wie es Denkmäler im Dieser Graben trennt nicht nur die schriftverwendenden Raum gibt, gibt es deshalb auch „Denkmäler in der Zeit“, von den nicht-schriftverwendenden Kulturen, sondern wie ich die Jubiläen und Jahrestage nenne. Von dem, was markiert auch eine technische Wende der Aufzeichnungs- dauerhaft gespeichert ist und in eine immer größere zeitpraxis in allen Kulturen. Vor der Erfindung der Aufzeich- liche Ferne rückt, bringen sie periodisch etwas zurück nung von Musik und bewegten Bildern fielen auch alle und einer allgemeinen Öffentlichkeit dabei wieder zu Performances aus dem westlichen Kultur-Gedächtnis Bewusstsein. Deshalb ist es müßig, diese beiden Modi heraus. Clara Schumann zum Beispiel war eine Pianistin gegeneinander auszuspielen, denn sie sind komplemenvon Weltrang, die von Aufführung zu Aufführung reiste tär aufeinander angewiesen. Akte der Wiederholung sind

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zugleich Formen der Auffrischung und Erneuerung des Erinnerten: Das gilt für das Individuum ebenso wie für die Kultur. Ein lebendiges kulturelles Gedächtnis braucht die Verschränkung von Exkarnation und Inkarnation. Was nur konserviert wird und nicht auch aktive oder passive Teilhabe einschließt, existiert im Speicher, aber noch nicht im Gedächtnis. Unsere Speicher sind immer größer geworden – Merlin Donald nennt das im Internet gespeicherte Wissen „ESS. = External Storage System. Wir können uns als Menschen im großen Stil auf externe Speicher verlassen, aber wir können unser Gedächtnis auf sie nicht outsourcen. Das hat Jochen Gerz mit großem Nachdruck in einem Vortrag über seine Denkmals-Kunst betont: „Wir können uns heute von nichts vertreten lassen, schon gar nicht von einem Denkmal. Denn nichts kann sich auf Dauer an unserer Stelle gegen das Unrecht erheben!“12

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Günter Grass, in: Martin Wälde (Hg.), Die Zukunft der Erinnerung. Göttingen 2001, S. 27–34 2 Ebd., S. 28 3 „processes of remembering, forgetting and reinventing“ (Joseph Roach, Cities of the Dead, zit. nach Colin Counsell und Roberta Mock (Hg.), Perfomance, Embodiment and Cultural Memory. Cambridge 2009, S. 7) 4 Helen Epstein, Children of the Holocaust. Conversations with Sons and Daughters of Survivors. New York 1988 und der programmatische Text von Sonja Pilcer, 2G (1987), www.sonjapilcer.com, sowie Sonja Pilcer, Holocaust Kid. New York 2001 5 M arianne Hirsch, Family Frames: Photography, Narrative, and Postmemory. Cambridge, Mass. 1997, S. 22 6 Ebd., Hervorhebungen hinzugefügt 7 Ebd. 8 Claudia Klaffke, Mit jedem Greis, der stirbt, verbrennt eine Bibliothek, in: Jan und Aleida Assmann und Christoph Hardmeier (Hg.), Schrift und Gedächtnis. München 1979, S. 222–230. Im Jahre 2003 wurde diese verkörperte Form der Tradierung aufgewertet und mit einem neuen Rechtsbegriff als „intangible cultural heritage“ geschützt. Es hat also fast ein halbes Jahrhundert gedauert, bis die UNESCO Kriterien gefunden hat, mit denen diese mündlichkörperliche Variante der Tradierung des kulturellen Erbes in ihrer Bewertung westlichen Medien des kulturellen Gedächtnisses wie Bibliothek, Museum und Archiv gleichgestellt wurde. Vgl. auch Andrea Rehling, „Kulturen unter Artenschutz“? Vom Schutz der Kulturschätze als Gemeinsames Erbe der Menschheit zur Erhaltung kultureller Vielfalt, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 15 (2014), S. 109–137 9 Diana Taylor, The Archive and the Repertoire. ­Performing Cultural Memory in the Americas. Durham und London 2003 10 Performance als Kunst körperlichen Ausdrucks unterscheide ich hier von Performanz, der aktuell praktizierten zeit- und räumlich konkreten Einheit solchen Verhaltens. 11 A. Hampâté Bâ, The living tradition, in: Joseph Ki-Zerbo (Hg.), Methodology and African Prehistory, Bd. 1. Paris et al. 1981, S. 166 12 Vortrag von Jochen Gerz auf der Tagung „Dynamiken des Erinnerns und Vergessens“ im Historischen Museum Frankfurt, 23./24. Mai 2019

ALEIDA ASSMANN ist Anglistin, Ägyptologin und Kultur­ wissenschaftlerin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung. 2018 erhielt sie zusammen mit Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2018. Zuletzt sind erschienen: Formen des Vergessens (2016), Menschenrechte und Menschenpflichten. Schlüsselbegriffe für eine humane Gesellschaft (2018), Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte (2018).

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GEDÄCHTNIS

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Drei Jahrzehnte nach dem großen Umbruch sollte man meinen, die tragenden Linien, die zu ihm führten und seine Form bestimmten, würden sichtbar werden, ins öffentliche Bewusstsein treten. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bundesrepublik spinnt ihr altes Selbstgespräch über Ostdeutschland fort und fort – doch inzwischen hört dort niemand mehr zu.

Wie kamen wir heran? Am Anfang stehen ein ganz präzises Datum und sogar eine einzelne Person. Es ist der 10. September 1989, die Person heißt Bärbel Bohley. Ein Jahr lang hat diese kleine Frau das Treffen von 30 Oppositionellen aus den 15 Bezirken der DDR vorbereitet, auf dem jetzt die Bürgerbewegung „Neues Forum“ gegründet wird. (Es war übrigens der Grundgedanke, sie jenseits der Kirche und außerhalb der Opposition zu verankern.) Natürlich, ein solcher weltgeschichtlicher Wirbel, wie er sich nun im Herbst 1989 entfaltet, hat 100 Bedingungen und 1.000 Randbedingungen – die Form des ­Handelns aber, in denen die Menschen agieren (werden), die wird hier gesetzt. Dialog. Generalaussprache aller politischen Strömungen im Lande. Basisdemokratie der eigenen Bewegung. Gewaltlosigkeit von beiden Seiten. Das war der Tanzpunkt der ostdeutschen Demokratie, und das blieb der Grundgestus ihres Handelns bis gegen Ende 1993.

WAS WAR UND ZU WELCHEM ENDE KAM DIE POLITISCHE ENERGIE DER OSTDEUTSCHEN REDE BEI DER MITGLIEDERVERSAMMLUNG DER AKADEMIE DER KÜNSTE IM HERBST 2019 (8.–10. NOVEMBER)

5. Klaus Wolfram

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Der Mauerfall änderte allerdings ruckartig die Zusammensetzung und die Perspektiven der Demokratiebewegung. Nun erst trat das vierte, das konservative Viertel des politischen Spektrums aus seinem Wartestand hervor. Mit ihm und seiner Ausstrahlung auf das dritte Viertel (ablehnend, aber passiv hatte ich es charakterisiert) verschob sich das politische Nahziel vom Umbau der DDR zu nationalstaatlicher Wiedervereinigung. Ab Ende Dezember dominierte das Einheitsziel die öffentliche Meinung in Ostdeutschland. Jetzt aber waren tatsächlich alle vier Viertel unterwegs, sämtliche politische Einstellungen, sei es, sie ­hatten die DDR aufgebaut, mitgetragen, ertragen oder erlitten, waren nun in Bewegung geraten und standen einander gegenüber. Die Vollständigkeit dieses Gesamtauftritts der Ostdeutschen kann man noch an der enormen Wahlbeteiligung am 18. März 1990 erkennen; sie betrug 93,4 Prozent.


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Wo genau im Spektrum der politischen Haltungen in der DDR entstand der Durchbruch zur Demokratisierung? – Man kann diese Einstellungen grundsätzlich in vier Viertel teilen, um sie zu verstehen. Jedes Viertel entwickelte zu verschiedenen Zeiten verschiedene Ausstrahlungs-, Abstoßungs- oder Bindekräfte. Von links nach rechts erzählt, ergibt sich: Das erste Viertel unterstützte den sozialistischen Versuch aktiv, das zweite Viertel sympathisierte passiv mit ihm, das dritte lehnte ihn passiv ab, das vierte Viertel lehnte ihn mehr oder weniger aktiv ab. Fragt man nach der Akzeptanz des sozialistischen Projekts in dieser Einteilung, dann fällt auf, dass es je eine linke und eine konservative Hälfte der Bevölkerung gab. Die Demokratiebewegung begann im zweiten Viertel des politischen Spektrums; hier war die Opposition der 80er Jahre zu Hause. Ihr Aufbruch sprang augenblicklich sowohl nach links als auch nach rechts über, also in das erste und zum dritten Viertel, weil auch hier jener ­Grundgestus den angestauten demokratischen Bedürfnissen entsprach

Da war sie plötzlich, die große Zeit, das Wunderjahr. Sofort daran zu erkennen, dass die Menschen den Kopf höher trugen, im Betrieb wie auf der Straße, sie sahen einander ins Gesicht und ließen sich ansprechen. Offenheit begann als eigene Handlung. Was da als „Neues Forum“ gegründet worden war, breitete sich innerhalb von 8 Wochen auf 200.000 Teilnehmer aus und diente im ganzen Land als Anfangsposition der realen politischen Differenzierung. Und das war nur die politische Bewegung. Flächendeckend wie in keinem anderen Land Osteuropas breitete sich Selbstständigkeit exponentiell aus, ging in allen Lebensbereichen vor, drang in allen Sozialstrukturen durch. Anfangs waren es die Demonstrationen, bald aber schon die Absetzung von Bürgermeistern, die Neuwahl von Werkleitungen durch Belegschaftsversammlungen, die Bildung spontaner Bürgerkomitees, welche eigenmächtig Tore von Kasernen öffnen ließen, oder eben jene Erfurter Frauen, die am 4. Dezember die erste Bezirksverwaltung des MfS schlossen und versiegelten. Am 7. Dezember begann der Zentrale Runde Tisch in Berlin als oberste Instanz der Übergangszeit, ihm folgten hunderte kommunale und fachspezifische Runde Tische, an denen reale Verwaltungsentscheidungen getroffen wurden, noch bis weit in das Jahr 90 hinein. Es gab keine Führung, es war ­Selbstorganisation. Hier handelten Bürger in Selbstbestimmung – landauf und landab!

„Wo hatten sie das gelernt?“, fragte spitz und treffend der ostdeutsche Soziologe Wolfgang Engler schon vor 20 Jahren. Offensichtlich konnte dies nur in der DDR geschehen sein. Aber wodurch? Durch die Erfahrung sozialer Gleichstellung der überwiegenden Mehrheit der Bürger dort. Das war für westliche Augen wohl ­weniger offensichtlich. Seit den 70er Jahren trat ein Umschwung im innergesellschaftlichen Gleichgewicht der DDR ein. Auf die wie in Stein gemeißelten Verstaatlichungen antwortete ein neues Sozialverhalten. Die Gleichstellung der Menschen bei Stillstellung der Eigentumsverhältnisse hatte reale Folgen. In den Betrieben lösten sich mindestens die untersten 3, 4 Stufen der alten Hierarchie auf, Arbeiter und Angestellte waren auf gleich gestellt, noch der Meister war von der ausführenden Brigade abhängig; Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte galten als Teilarbeiter unter anderen Arbeitern. Die Menschen orientierten sich aneinander, statt an Hierarchien und Aufstiegschancen. Es entstand eine soziale Eigendynamik, die zur Umkehr der Hierarchien tendierte und die politisch gesetzten Rahmen arbeitsalltäglich erweiterte, tatsächlich veränderte und für individuelle Lebensräume ausnutzen konnte. Das Gegenteil von westlicher Sozialisation über Marktchancen. Das war die lange Vorgeschichte und Vorbereitung von 1989. Zuletzt hockte nur noch die Regierung in einer „Nische“, keineswegs die Mehrheitsbevölkerung. Und die so oft bemühte „friedliche Revolution“ wurde in Wahrheit die kräftige Erbschaft, welche die DDR ihren Bürgern auf den Weg mitgab.

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Von jenen Wahlergebnissen ist meist nur das politische Resultat bekannt: Mit 47 Prozent konnte sich die bürgerrechtlich dünn verzierte, von Helmut Kohl aufgepumpte ostdeutsche CDU zum Sieger erklären. Das ­entschied zugleich den Weg in die schnellstmögliche staatliche Einheit. Allerdings zeigen die übrigen Wahlergebnisse noch anderes. 16 Prozent für die PDS, 22 Prozent für die SPD (Ost), 5 Prozent für die beiden Bürgerbewegungslisten. Da sprechen sich die politischen Haltungen aus den ersten drei Vierteln des politischen Spektrums aus. Diese Stimmen zusammen ergeben 43 Prozent. Sogar jetzt, in diesem Moment der tiefsten Erniedrigung der Reformperspektive, sieht man noch immer die zwei Hälften der DDR-Bevölkerung, die linke und die konservative, mit 43 zu 47 Punkten durchscheinen. Ich füge hinzu: Nach 30 Jahren staatlich organisierter Einheit hat sich in Thüringen gerade wieder der ­gleiche Block von 44 Prozent Rot-Rot-Grün gezeigt.

Inzwischen koppelt sich die Basis immer mehr ab vom Oberbau der Einheit, schlägt sowohl nach links wie auch nach rechts aus. Woher kommt das, warum hat sie das nötig? Es begann nicht von ihrer Seite, es begann mit der Zerstörung der eigenen medialen Öffentlichkeit und wurde zementiert durch die radikale Privatisierungs­ strategie der Treuhand. Kaum zwei Jahre nach 1990 bestand in Ostdeutschland keine einzige TV-Station, keine Rundfunkanstalt, keine größere Zeitung mit gewachsener Leser-BlattBindung mehr, die nicht von einer westdeutschen Chefredaktion geleitet worden wäre. Die Generalaussprache, das politische Bewusstsein, die soziale Erinnerung, alle Selbstverständigung, die sich eine ganze Bevölkerung gerade eben erobert hatte, verwandelte sich in Entmündigung und Belehrung. In den Betrieben gaben nicht mehr die Belegschaften den Ton an, sondern unerreichbare Eigentümer den Takt vor. Und statt uns selber auszusprechen, sollten wir jetzt nur noch zuhören. Das war eine scharfe Kehre, die durchaus verstanden wurde und umgehend als Lähmung wirkte. Die politische Debatte war wieder auf die Ebene des Privatgesprächs herunter­ gedrückt. Das war gerade der Zustand, aus dem wir gekommen waren. Nun begannen die Rückfälle in jene Mentalitäten, aus denen man aufgebrochen war. Der Ängstliche wurde wieder ängstlich, der Mutige wieder einsam, der Zweifler wieder schüchtern, der Sozialist wieder steif und stur, der ehemalige Oppositionelle entweder Moralist oder Karrierist, der Spießer wieder spießig etc.

Jeder einzelne Rückfall dünnte die ostdeutsche Demokratie aus. Bis 1993, als durch den neunmonatigen grandiosen Arbeitskampf der Kalibergleute von Bischofferode im Harz doch noch eine verzweifelte Hoffnung im Land aufkeimte, hielt die Demokratiebewegung an dem Grundgestus von 89 fest, dann war sie zerstreut und besiegt. Ihre Revolution war beendet. Wie lässt sich dieser Gang der Ereignisse zusammenfassen? Seit damals quält sich auf unserem Territorium ein Volk, das schon einmal eine Gesellschaft geworden war – das wäre die soziologische Ausdrucksweise für das Phänomen. Man sollte vielleicht zeitgemäßer sagen: Hier quält sich eine Gesellschaft, die 1989/90 schon einmal demokratisch geworden war – das wäre dann eine politologische Beschreibung desselben Sachverhalts.

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Kein Ostdeutscher verachtete je die Demokratie, weder vor 1989 und erst recht nicht danach – er erkennt sie nur genauer, er nimmt sie persönlicher. Sie bedeutet ihm handhabbare Lebensumstände. Und die wollte er damals um einen vernünftigen politischen Überbau erweitern. Alle Beteiligten mussten dann schwer dazulernen, die einen gern, die anderen weniger gern. Keiner der vier politischen Haltungen blieben dabei spezifische Enttäuschungen erspart. Wenn aber auch in drei Jahrzehnten kein reales Gespräch zwischen West- und Ostdeutschland entsteht, dann liegen strukturelle Gründe vor. Da die institutionellen Voraussetzungen für einen echten Dialog so gut wie sämtlich in altbundesdeutscher Hand sind, muss die Fehlfunktion auf dieser Seite der Republik gesucht werden.

Die Schlagwörter kennen wir: totalitär, zweite deutsche Diktatur, Unrechtsstaat, Nischengesellschaft, Mitläufer­ tum, durchherrschte Gesellschaft usw. – Damit standen nun die, die allenfalls Zuschauer vom anderen Ufer aus gewesen waren, mitten in unserem Land und bewerteten Fabriken und Fähigkeiten, Leute und Lebensläufe, die sie nicht kannten und so auch nie kennenlernen konnten. Nehmen wir nur das eine Beispiel, den inflationären Gebrauch von „totalitär“ zur Charakterisierung der Natur der DDR-Gesellschaft. Dagegen steht das Ereignis selbst: Der Herbst 1989 in Ostdeutschland weist in dem größtmöglichen Maßstab eines erfolgreichen politischen Experiments aus, dass die soziale Logik der vormaligen Produktionsverhältnisse eben nicht totalitär gewesen sein kann. Und zwar gilt das für das Verhalten beider beteiligter Seiten. Der Auftritt – das Hervortreten – der ostdeutschen Demokratie und ebenso der Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Machtapparat zeigen das an. Unter solchen begrifflichen Masken ist die hier entstandene Gesellschaft nicht zu erkennen, sondern die Mutmaßungen, die vor 89 und von außen her über uns entstanden, klappern hier weiter. Doch die alten Begriffe begreifen nicht mehr. (Für dieses Niveau der Auseinandersetzung hätte es eigentlich kein 89 gebraucht.) Deshalb nenne ich es das „Selbstgespräch“ des Westens über den Osten.

Ein zweites Beispiel. Zusammen mit der institutionellen Zerstörung der ostdeutschen Öffentlichkeit bildet wohl das Stasi-Thema den inhaltlichen Eckstein, der ein reales Gespräch verhindert. Es ist der Schlagschatten, mit dem eine westdeutsche Vorstellungswelt die konkrete Erinnerung der Ostdeutschen bedrängt, verdrängt und verdunkelt. Man könnte auch von Missbrauch des Themas sprechen. Woher kommt das? Aus der Prägung der westdeutschen Intelligenz durch die Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Und wodurch entsteht das faktische Übergewicht der falschen Vergleiche? Es entsteht durch die vollständige Abwicklung der akademischen und medialen Intelligenz, die in der DDR entstanden war. Die scheinheilige (und unsaubere) Redeweise von den „zwei deutschen Diktaturen“ zeigt es an. Argumentativ ist es bloß ein Selbstbezug, politisch aber wirkt es als Kolonialisierung.

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Das sind nur zwei der Schläge auf die Köpfe der ostdeutschen Demokratie, also auf mindestens die Hälfte der Ostdeutschen. Wir denken noch darüber nach. Welche Schläge es für die zwei anderen Viertel, also für die konservative Hälfte waren, das verstehen wir nicht so genau. Die AfD ist aber kein ostdeutsches Produkt, sondern eine ganz und gar westdeutsche Konsequenz. Sie verkörpert die Trennung des kleinen vom großen Bürgertum. Diese Spaltung wird daher im politischen System auch bestehen bleiben, sie kann nicht durch argumentative oder kulturelle Überlegenheit zum Verschwinden gebracht werden. Dieser Bruch bedeutet viel für die Bundesre­ publik, er reicht tief und verändert sie zur Kenntlichkeit. Ihr Boden wird weiter nachgeben. Ostdeutschland hat solches Bürgertum nicht. Hier fließen die Wahlerfolge der AfD aus anderen Quellen. Es sind vielleicht 5 Prozent ihrer hiesigen Wählerschaft, die wirklich die Überzeugungen der Parteiführung teilen. Aber die Wunde der öffentlichen Sprachlosigkeit schwärt schon lang, das mag 15 Prozent ergeben. Die aktuellen 25 Prozent sind dagegen ein echtes Lernergebnis der Ostdeutschen aus den schlechten Umgangsformen der Denkzettel-Demokratie.

Diese neue Art Widerstand von rechts hat jedenfalls zwei verschiedene soziale Herkünfte. Die beiden deutschen Gesellschaften, wie sie aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen sind, bestehen fort. Die staatliche Vereinheitlichung hat deren Gegensätzlichkeit bislang weder deutlich erkennen noch konstruktiv auflösen können. Es ist keineswegs ausgemacht, von wo die nächsten Schritte der Demokratie ausgehen werden.

Fragen wir abschließend: Wenn die demokratische Kompetenz von 1989 heute eine eigene Stimme, Öffentlichkeit und Handlungsfähigkeit hätte, was würde sie dann, an ihrem 30. Geburtstag in dem neuen Leben, sagen und tun? Sie würde zunächst stutzig werden über das auf­fällige und einfältige Gerede von der „friedlichen Revolution“. Sie würde sich dann erinnern, dass es nicht „friedlich“ war, sondern Monate unbeschreiblicher Angespanntheit waren. Sie würde erkennen, dass zu der Gewaltlosigkeit, die es ja nur war, zwei Seiten gehören. Sie würde schließlich zu der anderen Seite sagen: Gut, wir sind noch immer anderer Meinung als ihr – und ihr seid es umgekehrt wahrscheinlich auch. Aber ihr habt damals nicht geschossen, habt uns unseren Weg gehen lassen, habt euch einer unbekannten Zukunft gebeugt. Deshalb soll von jetzt an jede verordnete Ausgrenzung enden. Also: Generalamnestie, Ende der Regelanfrage u. ä. Das würde sie, denke ich, eine Generation später sagen. Und das geschähe keineswegs aus irgendwelcher „Versöhnung“, sondern einzig und allein aus Selbstachtung – aus Selbstachtung der ostdeutschen Demokratie.

KLAUS WOLFRAM studierte 1970 –1974 Philosophie, war seit 1975 Links­o ppositioneller in der DDR, 1977–1981 Fabrikarbeiter, 1989 Mitbegründer des Verlags BasisDruck, Mitglied der Verfassungsgruppe des Runden Tisches, 1990–1992 Herausgeber der Wochenzeitung Die Andere und 1994–1999 Redakteur der Zeitschrift SKLAVEN.

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MICHAEL RUETZ – TIME MACHINE

Kapelle-Ufer, Hauptbahnhof 179.03  19. Oktober 1991

Kapelle-Ufer, Hauptbahnhof 179.09  12. Juli 1999

Kapelle-Ufer, Hauptbahnhof 179.15  1. Mai 2006

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Kapelle-Ufer 178.00  19. Oktober 1991

Kapelle-Ufer 178.10  4. Mai 2001

Kapelle-Ufer 178.17  8. August 2017

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„EIN   SELTSAMER, FAST FANTASTISCHER MOMENT VON  VOLKSSOUVERÄNITÄT“

EIN REDEBEITRAG AUSZÜGE AUS VOLKER BRAUNS REPLIK AUF KLAUS WOLFRAMS VORTRAG Auf der Herfahrt zur Mitgliederversammlung las ich in der FAZ – erste Seite, einer der Herausgeber, Berthold Kohler – eine Kolumne; der erste Satz lautete: „Die Leute im Osten sind geschichtsvergessen und undankbar.“ Und der letzte Satz etwa: „Sie müssen sich erinnern, dass sie aus der Dunkelheit kommen.“ Was Sie gestern von Klaus Wolfram gehört haben, liebe ­Kollegen, war die Beschreibung eines hellen Moments. Einer Wachheit, Bewusstheit einer großen Bevölkerung! Und das war Wolframs Anliegen: Er wollte erinnern, ohne jede Polemik. Er erinnerte an diesen großen Vorgang einer – wie man es nennen könnte – Selbstzusammensetzung gesellschaftlicher Kräfte, ein innerstes Gefühl des Anspruchs auf Anwesenheit, auf Mitgestaltung der Gesellschaft. Das haben wir erlebt, drei, vier Monate lang: Jeder Leiter, jedes Gremium musste sich der Belegschaft stellen, jeder Betriebsleiter, jeder Rektor wurde neu gewählt. Die Räte und Runden Tische begannen zu arbeiten. Es war ein seltsamer, fast fantastischer Moment von Volkssouveränität. Natürlich war es auch ein Moment des Widerstands gegen die eigenen Verhältnisse. Und der demokratische Aufbruch kam aus der Gesellschaft selbst, ihrer Struktur, ihrer Erfahrung. Die elementare Bedingung war, sagt Wolfram, „die Erfahrung sozialer Gleichstellung der überwiegenden Mehrheit der Bürger dort“. – Ich bin, ehrlich gesagt, zufrieden, dass Kohler auf diese Weise eine Replik erhält, von einem, der weiß, wovon er spricht. Es gab Murren im Raum. Wolframs Erzählung hat nicht jedem gefallen. Aber, Kollegen, er hat nicht gegen euch gesprochen, indem er zu euch sprach. Er hat Bericht gegeben von einer Sache, die heute sehr zugehängt ist. Unbegreiflich finde ich, dass man heute alles auf den Punkt AfD bringt, das ist ein völlig anderes Kapitel. Dieses konservative Segment der Menge steht nicht gerade für geschichtliches Handeln. Dies war aber erfordert in dem Moment des Möglichwerdens. Das war der Tenor unserer Versammlungen: Wenn wir es jetzt nicht tun, ist der Moment vertan! Was mich die

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90er Jahre beschäftigte, war nicht etwa das, was mit uns geschah (das war abzusehen), sondern was nicht geschehen war mit den nicht begriffnen utopischen Elementen, zum Beispiel dem Gemeineigentum: das erlaubt hätte zu denken, zu bauen nicht eingeengt durch Besitz und Interessen. Nicht den Gewinn maximieren, sondern den Sinn. Die Scham über das nicht Geleistete, das war unser Teil. Was Wolfram dachte und weiterdachte, war eine ernste Angelegenheit der Selbstbefragung und bleibt es – wie wir sehn – bis heute. Ich empfand die Zeit, als ich Direktor der Sektion Literatur war, als ein Miteinander. Wir haben die gleichen Sorgen und die gleichen Ansprüche, wir sind eine Sozietät. In dem Zusammenhang muss ich auch an die Ostakademie erinnern, diese besondere Einrichtung. Ein Ort durchaus für unerschrockene Leute. Gerade in den 80er Jahren, man muss sich die Atmosphäre der Veranstaltungen vergegenwärtigen. Man ging in die Akademie, weil man dort etwas hörte, was durchatmen ließ. Das galt generell für die Künste, das Theater insonders. Es wurde gedacht in dem Land. Auf dem letzten Schriftstellerkongress November 1987 sprach ich über die Staatsstruktur, die durchsichtig sein müsse, einsehbar, damit man eingreifen kann. Der Text hieß übrigens „DIE HELLEN ORTE “. Da saß in der ersten Reihe Honecker und schrieb mit, als ich meinen j­ ungen Neffen zitierte, der in einem Aufsatz dem Goethe-Satz widersprach: „Dass sich das große Werk vollende / genügt ein Geist für tausend Hände.“ Es genügt nicht ein Geist, ihr Regierenden. Und das bleibt nicht auf eine Gesellschaft beschränkt, die versinkt. Es geht auch heute darum, wer die Grundentscheidungen trifft. Das ist etwas, was uns alle angeht, und es ist eine Aufgabe der Akademie.

VOLKER BRAUN wurde 1991 in das 20er-Gremium der Akademie der Künste (Ost) für die Erneuerung und Vereinigung mit der Akademie der Künste (West) berufen. Von 2006 bis 2010 war er Direktor der Sektion Literatur der Akademie der Künste.

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GEDÄCHTNIS DUNKELDEUTSCHLAND

Die Autorin (rechts im Bild) im Alter von 15 Jahren

FÜNF ERINNERUNGEN AUS DEM GESELLSCHAFTLICHEN UNBEWUSSTEN Katharina Warda

„Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt gegen­ Die Metapher „Dunkeldeutschland“ und die damit einhergehenden über dem Dunkeldeutschland“, erklärte der damalige Bundesprä- Abwertungen sind nie ganz aus dem kollektiven Gedächtnis versident Joachim Gauck in seiner Rede zu den Anschlägen auf das schwunden. Mit Gaucks Rede erlebten sie eine Aktualisierung, und Asylheim 2015 in Heidenau. Dunkeldeutschland, das sei das mehr noch: Ostdeutschland wird auf Rechtsextremismus statt Deutschland der Hetzer und Brandstifter, polemisierte er weiter. Tristesse reduziert und auf moralische statt ökonomischer RückDunkeldeutschland, eine alte Bezeichnung für Ostdeutschland, ständigkeit. Eine Rhetorik, die Gauck nicht erfunden hat. Vielmehr dem Gauck ein helles, lichtes Deutschland des bürgerschaftlichen bringt er in seiner Zuspitzung einen wesentlichen Erzählstrang über Engagements der alten Bundesländer gegenüberstellt. den Osten auf den Punkt. Lässt man die Polemik der Rede einmal beiseite, ist das hohe Maß an rechter Gewalt seit der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern tatsächlich ein gravierendes Problem, das bereits vielen Menschen das Leben kostete. Die Joachim Gauck knüpft mit dem Begriff „Dunkeldeutschland“ an eine Ausschreitungen in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen lange Tradition an. Bereits vor der Wiedervereinigung kam der Begriff (1992), die Magdeburger Himmelfahrtskrawalle (1994) und die in der BRD als abwertende Bezeichnung der DDR auf. Er zielte auf Hetzjagd in Guben (1999) sind nur die prominentesten unter den die spärliche Straßenbeleuchtung der Städte, ihre reklamefreien, Gewalttaten. Sie lassen sich fortführen bis in die heutige Zeit mit dunklen Nächte. Zur Wendezeit wird Dunkeldeutschland zum den rechten Gewaltausbrüchen in Heidenau (2015) und Chemnitz Schlagwort und taucht immer da auf, wo es um die „Zone“, „drüben“ (2018). Daneben stehen etliche Morde und Übergriffe, die es nie ins oder die Tristesse der ehemaligen DDR geht. 1994 wird der Begriff kollektive Gedächtnis geschafft haben. Nie erzählte Geschichten sogar Kandidat für das Unwort des Jahres, neben anderen „sprach- von alltäglicher Angst und Gewalt. Auch fehlen häufig die Stimlichen Demütigungen“ gegenüber den Menschen der neuen Bun- men derer, die direkt von rechter Gewalt betroffen sind, beim desländer. So fasst es die Süddeutsche Zeitung zusammen. Erzählen über ­Rassismus im Osten und darüber hinaus.

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Eine meiner Erinnerungen als Kind einer deutschen Mutter und eines südafrikanischen Vaters, das in der DDR geboren und in Wernigerode, einer sachsen-anhaltinischen Kleinstadt, aufge­ wachsen ist, klingt so:

pektive, Tage aus Fernsehprogramm, Schnaps und ein ostdeutscher Dialekt“, das sind die Asozialen. Ich erkenne sie zum ersten Mal wieder: „Die Asozialen“, das sind auch wir, meine Familie, mein Umkreis, meine Heimat und somit auch ich. Ich bin „asozial“.

1992,  ich bin sieben Jahre alt und besuche die zweite Klasse einer Plattenbaugrundschule. Auf dem Weg nach Hause beginnt mein eigentlicher Unterricht: wegrennen, verstecken, keine Angst zeigen. Ich lerne zu flitzen, wenn die Mädchengruppe aus der Berufsschule mich mit dem N-Wort beschimpfend mit Steinen bewirft. Lerne mich rechtzeitig zu verstecken, wenn Männergruppen in Bomberjacken mir entgegenkommen, und langsam abzustumpfen, weil es aus dieser Hölle Heimat keinen Ausweg gibt.

Die Bezeichnung ist demütigend. Stellvertretende Anfeindung von Ibiza-Ingo, Lacher über Cindy aus Marzahn tun weh. Der Osten wird in seiner medialen Repräsentation häufig zur sozialen Freakshow. Ossi-Stereotype sind Dauergäste im Witzfiguren-Kabinett der Talkshows. Andere Geschichten aus dem Osten hört man kaum. „Der Osten“ wird in seinen Transformationsjahren zum Unort, über den es Geschichten gibt, aus dem aber keine eigenen Narrationen kommen. Er wird zum Projektionsort aller unliebsamen Eigenschaften und Subjekte. Ein Ort, von dem man sich maximal abgrenzen Die Erinnerung an meinen Schulweg ist eine Erinnerung unter vie- kann. Eine Art böser Zwilling des Westens. len und dennoch exemplarisch. Sie steht für das alltägliche Gefühl Das färbt auf mein Selbstbild ab. Es ist bestimmt von Fremdvon Bedrohung. Mir wird sehr früh klar, dass ich als anders ange- bildern: Als Opfer von Rassismus bin ich automatisch „Ausländesehen werde und dass das nichts Gutes ist. Ich verstehe nicht, rin“, obwohl ich es nicht bin. Ich bin Ossi, und was das bedeutet, warum, aber ich verstehe, dass mein Leben potenziell in Gefahr ist. erfahre ich vom Westen. Ich bin „asozial“, als sei unser prekäres Die Normalität von Diskriminierung ist schmerzhaft, vor allem, weil Leben nicht schon schwierig genug. Meine mangelnde Selbstbesie geprägt ist von Schweigen und Unverständnis. Ich fühle mich stimmung hole ich durch das Abtauchen in die Subkultur nach: mit meiner Situation allein. Medial wird über rassistische Übergriffe berichtet. Hier werden die Vorfälle ähnlich wie in Gaucks Es ist 1998.  Ich bin 13 Jahre alt und gehöre zu einer PunkRede häufig genutzt, um ein Bild des Ostens zu zeichnen, von dem Clique, die sich in den Innenhöfen der Platten trifft. Wie bei sich das westdeutsche Selbstbild abgrenzt. Rassismus wird zum vielen meiner Freunde ist meine Mutter depressiv, arbeitslos Ostproblem, das sich in der Geschichte der DDR begründe und und manchmal auf ABM. Mein Vater ist Alkoholiker und dadurch nichts mit der BRD zu tun habe und auch nicht tiefer genauso wie meine Mutter von den historischen Umständen besprochen werden muss. völlig überfordert. Meine Jugend besteht aus Rumhängen, Zu Hause sprechen wir auch nicht darüber. Meine Mutter und Punkrock-Hören und Bier-Trinken; aus Plattenbau, der Abwemein Stiefvater sind weiß und verstehen nicht wirklich, was ich senheit von Autoritäten und dem Vakuum der Perspektivlodurchmache. Gleichzeitig sind sie von ihren eigenen Erfahrungen sigkeit. Mein Freund spielt Schlagzeug in einer Band. Sie der Abwertung und existenziellen Angst völlig vereinnahmt. Anfang ­bringen ein Album auf Kassette raus. Es heißt „Alltägliches der 90er mischt sich ihre ekstatische Freude über die WiederverVerrotten“ und beschreibt unser Lebensgefühl. einigung schnell mit Prekarisierungsgefühlen, Apathie und Perspektivlosigkeit. Als beide ihre Arbeit in einer Metallfabrik verlieren, eine Hier, im Punkrock, in seinem Lebensgefühl, seiner Musik, seinen Anstellung, die bis dahin nicht nur ihr berufliches, sondern auch ihr Texten finde ich mich wieder und fühle mich erstmals verstanden. soziales Leben bestimmt hat, folgt unser sozialer Abstieg. Mein Punkrock gibt mir eine Sprache, um über Prekarisierung, Abwertung, Stiefvater findet eine Anstellung als Müllfahrer und meine Mutter Klassismus, Rassismus und Gewalt zu sprechen. Hier werden Stigvorerst als Reinigungskraft. Viele ihrer Freunde sind arbeitslos. mata wie „fremd“ und „asozial“ selbstbestimmt aufgeladen. „No Statusverlust und Ungewissheit schlagen bei meinen Eltern in Future“, das heißt für mich und meine Freunde Arbeitslosigkeit, ­Frustration, Apathie und Vernachlässigung von mir und meinen Armut, Gewalt. Das bedeutet bei vielen anderen Jugendlichen DroGeschwistern um. gensucht und bei meinem Vater Alkoholismus und später Suizid. Je unerträglicher die Situation um mich herum wird, desto tiefer 1995  bin ich zehn Jahre alt. Jeden Tag nach der Schule gehe flüchte ich mich in meine bunte Welt aus Musik, fröhlicher Verwahrich meiner einzigen Beschäftigung nach: fernsehen. Der losung und Exzess. Alles andere läuft nur noch nebenher: kleine Farbfernseher in meinem Zimmer, einst Erziehungsmittel meiner Eltern, um mich ruhigzustellen, wird schnell Es ist 2003.  Ich bin 18 Jahre alt und besuche als erste in mein Tor zur Welt. Stundenlang studiere ich die Welt da draumeiner Familie das Gymnasium. Hier lernen wir neben Mathe, ßen in Trickfilmen, Nachrichten und Talkshows von Arabella Physik und Fremdsprachen vor allem eins für die Zukunft: bis Vera am Mittag. Ich lerne richtig und falsch, gut und böse „Passing“, also im Alltag nicht als Ossi aufzufallen zugunsten und die scheinbar wichtigste Unterscheidung dieser Tage: einer besseren Zukunft. Wir lernen uns zu präsentieren, „dick normal und asozial. „Kinderreich, arbeitslos und ohne Persaufzutragen“, denn darauf kommt es laut meinen Lehrer*innen

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jetzt an. Wer in Referaten Dialekt spricht, bekommt Noten­ abzug. Die Entscheidung, ob ich als zweite Fremdsprache Russisch lerne, wird gefühlt zur Fangfrage. „Natürlich nicht“, entgegne ich wachsam und entscheide mich für Französisch. Eine Russischklasse kommt in diesem Jahr nicht zustande. Fast täglich mahnt uns meine Deutschlehrerin, alles, was uns ­ostdeutsch macht, jetzt abzulegen. Aus ihr, wie aus vielen anderen, spricht eine Erfahrung der Abwertung. Anstatt in Apathie oder Exzess zu verfallen, geht man hier den Weg der Anpassung, des Sich-unsichtbar-Machens, und damit den Weg nach vorn. Als Reaktion der systematischen Abwertung unseres Abiturs lässt sich das Land Sachsen-Anhalt für meinen Jahrgang etwas einfallen: ein schwereres Abitur. Statt Prüfungen in zwei Hauptfächern, wie deutschlandweit üblich, werden wir in sechs geprüft. 2005 schließe ich die Schule mit dem Abitur ab und bin gewappnet: Ich habe viel gelernt, vor allem aber, darüber zu schweigen, wer ich bin und was ich erlebt habe. Tatsächlich hilft mir das durch die nächsten Jahre. Mit dem Auszug ins Studium lege ich meine Unterschichten-Identität ab, verkürze meine Ost-Identität auf die Angabe meines Geburtsorts und lächle Alltag-Rassismen müde weg. Ich „passe“ leicht, spreche nun hochdeutsch und kann aufgrund meines Aussehens doch „unmöglich aus dem deutschen Osten kommen“, schließlich leben dort nur „asoziale Nazis“. Gut gemeinte Stereotypisierungen wie diese lassen mich meine Erfahrungen nochmal neu durchleben. Einerseits triggern sie das Gefühl, zum „Anderen“ gemacht zu werden, nicht ostdeutsch sein zu können. Andererseits wertet es mich als Ostdeutsche, die ich dennoch bin, ab. Gefühlen, denen ich lange mit Schweigen begegne. Schweigen, weil ich es so gelernt habe. Schweigen, weil das immer noch besser ist als der Vorwurf, ostalgisch zu sein. Dabei sehne ich mich nicht in die DDR zurück. Ich kannte die DDR kaum. Ich sehne mich auch nicht nach der Zeit der Wiedervereinigung zurück. Ich sehne mich danach, mich zu erinnern und diese Erinnerungen zu teilen. 2019.  Im Rahmen der Feierlichkeiten zu „30 Jahre Mauerfall“ besuche ich in Berlin eine Ausstellung, die die Wende porträtiert. Nach Schautafeln mit Überschriften wie „Wer kommt denn da?“, die ganz selbstverständlich aus westdeutscher Sicht und in drolliger Sprache vom Eintreffen der ersten Ossis auf dem Ku’damm erzählen, bleibe ich an einer Tafel zum Rechtsextremismus hängen. Hier geht es um die Generation der „Dagebliebenen“. „Immobile“ Ostler wie meine Eltern, die nun auf „mobile Ausländer“ treffen und aufgrund ihrer SEDErziehung überfordert sind. Sprachlos und müde drehe ich mich um und verlasse die Ausstellung. Auf dem Nachhauseweg merke ich, dass ich gar nicht aus Ostdeutschland komme. Dieses Ostdeutschland in seinem verkürzten Zuschnitt kenne ich eigentlich nur aus Erzählungen darüber. Der Ort, aus dem ich komme, heißt Dunkeldeutschland.

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Dunkeldeutschland, das ist nicht der Ort der reklamefreien, dunklen Straßen. Auch nicht der Brandstifter und moralisch Rückständigen. Dunkeldeutschland ist ein komplexer Ort, aber ohne eigene Geschichten. Er ist eine Leerstelle der deutschen Geschichte. Ein schwarzer Fleck der Erzählungen und Erinnerungen. Der böse Zwilling des lichten Westens im kollektiven Gedächtnis. Eine Art Moloch oder Hades, in den alles Übel verbannt zu sein scheint und aus dem man nur herausgelangt, indem man ihn aus seiner eigenen Geschichte verbannt. Dunkeldeutschland steht für mich als Metapher für das „gesellschaftliche Unbewusste“, so wie es der öster­ reichische Gedenkstättenpädagoge Peter Gstettner benennt. Ihm zufolge verschwinden historische Ereignisse, die nicht erzählt, nicht thematisiert werden, nicht einfach aus unserer Gedankenwelt. Die kollektive Erinnerung daran versinke stattdessen ins „gesellschaftlich Unbewusste“ und mit ihr alle unterdrückten Ängste, Wünsche und Erinnerungen. Dort entwickeln sie mit der Zeit ein destruktives Eigenleben. Das Stigma und die Reduzierung auf eine unliebsame Rolle tun ihr Übriges und enden wie im Beispiel Ostdeutschlands in Hass und Gewalt gegen Feindbilder, die mit diesen tiefenpsycho­ logischen Dynamiken gar nichts zu tun haben müssen. Seien es nun Flüchtlinge, Ausländer oder einfach nur Wessis. Es ist längst an der Zeit, die Sprachlosigkeit im und die Diskri­ minierung des Ostens zu reflektieren und die Wiedervereinigung neu und mit den Geschichten ihrer Subjekte zu erzählen.

KATHARINA WARDA arbeitet als Online-Redakteurin an der Akademie der Künste. Daneben promoviert sie in Berlin und Princeton zu Tagebuch-Blogs, digitalen Erzähltechniken und marginalisierten Identitäten. Seit 2018 arbeitet sie an ihrem Projekt „Dunkeldeutschland“, das erzählte Erinnerungen zu vielstimmigen „biografischen Landkarten“ verbindet, um die Nachwendezeit auf neue Weise zu betrachten.


„EVEN FRIDAY’S SUN SETS“   IXMUCANÉ AGUILAR


„Auch am Freitag geht die Sonne unter“ Dies ist ein Nama-Sprichwort. Es war ein schwerer Freitag, ein Freitag voller Angst – ein Freitag, an dem Würde und Stolz gegen Leben getauscht wurden. Es war ein Freitag, an dem die Männer des Dorfes in die Kirche gelockt wurden –   zum Beten – doch wurden sie umzingelt von Soldaten der Schutztruppe – von eisernem Maschinengewehr – und in den heiligen Wänden als Geisel gehalten. Das Beten übernahmen die Frauen. … selbst dieser Tag nahm ein Ende mit der untergehenden Sonne. Doch die Gewissheit der Angst blieb, und so tröstet man sich noch heute mit dem Sprichwort: „Even Friday’s sun sets“ …

Zahlreiche Bücher sind über die Geschichte von DeutschSüdwestafrika geschrieben worden. Kaum bekannt ist jedoch, wie die Namibier, die damals lebten und starben, die unbeschreiblichen Folgen des Menschen- und Landverlusts empfanden. Ihr Leid wird weitgehend unterschätzt oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Mehrere Monate lang reiste ich durch Namibia, um nach Geschichten zu suchen, die mit den VölkermordVerbrechen der deutschen Kolonialherrschaft an den Herero und Nama zu tun haben. Bei mir trug ich ein selbstgebautes, mobiles Fotostudio. Meine Reise führte mich in verschiedene Städte und Dörfer im ganzen Land. So ergab sich für mich die besondere Gelegenheit, mit Menschen zu sprechen und Zeit zu verbringen, die sich noch gut daran erinnern können, was mit ihren Vorfahren passiert ist. Ich erfuhr Geschichten und Gedanken über die Vergangenheit, die heute das physische und psychische Erbe der Nachkommen prägen. Meine Arbeit versucht weder eine allgemeine Ge­schichte zu erzählen noch ein politisches Statement zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich wollte ich ein Werk schaffen, das über Politik oder Mentalitäten hinausgeht. Mein Ziel ist es, die Realität im Zusammenhang mit dem Völkermord zu porträtieren, um einem menschlicheren Verständnis des Themas nahezukommen. Aus diesen Begegnungen gingen Bilder und Texte als dokumentarische Fragmente hervor. Die Arbeit besteht aus lebenden Stimmen – Menschen, die sich nach Anerkennung und Sichtbarkeit sehnen. Es ist eine komplexe Abfolge von Porträtfotos und Aufnahmen der Umgebung. Jedes Bild bezieht sich auf ein bestimmtes Fragment der Geschichte. Die Porträts sind alle in einen „nicht-ortsbezogenen“ Hintergrund

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gesetzt, um die einzelnen Individuen von den komplexen Realitäten des Alltags abzuheben. Den Porträts – deren Ausschnitt hier zu sehen ist – folgen narrative Materialien in Form von Gedichten, Klageliedern, familiären Zeugnissen sowie inszenierten Video- und Audioaufnahmen, ergänzt durch Archivdokumente als Querverweis zur mündlich weitergegebenen Geschichte. All dies sind Ebenen, die sich auf politische, generationsübergreifende Effekte beziehen, deren Ursprung jenseits eines individuellen Schicksals liegt. Ich bewegte mich durch ein Netz von Fakten, Emotionen, Politik und manchmal sogar Verleugnung. Ich sehe in dieser Arbeit mehr als eine Sammlung von Daten und Gesichtern über eine ferne Vergangenheit an einem fernen Ort … Tatsächlich geht es darum, sich mit Geschichten und Geschichte zu beschäftigen, die nicht nur der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und Zukunft angehören. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

IXMUCANÉ AGUILAR (*1983), bildende Künstlerin und Designerin, ist Absolventin der Kunsthochschule Weißensee Berlin und beschäftigt sich mit künstlerischer Fotodokumentation. Ihr Ansatz ist geleitet von einem Interesse an der Suche nach Wahrheit und menschlicher Realität. Aguilar arbeitet oft mit bestimmten Gruppen von Menschen zusammen, die eine gemeinsame Wirklichkeit teilen. In ihrem Werk ist sie Botschafterin dieser Menschen, die nicht zu Wort kommen können, nicht gehört werden oder schlicht übersehen werden.





CARTE BLANCHE

FRANCINE HOUBEN

Tainan Public Library

Es gibt Sprichworte für Dinge, die einfach keinen Sinn ergeben: „Darauf kann man sich keinen Reim machen“, etwas ist „ohne Sinn und Verstand“. Doch was, wenn der sprichwörtliche Reim und der Verstand aufeinandertreffen? Der Verstand folgt einer bestimmten Logik, hat einen Zweck, der bereits im Design angelegt zu sein scheint. Architektur folgt ganz klar dieser Art von Verstand. Doch wie verhält es sich mit Reim und Rhythmus, die üblicherweise mit Poesie verbunden werden?



Library of Birmingham


Ein Gedicht ist eine Komposition, die tief in unserem Geist nachwirken, Gefühle hervorrufen, verzaubern, persönliche oder kollektive Erinnerungen wecken kann. All das sind flüchtige Dinge, die nicht mit Hilfe von Anweisungen aus einem Design-Handbuch entstehen. Vielmehr spüren und finden wir sie intuitiv. Wenn wir architekto­ nischen Verstand mit poetischem Rhythmus verbinden, entsteht großartige Architektur. Alle Auftragsarchitektur hat einen Zweck, eine Funktion, die sie erfüllen muss: Wohnraum für Menschen bauen, Kulturprogramme ausrichten, einen Arbeitsort schaffen oder eine Verkehrsverbindung herstellen. Formelhaftes Design schafft Lösungen, die jedem Zweck dienen können. Wenn aber die Bedürfnisse der Nutzer*innen das Kernstück des Designs bilden und der Entwurf zudem orts- und kontextspezifisch angelegt ist, wird der Zweck selbst aufgewertet.


VOM ZWECK ZUM ZAUBER

LocHal Library, Tilburg

DIE BIBLIOTHEK IM WANDEL Francine Houben und Herbert Wright

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Wenn man jemanden bittet, sich eine Bibliothek vorzustellen, denken einige vielleicht an die Bibliothek in ­Hogwarts aus den Harry-Potter-Erzählungen: eine schaurige Karikatur historischer Bibliotheken, in mystische Dunkelheit und respektvolle, fast heilige Stille gehüllt, ein Verwahrungsort unzähliger geheimnisumwobener Bücher längst verstorbener Autoren. Poetisch ist dies sicherlich – aber kein Publikumsmagnet oder Ort aktueller Medien. Seit die Babylonier vor ca. 5.000 Jahren Dokumente in Form von Tontafeln in Räumen aufbewahrten, haben sich Bibliotheken ständig verändert. Und ­während der letzten einhundert Jahre haben sich die ­Veränderungen beschleunigt. Heute sind Bibliotheken mehr als Lagerhallen für Worte. Sie werden als Kultur- und Bildungsorte nicht nur für Wissenschaftler*innen, sondern für alle Menschen gelebt. Sie sind Anlaufpunkte für öffentliche Angebote und Veranstaltungen. Ihre Kernfunktion – Zugang zu gedruckten Publikationen zu ermöglichen – verändert sich gemeinsam mit der Digitalisierung dessen, was wir sehen und lesen. Zudem sollen die Gebäude, in denen sich Bibliotheken befinden, zunehmend als Anker und Katalysatoren der Stadterneuerung fungieren. Und dies nicht nur im Zusammenhang mit der gebauten Umgebung, sondern auch in Verbindung mit zwischenmenschlichem Leben und Interaktion, in Innen- wie Außenräumen. Laut Francine Houben sind „Bibliotheken die wichtigsten öffentlichen Gebäude“. Ihrer Ansicht nach sind sie die „Kathedralen der Gegenwart“. Den Durchbruch erlangte Mecanoo nicht von ungefähr mit einem Projekt, das erstmals auch die Aufmerksam-

keit der Architekturszene außerhalb der Niederlande erreichte – einer Bibliothek. Francine Houben hatte an der Technischen Universität Delft studiert, und als würde sie für die dort erworbenen Fähigkeiten und Kenntnisse etwas zurückgeben wollen, begann Mecanoo 1993 mit dem Entwurf der Universitätsbibliothek. Diese Arbeit veränderte die Vorstellung davon, was eine Bibliothek sein kann, für immer. 1998 wurde das 15.000 Quadratmeter große Gebäude fertiggestellt. Der Hauptsaal erstreckt sich in einer weiten, offenen Halle unter einer gewölbten Decke, die von Lichtstrahlen aufgebrochen wird, die durch einen riesigen Kegel herabfallen. Als hätte ein Raumschiff nach der Landung durch ein Loch in der Decke seine Füße ausgefahren. Von einer überwältigenden, vierstöckigen und 60 Meter langen Bücherwand führen Landungsbrücken in die Lesesäle des kegelförmigen Gebäudes-im-Gebäude. Von außen sieht man, dass der 42 Meter hohe Kegel aus einem mit Wiese begrünten Abhang ragt, der sich wie eine Hügellandschaft über das gesamte Dach bis hin zum früheren Hauptaugenmerk der TU Delft erstreckt, dem von Jaap Bakema und Jo van den Broek entworfenen brutalistischen Auditorium (1968). Sobald die Sonne scheint, tummeln sich zahlreiche Personen auf diesem innovativ gestalteten, grünen Dach. Die Bibliothek der TU Delft brach radikal mit dem bisherigen Nachkriegs-Modernismus des Campus und vollzog einen Quantensprung hin zur Nachhaltigkeit, wie sie heute in der Architektur tonangebend ist. Zudem liest sie sich als hochdramatisches Gedicht, das verschiedene Sprachen zum Ausdruck bringt: Raum, Form … und Landschaft.


TU Delft Library

Library of Birmingham

Die 2019 eröffnete LocHal-Bibliothek in Tilburg beheimatet die öffentliche Midden-Brabant-Bibliothek, die verschiedene Ebenen in sich vereint. Zwei Kulturinstitutionen und ein Coworking-Büroraum-Betreiber teilen sich die Räumlichkeiten des früheren Lokdepots, das von den Büros CIVIC, Braaksma & Roos und Inside Outside restauriert und umgestaltet wurde. Mecanoo belebt nun die runderneuerte Struktur der 90 × 60 Meter großen und 15 Meter hohen Halle. Wie in einer Erweiterung des öffentlichen Raumes wird man von einem Café im Eingangsbereich des Erdgeschosses willkommen geheißen und automatisch in das Gebäude geleitet. Tische aus alten Fahrgestellen können über die denkmalgeschützten Schienen nach draußen geschoben werden, drei zusammengestellte Tische können als Bühne für eine Performance fungieren. Hinter den Tischen befinden sich weitläufige Treppen und Galerien, auf denen man sitzen kann, und je höher man geht, desto mehr gibt es zu entdecken: In einem Gang, der tief ins Innere des Lokdepots führt, hat Mecanoo eine „Bücherstraße“ geschaffen, in der industrielle Eisenstrukturen als Lesestationen dienen. Ein Kinderbereich ist mit bunten Regalen in Form von riesigen Büchern, Stiften und Linealen ausgestattet. Immer wieder finden sich zum Lernen und Experimentieren eingerichtete „Labs“. LocHal ist weit mehr als nur ein Ort, an dem man Bücher ausleihen kann. Sie ist eine Bibliothek für die Zukunft, weil ihre visuelle Dramaturgie die Öffentlichkeit zudem auf besondere Art anspricht. Diesen Ansatz verfolgte Mecanoo auch in seinem ersten Bibliotheks­ projekt außerhalb der Niederlande.

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Seit ihrer Eröffnung 2013 hat sich die Bibliothek in ­Birmingham, England zu einem Wiederkennungsmerkmal der Stadt mit weitreichender Öffentlichkeits­ wirksamkeit entwickelt. 2008, zu Beginn des Projektes, ­s pazierte Francine Houben durch die Stadt und be­o bachtete ihre Bewohner*innen. Diese Einblicke waren ausschlaggebend für das außergewöhnliche Design eines Volkspalastes, einem Gebäude für ganz Birmingham. Das Wahrzeichen erhebt sich in drei aufeinander gestapelten, lichtdurchlässigen Boxen, die je von eleganten, filigranen und ineinander verschlungenen Aluminiumringen (insgesamt 5.357) umgeben und mit einem goldenen Zylinder gekrönt sind. Das Konstrukt ragt 60 Meter in die Höhe und beherbergt den originalviktorianischen Shakespeare Memorial Room aus dem 19. Jahrhundert. Die 11 Meter breite Fassade der größten Box überdacht den Eingang zur Bibliothek, aus dem lange Rolltreppen in die kathedralenähnliche Innenraumkuppel des Gebäudes führen. Die Idee dazu kam Francine Houben im Traum – gestaffelte, runde Hohlräume, die in Richtung des vom Himmel fallenden Lichtes immer kleiner werden. Gesäumt von Galerien erstrecken sich unendliche Bücherregale entlang der 24 Meter breiten Rotunde. Dahinter setzen sich die Böden der einzelnen Ebenen dem rechteckigen Grundriss ent­ sprechend fort. Auf dem Dach der untersten Box befindet sich die L-förmige „Entdeckungsterrasse“, ein öffentlicher Park aus Bänken und Grüninseln mit 3.500 Pflanzen, auf der darüber liegenden Box versteckt sich ein weiterer Park, der „Secret Garden“.

Auf diese Weise kombiniert Birminghams Bibliothek ein dynamisches räumliches Abenteuer mit praktischen Angeboten. Mecanoos neueste Bibliothek, die städtische Bibliothek in Tainan, Taiwan, wird 2020 eröffnet und entsteht in Zusammenarbeit mit dem lokalen Architekturbüro MAYU. Das oberste Stockwerk des rechteckigen Gebäudes wird von Säulen gestützt und von vertikal angeordneten Aluminium-Lamellen umspannt, die gleichzeitig als Sonnenschutz beziehungsweise Lichtfilter fungieren und mit ihren poetischen Formen an Taiwanesische Fenster­rahmen erinnern. Dieses Formelement ist eine leise Referenz auf die einzige von Mies van der Rohe entworfene Bibliothek, deren Säulengang einen rechteckigen Gebäudeblock stützt. Unter dem stattlichen Dach der Bibliothek in ­Tainan finden sich drei verglaste Stockwerke, die nach unten hin jeweils einen Schritt zurücktreten. Die gesamte Form ähnelt einer auf den Kopf gestellten Stufenpyramide. Im Eingang stehend, blickt man wie in Birmingham hinauf in die Stockwerke der Bibliothek. Inmitten von Grünanlagen gehören auch eine Kongress­ halle, ein Auditorium und ein Café zu dem 37.000 Quadratmeter großen Gelände. Auch hier steht die Intention im Zentrum, alle Menschen zu integrieren. So gibt es speziell für Teenager und ältere Personen gestaltete Aufenthaltsbereiche. Die Kinderbibliothek gibt den Blick auf einen Spielplatz frei, sodass Spielen und Lesen ­visuell miteinander verbunden sind. In den Land­schafts­ anlagen bieten drei tiefergelegte Plätze Raum für Ver­ anstaltungen und Ausstellungen im Freien. Tainans

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Querschnitt der Mid-Manhattan Library

Stadtbibliothek wird das urbane Herzstück des Viertels Yongkang bilden, das sich derzeit rasant aus Feldern erhebt. Von den ersten Ideen der innovativen, wegweisenden Bibliothek in Delft bis hin zum neuesten urbanen Wahrzeichen in Tainan dauert Mecanoos Reise nun ein Vierteljahrhundert. In den USA reicht die Geschichte von Mecanoos Bibliotheksprojekten bereits wesentlich weiter zurück. Dort umfasst sie die Sanierung und Wiedergeburt einiger der wichtigsten Bibliotheken des Landes. Begeben wir uns zunächst nach Washington, D.C. zur einzigen von Mies van der Rohe – dem größten Meister minimalistischer moderner Architektur – entworfenen Bibliothek. In Deutschland war er der letzte Direktor der weltweit einflussreichsten Design-Schule der Vorkriegszeit, des Bauhaus, perfektionierte die für ihn typische rechteckige Glas-Stahl-Architektur jedoch nach dem Krieg in den USA. Das ursprünglich als Zentralbibliothek bekannte Gebäude ist das Beispiel schlechthin für seine Arbeit und zudem sein letzter Entwurf. Mies starb 1969. 1971 wurde die 37.000 Quadratmeter große Bibliothek nach dem 1968 ermordeten Sprecher der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung in Martin Luther King Jr. Memorial Library umbenannt. Die Bibliothek wurde 1972 eröffnet. Mies hatte gesagt, es würde „das schönste und dramatischste Bibliotheksgebäude der USA“ werden. Zugegebenermaßen sieht es mit seiner vorgehängten Fassade, deren schwarze Stahlsäulen einen Gang rund um das zurückgesetzte Erdgeschoss bilden, wie eines seiner vielfach gefeierten Hochhäuser aus, nur dass es lediglich vier Stockwerke hat.

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Seit diesem Entwurf haben sich die Angebote von ­Bi­­­­­­­bliotheken und ihre Rolle für die Gemeinschaft allerdings stark verändert (wie auch Mecanoos Projekte verdeutlichen). So wurde Mies van der Rohes Bibliothek nicht nur baufällig, sondern veraltete auch funktional. Darüber hinaus war sie ein Zufluchtsort für Obdachlose geworden, was Nutzer*innen ihrer Bestände abschreckte. „Eine Gruppe sollte eine andere nicht verdrängen“, so Houben. Die Renovierung der Bibliothek ist eine Möglichkeit, das geistige Erbe zweier sehr unterschiedlicher Männer zu ehren: Mies und King. Das inspirierende gesellschaftliche und politische Vermächtnis Kings entspricht Mecanoos Philosophie, Menschen ins Zentrum der Entwürfe zu rücken. So ist laut Houben ein zentrales Ziel des Washingtoner Bibliotheksprojekts, „den Zweck der Bibliothek als sozialen Treffpunkt und ihre starke Verankerung als gesellschaftliches Wahrzeichen der Stadt zu betonen“. Und ohne die perfekten Proportionen aus Mies’ Entwürfen zu verlieren, musste das Gebäude „menschlicher“ werden. Weder das lokale Architekturbüro OTJ noch Mecanoo greifen in die ausdrucksstarke Schlichtheit von Mies’ Gebäudeblock ein. Doch im Säulengang, im Inneren des Gebäudes und auf seinem Dach werden die Washing­ toner eine andere Bibliothek vorfinden, wenn diese 2020 wiedereröffnet wird. Mecanoo hat es sich nicht nehmen lassen, das Gebäude an den richtigen Stellen mit warmem Holz und weicheren, zeitgenössischen Charakteristika auszustatten. Durch zwei der vier Betonkerne schlängeln sich

monumentale, mit Holz verkleidete Treppenhäuser um einen Hohlraum und werden zu vertikalen, sozialen ­Verbindungselementen. Auch im 293 Plätze fassenden Hör­­­saal im Obergeschoss schmiegt sich Holz entlang der Ecken. Und nicht zu vergessen die vollständige Umgestaltung des Daches: Hier entsteht eine neue öffentliche Terrasse mit Gängen zwischen den Pflanzen­ beeten, ähnlich wie in Birmingham. All dies umgibt die buchstäbliche Krone der MLK-Bibliothek – den neuen Pavillon unterhalb eines ebenfalls begrünten Baldachins. Er ist leicht zurückversetzt und daher von der Straße aus nicht sichtbar. Das Gebäude wird runderneuert und dabei unverkennbar, einzigartig Mies bleiben. Schließlich sei noch ein anderes US-amerikanisches Projekt kurz erwähnt, das uns zu zwei mehr als ein­ hundert Jahre alten Gebäuden im Herz von Manhattan führt. Eines ist die berühmteste Bibliothek in der westlichen Hemisphäre, das andere ihre längst entfremdete Schwester-­B ibliothek. Diese beiden großartigen Bibliotheken, das Schwarzman Building und die Mid-­ Manhattan Library, stehen einander an der Kreuzung der 5th Avenue und 40th Street diagonal gegenüber. Mit einem Altersunterschied von nur drei Jahren gehören beide zum öffentlichen Bibliothekssystem von New York (New York Public Library, NYPL), jedoch könnten sie unterschiedlicher nicht sein. Gemeinsam mit dem lo­kalen Archi­tekturbüro Beyer Blinder Belle, ihrerseits Restau­ rations­experten, gestaltet Mecanoo beide Bi­blio­­­theken um und verbindet sie zu einem Campus: NYPLs Midtown Campus. Ganz anders als die Bibliothek bei Harry Potter zieht der Zauber von Mecanoos Bibliotheken Menschen in ihren Bann. Komfort und Aktivitäten stehen hier nebeneinander, und das Spiel mit Raum und Licht kann einem fast den Atem nehmen. Besucher*innen müssen in Bibliotheken vielleicht nicht länger „Psssst!“ sagen, aber ein sprachloser Moment ist in jeder dieser architektonischen Wortwelten alles, was man braucht, um die Poesie wahrzunehmen, mit der Mecanoo Bibliotheken verwandelt. Aus dem Englischen von Johanna Schindler

FRANCINE HOUBEN ist Gründungspartnerin und künstlerische Leiterin des Architekturbüros Mecanoo. Ihre Arbeit umfasst Theater, Museen, Bibliotheken sowie Nachbarschaftsquartiere, Wohnungsbau und Gartenanlagen. Derzeit arbeitet sie an der Renovierung der New York Public Library und der Zentralbibliothek von Washington, D.C. HERBERT WRIGHT ist Contributing Editor des britischen Architektur- und Design-Magazins Blueprint. Wright hat Bücher über Hochhäuser und Urbanismus veröffentlicht und in letzter Zeit mit Mecanoo an verschiedenen Publikationen gearbeitet.

MECANOO wurde 1984 von einer Gruppe Architektur­ student*innen gegründet, zu der auch Francine Houben gehörte. Heute ist sie hauptverantwortliche und Kreativ­direktorin von Mecanoo, einem mittlerweile globalen Unternehmen mit Projekten auf drei Kontinenten und Sitz im historischen Kern der Stadt Delft.


FACKELMARSCH MIT BLOB, ODER: WIR UND ANDERE PHANTOME Enis Maci

Nach dem Sturm auf die Bastille versammelten sich die Bürgerinnen in einem tatsächlichen, echten Raum. Hier standen sie sich nah, Wange an Wange, Arsch an Arsch. Wer dem König weiterhin ein absolutes Vetorecht einräumen wollte, saß in der Versammlung von 1789 rechts, wer es ihm nehmen wollte, saß links. Links: Egalitärere, Rechts: Elitärere. Links: Progressive, Rechts: Reaktionäre. Ein Begriffspaar ward geboren unter den Bürgerinnen. Hier also entfernten sie sich sogleich voneinander, nicht zuletzt, weil jedes Wir von dem prekären Verhältnis zwischen Nähe und Distanz handelt. Hier verteilten sie sich bis an die Ränder dieses tatsächlichen, echten Raums, und in der Mitte, damals wie heute: Gleichgültigkeit gegenüber der Ausgangsfrage.

Die parlamentarische Rechte bezeichnet sich selten als rechts, bezeichnet ihre Gegner umso lieber als links. Die parlamentarische Linke trifft das nicht, sie bezeichnet sich selbst, und zwar mit Inbrunst, als links. Bloß die Sozialdemokraten, mittlerweile äußerst knapp links der Mitte Verortete, fürchten, als zu links zu gelten, als nicht mittig genug. Und da liegt der Hund selbstverständlich begraben. Ich muss mich hier leider wiederholen: Die politische Mitte wird als Ort imaginiert. Dabei bezeichnet sie eine verhältnismäßige Entfernung von LINKS und RECHTS, dabei bezeichnet sie nicht mehr als die Äquidistanz zu zwei behaupteten Rändern. Es ist ein nachträglich eingeführter Begriff. Er selbst, der Begriff der politischen Mitte, ist es, der aus rechten und linken Positionen randständige macht. Der zweite, darauffolgende rhetorische Schritt, ist aber der eigentlich wichtige: Da LINKS und RECHTS sich ja „gleich weit weg“ von der politischen Mitte befinden, müssen sie wohl oder übel auch „gleich schlimm“ sein. Diese – wissenschaftlich längst diskreditierte – sogenannte Hufeisentheorie findet ihr Gegenüber im wunderbaren Fish Hook Theory Meme, das das politische Spektrum als einen Fischhaken imaginiert, an dem sich sogenanntes Zentrum und äußerster rechter Rand berühren. Als Meme, das es ist, existiert es selbstverständlich in unendlichen, sich gegenseitig konterkarierenden Variationen und illustriert damit nicht nur einen netten Gedanken, sondern auch: die Untauglichkeit von Piktogrammen für die politische Analyse. FISH HOOK THEORY

Far-Right

Far-Left

Centre

Die einzigen Institutionen, die an der Hufeisentheorie festhalten, sind die Sicherheitsbehörden. Zum Beispiel der Verfassungsschutz, der kürzlich noch von Hans-Georg Maaßen geleitet wurde und wo Personen Karriere gemacht haben und vermutlich auch weiterhin machen werden, die von Hans-Georg Maaßen goutiert wurden. Ist HGM bloß ein ordinärer Rechter oder bereits rechtsradikal? Bekannt

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sind jedenfalls (unvollständige Aufzählung): seine Promotion, ben, das Ganze hat eher das Aroma des Gefälligkeitsakts, der gespickt mit Begriffen wie „Massenzuwanderung“ und „Asyltour­ PR-Maßnahme, des ultradurchsichtigen Rumgeklüngels – Handke is­­mus“, sein prekäres Verhältnis zur Pressefreiheit, wie an der also, wenn er in der Zeit sagt: „Früher habe ich den New Yorker Anzeige gegen netzpolitik.org wegen „Landesverrats“ illustriert, gern gelesen. Als der Krieg in Jugoslawien losbrach, fing ein Artikel und, offenkundig: sein Versuch, die Hetzjagden von Chemnitz weg- des Sohns von Susan Sontag ungefähr so an: ,Harry N. wurde ethzuleugnen. Wir erinnern uns: HGM erklärte ein entsprechendes nisch gereinigt, als er mit Freunden beim Kartenspiel saß.‘ Ich habe Video für unauthentisch, oder, deutlicher gesagt – denn was ist gedacht: Schämt der sich nicht? Um Kafka zu zitieren: Die Scham Deutlichkeit anderes als eine Spielart der Präzision, dieser poe- hat nicht überlebt. Da kann ich zittern vor Wut. Der Krieg hat die tischsten aller Kategorien? –: HGM versuchte, die rassistischen Sprache des New Yorker verändert.“ Hetzjagden von Chemnitz wegzuleugnen, indem er schamlos ZweiHandke, der im selben Interview unwidersprochen „muslimifel artikulierte, wo keine waren, indem er fast, aber eben nicht ganz: sche Serben“ sagt, wenn er Bosniaken meint, dem die trauernden log. Wie viel ist sein Wort in der Vergangenheit wert gewesen, vor Mütter und Töchter und Schwestern und Geliebten und Kameraparlamentarischen Untersuchungsausschüssen, in internen Memo- dinnen jener völkermörderisch Vernichteten irgendwie fake vor­ randen, bei Meetings mit Regierungsmitgliedern? All diese Momente kamen, der von „Barfüßlern“ fantasiert hat und von einem Hufeiwerden verloren sein in der Zeit, so wie Tränen im Regen. sen des Bosnienkriegs – die waren alle irgendwie „gleich schlimm“, Im Interview mit der Rheinischen Post erklärt Maaßen: „Men- Lager hier, Lager da, Lager tralala, er muss es ja wissen, hat er schen, die mich näher kennen, halten mich für sozial und damit für doch schließlich ihr Umland besichtigt, als wortwörtlich noch kein eher links – und für einen Realisten. So sehe ich mich auch.“ Und Gras über die Gräber der in Srebrenica Vernichteten gewachsen weiter: „Nur weil man die Klimapolitik und die Migrationspolitik kri- war – Handke also spricht vom Verlust der Scham in der Welt, nicht tisiert, nur weil man Bedenken hat, was einige Punkte der Sicher- etwa wegen des soeben Geschilderten, nicht etwa wegen einer heitspolitik angeht, ist man nicht automatisch rechts. Der Ausdruck ebenso plötzlichen wie verspäteten Epiphanie, sondern weil die Rechts wird heute inflationär verwendet, um Personen auszu­ „ethnische Säuberung“ kein Verb konstituiert, und sowieso keines, grenzen und um sich mit den Sachargumenten nicht auseinander- das einfach so ins Passiv gesetzt werden kann. Es geht ihm nicht setzen zu müssen.“ um die Ermordeten, sondern um Grammatik, der er zweifellos ein Da ist sie wieder, die Travestie als Form rechter Rhetorik, der magisches Potenzial zuschreibt, vielleicht ist es ja die Kraft, die ich einige Zeit lang auf die Schliche zu kommen versuchte. Frauke Toten lebendig zu machen, schön wäre es. Petry, wie sie Brechts Kinderhymne rezitiert. Neofaschistische AktiDer Text ist im Übrigen überschrieben mit: „Handke glaubt vistinnen, die Frauenpower beschwören. Maaßen, wie er sich zu nicht an einen Dialog“. einem Linken erklärt, als seien diese Begriffe – links und rechts, Selbstverständlich glaube auch ich nicht an einen Dialog – mit egalitär und elitär, progressiv und reaktionär – nicht „konservativ“, Menschenfeinden, notorischen Lügnern, mit jenen, die mich und denn ohne die Bewegung des Reagierens auf einen kollektiv alles, woran ich glaube, verachten. Es gibt keinen Grund zur Selbsterkämpften Fortschritt ließe sich der Konservativismus unmöglich erniedrigung. An Stellen wie diesen ist es unumwindlich, Position als solcher benennen, er bliebe einfach: das althergebrachte Den- zu beziehen, und dazu gehört: zugeben, dass man den eigenen ken, punktum, alternativlos, ganz abgesehen davon, dass das politischen Standpunkt für richtig hält, oder zumindest den gegBewahren der Natur, das Beibehalten des Sozialstaats usw. heute, nerischen für so fundamental falsch, und ja, auch zerstörerisch, im Prinzip zumindest, durchaus nicht von der Revolution, sondern das von einem Mit- und Nebeneinander der Positionen keine Rede eben vom Erhalten, Konservieren handeln – Maaßen also, wie er sein kann. Vom Beschmutzen-der-Dichtung-mit-Meinung kann sich zum Linken erklärt, als seien diese Begriffe mit keinerlei Bedeu- das nur für den denjenigen handeln, der sehenden Auges die Meitung belegt, als handle das Gesellschaft-Machen, -Hegen, -Pflegen nung mit der Haltung verwechselt. nicht immer davon, sich Begriffe zu machen, sich kollektiv auf sie Auch in der Zeit gefunden: den großen Wir-Gesang von Eva zu einigen, damit ein Gespräch möglich wird – fast also so, als sei Marie Stegmann, Thema: „Der Diskurs“ ist elitär, die weißen, er überhaupt nicht interessiert an der Idee von Gesellschaft als hetero­sexuellen, uswusf. Abgehängten macht es sauer, wenn wider Gespräch – Selbst-Gespräch, Zwie-Gespräch, Tri-Gespräch, Erwarten studierte, belesene, oder wenigstens erstaunlich artikuGerede, Geflüster, Gesang – fast so, als lehne er das alles, was lierte uswusf. Mitglieder von Minderheiten aus ihren Löchern krieman heute fundamental verkürzt als „Dialog“ bezeichnet, ab. Das chen und nicht etwa um Rechte bitten, sondern auf die ihren pochen. kennen wir schon lange vom Rechtsradikalismus: Jedes Gespräch Bitte mehr Freundlichkeit, mehr Mitgefühl, mit den Genervten natürverweigern und gleichzeitig genau diese eigene Haltung der lich. Vor ein paar Tagen hörte ich jemanden sagen, es sei unglaubGesprächsverweigerung einer ominösen Linken unterstellen, deren lich, mit was für einer Wucht die Kritik an Stegmanns Text online Eigenschaften nebulös bleiben, deren einzige, hervorstechende formuliert werde, wir müssten doch zusammenhalten, sie sei, ganz Eigenschaft die zerstörerische Herstellung von Dissens im sonst offenkundig, nicht der Feind. Ich frage mich bloß, wer ist dieses so harmonischen Volkskörper zu sein scheint. verflixte Wir, das hier zusammen­halten soll, und schließt es eig­ Anderes Thema, selbes Prinzip: Handke, wenn er in der Zeit – entlich auch jene von Stegmann durch Auslassung despektierlich man scheut sich, im Zeit-Gespräch, gar im Zeit-Interview zu schrei­ beiseite gewischten Arbeiter, A ­ ngestellten, Handwerkerinnen und

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Arbeitslosen mit ein, die lange schon für Gleichheit und Respekt einstehen – von den N ­ ervenden, den lästigen Minderheiten also ohnehin ganz zu schweigen? Der Feind kann EMS nicht sein, denn: Der Feind hält immer die Fackel dran. Wo er die Fackel herhat? Wer sie mit Pech bestrichen hat? Wo das Pech herkommt? Was zu seiner Herstellung als erstes verbrannt wurde? An welchem Zunder er die Fackel entzündet hat? Wer den Zunder bloß vom toten Holz gepflückt, gepult und getrocknet hat? Müßige Fragen, das war vielleicht irgendjemand, kann aber kein Feind gewesen sein, denn: Feind ist, wer die Fackel dranhält. Und Stegmann schreibt also: „Manchmal scheint es mir, als warte eine bestimmte Gruppe nur mit den diskursiven Waffen im Anschlag, bis irgendwo im öffentlichen Raum ein falsches Wort aufblitzt. Wer kein Gendersternchen setzt, ist automatisch ein Sexist. Wer ‚exotisch‘ sagt, ein Rassist. Ist es wirklich so einfach?“ Wer aber ist diese bestimmte Gruppe? Hat sie einen Namen? Woher stammen ihre diskursiven Waffen? In seiner Replik auf ­Stegmann im Spiegel hat Enrico Ippolito gezeigt, dass in dieser Rede von der abgehobenen kosmopolitischen Elite derselbe antisemitische Topos mitschwingt, den wir schon aus dem Sprechen vom ­„Großen Austausch“ kennen, und hat außerdem gezeigt, dass die Konstitution der Arbeiterklasse als politisches Subjekt selbst Ergebnis jener identitätspolitischen Prozesse ist, die Stegmann so ­verschmäht. Es ist schwierig, auf einen Text zu reagieren, dessen Kernthese besagt, dass Kritik an Positionen wie den seinen stets aggressiv, stets überheblich daherkommt, und der darüber hinaus bereits das bloße Artikulieren und Benennen als Akt überheblicher Aggression framed. Das ist natürlich handwerklich sehr gut gemacht, ein Verfahren wie eine Impfung, und der Text wird: immun gegen jede Kritik. Handke schreibt: „Von dem, was die Anderen nicht von mir wissen, lebe ich.“ Ein sehr schöner, sehr richtiger Satz, einer, von denen er viele geschrieben hat. Anfangs dachte ich, er stimme sogar irgendwie doppelt, weil Handke als öffentliche Person von dem Nicht-Wissen, oder zumindest Nicht-Wissen-Wollen der ­anderen – die nicht mit den Anderen zu verwechseln sind – um seine politischen Standpunkte lebte. Je mehr sich der Nobel-­Zirkus in die Länge zog, desto klarer wurde mir, was ich ohnehin längst hätte wissen müssen, die allgegenwärtige Wahrheit vom Locker Room Talk: Nicht trotz, sondern wegen dieser Äußerungen, die als Protest, die als Rebellion, die als Einladung – gegen Sebald, s­ o­zusagen –, den Bereich der Ästhetik als wertfrei zu reklamieren eingeordnet wurden, erhielt er den Preis. Eigentlich wollte ich – natürlich – etwas ganz anderes schreiben. Es sollte um Räume gehen. Um die Dinge, die Objekte, und dass man sie links hinstellen kann oder rechts, dass man in die Räume hineingehen kann oder manchmal, da gehen die Räume in dich hinein. Darüber wollte ich eigentlich reden, über die sphärischen und die konkreten Räume, über die tödlichen und die friedlichen Räume, über Gärten, in denen Erdöl sprudelt, über einen Kasseler Kiosk, detailgetreu nachgebaut in South London, über renaturierte Parkanlagen im Ruhrgebiet, da, wo früher die Bauch-

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höhle der Landschaft aufgetan war, mit schmutzigem Schnee ausgekleidet. Über Lena Müllers Bühne in Susanne Kennedys Fegefeuer in Ingolstadt. Über Klassenzimmer. Über Gefängnis­ bibliotheken. Über zusammenbrechende Gebäude, über die Verbrannten von Grenfell, von Gërdec, von Dhaka. Über niedrige, mit günstigem Holzfurnier verkleidete, mit Pressspanplatten verhangene, mit Schwammtechnik betupfte Decken, über das Verlassen und Hintersichlassen von Räumen. Über die Entwicklung der Idee von Links und Rechts im Embryo, über die Frage, warum das Herz denn nun eigentlich links schlägt, über das Maulbeerstadium, schönstes, vielversprechendstes aller Stadien. Jetzt habe ich aber schon wieder etwas über die Gegner, über Maaßen und Handke und Stegmann – qualitative Unterschiede, ähnliche rhetorische Mittel – geschrieben, weil es ja nicht nur stimmt, dass man aufpassen muss, wem man Raum auf dem Papier schenkt, sondern auch, dass man sich losschreiben, lossprechen kann von der Falschheit, wenn man sie einmal deutlich benennt. Das Benennen ist der stärkste Zauber, den wir kennen, der die zum allerersten Mal von außen Benannten wütend, misstrauisch macht, und dieses ihr Misstrauen kann ich zumindest bloß als eines deuten: den Beginn eines wunderbaren Kampfes. Das Ding ist ja: das politische Leben, das gesellschaftliche Miteinander uswusf.: Es ist keine Linie, es ist kein Kreis, es ist keine Kugel. Es verortet sich im Raum, und zu allem Überfluss auch noch in der Zeit. Gleichmäßigkeit kennt es nicht, es ist amorph, es ist Praxis und Wesen und Dingsbums und Tierchen zugleich. Wenn es an irgendein physisches Phänomen auf dem Erdenrund erinnert, dann noch am ehesten an jenen im Pariser Zoo ausgestellten Schleim, der Blob heißt – kein Gehirn, aber: perfekter Orientierungs­ sinn, großer Hunger, unerklärliches Kommunikationsvermögen und 720 Geschlechter noch dazu.

In diesem Sinne: Glückauf!

ENIS MACI, geboren 1993 in Gelsenkirchen, hat Litera­r isches Schreiben und Kultur­s oziologie in Leipzig und London studiert. Zuletzt erschien der Essayband Eiscafé Europa in der edition suhrkamp. 2020 werden ihre neuen Stücke Bataillon und WUNDE R am Nationaltheater Mannheim und an den Münchner Kammer­s pielen uraufgeführt.

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NEUES AUS DEM ARCHIV Hackebeile, Requisiten aus dem Film Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) von Christoph Schlingensief, verwendet von Alfred (Alfred Edel) und seiner Metzgerfamilie


FUNDSTÜCK

I N DER ÜBERHÖHUNG STECKT OFT MEHR WAHRHEIT ALS IM ZWANG, ETWAS REALISTISCH ZU GESTALTEN

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Julia Glänzel

Enfant terrible, Skandalregisseur, liebenswerter Provokateur, Politclown, sympathischer Entertainer etc. – dies waren typische Etiketten, mit denen der Name Christoph Schlingensief versehen wurde. Doch wie unzureichend derlei Schlagwörter auch sein mögen, um dem Schaffen eines Ausnahmekünstlers gerecht zu werden, verdeutlichen sie doch eines: Gleichgültigkeit rief sein Werk wohl bei kaum jemandem hervor. Wie wenige andere Künstler zog er ein enormes Maß an Aufmerksamkeit auf sich. Gerade in seinen letzten Lebensjahren hatte er einen Bekanntheitsgrad erreicht, der wohl nur mit dem eines Pop- oder Filmstars vergleichbar ist. Seit den Anfängen seiner Theaterarbeit an Frank Castorfs Volksbühne zu Beginn der 1990er Jahre wurde seine Arbeit publizistisch intensiv begleitet. Umstritten war bereits sein filmisches Schaffen – die Meinungen der Kritiker reichten von „absolut sehenswert“ bis hin zu „ekelerregend“. Doch war die Resonanz nicht vergleichbar mit der medialen Aufmerksamkeit, die seine Aktionen und Performances, Theater- und Opernarbeiten, die Parteigründung, seine Talkshows und Installationen erlangten. Mit Vehemenz und großer Emotionalität wurde über die Bedeutung Schlingensiefs diskutiert und polemisiert. Auf der einen Seite wurde er bejubelt und gefeiert, bisweilen sogar im höchsten Maße verehrt, auf der anderen als Scharlatan abqualifiziert. Schlingensiefs Werk fordert(e) das Publikum und überfordert(e) es sicherlich auch häufig, sowohl gestalterisch als auch thematisch. Als knapp 30-Jähriger inszenierte er die deutsche Wiedervereinigung als einen „bluttriefenden, kannibalischen Akt der Einverleibung des Ostens durch den Westen“2, als einen Rückfall in die Barbarei. „In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es unwichtig, ob etwas gut ist oder schlecht.“ Diesen Satz lässt Schlingensief den Darsteller Alfred Edel im Film

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Das deutsche Kettensägenmassaker (1990) sagen. Überlieferte Gewissheiten scheinen nicht mehr zu gelten, auf die Euphorie und Gefühlsduselei der sogenannten Wende-Zeit folgte die ernüchternde Realität. Ganz in diesem Sinne formulierte es auch Schlingensief in einer Pressemitteilung: „Nach der Vereinigungssoße jetzt der Film zum Aufwachen!“ Das deutsche Kettensägenmassaker reiht sich als der zweite Teil in Schlingensiefs Deutschland-Trilogie ein (Erster Teil: 100 Jahre Adolf Hitler – Die letzte Stunde im Führerbunker [1989], Dritter Teil: Terror 2000 – Intensivstation Deutschland [1992]), in der sich der Regisseur mit Ereignissen und Debatten der deutschen Geschichte auseinandersetzte. Nur wenige Wochen nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland hatte Das deutsche Ketten­ sägenmassaker auf den Internationalen Hofer Filmtagen am 24.10.1990 Premiere, nach einer Produktionszeit von einem halben Jahr. Innerhalb weniger Wochen entstand das Drehbuch, und in nur zehn Drehtagen (Anfang bis Mitte April) war der Film in der Ruinenlandschaft des Thyssen-Stahlwerks in Duisburg-Meiderich „im Kasten“. Schlingensief reagierte also unmittelbar auf die damals aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignisse. Aus dem Film, den er zu diesem Zeitpunkt eigentlich zu drehen vorhatte und für den bereits Gelder durch die Filmförderung in Nordrhein-Westfalen bereitgestellt worden waren (Colonia Dignidad), wurde eine gänzlich andere Produktion, die vorerst noch den Titel „Spiel ohne Grenzen in den Grenzen von ’37“ trug. Zu Beginn des Deutschen Kettensägenmassakers zeigt Schlingensief dokumentarisches Filmmaterial, Original­a ufnahmen der Wiedervereinigungsfeier am 3.10.1990. Der Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, formulierte damals in seiner Ansprache: „Wir wollen die Einheit und Freiheit Deutschlands vollenden. Für unsere Aufgaben sind wir uns der Verantwortung vor Gott und den Menschen bewußt […].“ Was dann folgt, persifliert die Reden der Politiker mit ihren Versprechungen von blühenden Landschaften und entlarvt zugleich die Festlichkeiten als groß angelegte Inszenierung, etwa wenn Weizsäcker den um ihn stehenden Politikern am Ende seiner Rede den nächsten Punkt im Veranstaltungs­ ablauf zuraunt: „Jetzt muss die Nationalhymne kommen.“ Die Handlung des Films ist schnell umrissen: Clara (Karina Fallenstein) beseitigt ihren Ehemann in Leipzig

und fährt mit ihrem Trabi gen Westen, um mit ihrem westdeutschen Liebhaber (Artur Albrecht) zusammen zu sein. Gerade vereint, fällt das Paar in die Hände einer Metzger­ familie (Alfred Edel, Dietrich Kuhlbrodt, Volker Spengler, Susanne Bredehöft, Brigitte Kausch, Reinald Schnell und Udo Kier), die alle Ossis, derer sie habhaft werden kann, zu Wurst verarbeitet. Clara selbst bleibt zwar verschont, muss aber mitansehen, wie die Familie Ostdeutsche jagt, metzelt und ausnimmt. Der Film ist reich, ja überbordend an Symbolen, Metaphern und Zitaten. Bilder und Parolen des kollektiven gesellschaftlichen Bewusstseins (z. B. DDR-Bürger in Trabis, die über die Grenze fahren / „Wir sind das Volk“Rufe) sind im Kettensägenmassaker ebenso zu finden wie Anspielungen auf den Massenmörder Fritz Haarmann, den Hitchcock-Klassiker Psycho und den US-amerikanischen Horrorfilm The Texas Chainsaw Massacre, der nicht nur für den Titel Pate stand. Eine hektische Handkamera, eine Vielzahl von sich überlagernden Geräuschen – ­überdrehte Stimmen, bekannte Lieder, der bedrohliche Sound der Kettensäge – alles wirkt stark überzeichnet, ist verfremdet und doppeldeutig. Versucht man sich an einer Interpretation, wird umso deutlicher, wie dicht, komplex und ausufernd Schlingensiefs (Bild-)Sprache ist. An Aktualität und Brisanz, so viel steht fest, hat sie bis heute nichts verloren.

1 Christoph Schlingensief im Gespräch mit Frieder Schlaich, 2001 2 http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=f037 abgerufen am 18.12.2019

JULIA GLÄNZEL ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste.

Im Christoph-Schlingensief-Archiv befinden sich neben Werkunterlagen, Arbeits­m aterialien, Korrespondenzen, bio­g rafischen und geschäftlichen Unterlagen auch vereinzelte Objekte. Dabei handelt es sich sowohl um Gegenstände aus Filmen, Aktionen und Theaterinszenierungen, als auch um Sammlungsgut. 2009 übergab Christoph Schlingensief (1960–2010) seinen Vorlass an das Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste.

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Abb. 1  Ob schwarz, ob weiß – im Kampf vereint!, Seite aus der AIZ, 1931

WAFFENBRÜDER OB SCHWARZ, OB WEISS,  1931–1971 Von den mehr als 200 Fotomontagen, die John Heartfield in den 1930er Jahren für die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) angefertigt hat, ist Ob schwarz, ob weiß – im Kampf vereint! 1 eines der formal zurückhaltendsten und gleichzeitig kraftvollsten Werke des Künstlers. [Abb. 1]

Maria Gough

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Zwei Arme – der eine schwarz, der andere weiß, beide männlich-muskulös, beide im Gleichklang ihrer geballten Fäuste – sind fast vertikal nach oben gereckt. Es ist dies eine Geste, die schon seit jeher die Solidarität der Arbeiter­klasse und der Rassen symbolisiert und darüber hinaus Stärke, Trotz und Widerstand zum Ausdruck bringt. Keiner der beiden ins Monumentale vergrößerten Arme gehört jedoch zu seinem jeweiligen Kopf, zumindest nicht im Hinblick auf Ausrichtung und Proportion. Tatsächlich ist die ursprüngliche Maquette2 [Abb. 2] ein Kompositum aus fünf Fragmenten, das auf Zuschnitte von originalen Fotografien und nicht von bereits gedruckten Bildern zurückgeht. Von links nach rechts überlappend ist Folgendes zu sehen: der stark retuschierte Hinterkopf eines weißen Mannes, der Arm eines Weißen mit

einem retuschierten, aufgekrempelten Hemdsärmel, der Hinterkopf eines schwarzen Mannes, der Arm eines Schwarzen mit ebenfalls aufgerolltem Hemdsärmel. Die präzise Schichtung dieser Fragmente erfordert ein Gespür für das, was János Reismann, der gelegentlich die Originalfotografien für den Künstler produzierte, ­später als das anspruchsvolle Verfahren des Fotomonteurs bezeichnete.3 Reismann erinnerte sich außerdem daran, dass er und Heartfield gemeinsam Ausschau nach dem Arm eines Weißen gehalten hatten, den sie im ­Studio von Meshrabpom-Film in Moskau fotografieren könnten. Der Monteur war zu der Zeit Gast des Internationalen Büros revolutionärer Künstler, einer Komintern-Agentur, die die Kooperation zwischen ausländischen und sowjetischen Künstlern im Kampf gegen den Faschismus zu fördern suchte.4 Nach der Montage ließ Heartfield die Maquette mit Tinte retuschieren und anschließend neu fotografieren. Seine Beschneidungsanweisungen auf dem endgültigen Abzug5 dienten weniger dazu, die einzelnen Figuren selbst in den Vordergrund zu stellen, als vielmehr die gemeinsame Geste – jenseits von Rasse – eines erhobenen Armes und einer geballten Faust zu betonen. Diese Geste ist nicht die jenes streitlustig-gespannten Unterarms mit geballter Faust, den der Betrachter oder die Betrachterin vor die Nase gehalten bekommt, als sei er eine Waffe – wie etwa bei Heartfields berühmtem Logo für den Rotfrontkämpferbund, die paramilitärische Organisation, die innerhalb der KPD für Sicherheit und ­Propaganda zuständig war. Stattdessen scheinen sie sich diesen Kameraden auf ihrem Marsch ins strahlende Licht anschließen zu sollen, das, von rechts einfallend, über die Knöchel des schwarzen Mannes, entlang der rechten Seite seines Unterarms, seines Ärmels und der Oberseite seines Kopfes streicht. Im gedruckten Bild bildet ein Septett aus sich teilweise reimenden Versen – sie stammen wahrscheinlich von Wieland Herzfelde, dem Bruder des Künstlers –, den Text eines Liedes, das diese Arbeiter auf ihrem Weg zur radikalen Erleuchtung gesungen haben könnten: „Ob schwarz, ob weiß – im Kampf vereint! Wir kennen nur eine Rasse, wir kennen alle nur einen Feind – die Ausbeuterklasse.“ Die rhetorische Behauptung, nur eine Rasse zu kennen, fasst das Anliegen der Sonderausgabe der AIZ, in der die Montage zuerst erschien – entweder Ende Juni oder Anfang Juli 1931 in einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren –, kurz und bündig zusammen.6 Auf zwanzig Seiten dokumentiert sie das Leben von Afrikanern, Afroamerikanern, der afrokaribischen Bevölkerung und schwarzen Lateinamerikanern und ihren Kampf gegen Rassismus und Kolonialismus – ein Thema, dem sich die AIZ bereits seit 1926 sporadisch zugewandt hatte.7 Die mit Fotografien und Texten vollgestopfte Ausgabe bietet einen Überblick über die rassistische Unterwerfung und die kapitalistische Ausbeutung schwarzer Menschen durch weiße Rassisten, Kolonialisten und Terroristen, während sie gleichzeitig detailliert von inspirierenden Beispielen des schwarzen aktiven Widerstands berichtet. Ihr vorrangiges Ziel bestand darin, die Solidarität arbeitender Menschen aller Rassen voranzutreiben: Die schwarze Arbeiterklasse würde die fundamentale Rolle von Klasse bei ihrer Unterdrückung erkennen (wobei beispielsweise in Amerika die „Lohnsklaverei“ die Sklaverei ersetzt hatte) und die weiße Arbeiterklasse die systemimmanente ­rassistische und koloniale Gewalt wahrnehmen, die ihre schwarzen „Klassenbrüder“ nach wie vor erduldeten.


Abb. 2  Ob schwarz, ob weiß – im Kampf vereint!, Originalmontage für die AIZ, 1931

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Die Sondernummer war eine Zusammenarbeit zwischen James W. Ford und Willi Münzenberg, unterstützt von den regulären Redakteuren der AIZ in Berlin. Münzenbergs überaus große Rolle, die dieser im Auftrag der Komintern in der Organisation des weit verzweigten Netzwerks aus Initiativen, Vereinigungen und Publikationen (zu denen auch die AIZ zählte) in Westeuropa in den 1920er und 1930er Jahren spielte, ist mittlerweile allgemein bekannt. Die Rolle Fords dagegen weitaus weniger. Der 1893 in Alabama geborene Ford war durch seine Erfahrungen als Afroamerikaner in der US-Armee während des Ersten Weltkrieges radikalisiert worden. Nach seiner Demobilisierung organisierte er Gewerkschaften in der South Side von Chicago, trat 1926 in die US-­ amerikanische Kommunistische Partei ein und wurde später drei Mal als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten der USA nominiert.8 1928 reiste Ford als Delegierter nach Moskau zum 4. Kongress der Profintern, dem Gewerkschaftsflügel der Komintern. Auch am 6. Kongress der Komintern nahm er teil und übte dort scharfe Kritik sowohl an der USamerikanischen Partei als auch an der Komintern selbst: Ersterer sei es nicht gelungen, sich den antirassistischen Direktiven der Komintern anzuschließen und so auch schwarze Arbeiter für sich zu gewinnen, letztere habe es versäumt, unter Arbeitern und Soldaten in Kolonialafrika zu agitieren – obwohl diese Aufgabe bereits 1922 in die Statuten aufgenommen worden war, nachdem die schwarzen Aktivisten Otto Huiswoud und Claude McKay das Thema auf dem 4. Kongress angesprochen hatten. Fords Intervention hatte zur Folge, dass er in eine führende Rolle bei der Gründung eines „Negerbüros“ innerhalb der Profintern berufen wurde und den Auftrag erhielt, eine Politik des Antirassismus und Antikolonialismus zu formulieren und durchzusetzen. Ford hatte darüber hinaus mehrere andere, mit der Komintern in Zusammenhang stehende Funktionen inne, darunter die Leitung des neu geschaffenen International Trade Union Committee for Black Workers (Internationales Gewerk­ schaftskomitee Schwarzer Arbeiter). Die Aufgabe des in Hamburg angesiedelten Komitees bestand zum einen darin, schwarze Arbeiter zu ermutigen, der Gewerkschaftsbewegung beizutreten, zum anderen sollte es den innerhalb der Gewerkschaften grassierenden Rassismus bekämpfen, der sie bisher davon abgehalten hatte. Zu diesem Zweck gab Ford eine Monatszeitschrift, The International Negro Workers’ Review (ab 1931 The Negro Worker), heraus, außerdem schrieb er zahlreiche Broschüren zu den wichtigsten diesbezüglichen Problemen. Im Gegensatz zur mit vielen Fotos illustrierten AIZ waren in diesen Publikationen anfangs – wenn überhaupt – nur wenige Fotografien abgedruckt. Laut Münzenberg war die Idee einer Sonderausgabe der AIZ über Rasse schon seit längerer Zeit im Gespräch: „Nachdem wir seit [mehr] als einem Jahr Material gesammelt und mit mehreren Negerabteilungen und -büros korrespondiert hatten, ist es uns endlich möglich, diese Ausgabe herauszubringen“, schreibt er.9 Was Ford und Münzenberg veranlasste, aktiv zu werden, war die Dringlichkeit der internationalen Kampagne zur Rettung der in Alabama fälschlicherweise angeklagten „Scottsboro Boys“ vor dem elektrischen Stuhl. Auf dem Titel ist denn auch ein eingekerkerter junger Schwarzer zu sehen, dessen Arme durch die Gitterstäbe der Gefängniszelle gestreckt und dessen Handgelenke außerhalb der Zelle mit Handschellen gefesselt sind, sodass er sich weder

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Abb. 3  James W. Ford, „Die schwarze Rasse stösst zur roten Front!“, Doppelseite aus der AIZ, 1931

bewegen noch setzen kann. Es sei dies die Strafe dafür, so der Begleittext, dass er gegen die Gesetze der amerikanischen Dollardemokratie verstoßen habe. Mit den geballten Fäusten und den in die Höhe gereckten Armen holt Heartfields ganzseitige Fotomontage auf einer der ersten Seiten gewissermaßen zum entschlossenen Gegenschlag aus. Ford verfasste den Leitartikel der Ausgabe, eine Doppel­seite mit dem Titel „Die schwarze Rasse stösst zur roten Front!“, in dem er auf die Überschneidung von Rassen- und Klassenzugehörigkeit bei der Unterdrückung und Ausbeutung schwarzer Arbeiter eingeht.10 [Abb. 3]   In der oberen linken Hälfte ist ein Foto des Autors mit Münzenberg und einem Mitstreiter, dem malischen Aktivisten Tiemoko Garan Kouyaté, zu sehen. Größere Fotografien zeigen andere schwarze führende Aktivisten – zum Beispiel William L. Patterson, einen Gewerk­ schafts­organisator und Mitglied der US-amerikanischen KP, und Lamine Senghor, ein im Senegal geborenes Mitglied der französischen KP. Ein anderer Artikel berichtet von den hunderttausenden Menschen, die in deutschen Städten auf die Straßen gegangen waren, um den Internationalen Tag der Solidarität zu feiern – auf einem von Münzenbergs Internationaler Arbeiterhilfe am Wochenende des 13. und 14. Juni 1931 organisierten Festival. Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann und Forster Jones, ein Matrose und Genosse aus Sierra Leone, stehen auf dem beigefügten Foto zusammen auf dem Podium einer Kundgebung in Hamburg – mit unisono erhobenen Armen und geballten Fäusten. Die Mehrzahl der Fotografien, Fotocollagen und Texte in der Ausgabe dokumentiert allerdings die erschreckenden aktuellen Lebensverhältnisse von Schwarzen: ihre Versklavung in Kolonialafrika, ihre empörende Ausstellung als „Schauobjekte“ während der Kolonialausstellung 1931 in Paris, die fortwährende und systematische, vom Mob verübte und häufig vom Staat sanktionierte Gewalt gegen Afrikaner, das Lynchen von Afrikanern im Kolonialismus und von Afroamerikanern auf der Grundlage der Jim-Crow-Gesetze.

Abb. 5  Das Puschkin Museum, Moskau, gibt Arbeiten von John Heartfield zurück, mit Andrej Guber und Gertrud Heartfield, Juni 1958­


„Im Großen und Ganzen […] denke ich, dass [die Ausgabe] ganz in Ordnung war“, schrieb Ford am 13. Juli 1931 an seinen Kollegen George Padmore. „Eine solche Ausgabe war dringend notwendig, um einige unserer [weißen] Genossen in Deutschland hinsichtlich der Negerfrage wachzurütteln.“ Was den „praktischen Wert“ für Farbige betraf, berichtete Ford, dass das Hamburger Komitee Exemplare der Ausgabe an seine verschiedenen „Verbindungen“ versandt hatte und dass schon die Fotografien allein eine starke Wirkung auf die schwarzen Seeleute in Hamburg gehabt hätten.11 Padmore war ähnlicher Meinung: „Auch wenn unsere Genossen in den Kolonien kein Deutsch verstehen“, schreibt er, „so haben die Fotos doch [einen] Propagandaeffekt.“ Tatsächlich sollte die Sonderausgabe später zu einer Fundgrube für The Negro Worker werden, als dieser unter dem Chefredakteur ­Padmore 1932 begann, Fotos aus ihr zu reproduzieren. Sowohl Ford als auch Padmore sprachen sich für die Produktion von englischen und französischen Ausgaben der Sondernummer aus, wozu es letztlich jedoch nicht kam. Was Münzenberg betraf, so betrachtete er die Ausgabe sowohl in „politischer als auch in technischer Hinsicht“ als eines der bis dato „stärksten“ Exemplare der AIZ.12 Das Antirassismus- und Antikolonialismusprojekt der Komintern, das durch den Blick von schwarzen Aktivisten wie Ford und anderen auf die Klassenzugehörigkeit geprägt worden war, ist daher ein überaus wichtiger Aspekt von Heartfields bislang nur wenig diskutierter Fotomontage Ob schwarz, ob weiß. Eine weitere Dimension der Geschichte dieses Werkes betrifft jedoch dessen „Wanderung“ von den Seiten der AIZ auf verschiedene andere Plattformen zwischen 1931 und 1971, wobei in jedem einzelnen Fall die Funktion und die Bedeutung der Fotomontage neu interpretiert wurden:

Abb. 4  Privet brat’iam po klassu (Gruß an die Klassenbrüder), Ausschnitt aus der Sovetskoe iskusstvo, 1931

1. VISITENKARTE:  Nachdem er die Maquette für Ob schwarz, ob weiß in Moskau vorbereitet hatte, wählte Heartfield sie als Beilage zu einem offenen Brief an seine „Klassenbrüder“, den er im Juli 1931 in der russischen Kunstzeitschrift Sovetskoe iskusstvo veröffentlichte, um russischen Lesern sich selbst und sein Werk vorzustellen.13 [Abb. 4] Diese Wahl rückte Heartfields Besuch in Moskau in den engeren Kontext der in der Sowjetunion rasch eskalierenden Scottsboro-Kampagne. 2. DENKMAL:  Nach der Ermordung von Patrice Lumumba, dem ersten Premierminister der kurz zuvor unabhängig gewordenen Demokratischen Republik Kongo im Januar 1961, veröffentlichte Heartfield zusammen mit seinem Bruder Ob schwarz, ob weiß am 26. Februar in der ostdeutschen Tageszeitung Berliner Zeitung – ohne dessen Versseptett. Die Bildunterschrift merkt an, dass sich seit der ersten Veröffentlichung der Fotomontage im Jahr 1931 bereits Millionen von Menschen ihre Forderung nach der Einheit der Rassen zu eigen gemacht hätten. Bezeichnen­derweise wird die Klassenzugehörigkeit mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen rückt Heartfields Montage nunmehr in den Mittelpunkt einer bemerkenswerten ­kulturellen Gedächtnistransformation, die den Premier – der weder ein Kommunist noch ein Sozialist war – in das Pantheon legendärer Figuren aus der antiken, mittelalter­lichen, modernen US-amerikanischen und jüngsten deutschen Geschichte einordnet. Sie alle hätten außerordentlichen Mut und große Überzeugungskraft besessen, die sie zu Märtyrern für ihr jeweiliges Anliegen werden ließen: Spartakus, Jeanne d’Arc,­ Abb. 6  Ob schwarz, ob weiß – Im Kampf vereint!, Werbetafel am Pavillon der Kunst, Berlin 1961 JOURNAL DER KÜNSTE 12

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Lincoln, Liebknecht, Luxemburg und Thälmann. Wie die Namen dieser Märtyrer, so die Brüder, würde „der Name Patrice Lumumba durch die Jahrhunderte leuchten“. Das Lumumba-­Denkmal war Heartfields erste Umdeutung seiner Montage, nachdem er die Originalmaquette 1958 in einer Holzkiste wiederentdeckt hatte, in der sie seit seiner Einzelretrospektive in Moskau im Jahr 1931 eingelagert war. [Abb. 5] 3. LOGO:  Ende 1961 verwendete Heartfield Ob schwarz, ob weiß als Logo für die Gruppenausstellung Im Kampf vereint!, die in Berlin anlässlich seines 70. Geburtstag organisiert wurde. [Abb. 6] Die Fotomontage, die als Abb. 7  Ob schwarz, ob weiß, Briefmarke, DDR, 1971 Plakat­werbung, als Cover des Katalogs und in einem Ausstellungsraum, der gleichzeitig als Vortragssaal diente, zum Einsatz kam, warb mit einem neuen Text: „Ob weiß, ob schwarz – im Kampf vereint gegen des ­Friedens Feind!“14 Der Weltfrieden und nicht mehr die Emanzipation von der kapitalistischen Ausbeutung war jetzt das vorrangige Ziel der Einheit der Rassen in einer Welt, die 1 Ob schwarz, ob weiß – im Kampf vereint! Wir kennen durch endlose Kriege, anhaltende faschistische Umtriebe, nur eine Rasse, wir kennen alle nur einen Feind – die Ausbeuterklasse, in: AIZ 10 (1931) 26, Akademie die fortwährenden Versuche, die Dekolonialisierungsbeder Künste, fortan AdK, Kunstsammlung, fortan wegungen in Afrika und Asien zu unterdrücken, und verKS. Inv.-Nr. JH 19 mutlich auch durch die atomare Bedrohung in Angst und 2 AdK, KS. Inv.-Nr. JH 425 3 Vgl. Roland März (Hg.), John Heartfield. Der Schnitt Schrecken versetzt wurde. „Wir waren und sind alle mitentlang der Zeit. Selbstzeugnisse, Erinnerungen, einander eng verbunden im Kampf gegen Krieg, FaschisInterpretationen. Eine Dokumentation. Dresden 1981, 15 mus und Imperialismus“, erklärte der Künstler. S. 190 und S. 286. Mein herzlicher Dank geht

sowohl an Andrés Zervigón dafür, dass er mich vor mehr als zehn Jahren auf die letztgenannte Text4. BRIEFMARKE:  1971, drei Jahre nach Heartfields Tod, stelle aufmerksam gemacht hat, als auch an die funktionierte die DDR Ob schwarz, ob weiß für eine BriefMitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Akademie der Künste, Berlin, für ihre außerordentlich großzügige marke um, die anlässlich des von der UN ausgerufenen Unterstützung. Internationalen Jahres für Aktionen gegen Rassismus und 4 M aria Gough, Back in the USSR: John Heartfield, Rassendiskriminierung ausgegeben wurde. [Abb. 7]  VielGustavs Klucis, and the Medium of Soviet Propaganda, in: New German Critique 36 (Sommer 2009) leicht hatte ja der mutige, eine ganze Ära prägende Black-­ 2(107), S. 147 f. und 157 Power-Gruß der nach oben gereckten geballten Faust 5 AdK, KS. Inv.-Nr. JH 1884 von Tommie Smith und John Carlos während der Olympi 6 Die AIZ wurde 1931 nicht mit spezifischen Erscheinungsdaten versehen, die einzelnen Ausgaben schen Spiele 1968 in Mexiko-City – eine Geste, die live erhielten lediglich Nummern. Wieland Herzfelde im Fernsehen übertragen und auf den Titelseiten vieler datiert die Montage jedoch auf den 4. Juli 1931. Tageszeitungen auf der ganzen Welt gedruckt wurde – Vgl. W. Herzfelde, John Heartfield. Leben und Werk. Dresden 1962, S. 350 etwas damit zu tun. Sieben Millionen Briefmarken wurden 7 Vgl. Henrick Stahr, Fotojournalismus zwischen produziert. Sieben Millionen! Das waren mindestens Exotismus und Rassismus. Darstellungen von sechseinhalb Millionen Mal mehr Reproduktionen der Schwarzen und Indianern in Foto-Text-Artikeln deutscher Wochenillustrierter, 1919–1939 (SchrifMaquette als die von der AIZ vierzig Jahre zuvor in Umlauf ten zur Kulturwissenschaft, Bd. 57). Hamburg gebrachten. Heartfield wäre mit Sicherheit einverstanden 2004, S. 357–420 gewesen – nicht nur, weil die massenhafte Verbreitung 8 Meine Einlassungen zu Ford gehen in Teilen zurück auf Hakim Adi, Pan-Africanism and Communism. seiner Botschaften stets sein vorrangiges Ziel war, sonThe Communist International, Africa and the Diaspora, dern auch, weil er bereits vor langer Zeit begriffen hatte, 1919–1939. Trenton/NJ 2013 sowie auf Holger dass „Briefmarken sprechen“.16 Jede dieser VerwandlunWeiss, Framing a Radical African Atlantic. African American Agency, West African Intellectuals and the gen zeigt die semantische Anpassungsfähigkeit von HeartInternational Trade Union Committee of Negro fields Originalfotomontage – ihre Eigenschaft, sowohl Teil Workers (Studies in Global Social History, Bd. 14). des historischen Moments ihrer ursprünglichen ProdukLeiden und Boston 2014, fortan Weiss 2014 9 „After having collected material for longer than a tionsbedingungen und Rezeption innerhalb des antirasyear and having corresponded with different Negro sistischen und antikolonialistischen Projekts der KomDepartments and bureaus it has been finally pos­ intern in den Zwischenkriegsjahren zu sein als auch über sible to edit this number […].“ – W. Münzenberg an den Generalsekretär der Kommunistischen Partei diesen geschichtlichen Augenblick hinaus Bedeutung zu Großbritanniens Harry Pollitt, Juni (?) 1931, zit. haben. Es ist genau diese Fähigkeit, die Ob schwarz, ob nach Weiss 2014, vgl. Anm. 8, S. 407 weiß heute noch ihre außergewöhnliche Kraft verleiht. 10 James W. Ford, Die schwarze Rasse stösst zur roten Front!, in: AIZ 10 (1931) 26, S. 510 f. 11 Vgl. Weiss 2014, S. 407 und 410 Aus dem Englischen von Uli Nickel 12 Ebd. 13 John Heartfield, Privet brat’iam po klassu, in: Sovetskoe iskusstvo 37 (18.7.1931), S. 2 14 Vgl. u. a. AdK, KS. Inv.-Nr. 1218 15 Zit. nach Erika Wolf, Aleksandr Zhitomirsky. MARIA GOUGH ist Joseph Pulitzer, Jr. Professor für moderne Photomontage as a Weapon of World War II and the Cold War. Chicago 2016, S. 84 Kunst an der Harvard University. Sie forscht zu den 16 Vgl. John Heartfield, Briefmarken sprechen, in: Volkshisto­r ischen Avantgarden, insbesondere zur russischen und Illustrierte 2 (16.6.1937) 24, S. 385 sowjetischen Avantgarde, in ihren transnationalen Kontexten. (AdK, KS. Inv.-Nr. JH 219)

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JOHN HEARTFIELD FOTOGRAFIE PLUS DYNAMIT Heute sind Nationalismus und rechtes Gedankengut wieder eine reale Bedrohung. Umso wichtiger ist es, an Heartfields politische Fotomontagen gegen Krieg und Faschismus zu erinnern – und sie erneut zu befragen. Die am Pariser Platz gezeigte Ausstellung „John Heartfield. Fotografie plus Dynamit“ (21.3.– 21.6.2020) bietet die Möglichkeit dazu. Sie ist anschließend im Museum de Fundatie, Zwolle (27.9.2020 – 3.1.2021) und in der Royal Academy of Arts in London (27.6.–  26.9.2021) zu sehen. Im Zentrum stehen – ausgehend von der Neubearbeitung und Digitalisierung seines Nachlasses im Archiv – Heartfields Arbeitsprozess und das Zusammenwirken der Künste, von der Buchge­ staltung über die Bühnenausstattung bis hin zu Fotografie und Trickfilm. In zum Teil erstmals gezeigten Arbeiten und Dokumenten wird sein komplexes Bezugs­ feld u. a. zu Brecht, Grosz und Piscator sichtbar. Vir­ tuelle Ausstellung, Katalog und interdisziplinäres Veran­ staltungsprogramm werfen darüber hinaus Schlag­lichter auf bisher ungekannte Aspekte seiner vom Exil geprägten Biografie, seine Arbeitsweise, sein Netzwerk und auf die Fortsetzung seiner Themen im Digitalen und lassen amerikanische und europäische Stimmen zu Wort kommen. Aus den Erfahrungen mit Fake News und Deepfake-Videos, mit Bildern, die Krieg stiften, eröffnen sich darüber hinaus neue Blickwinkel auf das Historische: Wird das formale Prinzip der Fotomontage mithilfe von erweiterten technischen Mitteln der Bildmanipulation fortgesetzt? Welche Bedeutung haben das Material, das Prozesshafte, die Arbeitsschritte? Was hat sich im politischen Einsatz von Bildern verändert? A usstellungskuratorinnen: Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz

Der Katalog erscheint auf Deutsch und Englisch im Hirmer Verlag und auf Niederländisch bei Uitgeverij Waanders & de Kunst (312 Seiten, 309 Abbildungen in Farbe) mit Texten von Vera Chiquet, Stephan Dörschel, Jeanpaul Goergen, Maria Gough, Steffen Haug, Meike Herdes, Haiko Hübner, Ralph Keuning/Bob Sondermejer, Charlotte Klonk, Michael Krejsa, Prem Krishnamurthy, Angela Lammert, Rosa von der Schulenburg, Anna Schultz, Jindřich Toman, Erdmut Wizisla, Andrés Zervigon sowie Statements von Richard Deacon, Tacita Dean, Mark Lammert, Marcel Odenbach und Jeff Wall. en Beitrag von Maria Gough drucken D wir hier exklusiv und unverändert ab.


LABOR BEETHOVEN 2020 EIN ENTFALTUNGSRAUM  VON IDEEN Caspar Johannes Walter

Beethovens Situation um 1800 zeigt Aufbrüche in vielen Gebieten, nicht nur in der Musik. In einigen wissenschaftlichen Disziplinen, in Physik und Mathematik, wurden die Grundsteine für ein neues Weltverständnis jenseits des Greifbaren gelegt, wie es dann von Einstein vollendet wurde. Dieses Visionäre, wie es zum Beispiel die nicht­euklidische Geometrie oder die Arbeit mit komplexen Zahlen zeigt, überschreitet das anschaulich Vorstellbare. Die Spurensuche, inwieweit es hier Überschneidungen mit der geistigen Welt Beethovens gibt, hat einige hochinteressante A ­ spekte zutage gefördert.

BEETHOVEN, REICHA, CHLADNI UND DAS JAHR 1802

Experiment Ernst Florens Chladni. Illustration 1879 aus William Henry Stone, Elementary Lessons on Sound, Macmillan and Co., London, S. 25

JOURNAL DER KÜNSTE 12

1802 war Beethoven gleichzeitig produktiv und in größter Krise. Er war im Begriff, sein Gehör vollständig zu verlieren, erkannte, dass dieser Prozess unumkehrbar war und hat seine Verzweiflung darüber im H ­ eiligenstädter Testament ergreifend zum Ausdruck gebracht. Erst 32-jährig musste er von der akustischen Welt Abschied nehmen und war allein auf die Imagination angewiesen. Einige der Werke dieses Jahres gehören zu seinen größten und können im besten Sinn als experimentell bezeichnet werden. 1802 und 1803 arbeitete er an seiner dritten Sinfonie, der Eroica. Stellvertretend für viele andere Momente sei hier der falsche Einsatz der Reprise im ­ersten Satz erwähnt, hier hört man zwei Tonarten gleichzeitig. Dahinter steht weniger die Idee einer Dissonanz, sondern vielmehr die gleichzeitige Präsenz unterschiedlicher Zeitrealitäten: Während das Orchester die letzten Takte der Durchführung artikuliert, versucht das erste Horn bereits, die ersten Takte der Reprise zu beginnen. Noch auffälliger experimentiert Beethoven in seiner 17. Klaviersonate op. 31/2 (Der Sturm), komponiert 1801/1802. Die Rezitative im ersten Satz entfernen sich weit von der vordergründigen Wirklichkeit des sonstigen Satzes. Fremde Harmonien vermischen sich im durchgehaltenen Pedal. Dies überschreitet die Konvention derart, dass weder die meisten Editionen noch fast alle Interpreten hier folgen können, es wird fast immer retuschiert. Dabei ist die korrekte Ausführung atemberaubend, besonders der auf das zweite, verträumte Rezitativ direkt folgende, plötzlich extrem trockene Einsatz aus Stakkatoakkorden und schnellen Figurationen zeigt einen existenziellen Riss im Wahrnehmungsgefüge. Wahrnehmungsexperimente zeigt auch die Experimentalphysik dieser Zeit. Ernst Florens Chladni, der 1802 sein noch heute als Standardwerk anerkanntes Buch Die Akustik vorgelegt hat, kann hier als eine entscheidende Figur erkannt werden. Nicht nur wegen der Ausführungen zu einer Musiktheorie, die basierend auf akustischer

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Evidenz die Naturseptim mit in den Kanon der musikalisch verwendbaren Intervalle nahm (Chladni ist hier übrigens in Gesellschaft mit vielen weiteren Gelehrten wie dem Mathematiker Leonhard Euler), sondern besonders wegen seiner Darstellung und physikalischen Erklärung der Klangfiguren. Diese entstammen einem Ansatz der Experimentalphysik, Töne bringen einen Staub aus Metallspänen auf einer Metallplatte dazu, abhängig von der Frequenz unterschiedliche Muster zu bilden. Chladni hat dieses Phänomen überall in Europa gezeigt. Wo ist nun die Verbindung zwischen Chladni und ­B eethoven? Hier sind wir bei Anton Reicha fündig ge­worden. Reicha war ein Jugendfreund Beethovens, ihre Wege haben sich in Bonn und später in Wien oft gekreuzt, auch im Jahr 1802 standen sie in Kontakt. ­Reicha hat von ­seinen Experimenten kaum Aufhebens gemacht, dafür waren sie umso spektakulärer. Es ist sicher, dass Beethoven viel davon rezipiert hat. Zunächst fällt eine Passage aus dem Schlusskapitel von Reichas Kompositionslehre auf, in der fast buchstäblich Chladnis Experiment als Ausgangspunkt für die Vision neuer harmonischer Möglichkeiten dient. „Jndem die Töne die Luft, welche die klingenden K ­ örper umgibt, in Bewegung setzen, so zeichnen sie in derselben gewisse Umrisse. Sind nun diese Umrisse Linien, Vierecke, Zirkel, Ellipsen, & &? Diess ists, was wir von den Physikern und Mathematikern zu erfahren wünschen. Eine genaue Kenntniss dieses Gegenstandes würde uns in den Stand setzen, auf dem Papier diese melodischen und harmonischen Umrisse zu zeichnen, welche die Töne in der Luft bilden, und die hörbaren Umrisse mit den sichtbaren Umrissen zu vergleichen, was zu wichtigen Entdeckungen in Hinsicht auf die Verwandschaft der beiden Sinne, des Gesichts und des Gehörs führen könnte. Hierdurch könnte man bestimmen, worin die Verwirrung der Musik besteht, das heisst, was, (selbst für das geübte Gehör) verständlich ist, und was nicht.“ Weitere Überlegungen in diesem von Carl Czerny 1832 ins Deutsche übersetzten Text, der auch für das Verständnis der Musiktheorie der Beethovenzeit hochbedeutend ist, weisen weit in das 20. Jahrhundert voraus. Zum Beispiel beschreibt er konkret den möglichen Nutzen der Vierteltöne und begründet die Notwendigkeit zusammengesetzter Taktarten. Kehren wir aber in das Jahr 1802 zurück.

PRAKTISCHE BEISPIELE 1799 bis 1802 arbeitete Reicha am Projekt „practische Beispiele“. Es handelt sich hier um ein Denk- und Experi­ mentierlabor im besten Sinn. Erst jüngst veröffentlicht, stellt es fast jede Konvention in beinahe systematischer Weise in Frage. Das fängt beim Format an; die Grenzen zwischen theoretischem Text, musiktheoretischem Beispiel und musikalischer Komposition als Werk verschwimmen. Oder vielmehr überschneiden sich diese Sphären, und Reicha lässt es zu, dass die Grenzen zu verschwimmen scheinen. Das Projekt besteht aus zwei Teilen, einem Text mit Musikbeispielen und einem Band mit 24 selbstständigen Kompositionen. Jedem Musikstück ist ein Abschnitt des Buches zugeordnet. Dort werden jeweils die Fragen diskutiert, mit denen sich das Stück beschäftigt. Neben Notenbeispielen, die zum Verständnis der intellektuellen Herausforderungen beitragen, enthalten einzelne Kapitel auch Beispielkompositionen, die fast

gleichrangig neben dem Werk aus dem Notenband stehen können. Das zeigt die Unabgeschlossenheit des ­Kompositionsprozesses als Prinzip. Sowohl Text als auch Musik bilden einen Entfaltungsraum von Ideen. Viele Fragen sind unkonventionell. Dazu gehören taktlose Musik, nicht tonale Musik, Musik mit zusammengesetzten Taktarten, Musik mit verstimmtem Klavier, Formexperimente und Leseexperimente. Einige der Musikstücke sind in ihrer Substanz von provokanter ­Simplizität und andere hochdifferenziert.

DAS EXPERIMENT IM LABOR BEETHOVEN 2020 Die Arbeit unserer Gruppe lässt sich in vielem mit Reichas Labor vergleichen. Im Wunsch des Experimentierens in Musik und Wahrnehmung zeigen sich Parallelen zu ­Beethoven und seiner Zeit, die von einigen Komponistinnen und Komponisten des Labors und einer zum Labor dazugestoßenen Physikerin im Folgenden formuliert werden: Musikalisches Experimentieren beinhaltet für mich weit mehr als komplexe Klänge, die Implementierung von Elektronik und formalistische Ästhetik als Darstellung der Fingerfertigkeit des Komponisten oder der Komponistin. Ich kann mich immer nur wieder auf Beethovens Ideen beziehen. Das größte und prekärste Experiment, das ein Komponist durchführen kann, besteht darin, seine Gefühle in einem zeitgenössischen ästhetischen Rahmen auszudrücken. Emotionaler Ausdruck ist eine Fähigkeit, die wir verlieren, je mehr wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln. Durch Kunst auszudrücken, was das heutige Leben mit der menschlichen Gefühlswelt macht, das ist die wahre Herausforderung. Manolis Ekmektsoglou, Komponist Team Thessaloniki

Meine Arbeiten können als Hörexperimente bezeichnet werden. Ich verwende sehr einfaches Klangmaterial, das in ähnlichen Situationen nebeneinandergestellt wird. Der Zuhörer kann die Form durch ihre Gleichmäßigkeit leicht nach­ vollziehen. Was auf dieser vorhersehbaren Oberfläche passiert, ist jedoch nicht wichtig. Zwischen dem Voraushören und seinem tatsächlich Gehörten entsteht für den Rezipienten eine Differenz, die jeweils verschieden ist. Auf diese Weise wird eine Klangerfahrung erzielt, der man nicht alltäglich begegnet. Adrian Nagel, Komponist Team Basel

Ich glaube, dass das Experiment der Versuch ist, mich von meinen persönlichen musikalischen Neigungen und Vorlieben zu entfernen. Es ist der Versuch, irrelevante, egoistische Elemente so weit wie möglich vom künstlerischen Ausdruck fernzuhalten und ihn unverfälschter zu machen. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, dies zu 100 Prozent zu erreichen (und vielleicht ist es gar nicht wünschenswert …), aber ich glaube, dass es ein wichtiges Ideal für Künstler sein sollte, danach zu streben, und dass jedes Werk ein gewisses Maß an experimentellen Ansätzen enthalten sollte. Ari Rabenu, Komponist Team Tel Aviv

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DAS EXPERIMENT ALS KOMPOSITIONSPROZESS UND DIE ALTE SUCHE NACH DEM NEUEN Seit mehreren Jahrzehnten wird versucht, neue Klangwelten, Formen, Ausdrucksmethoden und konzeptuelle Verfassungen zu finden. In allen diesen diversen Ansprüchen ist die Suche nach dem „Neuen“ der gemeinsame Nenner. Gleichzeitig ist die Suche nach dem Neuen selbst der Anspruch des Experiments als Kompositionsprozess. Klangkunst entwickelt sich in einer Welt, in der Kontexte schon historisch und kulturell vorbestimmt sind. In den letzten Jahrzehnten ist die Bedienung von Ausdrucksformen oder musikalischen Einheiten, die aus bestimmten musikalischen Kontexten kommen, gewisser­maßen in einer referenziellen Art gemacht. Andererseits ist, im Kontrast zu dem vorher genannten, die Bedienung von musikalischen Einheiten als Überwindung und Ablehnung von bestimmten musikalischen Kontexten zu betrachten. In wenigen Ausnahmefällen gelingt es einem Werk, gegenüber diesen zwei Spalten neutral dazustehen. In meinem Werk bedeutet das Experimentieren nicht nur die Suche nach neuen Klängen, Formaten oder Situationen;
das Experimentieren als Prozess bedeutet für mich die Entstehung neuer Kontexte, die weder referenziell noch ablehnend sind. Infolgedessen schafft die Vereinigung dieser in sich kontrastierenden Elemente einen neuen Kontext, der für sich selbst existiert. In einem Experiment geht es darum, ein instabiles Feld zu bedienen und Elemente in eine Situation zu stellen, die nicht überprüft ist. Das Experiment fand auch bei Beethovens Suche nach einer Erweiterung des Orchesterklangkörpers statt, wie am Beispiel seiner Suche nach Registererweiterungen des Klaviers zu erkennen ist. Das Experiment als Prozess ist die Vitalität des Schaffens. Und das Experiment ist der einzige Weg, auf dem man sich ästhetisch und konzeptuell neu erfinden kann. Anda Kryeziu, Komponistin Team Basel

Musiktheorie und Akustik – zur Zeit Beethovens waren diese Bereiche noch fest miteinander verwoben. Bekannte Naturwissenschaftler wie Ohm, Euler, Chladni und Helmholtz veröffentlichten Studien über die physikalischen Aspekte der Akustik gleichermaßen wie über Tonempfinden und Musiktheorie. Im „Labor Beethoven 2020“ soll auch eine Auseinandersetzung mit dem natur­ wissenschaftlichen Erkenntnisprozess statt­ finden – unter anderem mit einem Sirenen-Fahrrad, das interaktiv und spielbar ist und auf den Studien von Helmholtz und Seebeck basiert. Andrea Heilrath, Physikerin, Berlin

Mit meiner Musik zu experimentieren bedeutet für mich, mit meinem Verstand zu experimentieren. Mit meinem Verstand zu experimentieren bedeutet, alle Automatismen zurückzuhalten und die Ab­ lösung vom Selbst und vom Material zu erproben, sodass sich eine externe Idee oder ein Konzept durch Musik neu erfinden kann. Akkad Izre’el, Komponist Team Tel Aviv


Das Experiment wird häufig mit dem Begriff der Entdeckung assoziiert. Entdeckung wiederum ist mit dem Begriff der Erfindung verbunden. In gewisser Weise beinhaltet jedes Stück, das ich schreibe, verschiedene Aspekte des Experimentierens. Aber die Stücke, die ich gemeinsam mit Batya Frenklakh geschrieben habe, sind vielleicht am experimentellsten, wobei jedes Stück eine andere Mechanik der Kollaboration untersucht. Der Kompositionsprozess beinhaltete unter anderem Improvisation, grafische Notationen, elektroakustische Transfers und Kartenspiele (!), die jeweils zu sehr unterschiedlichen Klängen und Ausdrucksweisen führten.

All diese Statements machen deutlich, wie sehr die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des „Labor Beethoven“ reflektieren. In unserer heutigen digitalisierten Welt tritt uns die Realität oft in einer virtuellen Spiegelung entgegen. Die im Experiment provozierten neuen Sinneserfahrungen physikalischer Wirklichkeit sind dagegen physisch erfahrbar. In der heutigen Kunst findet die geistige und ästhetische Auseinandersetzung mit der Welt oft virtuell und digitalisiert statt und kommuniziert diskursiv. Unsere Anschauung des Experiments stellt dem etwas entgegen, die direkte Sinneswahrnehmung wird als Ausgangspunkt ästhetischer Erfahrung verstanden. Als Beleg mag abschließend ein Statement von Ruben Seroussi stehen, Mentor aus dem Team Tel Aviv:

Guy Rauscher, Komponist Team Tel Aviv

Dieses Projekt und all die Erfahrungen, die es bietet, hat große Wirkung auf unsere Studierenden aus Tel Aviv: Es schafft einen Rahmen für Kollaborationen und den Austausch von Ideen und Gefühlen. Dieser Rahmen hilft ihnen, Bezüge zu anderen Ideen herzustellen und ihren künstlerischen Horizont weit über das hinaus zu erweitern, was Ihnen von der relativ kleinen zeitgenössischen Musikszene in Israel geboten werden kann. Die zeitgenössische Musik steht heute vor vielen Herausforderungen (wie zu allen Zeiten, jedoch mit einem spezifischen „update“). Einerseits hinsichtlich der Expansion der Medien – der Ausdrucksmittel –, andererseits lässt sich das Syndrom der „Spezialisierung“ beobachten. Das ermöglicht einen hohen Perfektionsgrad, aber eben auf Kosten einer spirituellen De-Kontextualisierung. Außerdem muss sich die zeitgenössische Musik einer multikulturellen Welt stellen. Damit wären nur einige Herausforderungen genannt. Heute ist es außerdem wichtig – und ich denke, dieses Projekt verfügt bereits über ein gewisses Potenzial –, die Grenzen und die Definitionen von „Zentrum“ und „Peripherie“ aufzuheben und die Basis für eine Zusammenarbeit zu schaffen, die von einer „neutralen“ Position aus allgemeine Verweise auf Beethovens Ideale in verschiedenen Aspekten kreativen Handelns in den Blick nimmt. Ein großer Teil dieses Beethovenschen Ideals ist die Meinungsfreiheit und der Glaube an die Kunst als Schöpfungs- und Erweiterungsakt der Welt. Das heißt, eine Kunst, die neue Formen des „Lebens“ oder künstlerische Territorien schafft, neue „Naturgesetze“. Wir glauben, dass die Früchte unseres Projekts „Labor Beethoven 2020“ das beste Beispiel dafür sind.

CASPAR JOHANNES WALTER ist Professor für Komposition an der Musik Akademie Basel. Seit 2014 ist er Konzert Anda Kryeziu, Andrea Heirath, Justin Robinson, Thessaloniki 2019

Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Musik.

Beethoven kann als Kollege verstanden werden, seine Grenzüberschreitungen als Singularitäten, sein Umfeld und seine Zeit als eine Situation des Aufbruchs. Diesen Gedanken nimmt das „Labor Beethoven 2020“ auf, dessen vierjährige Arbeit nun bald mit dem abschließenden Festival in beiden Häusern der Akademie der Künste im März 2020 zu Ende geht. Immer stand die künstlerische Arbeit der Gruppe um die jungen Komponistinnen und Komponisten, die aus den drei Hochschulen Basel, Tel Aviv und Thessaloniki hervorgingen, im Vordergrund. Wichtig war dabei, den Protagonisten Raum, Zeit und Gelegenheiten zu eröffnen, eigene Ideen nicht nur für die künstlerischen Werke, sondern auch für die Arbeitsformen, künstlerischen Formate und Arbeitspartner zu bestimmen. Diskussion und Reflexion stellten einen wesentlichen Anteil der Auseinandersetzung dar und brachten im Laufe der Zeit unterschiedliche Themen und Andrea Heilrath / Caspar Johannes Walter: Ein Fahrrad-Musikinstrument nach Helmholtz’ Lochsirene

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Referenzen auf.

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WEISSHEITEN

Robert Kudielka

Farben sind an sich bedeutungslos. Erst im Zusammenhang, im jeweiligen Kontext der Erscheinung oder des Gebrauchs, lösen sie bestimmte Empfindungen aus und nehmen konkrete Bedeutungen an. Die Farbe Weiß scheint als Vorstellung über jede Emotion und gegenständliche Bestimmtheit erhaben, ein blankes Etwas, weswegen sie in den logischen Schriften des Aristoteles als Standardbeispiel für die Kategorie der Qualität dient. Aber in dem Kolonialroman A Passage to India von E. M. Forster löst ein Mr. Fielding im englischen Club einen Eklat aus, als er mit der Bemerkung aufwartet, die Farbe seiner Rasse sei nicht weiß, sondern „rosa-grau“. Die empirisch richtige, jedenfalls für die Gesichtsfarbe seiner Landsleute zutreffende Beobachtung ist offenbar „unschicklich“, genauso ungehörig wie die Frage nach dem Gott, der den König erhalten soll. Denn „weiß“ ist in dieser Gesellschaft die stillschweigende Auszeichnung von Wesen, die zum Herrschen bestimmt sind. Nicht einmal die Einsicht der Evolutionsbiologie, dass die Hautfarbe der Kaukasier in Wahrheit eine Mangelerscheinung ist, der Defekt der „depigmentierten Rasse“ (Gottfried Benn), vermochte dieses Vorurteil zu erschüttern. Der Glaube an die Überlegenheit der „Weißen“ kommt vermutlich von weiter her: aus der feudalen Welt, in welcher der blasse Teint den Adel, das göttliche Privileg, nicht arbeiten zu müssen, signalisierte.

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Die Fragwürdigkeit des Attributs „weiß“ beschränkt sich freilich nicht auf das gesellschaftlich-politische Milieu. Auch im naturwissenschaftlichen Kontext ist Weiß ein sensibles Thema. Seit Newtons optischen Experimenten ist die Rede vom „weißen Licht“, das – durch ein Prisma geschickt – in die Spektralfarben auseinandertrete, die ihrerseits, von einer Linse gesammelt, sich wiederum zu einem weißen Lichtstrahl zusammenschließen, Ursache einer anhaltenden Verwirrung. Das Licht mag intensiv oder schwach sein, mal hell, mal weniger hell – aber es ist im strengen physikalischen Sinne nicht weiß: es sei denn, als Erscheinung in der Dunkelkammer des Experiments. Weißheit ist eine Sinnesqualität, keine physikalische Tatsache. Die Vermengung physikalischer Vorstellungen mit einem psycho-physischen Phänomen ist die Wurzel notorischer Schieflagen in der Farbtheorie. So schließt der Glaube, dass die Farbe Weiß alle Farben (auch die unbunten?) enthalte, von einer Eigenschaft der Lichterscheinung auf die Verfassung von Farben überhaupt. In umgekehrter Hinsicht hat Cézanne aus der Erfahrung des Plein-air-Malers den sinnlichen Eigenwert der Farbe mit geradezu brüskierender Deutlichkeit hervorgehoben: „La lumière donc n’existe pas pour le peintre.“ Für das Auge des Malers existiert das Licht nur als immanente Eigenschaft der Farben, in der Harmonie der Bunt-

farbigkeit insgesamt und in den Hellig­keits­unterschieden der Einzelfarben. Erst in dieser radikal empirischen Hinsicht zeigt sich der besondere Farbcharakter von Weiß: die einzigartige Helligkeit, die sowohl blenden als auch die umgebenden Farben resorbieren kann und sich zur materiellen Aufhellung aller anderen Farben eignet. Nichtsdestoweniger ist die Differenz zwischen Licht­ element und Sinnesqualität eine petitesse, eine Streitsache unter Experten, verglichen mit den widersprüchlichen Auffassungen von Weiß in der Alltagskultur. Die mittlerweile allgegenwärtig gewordene Werbung verspricht den Saubermenschen, dass Weiß die Farbe der Reinheit, der Frische und Unbeflecktheit sei. Aber das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Für den überwiegenden Teil der Menschheit, der im Mittleren und Fernen Osten lebt, ist das weiße Kleid primär dem Begräbnisritus zugehörig. Während im Westen seit dem Ausgang des Mittelalters Schwarz die Trauerfarbe ist, verbinden Muslime, Hindus und Buddhisten das Totengedenken mit der Farbe Weiß, dem „großen Schweigen“, das nach Kandinskys Auffassung „nicht tot ist, sondern voller Möglichkeiten“. Dieser Brauch scheint sogar der ursprünglichere gewesen zu sein; angeblich soll erst Queen Victoria die Weißheit des Brautkleids unter die Leute gebracht haben. Anfang und Ende des Lebens,


The remark that did him most harm at the club was a silly aside to the effect that the so-called white races are really pinco-grey. He only said this to be cheery, he did not realize that ‘white’ has no more to do with a colour than ‘God save the King’ with a god, and that it is the height of impropriety to consider what it does connote. E. M. Forster, A Passage to India (1924)

Aufbruch und Abschied scheinen in dieser Farbe die entsprechende Empfindung zu finden. Damit gibt Weiß in äußerster Zuspitzung – darin eigentlich nur dem aufdringlicheren Rot vergleichbar – ein Skandalon des symbolischen Diskurses zu bedenken, das der Farbenwelt insgesamt zu eigen scheint: Nicht nur, dass Farben in unterschiedlichen Zusammenhängen verschieden wahrgenommen werden, nein, in ein und demselben Zusammenhang kann die gleiche Farbe entgegengesetzte Konnotationen annehmen. Wenn es eine Regel, oder besser: eine Etikette für das Verstehen von Farben gibt, dann ist es die Beachtung einander nicht ausschließender Widersprüche; und Weiß das Schulbeispiel schlechthin. Die Kulturgeschichte ist voll von solchen Heimsuchungen der Vernunft. Zum Beispiel kennt bereits der römische Historiker Tacitus die weiße Fahne als Zeichen der Kapitulation von Legionären. Das hat die französischen Könige der frühen Neuzeit jedoch nicht davon abgehalten, unterm weißen Banner des Oberbefehlshabers Kriege zu führen. Das lokal begrenzte Brauchtum der Alten Welt hat sich wenig um Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit geschert. Papst Pius V. war vermutlich der erste, der 1570 im Missale Romanum, dem katholischen Messbuch, Farben definitiv und allgemein, dem „allumfassenden“ Anspruch der Kirche entsprechend,

Thomas Rentmeister, Muda, 2011. Verschiedene Materialien (u. a. Kühlschränke, Penatencreme, Styropor, Wäsche, Zucker, Papier, Mehl, Kerzen, Kunststoffteile, Papiertaschentücher, Wattestäbchen, Tampons, Waschmittel), ca. 385 × 1195 × 1145 cm, Detailansicht JOURNAL DER KÜNSTE 12

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Gerhard Richter, Snow White, 2005

rituell festlegte: Weiß für die hohen Festtage der ecclesia triumphans, Schwarz für die Karwoche und Totenmessen. Sodann sind Goethes Ausführungen zur „sinnlich-­sittlichen Wirkung der Farben“ im didaktischen Teil seiner Farbenlehre ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Erforschung der kulturellen Wirklichkeit von Farben gewesen, selbst wenn er – eine Konsequenz seiner Kontroverse mit Newton – die Wirkung der „Nichtfarbe“ Weiß schlicht außer Acht ließ! Erst im 20. Jahrhundert entstand mit der Farbpsychologie eine Forschungsrichtung, die den Anspruch der Deutungshoheit über alle Farben erhebt. Stark anwendungsorientiert, unterstellt sie der Farbwahrnehmung gerne ein Konsumverhalten – und verfällt dabei der irrigen Annahme, Farben seien ein eindeutiges Angebot. Aber so leicht ist das Skandalon nicht auszuräumen. Neuerdings haben sich Gurus der Innenraumgestaltung mit dem modernen Wohngeschmack angelegt und festgestellt: Reines Weiß ist schlicht „lebensfeindlich“, weil die Farbe lähmt, gleichermaßen langweilt wie übermäßig erregt, ständig Anspannung hervorruft und anhaltend betäubt, Tranquilizer und Wachdroge zugleich ist. Man wagt kaum darüber nachzudenken, was das wahre, widerspruchsfreie Leben sein könnte: kurzweilige Zerstreuung im Kunterbunt?

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Nicht zufällig hat dieser jüngste Trend des Interior Design einen Vorläufer in der bildenden Kunst. Im Zuge der postmodernen Abrechnung mit dem „Purismus“ der modernen Kunst im Allgemeinen und der Bauhaus-Idee im Besonderen sind schließlich auch die Präsentationsformen von Kunst im 20. Jahrhundert kritisch gemustert worden. Brian O’Dohertys Essay Inside the White Cube: The Ideology of the Gallery Space (1976) darf in seinem Einfluss auf die Kunstdiskussion durchaus mit Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935) verglichen werden. Beiden Autoren gemeinsam ist das Interesse an einer unzureichend beachteten Veränderung der Rezeptionsbedingungen von Kunst. O’Doherty, der selbst als Konzept-Künstler gearbeitet hat, analysiert, wie der in den 1960er Jahren zum Standard gewordene homogene weiße Galerieraum Kunstwerke in eine Sphäre quasireligiöser Andacht entrückt: abgehoben von den Produktionsbedingungen und unbefleckt vom kommerziellen Kalkül, das im Hinterzimmer lauert. Diese sozio-­kulturelle Betrachtungsweise einer scheinbar selbstverständlichen Gegebenheit erbringt eine Fülle kritischer Einsichten, aber sie bleibt doch zu sehr dem intellektuellen Diskurs der New Yorker Kunstszene verhaftet. Erfahrene Kunsthändler wie der Doyen der Basler Kunstmesse,

Ernst Beyeler, haben rasch erkannt, dass das Ideal des „White Cube“ dem Geschäft eher abträglich ist, weil es der privaten Klientel suggeriert, die Exponate gehörten eigentlich ins Museum – und nicht ins durchmischte Wohnmilieu. Das Problem des weißen Präsentationsraums wurzelt in der Tat in einer Verlegenheit der Kunstmuseen: Welche Rolle spielt Weiß in der Kunstgeschichte? Spätestens seit Wolfgang Schönes Schrift Über das Licht in der Malerei (1954) ist es kunsthistorischer Konsens, dass das intensive Reflexionslicht weißer Wände die Eigenhelligkeit von traditionellen Gemälden, die unter einer anderen Erfahrung von Leuchtdichte (luminance) im Innenraum geschaffen wurden, entstellt. Aber welche Wandfarbe dann? Dagegen scheint die weiße Wand für die Präsentation moderner Werke angemessen – und zwar nicht nur, weil das Bauhaus unsere Wohnästhetik und das Museum of Modern Art den Präsentationsstil von Kunstwerken geprägt haben: Weiß ist vielmehr die Erkennungsfarbe moderner Malerei schlechthin. Das begann im 19. Jahrhundert mit dem Alla-prima-Verfahren, dem direkten Farbvortrag ohne Untermalung und Lasuren, den vor allem die Impressionisten praktizierten, und vollendete sich im 20. Jahrhundert mit der Einführung von Weiß als genuiner Bildfarbe bei so verschiedenen


Malern wie Matisse und Mondrian, Kandinsky und Léger. Vielleicht wird man eines Tages, wenn nicht mehr die unübersehbare Vielfalt der Ausdrucksformen das Urteil trübt, in der Farbe Weiß das charakteristische Merkmal moderner Kunst erblicken, ähnlich wie in der Zentralperspektive die Gemeinsamkeit der Renaissancemalerei. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sicher hat die Entstehung der Fotografie zu einer Veränderung der Bildkonzeption in der Malerei beigetragen. Moderne Gemälde sind in der Regel keine substanziellen, ihre Signifikanz in sich tragenden Bildkörper mehr, sondern Anschauungsflächen, die erst und allein in der Erwiderung des Betrachters die gehörige Existenz finden. Doch der wichtigste Grund für die Emanzipation der Farbe Weiß ist die neue Grundlosigkeit des Unterfangens „Kunst“. Die weiße Leinwand erweist sich als tabula rasa, als eine Malfläche, die leer ist, weil alle traditionellen Einträge darauf gelöscht sind: der gesellschaftliche Auftrag, die verbindliche Ikonografie, handwerkliche Überlieferung. Nur die Stille in der Musik ist dieser unmittelbaren Manifestation des Ausgangspunkts aller modernen Künste vergleichbar. Die weiße Leere kann sich in diesem Zusammenhang bis zur Blendung und geistigen Blockade steigern – und ist doch nur die Kehrseite dessen, was das einfältige Geschwätz von der „künstlerischen Freiheit“

meint. „I have nothing to say, and I am saying it“ (John Cage). Der blanke Schrecken und das Faszinosum der ungeahnten Möglichkeiten gehören zusammen. Die Ausstellung Der weiße Abgrund Unendlichkeit! Kandinsky, Malewitsch, Mondrian im Frühjahr 2014 in Düsseldorf hat diese zweite Seite gefeiert. Aber der Triumph der großen Abstrakten ist nicht der Weißheit letzter Schluss. Der „eigenartige Zustand von Aussichtslosigkeit, Ratlosigkeit und Übermut“ (Gerhard Richter) hält an. Das Ausstellungsprojekt der Sektion Bildende Kunst „WHITE DIMENSIONS, REVISITED“ geht dieser Spur erneut nach.

„WHITE DIMENSIONS, REVISITED“ September 2021–Januar 2022 (Akademie der Künste, Hanseatenweg) Das weite Bedeutungsspektrum der Farbe Weiß in den bildenden Künsten und die damit verknüpfte Differenz zwischen Materialität und Immateriellem steht im Zentrum eines Ausstellungs- und Veranstaltungsprojektes mit internationalen Künstler*innen in der Akademie der Künste im Herbst 2021. Künstlerisch-ästhetische Praktiken, die seit den 1950/60er Jahren kontinuierlich bis zur Gegenwart international in ausgewählten Kreisen zu einer kritischen

ROBERT KUDIELKA, Kunsttheoretiker und Publizist, ist seit 1997 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Bildende Kunst. Von 2003 bis 2012 war er Direktor der Sektion.

und prozessbasierten künstlerischen Haltung führten, sollen untersucht werden. Im Zentrum steht die „Frage des Sehens …, des visuellen Nicht-Ausrutschens“ (John Cage, 1961). Neben Farbe und Material in den bildenden Künsten begegnen uns Themen wie die Leere und das Nichts, aber auch interdisziplinäre Bezüge zum Schweigen, zur Stille, zu sichtbarer und unsichtbarer Narration in Literatur, Performance, Musik, Architektur, Film und zum aktuellen Diskurs über postkoloniale Kritik vor dem Hintergrund von White und Whiteness. Anke Hervol, Wulf Herzogenrath, Kuratoren der Ausstellung

Ulrich Erben, Ohne Titel, 1969, Öl auf Leinwand, 80 × 115 cm

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Er war ein in jedem Sinne wunderbar heimischer Mensch. Nicht nur in dieser oder jener konkreten Stadt zu Hause, in Budapest, ­Berlin, Paris oder New York, sondern auch in der Stadt an sich, er kannte ihre Beschaffenheit, wie ein Förster das Unterholz kennt, die unsichtbaren Verflechtungen des Wurzelwerks, die verborgenen Pfade und das Ökosystem des Ganzen. Ein urbaner Schriftsteller, wie es hierzulande so schön heißt, aber zum einen ist es schwer, von der kaum verdeckten antisemitischen Aufladung dieses Ausdrucks abzusehen, zum anderen trifft die Zuschreibung in seinem Fall nicht zu. Konrád fühlte sich nicht nur in Großstädten wohl, sondern auch auf dem Dorf. Sei es in Berettyóújfalu, das heute eine Stadt ist und in dem er bis zum Alter von elf Jahren lebte, sei es in Hegymagas, ein Dorf am Plattensee, das der ständige Schauplatz seines Lebens in den letzten Jahrzehnten war. Die große Struktur und die kleine Form. Es wäre gut, in solchen Strophen über ihn zu schreiben, als gäbe es die Maßeinheit „ein Konrád“. „[E]s mögen alle kommen, alle die wollen – einer von uns wird sprechen, der andere zuhören, und wir sind wenigstens nicht allein.“ Mit diesem Satz endet Der Besucher, György Konráds erster Roman, abgeschlossen im Jahr 1967, erschienen 1969. Wir können einen Tag des im Wurmfortsatz der Elisabethstadt Dienst tuenden, „den Verkehr des Leidens lenkenden“ Vormundschaftsoberdezernenten verfolgen, aber dieser eine Arbeitstag, dieser Reigen mit wechGyörgy Konrád, 2014, in seinem Garten in Hegymagas selnden Partnern, wird zu einem zeitlosen Zustand. Ein Meister­ instrument dieses Romans sind die Langsätze, die simultane ­Prozesse beschreiben; je mehr Information in einen Satz gelangt, desto genauer wird alles und dabei umso relativer, Fragezeichen und Behauptungen wirbeln herum, und als Kontrapunkt zu diesen Interaktionen wirkt ein darauf folgender Kurzsatz wie ein ­Paukenschlag. Konrád schärft und weitet zugleich die Perspektive, sein Text ist bis in die kleinsten Verästelungen sinnlich, in seinen naturalisJános Szegő tischen Details geradezu erschlagend; jedoch ist auch die Gegenkraft am Werk, die Abstraktion, so dass das, was wir lesen und vor Strophen nannte György Konrád seine Prosatexte von einer Seite uns sehen, nicht nur das Dahinvegetieren von ein paar Familien Länge, die er in den vergangenen Jahren verfasste. Er war in diesem oder Familienwracks aus der Százház-Straße ist, sondern, mehr Textraum heimisch wie ein Schwimmer im Becken, der genau weiß, als das und allgemeiner, das Sein an sich. Der Roman scheint verwie oft er Luft holen muss, um es zu durchqueren. Manchmal staunte wandt mit Schrottplatz von Endre Fejes (1962) und Roman eines selbst ich als Lektor, auf welche Weise er die kleine Form und die Schicksallosen von Imre Kertész (1975). Während Ersterer ein große Struktur verknüpfen konnte. Als würde jemand mit dem LKW ­großer Erfolg in der Fachwelt und beim Publikum wurde und sich im Gedränge der Innenstadt auf einem handtuchgroßen Platz ein- als Lektüre der Selbsterkenntnis für das Kádár-System anbot, das parken. Freiräume: Sie suchte Konrád immer und fand sie auch, auf seine Klassenparadoxien nur sehr langsam aufmerksam wurde, oder er schuf sie, wenn es keine gab, auch um dort andere zu Gast gelangte Kertész’ Buch erst Jahrzehnte später in den Blutkreishaben zu können. lauf der ungarischen Literatur. Konráds Debüt lässt sich sowohl in der Zeit als auch im Wirkungsgrad zwischen diesen beiden ­Romanen verorten – aber nun genug der Familienaufstellung. György Konrád war ein geschätztes Mitglied der ungarischen Literaturfamilie, in den letzten Jahren geradezu ihr Patriarch, als Schriftsteller ging er jedoch seinen eigenen Weg. Und dieser Weg führte ihn in eine Richtung, die die ungarische Literatur, wenn sie diese nicht gerade niveaulos ausübt, notorisch ablehnt, und zwar die Verbindung von Literatur und Politik. Genauer gesagt, das Kartografieren der bestehenden Verbindungen und Zusammenhänge.

HEIMKEHR,

SONNENFINSTERNIS

STROPHEN ZUM TOD GYÖRGY KONRÁDS

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Mit dieser Landkarte begann er sich 1944 noch zu Hause in ­Berettyóújfalu zu beschäftigen. In seinem autobiografischen Roman Glück formuliert er lapidar: „Im Alter von elf Jahren, am 15. Mai 1944, musste ich die Erfahrung machen, dass mein Vater nicht mir, sondern der Gestapo gehörte.“ Daran anschließend erzählt er, weshalb der Pfeilkreuzler-Konditor seine Familie angezeigt hat. Das Fazit fällt gnadenlos aus: Hätte es nicht diese Anzeige mit der ­falschen Beschuldigung eines auf dem Dachboden versteckten geheimen Radiosenders gegeben und wären Konráds Eltern nicht an jenem Tag interniert worden, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach die gesamte Familie in Auschwitz umgekommen. So aber hielten es die Kinder der Konrád-Familie für besser, nach Budapest zu fliehen, um sich dort die folgenden Monate bis zur Befreiung durchzuschlagen. Seine ermordeten Verwandten und Mitschüler hat er in mehreren seiner Werke verewigt. Auf diese Weise kann die Epik eine Gedenkmauer gegen das Vergessen sein, und Konrád war sich über seine Lage (seine Rolle?) im Klaren: Er war zu einem Überlebenden geworden. „Als Überlebender schulde ich der Vorsehung, die ich mir nicht als puren Zufall vorstellen möchte, größten Dank. Doch hierauf ist auch mein Unwille gegenüber der Illusion jedweder von der Vorsehung bestimmten Gnade zurückzuführen, denn sollte der Herr der Schicksale mein Überleben gewollt haben, warum lag ihm dann nichts am Leben der anderen Kinder, die um nichts sündiger gewesen sind als ich? Vera, Gyuri, Kati, Jutka, Baba, Jancsi, Gabi, Oca, Tante Sarolta, Onkel Dolfi, Tante Giza, Onkel Ignac, Tante Ilonka, Onkel Pista, Tante Margit, Onkel Béla, Onkel Gyula und die anderen der totalen Vergänglichkeit zu überantworten, so generös kann ich nicht sein.“ In seinem Werk Das Pendel erscheinen diese Kindheitsgefährten als die Unschuldigen Kindlein in der folgenden Fürbitte: „Ich bitte die Schattenwesen, den Geist der verbrannten einstigen Klassenkameraden János Baumöhl, Miki Feuerstein, Gábor Nemes, Vera Klein und Baba Blau, meine Kinder und Enkel zu beschützen.“ Es wäre überflüssig, hier Konráds Lebenslauf zu erzählen, das hat er selbst in mehreren Etappen getan: zunächst, Anfang der 2000er Jahre, in einer autobiografischen Romanserie in traditioneller Erzählweise (Glück, Sonnenfinsternis auf dem Berg), später, als er nach einiger Essayprosa, gleichsam als deren Director’s Cut, einen neuen Romanzyklus (Grabung) schuf, das Wesen der Erinnerung genauer modellierend. Räume und Zeiten, Begegnungen und Erfahrungen, das Augenblickliche und das Beständige kommen einander in assoziativer Weise nahe wie Züge auf einem mächtigen Rangierbahnhof. Ich spürte zugleich, dass er sein Vermächtnis zusammenstellte, und auch, dass ihm das ständige Experimentieren half, vital zu bleiben. Wenn es Gedankenlyrik gibt, dann kann es auch Gedanken­ epik geben, und Konrád war darin womöglich der Größte. In seinen ­Werken nach dem bereits erwähnten ersten Buch Der Besucher entwickelte er eine Romanstruktur, in der das zweite Element neben der literarischen Fiktion nicht die Wirklichkeit ist, sondern die essayistisch-polemische Analyse, die Abwägung und Wertung der verschiedenen gesellschaftlich-politischen Erscheinungen und Probleme. Der Stadtgründer erschien zensiert und Der Komplize zuerst

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in der zweiten Öffentlichkeit, also im Samisdat. Das hieß wahre innere Emigration: zu entscheiden, wo in meinem Land mein Zuhause sein soll. Und mit wem. Konrád war auch durch sein Alter und sein Auftreten prädestiniert, eine wichtige Figur, wenn man so will: eine Vaterfigur der demokratischen Opposition zu sein. In einer Zeit, die zu dreihundertsechzig Grad (drei Forint sechzig Fillér)1 apolitisch war, machte er sein Angebot der Antipolitik, die eine wahrlich radikale Politik war. All das tat er in dem Augenblick, als die Weltpolitik auf Mitteleuropa (damals Osteuropa genannt) blickte. Er wartete auf die Erweiterung der Mitte. So, wie wir jetzt wieder darauf warten. Jeden Tag ging er mit gemächlichen Schritten in seine werkstatt­artig eingerichtete Schriftstellerwohnung hinunter und schrieb. Vielleicht auch wegen der Assoziation zu der Eisenwarenhandlung s­ eines Vaters erschien er mir am Schreibtisch wie ein Meister alter Schule, der mit allen Werkzeugen geschickt umzugehen versteht. Das Licht war wichtig und die Fenster auch. Dass er für sich sein, aber zugleich sehen und hören konnte, was um ihn herum geschah. Um es mitzuerleben. An seinem Schreibort verging die Zeit anders. Zeit gab es genug. Auf kleinem Raum ungeheuer viel Zeit. Wie bei einem Uhrmachermeister. Ja, das ist er, György Konrád, ein Meister der Zeit.

1 Der staatliche Brotpreis im sozialistischen Ungarn Übersetzung aus dem Ungarischen von Katalin Madácsi-Laube und Anneka Metzger

JÁNOS SZEGŐ, Literaturwissenschaftler und Kritiker, ist seit 2011 Redakteur beim Verlag Magvető. Er lebt in Budapest. Sein Nachruf auf György Konrád wurde am 14. September 2019 in der Online-Ausgabe der Wochenzeitschrift HVG (Heti Világgazdaság) veröffentlicht. GYÖRGY KONRÁD (2. April 1933 Debrecen – 13. September 2019 Budapest) war seit 1991 Mitglied der Akademie der Künste und von 1997 bis 2003 deren Präsident. Für sein gesellschaftliches Engagement wurde er unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1991) und dem renommierten Aachener Karlspreis (2001) geehrt. Sein literarisches Archiv befindet sich seit 2019 in der Akademie der Künste, Berlin. In einer Gedenkveranstaltung am 25.11.2019 wurde es öffentlich präsentiert. WERKE (AUSWAHL): Der Besucher (ung.1969, dt. 1973, übers. von Mario Szenessy), Der Stadtgründer (ung. 1977, dt. 1975, übers. von Mario S ­ zenessy), Der Komplize (ung. 1982 als Samisdat, 1989 als legale Veröffentlichung, dt. 1980), ­Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. (ung. 1986, dt. 1985, übers. von Hans-Henning Paetzke), Glück (ung. 2001, dt. 2003, übers. von Hans-Henning Paetzke), Sonnenfinsternis auf dem Berg (ung. 2003, dt. 2005), Das Pendel. Essaytagebuch. (ung. 2008, dt. 2011, übers. von Hans-­H enning Paetzke), Ásatás – Ausgrabung 1-2 (ung. 2017–2018)

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MOMENTAUFNAHME Helmut Oehring

USSCHNITTE AUS EINEM GESPRÄCH A ZUM ANDENKEN AN GEORG KATZER IM SEPTEMBER 2019 Ich hatte schon 1989 Kontakt zu Georg Katzer und habe Konzerte besucht wie die Paul-Dessau-Tage oder die DDR-Musiktage. Dort also, wo man etwas über die Produktionen der noch lebenden Komponisten erfahren konnte in diesem geteilten Deutschland, in dem ich aufwuchs. Eigentlich bin ich zur zeitgenössischen Musik wie der Bock zum Gärtner gekommen, ich arbeitete damals nämlich als Nachtwächter in einem Objekt in Friedrichshain. Gegenüber dieser Gaststätte gab es eine Buchhandlung, und dort wurde für 50 Ostpfennig das Buch Momentaufnahme von Frank Schneider verkauft.1 Ich habe mich damals aber überhaupt nicht für Komponisten interessiert, sondern für Fotografie. Der Titel hatte mich auf die falsche Spur gebracht. Ich guckte kurz rein, kannte niemanden und dachte, kann ja interessant sein. Ich hatte damals in dieser Gaststätte, wo ich arbeitete, eine Gitarre, und in dem Buch waren einige Noten­ beispiele abgebildet – Schenker, Katzer, Goldmann, ­Bredemeyer, Dietrich. Die habe ich alle nachgespielt. Das war genau der Schlüssel, und ich dachte, irgendwie geil, irgendwie anders, völlig krude, total abartig auch. Alles das, was ich aus der Popmusik und aus dem Rock oder Jazz in der Form nicht unbedingt kannte. Und dann, ausgerechnet vor meinem Nachtwächterlokal, war eine Litfaßsäule und da stand: „Paul-Dessau-Tage – Palast der Republik“. Das war jetzt nicht unbedingt der Ort, wo ich mich damals rumtrieb. Habe ich aber gemacht und dann sah ich diese ganzen Typen, die im Buch beschrieben waren, und hörte die Musik. Das erste, was ich hörte, war ein Stück von Friedrich Schenker, Missa Nigra.2 Und das eröffnete mir einen Horizont. Das hat mein ganzes Denken über das, was man auf der Bühne so macht, komplett auf den Kopf gestellt. Dass ich mit einem Streichquartett anfing, war eigentlich ein Versehen, weil ich eine Schallplatte geklaut habe und da waren Streichquartette von Bartók drauf. Und ich dachte: „Oh, geile Rhythmen. Mach ick.“ Und ausgerechnet damit hab ich dann ein Treffen mit Georg ­Katzer erzwungen – der kannte mich ja überhaupt nicht. Ich sprach ihn bei diesem Palast der Republik an und er sagte: „Ich habe am Deutschen Theater was zu tun.“ Ich

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hatte also mein Streichquartett unter dem Arm und noch irgendwas für Orchester und er sagte: „Kommen Sie da mal hin zur Seitenstraße.“ Am Deutschen Theater hat er sein Auto gehabt und guckte sich aufm Autodach die Noten an und sagte: „Na ja, ist interessant, seltsam sowieso, aber Ihnen fehlt alles.“ Dann gab er den entscheidenden Tipp: „Wissen Sie, schreiben Sie mal vierstimmige Bachsätze ab. Einfach nur abschreiben, gar nicht nachlesen.“ Und warum ich das erzähle? Georg Katzer war nicht nur einer der wichtigsten, vielleicht der wichtigste ­Kom­ponist, nicht nur Deutschlands – Ostdeutschlands sowieso. Breit aufgestellt ist ja erstmals kein Qualitätsmerkmal. Bei Georg war aber das Interessante, dass er auch Lieder zur Gitarre und gleichzeitig dieses riesige Œuvre hatte und dann die elektroakustische Musik und damit auf der Bühne auch noch mit den Jazzern musizierte. Das gab’s nicht. Er zeigte keine Hochnäsigkeit gegenüber Leuten, die nicht wussten, wovon er redet, wenn er erzählt, wie er mit seinem Material formt. Der wusste genau, er braucht mir nicht kommen mit: „Lernen Sie mal hier noch Harmonie, ihre Kontrapunkte und den ganzen Quatsch, den man an der Hochschule sechs Jahre lernt, und dann können wir uns nochmal wiedersehen.“ Und so fing der Weg zu Georg Katzer an und die erste Stunde in Zeuthen. Bei ihm kriegte ich einen Kaffee und Duplo – war ja schon Westen –, und dann hatte ich ein Stück. Das war ein wichtiges Stück für mich damals, hatte mit der Wende zu tun und mit Ost-West, aber ohne Text. Und er – wie ein Zauberer – wusste ganz genau, welche Stelle stimmt nicht, wo wackelt das, wo ist die Statik nicht korrekt eingehalten, wo ist die Gravitationskraft, die entfaltet wird, warum funktioniert es an der Stelle nicht. Und dann hat er einfach nur hingezeigt: „Hier müssen Sie nochmal ran.“ Ich war über 30. Mein halbes Berufsleben lag gefühlt schon hinter mir, und da wurde ich plötzlich Meisterschüler. Also, ich wollte mir jetzt nicht von jemand etwas erzählen lassen, was ich sowieso schon weiß. An dem Punkt habe ich genau gewusst, das ist eben nicht nur pädagogisch eine andere Art – weil er eben nicht den Rotstift ansetzte oder sich sonstwas

raushängen ließ. So eine Profilneurose, wie manche Meister sie haben, die gerade mal angekommen sind und schon sagen: „Pass mal auf, das musst du hier mal so machen und nicht so.“ Das lag ihm völlig fern. Dieses Sofort-das-Gefühl-Haben, auf Augenhöhe zu sein mit jemandem, der eigentlich sonstwo ist. Das ist auch das Phänomen, das man bei Georg Katzer erkennt. Ich kenne keinen Musiker – und bin mittlerweile 30 Jahre in dem Job –, der nicht in höchsten Tönen von der Zusammenarbeit und der Begegnung mit dem Menschen Georg und dem Komponisten zu berichten weiß. Das können nicht alle Komponisten von sich sagen und hören. Er hatte eine Art, eine Fairness, eine Aufrichtigkeit, aber eine trotzdem bedingungslose und skrupellose Art, wenn es um Form und Inhalt geht. Er war einer dieser Menschen, die eben nicht nur Künstler im weitesten Sinne sind, sondern unglaublich unabhängige, eigendenkende, sehr eigenwillig denkende Menschen, die das auch vermitteln können. Er war ein sehr kommunikativer Künstler, ja, aber das ging nicht bedingungslos über in die Schroffheit, Form und Präzision der fast guerillaartigen Tätigkeit in den Partituren. Er verließ ja nicht auf Kosten der Kommunikativität den unbedingten Goldstaub, den er in einem Werk fassen wollte. Und dass jemand eine solche B ­ rücke herstellen kann zwischen dem Unbedingten – was will ich als Künstler, als Komponist eigentlich hier zu Papier und zu Gehör bringen – und dem Anspruch, kommunikativ zu sein, genau zu wissen, wo dockt man an bei den Hörern – das hat mit Timing, Inhalt, Titel usw. zu tun –, das, finde ich, macht ihn zu einem der größten Komponisten, die wir überhaupt kennen. Ein Typ, der für Akkordeon schreibt, für kleine Kinder, für Amateure und ­Riesenoratorien hinlegt und dann eben als Abenteurer mit Jazzern auf der Bühne steht und irgendwelche Hebel dreht, und man hört eigentlich gar nicht wirklich, was passiert, aber es passiert. Der an die Magie der Klänge glaubt und an die Verwandlungskraft, die in der Magie dieser Klänge liegt, die er auf den Weg bringt. Deshalb ist er wirklich definitiv einer der größten Komponisten, die wir kennen.

1 Frank Schneider, Momentaufnahme: Notate zu Musik und Musikern der DDR. Leipzig 1979 2 Missa nigra (1978) ist ein Kammerspiel, komponiert von Friedrich Schenker aus Anlass der Endes der 1970er Jahre von den USA geplanten Neutronenbombe, in dem Musiker zugleich Darsteller, Sprecher und Sänger sind.

HELMUT OEHRING ist Komponist, Choreograf, Autor und Regisseur. Zwischen 1990 und 1992 war er Meisterschüler von Georg Katzer an der Akademie der Künste, zu deren Mitglied er 2005 gewählte wurde. Der Ausschnitt ist einem Gespräch in Gedenken an den am 7. Mai 2019 verstorbenen Komponisten Georg Katzer entnommen, das mit Helmut Oehring, Folkmar Hein, Ralf Hoyer, Ulrike Liedtke und Frank Schneider am 29. September 2019 im Rahmen des Festivals KONTAKTE '19 stattfand. Am 6. Mai 2020 findet in der Reihe „EM4 | Berliner Studios“ ein Konzert mit elektroakustischer Musik von Georg Katzer statt.


Georg Katzer, Werkstatt elektroakustischer Musik, „Kontakte I“, 1980, Konrad-Wolf-Saal, Akademie der Künste der DDR

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NEUES AUS DEM ARCHIV

KRIEG IM ÄTHER

HEDDA ZINNERS ARBEITEN FÜR

Hedda Zinner: 10 Jahre (Ein Eingekesselter vor Stalingrad zum 30. Januar), Rundfunkmanuskript, S. 1, Ufa, Januar 1943

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DEN RUNDFUNK DER KOMINTERN

Hedda Zinner, 1950er Jahre

Die Schriftstellerin Hedda Zinner (1905–1994) ist der größeren Öffentlichkeit heute weitgehend unbekannt. Dabei stand sie zeit­ lebens im Zentrum des literarischen Geschehens. Sie war Mitglied im „Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller“, wirkte als Schauspielerin und Autorin am Prager Exiltheater „Studio 1934“ und arbeitete für den deutschsprachigen Rundfunk in Moskau und Ufa. Nach der Rückkehr aus dem Exil wurde sie zur bekanntesten Theaterautorin der DDR, bis sie sich Mitte der 1960er Jahre ebenso erfolgreich der Prosa und dem Fernsehspiel zuwandte. Ihr umfangreicher Nachlass im Literaturarchiv der Akademie der Künste ist nunmehr erschlossen und für die Forschung zugänglich.

Carsten Wurm

„Achtung! Achtung! Hier ist der Sudetendeutsche Freiheitssender!“ So meldete sich während des Zweiten Weltkrieges auf Kurzwelle täglich ein vermeintlicher Schwarzsender aus dem Untergrund im besetzten ­Böhmen und Mähren. Zu hören waren Nachrichten, politische Kommentare und Tagesmeldungen aus dem ­Sudetenland, die sich an die dortige deutschsprachige Be­völkerung richteten. Gesendet wurde aber aus dem baschkirischen Ufa am Rande des Urals, wohin die Kommunistische Internationale (Komintern) und ihre fremdsprachigen Rundfunkdienste evakuiert worden waren, als die deutschen Truppen Ende 1941 vor den Toren ­Moskaus standen. Neben dem „Sudetendeutschen Freiheitssender“ gab es zeitweise 17 weitere fremdsprachige Sender, die alle eine Zeitlang vorgaben, aus der Illegalität zu senden. So existierten neben einem tschechischen und einem slowakischen Sender drei weitere deutschsprachige Anstalten: der „Deutsche Volkssender“, der „Österreichische christliche Sender“ und der „Sender der SA-Fronde“, der nach der Legende von Opponenten innerhalb der Organisation betrieben wurde. Um überzeugend zu sein, musste die Sprache authentisch und dialektal echt klingen. Die geheimen Sender waren eine wichtige psychologische Waffe der Alliierten im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Ihre Aufgabe war es, die Propaganda des Gegners zu entlarven und zum Widerstand aufzu­rufen, der Wahrheitsgehalt war der Agitation untergeordnet. Unter den regelmäßigen Autorinnen und Autoren befand sich Hedda Zinner eine junge ­Emigrantin aus Deutschland, die in Wien aufgewachsen war und dort am Raimund-Theater eine Schauspielausbildung erfahren hatte. Ihr Vater war ein k. u. k. ­Beamter, der nach der Auflösung des Habsburger Reiches die tschechische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. 1933 emigrierte sie mit ihrem Mann, dem deutschen Journalisten Fritz Erpenbeck, aus Berlin nach Prag, wo sie die beiden ersten Jahre des Exils verbrachten. Sie kannte sich also mit der Mentalität und Sprache der Bevölkerung im deutschtschechischen Grenzgebiet aus. Bereits in Moskau hatte Hedda Zinner für den Rundfunk gearbeitet, manchmal selbst gesprochen, vor allem Texte geschrieben, darun-

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ter Hörspielszenen rund um eine aus dem Weißen Rössl entlehnte Figur, den biederen Unternehmer Giesecke, der die Sowjetunion bereist, dort erst Sprüche klopft und dann aber von den besichtigten Errungenschaften beeindruckt ist. In ihren Erinnerungen gibt Hedda Zinner an, dass sie für den deutschen, österreichischen und sudetendeutschen Sender gearbeitet habe, wogegen Fritz ­Erpenbeck für den „Sender der SA-Fronde“ tätig war. Die im Nachlass überlieferten Rundfunkmanuskripte lassen sich zwar nur selten einem Sender zuordnen, doch inhaltliche Merkmale deuten darauf hin, dass sie besonders viele Beiträge für den „Sudetendeutschen Freiheitssender“ schrieb. Zinner schildert, dass die Leitung den Redakteuren aussagekräftiges Material für die Sendungen auf den Tisch legte: mitgeschriebene Meldungen aus dem „Großdeutschen Rundfunk“, Artikel aus deutschen Zeitungen, darunter dem Völkischen Beobachter, und erbeutete Feldpostbriefe von deutschen Soldaten und ihren Angehörigen. Diese führten eine ganz andere Sprache als die offiziellen Verlautbarungen im NS-Deutschland. Die in den Briefen geäußerten Sorgen und Ängste sowie die Trauer über Gefallene waren als Stoff besonders geeignet, wenn man die Herzen der potenziellen Hörer erreichen wollte. Hedda Zinner griff gern absurde Meldungen auf, um sie sarkastisch zu kommentieren. So ein Bericht über Gemüsegärten von deutschen Soldaten in Feindesland, ein anderer über behagliche Unterkünfte an der Ost­ front und ein dritter über ein Sportfest von Kriegsversehrten in Berlin. Wenige Worte reichten, um die Unverfrorenheit hinter den Meldungen bloßzulegen. Öfter scheint der Anlass für einen Beitrag auch fingiert zu sein: so die Abrechnung eines SA-Mannes aus Reichen­ berg mit der Partei, die zehn Jahre nach der Machtübernahme die „Plutokratie“ immer noch nicht abgeschafft habe und für das Kriegselend der Männer und die Ausbeutung der Frauen verantwortlich sei. Der Mann dürfte ebenso erfunden sein wie ein Hörer aus Teplitz, der über Gespräche von Soldaten auf Heimaturlaub mit Einheimischen erzählt.

Neben Glossen in Prosa schrieb Hedda Zinner regelmäßig Verse, mit denen sie das Kriegsgeschehen kommentierte. Es waren keine Gedichte im engeren Sinn, sondern gereimte Agitation. Eine mehrfach wiederkehrende Figur war bei ihr Freund Max, der Gedichte an den „Sender der SA-Fronde“ schickte. In „Deutsche Weihnachten 1941“ erinnert er daran, dass der Krieg gegen die Sowjetunion zum Jahresende abgeschlossen sein sollte, doch die Züge Richtung Heimat rollten statt mit den siegreichen Truppen beladen mit Verwundeten. „Ja: Züge, die rollen und rollen –/ doch berstend von ­b lutiger Fracht.“ Die Bilanz zum 30. Januar 1943 in dem Gedicht „10 Jahre“ war noch verheerender. Darin spricht ein ­Soldat vor Stalingrad, dem der Steppenwind „durch ­Mantel und Rock“ pfeift. Die NSDAP-Herrschaft führte statt zu Arbeit und Wohlstand zu Krieg und Tod. Offen oder verdeckt rufen Hedda Zinners Beiträge die Soldaten an der Front sowie die Menschen in der H ­ eimat zu Desertion und Widerstand auf. Aus heutiger Sicht merkwürdig, setzten die Radiomacher in Ufa auch auf die SA, von der sie sich einen Aufruhr gegen die so erhofften. Davon spricht etwa Hedda Zinners Gedicht „SS – Die schwarze Schmach“, in der die SS zum Kampf gegen die „Himmlerhunde“ aufgerufen wird. Im Refrain, der allerdings im Manuskript gestrichen ist, heißt es gar: „SA-Mann, voran! / SA-Mann, greif an!“ Auch die Rückseiten der seltenen Rundfunkmanuskripte von Hedda Zinner sind zeitgeschichtlich interessant. Geschrieben sind sie zumeist auf Makulatur aus dem Sendebetrieb. Häufig handelt es sich um abgehörte Rundfunknachrichten aus Deutschland, Großbritannien und den USA, manchmal auch aus Frankreich und der Tschechoslowakei – in Originalsprache. Sie waren für den internen Gebrauch gedacht und zeigen, welche Nachrichten bis nach Ufa drangen. Auch Meldungen aus dem Moskauer Rundfunk befinden sich darunter. Zu den besonderen Umständen von Hedda Zinners Arbeiten für den Rundfunk zählt, dass sie in Ufa ihren Sohn zur Welt brachte – von Georgi Dimitroff, dem damaligen Generalsekretär der Komintern, als „erstes Kominternkind“ in der Evakuierung begrüßt. Fritz Erpenbeck war von der Partei nach Moskau zurückbeordert worden, und die Versorgung war alles andere als gesichert. Dennoch schrieb Hedda Zinner bis unmittelbar vor der Entbindung und bald danach wieder. Das ging nur mit Hilfe von Freundinnen, darunter die Lebensgefährtin des geflohenen Herbert Wehner, sowie von einem estnischen Kindermädchen, das dann zurückbleiben musste, als Hedda Zinner nach anderthalb Jahren wieder nach ­Moskau zu ihrem Mann zurückdurfte. Zu dieser Arbeitsleistung beflügelt hatte sie auch die Tatsache, dass nach Jahren der stalinistischen Verfolgungen und des verwirrenden Stalin-Hitler-Paktes das Feindbild wieder klar war. Nach dem Nichtangriffspakt vom August 1939 waren gegen Hitler gerichtete Sendungen buchstäblich über Nacht aus den Sendern verschwunden. Erst der d­ eutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 brachte eine Kehrtwendung.

CARSTEN WURM ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Literaturarchiv der Akademie der Künste.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

„ ICH BIN SEHR SCHWACH IM MASCHINESCHREIBEN, D   AFÜR ABER PÜNKTLICH IN DER FERTIGSTELLUNG“ EIN AUSZUG AUS „DIALOGE FÜR DEN URENKEL. ANMERKUNGEN UND HINTERGRÜNDE ZUM WERK DES FILMEMACHERS EBERHARD FECHNER“

Matthias Dell

Schon kurz nach der Abwendung vom Theater Mitte und dem Eintritt in die Fernsehspiel-Abteilung Egon Monks beim NDR Mitte der 1960er Jahre beginnt Eberhard Fechner mit der Arbeit an einem eigenen Stoff, der sein Debüt als Fernsehregisseur werden wird: Selbstbedienung. Die Idee dazu stammte aus einem Zeitungsartikel, der vom Einbruch dreier Jugendlicher in ein Kaufhaus in Westberlin berichtete, begangen am 18. Mai 1965, dem Tag, als Queen Elisabeth II. die Stadt besuchte. Gerade die dramaturgischen Schwächen – die verschiedenen Anläufe der jugendlichen Delinquenten, deren Dilettantismus – verweisen dabei auf Fechners Stil: Er begreift die Geschichte nicht als Meldung aus dem Polizeibericht, die sich in eine auf Spannung und Komik zielende Spielfilmhandlung überführen ließe, sondern will mit ­seinem „Fernseh-Spiel“ die wahren Begebenheiten in einem streng dokumentarischen Sinne rekonstruieren. Dafür recherchiert er den Fall selbst, statt ihn einfach der Logik eines Drehbuchs anzupassen. Von den Interviews mit den im Gefängnis einsitzenden Einbrechern kehrt er an den Schreibtisch zurück, begeistert darüber, „was die für Sätze bildeten, wie sie die Gedanken formulierten“, wie Notizen im Nachlass bezeugen. Der Slang der Jugendlichen findet in schwingend-tänzerischen Sprechperformances Eingang in die Inszenierung: „Was hier an Taxen ankommt, ist ‘ne Sage / Da jehn ein’m doch die Schnürsenkel uff / Dann hat der keene Puseratze mehr.“ Was aus heutiger Sicht eigenartig ambivalent erscheint: Einerseits wirkt das Spiel dadurch artifiziellbühnenhaft und gerade nicht unmittelbar und lebensnah. Andererseits archiviert Selbstbedienung durch diesen Kunstgriff aber Idiome, die heute im Wörterbuch nachgeschlagen werden müssen (Puseratze = Geld). Nach Selbstbedienung dreht Fechner auf ähnliche Weise und in ähnlichem Stil vier weitere Filme: Damenquartett (1968/1969, NDR-Redaktion: Dieter Meichsner), die Tatort-Folge Frankfurter Gold (1970/1971, HRRedaktion: Hans Prescher) und Geheimagenten (1971, Selbstbedienung, 1967. Wolfgang Condrus, Jürgen Draeger, Wolfgang Giese

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HR-Redaktion: Prescher); Aus nichtigem Anlaß (NDRRedaktion: Meichsner) wird bereits 1973 produziert, kann wegen sich aus Fechners Arbeitsweise ergebenden Rechtsstreitigkeiten aber erst 1976 ausgestrahlt werden. Immer geht es um reale Verbrechen, die Fechner in dokumentaristischer Manier recherchiert, um sie dann als variierende Spielhandlungen zu inszenieren. Diese True-Crime-Formate, die sich im Zeitalter von Streamingdiensten wie Netflix großer Beliebtheit erfreuen, sprechen für die Zeitlosigkeit von Fechners Fernsehen – und machen es gerade in ihrer Eigenwilligkeit wenn nicht anschlussfähig, so doch wiederentdeckenswert für Publikumsinteressen fünfzig Jahre später. Ausführlicher beschreiben lässt sich die Methode am Beispiel von Frankfurter Gold – dem ersten Tatort, den der Hessische Rundfunk zur föderal gedachten und daher unerwartbar langlebigen Krimi-Reihe beisteuerte, welche die ARD als Reaktion auf den Erfolg von Herbert ­Reineckers ZDF-Serie Der Kommissar initiiert hatte. Der Beginn des Tatorts war improvisiert, die Auftaktfolge Taxi nach Leipzig (November 1970) mit dem Hamburger Kommissar Trimmel (Walter Richter) genauso wenig eigens für das Label produziert wie die vier WDR-Folgen mit Zollfahnder Kressin (Sieghardt Rupp) oder das schon 1968, also vor der Tatort-Konzeption begonnene HR-Projekt Fechners. Frankfurter Gold wurde schließlich als sechs- Frankfurter Gold, 1971. Eberhard Fechner (rechts im Bild). Werkfoto ter Film in der Krimi-Reihe am 4. April 1971 ausgestrahlt und dürfte Einfluss auf die Besetzung des Protagonisten genommen haben – einmal als Kommissar Konrad aufge- „Ich fand gerade gestern die beiliegende Geschichte in treten, löste der Fechner-Schauspieler Klaus Höhne bis den hiesigen Zeitungen: möglicherweise ist das Thema 1979 noch sieben weitere Fälle im Tatort. ‚Falschgold’ und die erstaunliche Reaktion von MitmenDas True-Crime-Format, mit dem schon Jürgen schen auf Schwindel, der mit Gold zusammenhängt, ein Sie interessierendes Thema. Lassen Sie mich doch Rolands Stahlnetz-Reihe (1958–1968) kokettiert hatte, spielte übrigens bei den konzeptionell offenen Überle­ zunächst nur kurz wissen, ob Sie an dieser Story interessiert sind. Wir hatten ja schon bei unserem Gespräch gungen zum Tatort zunächst eine Rolle. Wie rasch man sich davon allerdings wieder entfernte, wie wenig zwin- vereinbart, daß wir wegen Ihrer anderweitigen Verpflichgend diese Überlegungen waren, belegt ein gut gelaun- tungen eine sehr langfristige Zusammenarbeit disku­ tes Interview mit „Kressin“-Erfinder Wolfgang Menge in tieren müssen.“ Fechner antwortet am 22. September, der Zeitschrift Fernsehen und Film vom April 1970. Darin als er gerade in den Proben zur Doppelkopf-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus steckt, seinem letzten erzählt Menge: „Gestern war ich beim Süddeutschen Rundfunk. Die wollen ja in der ARD gemeinsam eine ­Tatort-­ Ausflug zum Theater in der Kurzzeit-Intendanz Egon Serie machen. Sogenannte echte Fälle […] die hatten zur Monks: „Sie kennen ja meine Methode, Stoffe des Zeitgemeinsamen Besprechung einen Kriminalbeamten ein- geschehens so realistisch wie möglich darzustellen. geladen. Mit dem haben wir uns dann unterhalten. Er hat Darum wäre es auch in diesem Falle unbedingt nötig, uns fabelhafte echte Fälle erzählt. Aber nachdem er weg daß ich mit möglichst vielen Personen, die an dieser Geschichte beteiligt waren, Tonbandinterviews mache.“ war, hatten wir dann doch was auszusetzen. Bei dem einen Fall fehlte uns dieses, beim anderen jenes. Dann Er bittet ferner darum, „den Stoff vorsorglich anzumelhaben wir uns eben einen echten, ungeheuer komplizier- den, das zuständige Gericht, die Namen der Täter und ten Fall ausgedacht. – Frage: Ausgedacht? – Menge: Ja. den vorgesehenen Prozeßtermin zu erforschen und im – Frage: Wozu brauchten Sie dann den Polizei­beamten? Übrigen den Prozeß selbst abzuwarten“. Fechner scheint – Menge: Wegen der Echtheit.“ Gefallen an dem Stoff zu finden. Drei Tage später schreibt Prescher: „Es genügt sicher wenn wir uns dann Anders als für den ironischen Menge ist das mit der Echtheit für Fechner kein Witz. Die Idee, die tatsäch­ im Frühjahr n. J. wieder in Verbindung setzen. Nach liche, damals von Zeitungen reportierte Geschichte eines unseren jetzigen Dispositionen würde es genügen, wenn Betrügers zu verfilmen, der mit Hilfe eines erfindungs- Sie das Buch in der zweiten Hälfte 1969 fertigstellten, reichen Fälschers dank golden angemalter Bleibarren so dass wir in der ersten Hälfte des Jahres 1970 drehen ein Schneeballsystem aufbaut, um Geld von solventen könnten.“ Zwar bringt Fechner in einem Schreiben vom 8. November seine Zustimmung zum Ausdruck („Die Leuten zu kassieren, stammt von Hans Prescher, dem damaligen Leiter des Bereichs Fernsehspiel und Spiel- Sache scheint mir nach wie vor so interessant, dass wir film im Hessischen Rundfunk. Prescher war bereits Ende alles versuchen sollten, unser Projekt zu realisieren“), der 1960er Jahre mit dem seinerzeit schon stark einge- der Zeitplan kann allerdings nicht eingehalten werden. spannten Fechner in Kontakt, um ihn für eine Zusam- Erst am 19. Juni 1969 meldet sich Prescher wieder bei menarbeit zu gewinnen. Am 29. August 1968 schreibt er Fechner, um ihn über die Abläufe des realen Verfahrens an den Regisseur mit Bezugnahme auf ein vorausgegan- zu orientieren. Weil sich abzeichnete, dass der Prozess genes persönliches Gespräch, bei dem vereinbart wor- 1969 nicht mehr beginnen würde, sei der angeklagte den war, sich gegenseitig mögliche Stoffe zu schicken: Betrüger, Blum mit Namen, mittlerweile aus der Unter-

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suchungshaft entlassen. „Die Anklageschrift ist aber fertig, und ein leitender Frankfurter Kriminalbeamter würde Ihnen und uns für unser Vorhaben Einblick in diese Akten gewähren und uns über den Sachstand informieren. Sicher wäre es auch möglich, daß Sie mit Herrn Blum direkt sprechen.“ In seiner Antwort vom 28. Juni stellt Fechner in Aussicht, im Oktober und November 1969 mit der Arbeit am Drehbuch beginnen zu können. Am 3. Mai 1970 übersendet Fechner dann das Drehbuch an Prescher: „Die vielen Tippfehler in meinem Drehbuch bitte ich zu entschuldigen. Ich bin sehr schwach im Maschineschreiben, dafür aber pünktlich in der Fertig­stellung.“ Und weist zugleich darauf hin, was ihm bei dem Film wichtig ist: „Von den 34 Rollen haben nur 10 mehr als einen Drehtag! Ich glaube, daß ich damit ganz sparsam war. Allerdings verlangt der Stoff, der ganz der abstrakten Welt finanzieller Manipulationen ver­haftet ist, als Äquivalent ein möglichst reichhaltiges Angebot an unterschiedlichen Schauplätzen. Darauf kann im Interesse der Lebendigkeit der Darbietung in keinem Fall verzichtet werden.“ Prescher lobt in seiner handschriftlichen Antwort vom 8. Mai das Ergebnis. Er habe das Drehbuch „mit viel Vergnügen“ gelesen. „Ich glaube, Sie haben den ja nicht so leichten Stoff gut in den Griff bekommen.“

MATTHIAS DELL ist Kulturjournalist und Kritiker in Berlin.

Auszug aus: Matthias Dell, Dialoge für den Urenkel. An­m ­e rkungen und Hintergründe zum Werk des Filme­ machers Eberhard Fechner, in: Eberhard Fechner. Chronist des Alltäglichen. Im Auftrag der Akademie der Künste und Deutschen Kinemathek herausgegeben von Rolf Aurich und Torsten Musial, München 2019. Der jüngst erschienene Band ist der 4. in der Reihe „Fernsehen. Geschichte. Ästhetik“.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

Johann Gottfried Schadow, Das Publikum auf der Kunstausstellung, Zinkdruck, 1831

„EIN JEDER ZUSCHAUER  ZAHLT 8 GROSCHEN …, DIE AUSSTELLUNGSKATALOGE DER AKADEMIE DER KÜNSTE 1786–1943

Susanne Nagel und Werner Heegewaldt

Der Initiative Daniel Chodowieckis und den Reformbestrebungen innerhalb der Akademie ist es zu verdanken, dass die Künstlersozietät seit 1786 regelmäßig Ausstellungen veranstaltete. Die zunächst jährlich, später im zweijährigen Turnus gezeigten Kunstsalons waren über lange Zeit ein Leitmedium des preußischen Kunst- und Kulturlebens und genossen deutschlandweit Anerkennung. Berliner und auswärtige Künstler hatten hier erstmals die Möglichkeit, ihre Werke zu zeigen und seit 1832 auch zu veräußern. Die Präsentationen machten es möglich, einen Überblick über die zeitgenössische Kunst zu gewinnen. Zugleich boten sie als gesellschaftlicher

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DIE DAMEN BEZAHLEN NICHTS.“

Begegnungsort ein offenes und kritisches Forum, in dem Künstler, Kunst und Publikum direkt aufeinandertrafen. Nicht mehr der höfische Geschmack allein war maßgeblich, sondern die Auswahl durch eine akademische Jury und der öffentliche Diskurs über Kunst. Im Unterschied zu den Salons der Dresdner und Pariser Akademien, die vor allem als Leistungsschau der Mitglieder dienten, ermöglichte die Berliner Akademie allen Interessierten die Teilnahme. In den Ausstellungen war ein breites Spektrum an Kunstschaffenden vertreten, von sogenannten Dilettanten bis zu namhaften Künstlern. Die ausgestellten Werke waren nach den Kunstgattungen Baukunst, Bildhauerei, Malerei, Zeichnung und Grafik gegliedert, wobei sich die Schwerpunkte und damit die Anordnungen der Ausstellungsräume im Laufe der Jahre wandelten. Neben der Förderung der schönen Künste war der preußische Staat daran interessiert, das Kunstgewerbe international wettbewerbsfähig zu machen, und sorgte dafür, herausragende Erzeugnisse auszustellen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielten die

Kunstsalons Konkurrenz durch den wachsenden Kunsthandel, die Kunstvereine und alternative Ausstellungsorte. Die Akademie-Ausstellungen verloren langsam ihren Rang als innovative Leistungsschau und als alleiniges Podium für zeitgenössische Kunst. Das akademische Ausstellungswesen erstarrte, es galt in der Kaiserzeit als konservativ und Ort traditioneller Kunstauffassung. Die „Großen Berliner Kunstausstellungen“ wurden von der Kritik als Massenschauen geschmäht, die zwar dem Publikumsgeschmack entsprachen, jungen Künstlern und neuen Strömungen aber keinen Raum boten. Erst die Entstehung der Secession zum Ausgang des 19. Jahrhunderts gab neue Impulse und sorgte dafür, dass die künstlerische Avantgarde öffentliche Foren erhielt. Einzelne Mitglieder wirkten an diesem Prozess mit, nicht aber die Akademie selbst. Einen Neuanfang brachte die Präsidentschaft von Max Liebermann nach dem Ersten Weltkrieg. Der Mitbegründer der Berliner Secession öffnete die Akademie wieder der zeitgenössischen Kunst. Wichtige Mittel waren die Zuwahl neuer Mitglieder und das


Ausstellungswesen. Neben Werkpräsentationen der Mitglieder gehörten dazu auch Darstellungen älterer Kunst. Trotz der Polarisierung in der Sektion Bildende Kunst zwischen einer konservativen Mehrheit und dem Präsidenten und seinen Unterstützern boten sie bis zur politischen Gleichschaltung 1933 Podium und Kriterium für künstlerische Auseinandersetzungen. Das Ausstellungsgeschehen wurde seit 1786 in Katalogen dokumentiert. Die seltenen Verzeichnisse bieten genaue Angaben über die beteiligten Künstler, viele davon Mitglieder oder Schüler der Akademie, über Kunstsammler sowie die ausgestellten und zum Verkauf stehenden Werke. Seit 1880 sind auch Abbildungen von aus­ gewählten Werken enthalten. Chroniken zur Akademie­geschichte (1786–1892 in den Katalogen, 1893–1910 als Separatdruck), Informationen zu den Ausstellungen und Werbeinserate des Kunsthandels ergänzen die Kataloge. Die chronikalischen Nachrichten informieren über die akademische Ausbildung, programmatische Fragen, Personalia der Mitglieder, Kunststipendien und Erwerbungen für die Sammlungen, resümieren die vergangenen Ausstellungen und geben Einblicke in das Berliner Kunstgeschehen. Gestalt, Umfang und Inhalt der Kataloge änderten sich im Laufe der Zeit erheblich. Folgende Serien lassen sich unterscheiden: A Ausstellungen der Akademie der Künste, 1786–1892 B Große Berliner Kunstausstellung, 1893–1943 C Frühjahrs- und Herbstausstellungen der Akademie der Künste, 1919–1943 D Sonder-Ausstellungen der Akademie der Künste, 1885–1943 E Chronik der Akademie der Künste, 1893–1910

Bis 1892 kuratierte die Akademie ihre Ausstellungen alleine. Die anhaltende Kritik des Vereins Berliner Künstler an den Zugangsmodalitäten und Auswahlkriterien der Kunstwerke bewirkte, dass der Verein gleichberechtigter Mitveranstalter und an den Einnahmen beteiligt wurde. Seit 1893 firmierten die Salons unter dem Namen „Große Berliner Kunstausstellung“. Nach dem Ersten Weltkrieg schied die Akademie als Mitveranstalter aus. Gleichwohl nutzten die Mitglieder die Salons weiterhin zur Präsentation ihrer Werke. Neben inhaltlichen Differenzen spielte die Tatsache eine Rolle, dass die Künstler­ sozietät mit dem Bezug des Gebäudes am Pariser Platz 4 im Jahre 1907 wieder über eigene Räumlichkeiten verfügte, in denen Veranstaltungen stattfinden konnten. Zu den Reformen des neuen Präsidenten Max L ­ iebermann gehörte die Einrichtung von Frühjahrs- und Herbstausstellungen, in denen die Mitglieder ihre Werke zeigten. Parallel dazu gab es auch thematische Ausstellungen, die sich einzelnen Künstlern, historischen Themen oder der außereuropäischen Kunst widmeten und zum Teil in Kooperation mit Berliner Museen stattfanden. Wichtige Retrospektiven galten herausragenden Mitgliedern wie Carl Blechen (1921), Max Liebermann (1917), Adolph Menzel (1885 und 1935) und Johann ­Gottfried Schadow (1909). Thematisch weitete sich der Blick auch auf die internationale Kunst: „Amerikanische Kunst“ (1926 und 1931/32), „Ostasiatische“ beziehungsweise „Chinesische“ und „Japanische Kunst“ (1912, 1929, 1931 und 1934). Als Spiegel von mehr als 150 Jahren Ausstellungsund Kunstgeschichte sind die Kataloge heute eine herausragende und viel genutzte Quelle vor allem für das preußische Kunst- und Kulturleben. Von besonderem Wert sind die Verzeichnisse für die Provenienzforschung, da sich darin die Geschichte der Kunstwerke, ihrer Schöpfer und partiell auch ihrer Eigentümer und Sammler nachvollziehen lässt. In Verbindung mit den Akten der

Preußischen Akademie, die online nutzbar sind, bieten die Ausstellungsverzeichnisse hervorragende Forsch­ ungsmöglichkeiten. Zwar ist die Überlieferung nur lückenhaft, aber gerade für das 19. Jahrhundert lassen sich Organisationsfragen, Juryentscheidungen, Prämierungen von Kunstwerken, Marktpreise und öffentliche Reaktionen auf die Ausstellungen gut nachvollziehen. In verschiedenen Fällen ist es sogar möglich, den Verkauf einzelner Kunstwerke zu ermitteln, wie das Beispiel von Eugen Brachts Gemälde Die Blutrache zeigt. Es wurde auf der Jubiläumsausstellung 1886 präsentiert und für 5.000 Mark an „J. Prowe in Moskau“ veräußert.1 Der Wert der seltenen und in keiner Bibliothek vollständig erhaltenen Kataloge ist frühzeitig von der kunstgeschichtlichen Forschung erkannt worden. Ein Indiz dafür ist eine Faksimileedition, die 1971 entstand und die Kataloge von 1786 bis 1850 umfasste.2 In Zusammenarbeit von Universitätsbibliothek Heidelberg und Archiv der Akademie der Künste wurden 173 Kataloge mit ungefähr 80.000 Werken von 12.000 Künstlerinnen und Künstlern digitalisiert, die nun online in den digitalen Sammlungen der Universitätsbibliothek nutzbar sind. Grundlage war der Bestand der Akademie-Bibliothek. Bereits früher in Heidelberg und anderen Bibliotheken digitalisierte Bände werden zukünftig ergänzt. Ziel ist es, eine nahezu vollständige Reihe der Kataloge an einem Ort online zu erfassen. Da die ca. 18.000 Katalogseiten mit Hilfe elektronischer Texterkennung erschlossen wurden, ist erstmals der gesamte Inhalt recherchierbar. Dazu gehören die Namen und Werktitel aus den Katalogteilen genauso wie die Chroniken, Begleittexte und Inserate. Zusätzlich wurde begonnen, ein elektronisches Gesamtregister aller enthaltenen Künstlernamen zu erarbeiten, um einen gezielten Zugriff auf den einzelnen Katalogeintrag zu ermöglichen. Das Verzeichnis enthält Verlinkungen zur Gemeinsamen Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek und ermöglicht so, die Künstler und Künstlerinnen eindeutig zu identifizieren und zusätzliche biografische Angaben zu gewinnen. Die Kataloge werden künftig auch im digitalen Schaufenster des Archivs zu sehen sein, das derzeit im Aufbau ist. Gefördert wurde das Projekt durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa in Berlin, vertreten durch das Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung ­Berlin (digiS).

1

J ubiläums-Ausstellung der Kgl. Akademie der Künste, Berlin 1886, S. 31, Nr. 140, und PrAdK I.0394, S. 9 (Ausstellungsverkäufe 1886–1888) 2 Die Kataloge der Berliner Akademie-Ausstellungen: 1786–1850, bearb. von Helmut Börsch-Supan, 2 Bände, Berlin 1971

SUSANNE NAGEL ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bibliothek der Akademie der Künste. WERNER HEEGEWALDT leitet das Archiv der Akademie der Künste.

Die Ausstellungskataloge der Akademie der Künste von 1786 bis 1943 sind digitalisiert und online unter https://digi.ub.uni-heidelberg.de/de/sammlungen/adk.html zugänglich. Katalog zur ersten Ausstellung der Königlich Preußischen Academie der Künste, 1786

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FREUNDESKREIS

FÜLLE DES WOHLLAUTS BEETHOVEN DISKOGRAFISCH Clemens Trautmann

„Muss   es sein?“ Diese Frage – dem handschriftlichen Kommentar Beethovens zu seinem letzten Streichquartett entlehnt – kann man bei Jubiläumsfeierlichkeiten und Gedenkjahren stets stellen, besonders ist sie aber zum 250. Geburtstag L ­ udwig van Beethovens geboten. Warum an ein Œuvre erinnern, das ohnehin zu den meist aufgeführten des weltweiten Musiklebens zählt? Wie der Abnutzungsfalle von „Für Elise“, der „Mondschein-Sonate“ oder der „Ode an die Freude“ entgehen?

Auch unter diskografischen Gesichtspunkten sind Fragen zu beantworten, die nicht trivial sind: Kann die Neukonzeption einer Beethoven-Gesamtedition im Digitalzeitalter, bei beinahe ubiquitärer Verfügbarkeit seiner Musik, weiterführende Erkenntnisse und Musikerlebnisse schaffen? Nach Schätzungen der Deutschen Grammophon summiert sich die Spieldauer aller globalen Beethoven-Streams bereits jetzt jeden Monat auf 750 Jahre, und zum runden Geburtstag im Dezember 2020 wird voraussichtlich die Millenniums-Schwelle überschritten. Ist eine mit fachlicher Autorität kuratierte Edition überhaupt wünschenswert oder steht sie Ent­ deckungen von Abseitigem im Weg? „Es muss sein.“ Die Antwort fällt trotz aller berech­ tigten Fragen ebenso entschieden und emphatisch aus, genau wie der Finalsatz des Quartetts op. 135 mit Beethovens berühmter handschriftlicher Anmerkung. Denn die Beethoven-Forschung hat seit dem letzten großen Jubiläum 1970 signifikante Ergebnisse erzielt. Viele der wiederentdeckten und Beethoven zugeschriebenen Werke und Fragmente sind akustisch noch nicht erlebbar. Bei der Erarbeitung der Gesamtedition war die enge Zusammenarbeit mit den Forschern des B ­ eethoven-Hauses Bonn – namentlich der Leiterin der wissenschaftlichen Abteilung, Prof. Dr. Christine Siegert – dem Team der Deutschen Grammophon ein besonderes Anliegen, und in dieser Konstellation ist auch ein Buch mit Beethovens Biografie und Werkeinführungen namhafter Musikwissenschaftler entstanden. Vor allem aber war die Einschätzung des Beethoven-Hauses maßgeblich bei Entscheidungen, ob ein kleineres Werk oder Fragment dem Komponisten hinreichend sicher zuzurechnen ist und welche von mehreren alternierenden Fassungen aufgenommen werden sollte. Exemplarisch dafür ist Beethovens sogenannter „Letzter Musikalischer Gedanke“. Dieser war bisher nämlich nicht in der Form les- und hörbar, in der Beethoven ihn im November 1826 niedergeschrieben hat: als Streich­ quintett. Vielmehr war er nur in der Version bekannt, in der der Verleger Diabelli ihn – sicher unter kommerziellen Aspekten – ediert hat, nämlich reduziert zu einer Klavierfassung. Da das originale Manuskript verschollen ist,

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musste zum Zwecke einer Aufnahme aus dem KlavierArrangement unter Beachtung der Stimmführungsregeln und Beethovens Personalstil bei Streicher-Kammer­ musik wieder eine Streichquintett-Version erstellt werden, die dem Beethoven’schen Original mutmaßlich nahekommt. Der neu gewählte Präsident des Beethoven-­ Hauses, der Geiger Daniel Hope, hat diese Fassung mit einem illustren Kammerensemble – Ikki Opitz, Amihai Grosz, Tatjana Masurenko und Daniel Müller-Schott – eingespielt. Nun endlich ist der knapp dreiminütige musikalische Gedanke in sattem polyfonen Streicherklang zu hören, so wie er intendiert war. „Es muss sein!“ Hinter die Aussage ist ein Ausrufe­ zeichen zu setzen – so wie es auch Beethoven im Manuskript getan hat. Einer neuen Beethoven-Edition als verlässlicher Referenz bedarf es auch deshalb, weil nicht jeder sein eigener Kurator sein kann und will. Selbst für einen gebildeten Beethoven-Amateur ist die Rezeptionsund Aufnahmegeschichte – von der traditionellen Aufführungspraxis bis zur Originalklangbewegung, jeweils geprägt von verschiedenen ästhetischen Traditionssträngen und nationalen Schulen – kaum zu überblicken. Stellvertretend dafür stehen die Symphoniezyklen, die unter anderem mit den Wiener Philharmonikern unter Bernstein, Kleiber und Nelsons sowie mit dem Orchestre Revolutionnaire et Romantique unter John Eliot G ­ ardiner repräsentiert sind. Insgesamt hat die Deutsche Grammophon dabei das Privileg, aus rund 60.000 Minuten (oder circa 40 Tagen) aufgenommener Musik von ­Ludwig van Beethoven wählen zu können – mehr als jedes andere Plattenlabel. Darunter sind nicht zuletzt auch Tondokumente von Mitgliedern der Sektion Musik der Akademie der Künste zu erleben: Wilhelm Kempff mit sämtlichen Klaviersonaten sowie den Cellosonaten an der Seite von Pierre Fournier. Dietrich Fischer-Dieskau mit den zentralen Werken aus Beethovens Liedschaffen, insbesondere dem Zyklus „An die ferne Geliebte“. Mit Aufnahmen aus der Vorkriegszeit sind die Mitglieder Richard Strauss und Hans Pfitzner zu hören, die neben ihrem kompositorischen Schaffen auch als Dirigenten am Pult der Staatskapelle Berlin oder der Berliner Philharmoniker auftraten.

Diese reiche Aufnahmetradition verpflichtet, zumal sie noch weiter in die Gründungsphase des Labels zu­­ rückreicht: Im Jahr 1913 spielten die Berliner Philharmoniker bei der Deutschen Grammophon unter Leitung von Arthur Nikisch Beethovens 5. Symphonie ein – eine Veröffentlichung, die als erste Aufnahme einer vollständigen Symphonie auf Tonträger gilt. Sie erschien damals auf vier doppelseitig bespielten Schellackplatten – eine Pionierleistung der Tonträgergeschichte, deren Ambition und klangliche Qualität man immer noch bewundern muss. 50 Jahre später fand eine weitere epochemachende Beethoven-Einspielung in Berlin statt: der erste von drei Symphonie-Zyklen, die Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern beim Gelblabel veröf­ fentlicht hat, und bis heute die am besten verkaufte Beethoven-­Aufnahme. Niemand hat die symbiotische Arbeit am Œuvre Beethovens zwischen Künstlern und Label besser beschrieben als Karajan: „Sie wissen, mit wie viel Liebe und Mühe die Berliner Philharmoniker und ich immer wieder und hauptsächlich um das Werk Beethovens gerungen haben. Das nun vorliegende Werk wurde jedoch erst im Verein mit Ihrem Aufnahmestab möglich, der nicht nur in seiner eigensten Sparte Meister ist, sondern der auch zutiefst künstlerisch empfindende Menschen umfasst.“ Eine Frage ist allerdings noch nicht beantwortet: Warum ist die Auseinandersetzung mit Beethovens Œuvre heute so wichtig und bereichernd? Jeder mag seine persönliche Antwort darauf finden. Ich persönlich bewundere, wie (fast) jedes Werk aus einer zwingenden inneren Notwendigkeit heraus entstand. Wie aus den Tönen letzte Aufrichtigkeit spricht. Wie das Ringen um jede Note unter ungünstigsten Lebensumständen und bei miserabler Gesundheit Musik hervorgebracht hat, die perfekt anmutet und dabei Grenzen alles zuvor Gehörten sprengte. Beethovens Werk hat damit etwas zutiefst Humanes und Jenseitiges zugleich.

CLEMENS TRAUTMANN ist Präsident der Deutschen Grammophon und Mitglied der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 4/5 Foto Erik-Jan Ouwerkerk | S. 9, 10, 11, 15, 16, 21, 22 Fotos Michael Ruetz | S. 27–31 Fotos Ixmucané Aguilar S. 32/33 Illustration Mecanoo, S. 34/35 Foto Harry Cock, S. 36 Foto ­O ssip Architectuurfotografie, S. 37 links Foto Greg Holmes, rechts Foto Harry Cock, S. 38 Illustration Mecanoo | S. 42 Foto Kerstin Marth, Akademie der Künste, Berlin, KS-Museale-Sammlung 303 | S. 44–48 John Heartfield, S. 44 und S. 46 oben The Wolfsonian, Florida International University, Miami Beach, The Mitchell Wolfson, Jr. Collection XB1990.2047.31.26, Fotos Lynton ­G ardiner, S. 45 ­A kademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung Inv.-Nr. JH425, S. 46 unten A ­ kademie der Künste, Berlin, JHA Nr. 614.30.1.11, S. 47 oben Russian State Library, Moskau, S. 47 unten ­A kademie der Künste, Berlin, JHA Nr. 621/37.5.29, S. 48 Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr. JH219 © The Heartfield Community of Heirs / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 | S. 49 ­I llustration aus ­W illiam Henry Stone, ­Elementary ­Lessons on Sound, ­M acmillan and Co., London 1879, S. 51 oben Foto ­A ndrea Heilrath, unten Foto Sonia Lescene | S. 53 Foto Bernd Borchardt © Thomas Rentmeister und VG Bild-Kunst, Bonn 2020, S. 54 © G ­ erhard Richter 2019 (13122019), S. 55 Foto Nic ­Tenwiggen­horn, Düsseldorf / VG BildKunst, Bonn 2020 © Ulrich E ­ rben | S. 56 Foto Manfred Mayer / VG Bild-Kunst, Bonn 2020 | S. 59 Foto Christian ­K raushaar, Akademie der Künste, Berlin, Foto-AdK-O 4161 004 | S. 60 © John Erpenbeck, ­A kademie der Künste, Berlin, Hedda-Zinner-Archiv Nr. 196, S. 61 Foto Max ­I ttenbach | S. 62 Foto NDR, S. 63 Foto Presse-Bild-­B ethke | S. 64 Illustration abgebildet im Jubiläumskatalog von 1996, S. 83, ­S ignatur DAK 457, S. 65 Bibliothek der Akademie der Künste, Berlin

Journal der Künste, Heft 12, deutsche Ausgabe Berlin, März 2020 Auflage: 3.500

Wir danken allen Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Die im Journal vertretenen Auffassungen geben die Meinung der jeweiligen Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Akademie der Künste. Den Autorinnen und Autoren ist freigestellt, in welcher Form sie Genderfragen in der Sprache Ausdruck verleihen.

Das Journal der Künste erscheint dreimal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt. Sollten Sie Einzelexemplare oder ein Abonnement wünschen, wenden Sie sich bitte an info@adk.de. © 2020 Akademie der Künste © für die Texte bei den Autorinnen und Autoren © für die Kunstwerke bei den Künst­l erinnen und Künstlern Verantwortlich für den Inhalt Werner Heegewaldt Johannes Odenthal (V.i.S.d.P.) Kathrin Röggla Redaktion Martin Hager Marie Altenhofen Anneka Metzger Assistenz Justin Gentzer Korrektur Claudius Prößer, Nadine Brüggebors Gestaltung Heimann + Schwantes, Berlin www.heimannundschwantes.de Lithografie Max Color, Berlin Druck Druckerei Conrad GmbH, Berlin Deutsche Ausgabe ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe https://issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-1000 info@adk.de, www.adk.de akademiederkuenste

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