Journal der Künste 14 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE 14

JUNGE AKADEMIE IN DEN FARBEN DER DUNKELHEIT „DIE UNNÜTZEN“ BRECHT PROBT GALILEI

DEUTSCHE AUSGABE NOVEMBER 2020


S. 3

S. 24

S. 40

EDITORIAL

RADICAL WORLD-BUILDING – DIE STADT BEGUMPURA

DER KÄTHE-KOLLWITZ-PREIS – BIS HEUTE EIN PREIS VON KÜNSTLER*INNEN FÜR KÜNSTLER*INNEN

Kathrin Röggla

Sahej Rahal im Gespräch mit Clara Herrmann

Anke Hervol S. 5 S. 28  CARTE BLANCHE

ALLIANZ DER AKADEMIEN OFFENER KONTINENT

IN DEN FARBEN DER DUNKELHEIT

Berliner Manifest

Péter Nádas

NEOFASCHISMUS HEUTE – EINE DEBATTE IN DER AKADEMIE DER KÜNSTE DER DDR IM FRÜHJAHR 1979

S. 6

S. 36  KUNSTWELTEN

Haiko Hübner

„DIE ‚UNNÜTZEN‘ MÜSSEN SICH SAMMELN“

ON MY WAY – GESCHICHTEN AUS EUROPA

S. 46

Mark Lammert im Gespräch mit Johannes Odenthal

Marion Neumann, Kristiane Petersmann, Moritz Nitsche

S. 43  NEUES AUS DEM ARCHIV

S. 10  JUNGE AKADEMIE

„EIN MANN DER KEINE ZEIT MEHR HAT“ BRECHT PROBT GALILEI 1955/56 Stephan Suschke

S. 37

DIE JUNGE AKADEMIE Clara Herrmann

„DIE PHYSIKALISCHEN EIGENSCHAFTEN EINES GEWÄSSERS ERFORSCHEN“

S. 48

Annesley Black im Gespräch mit Tuan Do Duc

FUNDSTÜCK

ZWISCHEN SANKT PETERSBURG UND BERLIN – BEOBACHTUNGEN EINER GESTRANDETEN NOMADISCHEN THEATERMACHERIN

S. 38

„O DICHT’, SOLANG’ DU DICHTEN KANNST!“ – DIE AUTOGRAMMBÜCHLEIN DER SUSI ALBERTI

Ada Mukhina

Kerstin Hensel im Gespräch mit Tuan Do Duc

S. 50

S. 18

S. 39

DIE RADIKALE GLEICHGÜLTIGKEIT DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ

„DER TAG GEHÖRT DEN LEBEWESEN, DIE NACHT ABER DEN DINGEN“

DIGITAL.ADK.DE – DAS AKADEMIE-­ ARCHIV PRÄSENTIERT SEIN DIGITALES SCHAUFENSTER

Kaj Duncan David

Gesine Bey und Elena Zieser im Gespräch mit Martina Krafczyk

S. 14

S. 21

DAS LICHT IN HÄNDEN – FERHAT BOUDA Hubertus v. Amelunxen

Werner Grünzweig

„EINE ILLUSTRATION IST KEINE BEBILDERUNG“

Werner Heegewaldt

S. 52  FREUNDESKREIS

„ES SIND DIE RÄNDER IN DER MITTE DER GESELLSCHAFT, UM DIE ES HIER GEHT“ Anne Schönharting und Jörg Brüggemann im Gespräch mit Rainer Esser


EDITORIAL Gruß an die nun schon Lesenden! Jetzt machen alle weiter, könnte man frei nach Rolf Dieter Brinkmann formulieren und ein „wieder“ nachsetzen. Tun wir aber nicht, das heißt, eben das werde ich hier nicht unternehmen. Was es bedeutet, die Akademie der Künste nach den Monaten des Shutdowns wieder zu betreten, wird sich für jeden und jede anders beantworten, mich hat es euphorisiert, diese realräumliche Erfahrung machen zu dürfen. Sind wir aber wirklich wieder „vor Ort“? Farhad Delaram, iranischer Stipendiat der JUNGEN ­A KADEMIE aus der Sektion Film- und Medienkunst, war die ganze Zeit über da und hat für uns aus dem diesjährigen Frühling einen Film produziert – was heißt einen Film: eine animistische Wiederbelebung des Düttmann­-Gebäudes am Hanseatenweg namens Expo Pandemic, für die wir uns bedanken müssen. Der Film ist auf der neuen digitalen Plattform junge-akademie.adk.de zu finden. Die JUNGE AKADEMIE bildet einen Schwerpunkt dieser Ausgabe, auch wenn sie unter erschwerten Bedingungen arbeitet. So befand sich ADA MUKHINA , unsere russische Stipendiatin der Sektion Darstellende Kunst, mehr zwischen denn in den Orten Sankt Petersburg und Berlin, um die Online-Ausgaben zweier Theaterfestivals – das langfristige „The Access Point“ und der komprimierte „Radar Ost“– zu beschreiben. Es geht um Improvisation, Risiko und die Übersetzung performativer Intimität ins Digitale im Vergleich von Ost und West. Für unser Mitglied MARK LAMMERT war in dieser Zeit „vor Ort“ das Atelier. Im Gespräch mit JOHANNES ODENTHAL lotet er die Bedeutung des Lockdowns für die künstlerische Produktivität aus. Daraus resultierte nicht nur die Frage nach dem Wesentlichen, sondern auch die Erkenntnis, den Irrtum in die Transparenz einschließen zu müssen, wie das viele Virologen in der Wissenschafts­ praxis vorgeführt haben. Klar ist, dass sich in dieser Zeit die Frage nach grundsätz­ lichen Ausrichtungen stellt. Die institutionelle Selbstbefragung ist dringlicher denn je – was macht also die JUNGE AKADEMIE aus? Ihre Leiterin, CLARA HERRMANN , skizziert diese vielschichtige Tätigkeit, die um Freiheitszugewinne ringt, Diversität herstellt, an der Sichtbarmachung des Marginalisierten arbeitet und schlicht und einfach die Mobilität für Kunstschaffende sichern möchte. Als Konkretisierung dieser Arbeit stellt uns HUBERTUS V. AMELUNXEN den algerischen Fotografen FERHAT BOUDA vor, der das Ellen-Auerbach-Stipendium erhielt. Niemand wird bezweifeln, dass der Transformationsprozess unserer Gesellschaft in Fragen der Digitalisierung einen enormen Schub erlebt hat, der auch eine Herausforderung für die Akademie darstellt. Unser ehemaliger Stipendiat, der Komponist KAJ ­D UNCAN DAVID , macht sich Gedanken zur künstlichen Intelligenz und ihrer Anthropomorphisierung, SAHEJ RAHAL spricht über das anti­ demokratische Potenzial des mythischen Gebrauchs der Hindu

Nation, angesichts dessen es hybride Gegenerzählungen zu kreieren gilt. Tauglich für solche Gegenerzählungen könnte auch das neue digitale Schaufenster des Archivs sein, von dem unserer Archivdirektor WERNER HEEGEWALDT berichtet. Aus dem Archiv gibt es wieder Fundstücke, Tonaufnahmen der Galilei-Proben aus dem Jahr 1955, die uns die Brecht’sche Theaterarbeit nahe bringen. STEPHAN SUSCHKE stellt sie vor. Und WERNER GRÜNZWEIG präsentiert die Autogrammbüchlein der SUSI ALBERTI , Tochter des prominenten Musikverlegers Alberti aus Ungarn. Neofaschismus heute – dieser Titel führt uns auf ganz an­deren Wegen in die Gegenwart, als man vermuten würde. Anhand einer Konferenz der Ostakademie von 1979 verweist der Text von HAIKO HÜBNER auf wichtige Hintergründe unserer gegenwärtigen Debatte über Rechtsextremismus und Antisemitismus. Auch ins Historische greift der Rückblick auf den Käthe-Kollwitz-Preis von ANKE HERVOL , die die Vergabepolitik als Regulativ am staatlich gelenkten Kunstbetrieb der DDR beschreibt. Der zweite Schwerpunkt gilt den KUNSTWELTEN , die sich, erstaunlich und notwendig in diesen Zeiten, dem Reisen zuwenden. Nicht nur im Projekt ON MY WAY – Geschichten aus Europa, für das sich KERSTIN HENSEL mit Schülerinnen und Schülern aus Bitter­ feld/Wolfen und Gröbzig auf eine Erkundungstour der Spuren der Künstler Daniel Chodowiecki und Emilio Vedova begab. „­Reisen im Kopf“ fanden auch in der Werkstatt Ein ganz langweiliges Zimmer nach Anna Seghers statt, die GESINE BEY und ELENA ­Z IESER mit Schulkindern aus Wolfen bespielten. Nicht zu vergessen die kleinen Ausflüge mit Kanus, die die Komponistin und Musikerin A ­ NNESLEY BLACK perkussiv mit Schulklassen unternommen hat. Dass jede Menge Dunkelheit eintritt, wissen wir nicht nur von Ungarn. Dass sie in der Fotografie einen ganz anderen Effekt hat als bloße Lichtlosigkeit, erfahren wir von PÉTER NÁDAS aus der Sektion Literatur in unserer Carte blanche, in der er sich in seinem zweiten Leben als Fotograf zeigt. Er untersucht die Gebrechen der digitalen Fotografie und treibt sein Spiel mit ihr. Die Gesellschaft der Freunde der Akademie hat unsere große Ausstellung „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ der Foto­ künst­­ler von OSTKREUZ unterstützt. Ein Gespräch zwischen ­ AINER ESSER , dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des R Freundeskreises, und den Geschäftsführern von OSTKREUZ , ANNE SCHÖNHARTING und JÖRG BRÜGGEMANN , gibt einen Ausblick auf die Ausstellung, die ein Thema kenntlich macht, das uns sehr beschäftigt: Was macht Europa aus, was eint es und was sind seine Problemfelder? Vor Ort, das ist Europa. Soviel wird klar nach unserer großen Akademie-Konferenz, an deren Ende ein MANIFEST entstand, das wir hier publizieren. Die Demokratie erhaltende Wirkung der großen künstlerischen Netzwerke und Institutionen gilt es heute anders zu nutzen, vor allem in ihrer Verbindung zur Zivilgesellschaft. In diesem Sinn hoffe ich, dass wir wohlbehalten durch die „dunkle Zeit“ kommen.  Ihre Kathrin Röggla


Jordis Antonia Schlösser, Jüdisches Gemeindezentrum in Łódź, 2018. Aus der Serie „Die unerwartbare Generation – Neues jüdisches Leben in Osteuropa“, 2016 – 2018

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Das Bild ist Teil der Ausstellung „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ von OSTKREUZ, zu sehen in der Akademie der Künste am Pariser Platz bis zum 10. Januar 2021 (s. S. 52).


ALLIANZ DER AKADEMIEN OFFENER KONTINENT

UNSERE FORDERUNGEN & MASSNAHMEN

•   Wir fordern den solidarischen Schulterschluss zwischen den

In­stitutionen für Kunst und Kultur in Europa. Nur über Grenzen hinweg können sich Kunst, Kultur und Wissenschaften im Sinne der Aufklärung entfalten. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, diesen Freiraum für die Zukunft zu behaupten und zu verteidigen.

•   Wir tauschen transnational und unmittelbar Informationen zu kulturpolitischen Entwicklungen in unseren Ländern aus und verbreiten die Meldungen auf unseren eigenen Kommunikationskanälen und in unseren eigenen Netzwerken.

BERLINER MANIFEST Wir erleben derzeit in einigen Ländern Europas eine Kulturpolitik, die Kunst und Kultur nur national begreift und zunehmend reglementiert. Dadurch gerät die Autonomie vieler Akademien, Museen und Kulturinstitutionen in Gefahr. Gegen diese Entwicklung möchten wir etwas tun: Bisher haben sich 60 Kunstakademien und Kulturinstitutionen aus Ländern der Europäischen Union, aus Großbritannien und Norwegen, auf Initiative der Akademie der Künste Berlin zu einer „Allianz der Akademien“ zusammengeschlossen. Gemeinsam stehen wir europaweit für das Recht auf die Freiheit der Kunst ein, das in Artikel 13 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist.

•   Wir unterstützen den Austausch von Kunst und Künstler*innen

innerhalb unserer Institutionen, insbesondere diejenigen, die durch sozio-politische Maßnahmen in der Ausübung ihrer künstlerischen Arbeit oder Meinungsfreiheit eingeschränkt sind.

•   Wir fordern, dass Kunst und Kultur zu einem integralen Bestandteil europäischer Politik werden.

•   Wir fordern Politiker*innen in ganz Europa dazu auf, gemäß Arti-

kel 13 der Charta der Grundrechte der EU das Recht auf die Freiheit der Kunst und die Autonomie der Institutionen zu schützen und zu verteidigen. Und – wo immer nötig – auf Rat unserer Allianz die Kunstakademien und die Künstler*innen zu unterstützen. Berlin, 9. Oktober 2020

WOFÜR STEHT DIE ALLIANZ?

•   Kunst und Kultur sind wesentlich für eine funktionierende Demo-

kratie und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wir stehen für die Freiheit der Künste als Voraussetzung unserer kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebensform. Die Unabhängigkeit künstlerischer Positionen und Institutionen von politischen, nationalen, religiösen Festschreibungen ist die Grundlage der Demokratie.

•   Hier in Berlin sind wir uns – als Folge der von Deutschland verursachten Katastrophen des 20. Jahrhunderts – besonders der Verantwortung bewusst, die EU nur als Teil eines transnationalen kulturellen (Friedens-)Projekts zu denken.

•   Wir stehen für die kulturelle Vielfalt in Europa und in unseren

Gesellschaften. Wir wollen an die blinden Flecken erinnern, die die europäischen Eroberungskriege in der Welt hinterlassen haben, an die kolonialen Machtstrukturen, die bis heute in vielen Ländern nachwirken.

•   Wir stehen mit den Künsten für einen Humanismus, der sich

gegen jede Form von Rassismus, Diskriminierung und Gewalt stellt. Wir verteidigen die Menschenrechte auch für diejenigen, die nicht in Europa geboren wurden, aber hier eine Chance für das Überleben und ein friedliches Zusammenleben suchen.

JOURNAL DER KÜNSTE 14

Jeanine Meerapfel, Präsidentin der Akademie der Künste und Initiatorin der Allianz

Eine Konferenz europäischer Kulturinstitutionen Die Idee, ein europäisches Bündnis von Kunstakademien zu initiieren, das für die Freiheit der Kunst einsteht, verfolgt Jeanine Meerapfel seit ihrem Amtsantritt als Akademie-Präsidentin. Nun kamen vom 8. bis 10. Oktober rund 70 Vertreter*innen von Kunstakademien und Kulturinstitutionen aus ganz Europa ihrem Aufruf nach und schlossen sich zu einer „Europäischen Allianz der Akademien“ zusammen. Voran­­­ge­hende Ereignisse, wie die Einschränkung der Autonomie der Budapester Theater- und Filmhochschule, führten allen Beteiligten den dringenden Handlungsbedarf vor Augen. Nach Vorträgen von Robert Menasse, A. L. Kennedy, Bénédicte Savoy, Philipp Ther, Basil Kerski und anderen verabschiedete die Allianz das Manifest OPEN CONTINENT, das als Grundlage für die zukünftige Zusammen­ arbeit dient. www.allianceofacademies.eu

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„DIE ‚UNNÜTZEN‘ MÜSSEN SICH SAMMELN“

VOM INNEHALTEN UND WEITERMACHEN IN CORONA-ZEITEN

MARK LAMMERT IM GESPRÄCH MIT JOHANNES ODENTHAL

JOHANNES ODENTHAL   Mark,

du hast eine Professur für Malerei und Zeichnung an der Universität der Künste in Berlin. Wir kennen dich als Künstler, der sehr stark die handwerkliche Basis, die haptische Auseinandersetzung, wie du sagst, sucht. Was bedeutet Unterricht vor Kunststudent*innen in Corona-Zeiten? MARK LAMMERT   Die Situation, wenn ich sie konkret beschreibe, ist ein Warteraum. Das heißt: Im besten Falle kann man Dinge überdenken. Also, man kann Vorgänge besprechen und Dinge in Frage stellen. Es ist natürlich etwas, und das ist schon auch ein bemerkenswerter Zustand, den es lange nicht gegeben hat, also im wörtlichen Sinne ein „Innehalten“. Es ist ein Innehalten, und das wird komischerweise ganz gut begriffen. Also, was heißt komischerweise? Das wird begriffen, und das, finde ich, stimmt eigentlich optimistisch. JO

Könnte man sagen, dass dieses Innehalten für den künstlerischen Bereich eine Chance ist, für die produzierenden Gewerbe, für das gesellschaftliche Gefüge aber eine Katastrophe? ML Das ist natürlich ganz klar ohne die Berücksichtigung der sozialen Situation. Und hier hat die Politik offensichtlich einen Schaltfehler, indem sie quasi den ganzen Vorgang jetzt nicht zum Null-Semester erklärt, sondern, wenn man es zu Ende denkt, den Studierenden das Angebot macht, einen Hartz-IV-Kredit aufzu­ nehmen, den sie wie das BAföG abzutragen haben. Aber trotzdem bleibe ich dabei, dass unabhängig von der schwierigen ökonomischen Lage die Situation eigentlich etwas sehr Produktives hat. Das ist mein Eindruck. JO

Ich habe deswegen nachgefragt, weil dieses Innehalten ja unmöglich erschien. Das System der Verausgabung aufzuhalten, schien in allen Szenarien als nicht realistisch. Das ist jetzt doch auch eine unglaubliche Chance der Reaktion auf alles, was den Krieg gegen die Natur betrifft, die Zerstörungen des Planeten. Wo siehst du eine Chance für den Wandel, dass wir als Gesellschaft auch mit etwas anderem aus dieser Situation herauskommen als der Dynamik von Wachstum und Verausgabung? ML Wenn man das, was du sagst, bildlich oder wörtlich nimmt, dann könnte ja die Natur auch verwundert sein, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist innezuhalten. Zu dem Innehalten gehört auch eine Verlangsamung, und vielleicht kommt aus dieser Verwunderung der Natur im übertragenen Sinne auch was bei heraus.

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Weil ich glaube, dass es eine dialogische Frage ist. Es hat sich eine vollkommen andere Ortsgebundenheit ergeben, die die Reisesehnsucht verändert wie die Orte auch. Ich finde, dass man die Natur als Partner erkennt, unter Umständen die Natur uns auch. Und daraus kann sich etwas Drittes ergeben, was es so vorher nicht gab. Da scheint mir ein Quantensprung möglich zu sein. JO Es ist ja interessant, dass es auch eine Beschleunigung und Verstärkung von bestimmten Prozessen gegeben hat. Das betrifft zum Beispiel die Verschwörungstheorien, die von gesellschaftskritischen Lagern in alle Richtungen entwickelt werden. Ein gesellschaftlicher Konsens wird immer mehr aufgesprengt in zum Teil wirre Konstellationen. Wo positionierst du dich? ML Das wäre wahrscheinlich die letzte Frage, die ich stellen würde: wo man sich positioniert. Die erste Frage, die man stellen muss, ist doch, ob das Bild der geteilten Gesellschaft in dem einen Satz wirklich in Gänze so zutrifft oder ob es sich nicht doch aufsplittet in ein völlig unüberschaubares Verhältnis zur Geschichte, ein völlig unüberschaubares Verhältnis zur Gegenwart und ein völlig unüberschaubares Verhältnis zur Zukunft. Wenn man das alles in einen Topf haut, Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, dann kommt dieses Bild heraus. Aber im Grunde genommen muss man das sehr fein auffächern, wie ist die Herleitung, wie ist die Reaktion auf die Gegenwart und wie ist die Aktion gegenüber der Zukunft. Zuallererst muss man das Verhältnis zur Geschichte klären. Überdeutlich wurde das ja in diesem Frühjahr, als sich die 75 Jahre von der ­Befreiung Auschwitz’ bis zur Befreiung Deutschlands jährten und der Lockdown plötzlich völlig andere Reaktionen erforderte, als sie es üblicherweise gewesen wären. Und ich finde, dass es gut war, dass die Unmöglichkeit, das abzuhaken, deutlich wurde, dass es mit dem Blumen-Ablegen nicht erledigt ist. JO

Also Geschichte nicht in symbolischen Akten ritualisieren und, wie du sagst, abhaken, sondern als einen kontinuier­ lichen gesellschaftlichen und individuellen Transformationsprozess begreifen. ML Und eine Latenz. Die muss man aushalten. Und das Aushalten ist ja, glaube ich, das zentrale Thema, das wir in den letzten Monaten erlebt haben. Also, wie hält man das aus, wenn man den Punkt auf dem Zettel nicht durchstreichen kann? Um es verschärft zu sagen: den leeren Kalender.



JO

Du hast in den letzten Monaten kontinuierlich den Podcast von Christian Drosten gehört. Es war wenig zu hören aus der Kunstszene. Es ist die Stunde der Virologen. Müssen wir den Dialog mit der Naturwissenschaft stärken? Oder siehst du sogar einen Diskurswechsel? ML Mit Corona haben wir eine Naturgewalt, die gesamteuropä­ische und globale Gleichzeitigkeit hergestellt hat. Es handelt sich letztendlich um eine gemeinsame, eine soziale Erfahrung. Das finde ich sehr spannend. Da muss man mit der Funktion des Künstlers oder Naturwissenschaftlers sehr vorsichtig sein. In jedem Fall sind wir keine Virologen. Andererseits wurde die Gesellschaft in „nützlich“ und „nicht notwendig“ eingeteilt. Zugleich wurde ein Maßstab durch die britische Königin und die Bundeskanz­lerin an­gelegt, die beide von der schwierigsten Problematik seit dem zweiten Weltkrieg sprachen. Ich kann nicht beurteilen, ob das stimmt. Aber was mir extrem gut gefallen hat im Auftreten der Naturwissenschaftler, ist ganz methodisch gesehen die Fähigkeit, am Tag danach zu sagen, ich weiß heute etwas anders, ich weiß heute etwas anderes, als ich gestern wusste. Der Irrtum ist in dieser Transparenz grundsätzlich eingeschlossen. Ich weiß genauso wenig wie du, ich kann es nur anders als Navigator lesen. Ohne dass ich die Methode verstehen oder erlernen muss, bin ich auf Augenhöhe bereit, mit dem Irrtum umzugehen. Das hat der Gesellschaft viele Jahre gefehlt, dass der Irrtum erlaubt war. Und jetzt ist er zwingend, weil er auf Forschungsergebnissen basiert. Da steckt Potenzial drin, weil es eigentlich das ist, was die Künste eint, auch in ihren Krisensituationen. JO

Da wurde die naturwissenschaftliche Kompetenz von Angela Merkel zu einer unglaublichen Stärke, die gegenüber den autoritären politischen Positionen sehr beeindruckte. ML Das kann man eigentlich nur für Deutschland und Neuseeland in Anspruch nehmen. Ich sehe da aber auch eine sehr starke weibliche Komponente, die man nicht unterschätzen sollte. JO

Ich möchte auf den Aspekt der Angst zu sprechen kommen. In dem Umgang mit dem Ausnahmezustand der Pandemie spielt die Angst eine entscheidende Rolle. Da war die Position von Frank Castorf sehr provozierend, dass sich das Theater eigentlich immer mit dem Tod beschäftigt hat und dass d ­ ieses Moment des Agon, vor allen Dingen, wenn man das antike Theater betrachtet, auch Heiner Müller bis hin zum Theater von Artaud oder Kantor – dass das Theater diese Funktion der Angstbewältigung nicht wahrnehmen konnte. Das hat mich sehr belastet, dass diese Stimme auf einmal nicht mehr möglich war, und dass so jemand wie Castorf dann auch als leichtsinniger Rebell abgeschrieben wurde, wobei er im Kern ja etwas Existenzielles formuliert hat.1 ML Vor 12 oder 15 Jahren hat die Frankfurter Allgemeine mal eine Doppelseite gemacht mit allen bekannten Phobien, das waren 400. Wenn man jetzt in Wikipedia nachsieht, dann sind es 800 geworden. Das heißt, es haben sich unwahrscheinlich viele Ängste zu den schon vorhandenen Ängsten gesellt. Das heißt auch: Die Ängste

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sind differenzierter geworden. Das eindrücklichste Bild dafür ist ein Blick in den Zuschauerraum des Berliner Ensembles. Was sich dort verändert hat, ist die Sitzordnung des Publikums. Da hat sich auf der Bühne nichts geändert. Was sich verändert hat, ist das Verhältnis des Publikums, also nicht mehr die Brechtformel „PenisVulva, Penis-Vulva, Penis-Vulva“, sondern da gab’s jetzt plötzlich eine Ein-Personeninsel und eine Zwei-Personeninsel, und in den Raum verteilt kriegte das eine Art antiornamentale Verteilungsgröße. Daraus könnte sich etwas ergeben, das muss man sehen. Aber das fand ich als Bild schon eindrücklich für das, was man gemeinhin Stadttheater nennt in Deutschland. JO

Du führst ja auch mit Intellektuellen wie Jean-Luc Nancy oder Alexander García Düttmann einen Dialog, der dir sehr wichtig ist. Müssen sich die Künste intellektuell noch stärker verbünden oder die künstlerischen Diskurse stärken? ML Die „Unnützen“ müssen sich sammeln, anders geht das nicht. Ich glaube, dass die Zeit von Jaulen und Jammern im Augenblick vorbei ist. Ich musste mich an den Punkt gewöhnen, dass die Möglichkeit, zur Arbeit zu gehen, eigentlich nur für die Notwendigen und Nützlichen gedacht war. Ich bin aber doch ins Atelier gegangen. Ich bin mal sehr gespannt, ob diese geschenkte Konzentra­tion von mindestens einem Monat ohne Termine wirklich produktiv war. Wir können doch zumindest sagen, dass in dieser Über­deutlichkeit wie lange nicht mehr klar geworden ist, dass es auf elementare Dinge im Denken ankommt, Dinge, die aus einer anti-hedonistischen Tradition kommen. Man muss das ja auch unter dem Aspekt betrachten, dass es schon interessant ist zu merken, wer den Humor verloren hat und wer nicht. Und damit meine ich nicht, dass man etwas lächerlich macht. Aber es hat auch einen unerträglichen Moment insofern, als dieser Vergleich mit dem ­Zweiten Weltkrieg, der vielleicht ökonomisch stimmt, im Alltag wirklich nicht trägt und auch nicht hilfreich ist. Und ich denke, es wird angebracht sein – und das dürfte für so eine Akademie ein gefundenes Fressen sein –, mit Selbstbewusstsein zu sagen, dass wir jetzt mal über Wesentliches reden müssen. Das versuchen wir zwar immer, aber nur der triviale Sparalltag darf es nicht werden. Man muss allerdings auch darüber nachdenken, in welcher Situation die Künste sich im Augenblick befinden. Warum zum Beispiel eine große New Yorker Galerie überhaupt keine Geschäftsverluste hat und andere gar nicht mehr existieren? Also, warum plötzlich die Museen geöffnet werden und der Vorgang des Öffnens eines Museums letztendlich wichtiger ist als die Quote der Besucher? Diese Quoteneffizienz gar nicht mehr zu erfüllen, ist vielleicht etwas Fortschrittliches. Dass man wieder fragt, wer kommt, und nicht, wie viele. JO

Ich finde den Begriff der Slow Art interessant. Also eine Art von Minimalismus, von Meditation, von direkter Konfrontation, ästhetischer Auseinandersetzung, alles das, was in dieser kommerzialisierten Kunstwelt immer weniger passiert, wo es nur noch um das Sektglas geht und das Gesehenwerden.


Atelieransicht nach dem Lockdown

ML

Aber manche Wortverbindungen gehören auch wirklich gekillt, wie zum Beispiel der, hier erst in dem Moment auftauchende, „Soloselbständige“, vielleicht eine Zusammenfassung des Künstlerischen und der artverwandten Betätigung. Wir sind überdeutlich darauf aufmerksam gemacht worden, dass die Nichtfassbarkeit der sozialen Verhältnisse von Künstlern und ihre Nicht-Integrierbarkeit in die Gesellschaft eine Tatsache sind. Das ließen die statistischen Zahlen der Künstlersozialkasse erahnen. JO Ich möchte auf ein Projekt eingehen, das wir so vor vielleicht einem Jahr, anderthalb Jahren, angedacht haben. Es ging um Godard und Müller. ML Ich finde es ziemlich spannend, dass Godard, der fast anderthalb Jahre öffentlich nicht gesprochen hat, sich mit dem Beginn der Quarantäne eine Dreiviertelstunde lang geäußert hat und das in erster Linie zu den Folgen der Filme und Filmgeschichte, eben genau zu dieser Wesentlichkeit. Ich glaube schon, dass jemand, der fast 90 ist oder dieses Jahr 90 wird, diesen Moment des SichÄußerns genau ausgewählt hat, hochgradig überlegt, würde ich denken. Weil nämlich die Chance, die diese Isolation geboten hat, zu vertun, wirklich ein Jammer gewesen wäre. Insofern würde ich sagen, dass der Selbstversuch der Akademie, den wir mit dem Pro-

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jekt Wo kommen wir hin unternommen haben, dass diese Selbstverständigung aktuell ein völlig anderer Vorgang wäre, als er es noch vor anderthalb Jahren oder vor einem Jahr war. Es gab ja diese Unterabteilung „Der Elefant im Raum“. Und damals ist man noch davon ausgegangen, dass das ein Misch­ wesen zwischen Kunst und Politik ist. Jetzt weiß man tatsächlich, dass es wieder ein Naturwesen ist, also etwas, was man nicht sieht. Man sieht das Virus ja nicht, das ist ein unsichtbarer Gegner, aber ein Genom. Und das ist nochmal eine Archaisierung der ganzen Problematik zum Beispiel, dass man das Sichtbare zwar beschwören kann, aber das Unsichtbare eine Realität ist. 1 Wolfgang Höbel, „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss“. Theaterregisseur Castorf über Corona-Politik, Spiegel Online, 28.4.2020

MARK LAMMERT, bildender Künstler und Bühnen­bildner, ist Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Darstellende Kunst. JOHANNES ODENTHAL ist Programmbeauftragter der Akademie der Künste.

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Still aus der Video-Skulptur TERRITORY (2016) von Yvon Chabrowski

DIE JUNGE AKADEMIE


It matters what matters we use to think other matters with; it matters what stories we tell to tell other stories with; it matters what knots knot knots, what thoughts think thoughts, what descriptions describe descriptions, what ties tie ties. It matters what stories make worlds, what worlds make stories. Donna J. Haraway, Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene

Clara Herrmann

Residenzprogramme haben maßgeblichen Einfluss auf die Karriere von Künstler*innen. Sie bieten finanzielle Unterstützung, Raum und Zeit für Projekte und Ideen, die fern von Alltags- und ökonomischem Druck verfolgt werden können; sie eröffnen neue Netzwerke aus Förderern, Expert*innen und Künstler*innen, die Teilnahme an thematischen Diskursen und neue kulturelle Impulse. Sie sind Orte der Wissensproduktion, der Co-Kreation, des Experi­ ments und fördern die Mobilität von Künstler*innen weltweit. Für die künstlerischen Prozesse, für Forschung wie Produktion ist der damit einhergehende Perspektivwechsel grundlegend. Residenzprogramme ermöglichen vor allem auch denjenigen Künstler*innen die Teilhabe am Kunstbetrieb des globalen Nordens, denen das nicht ohne Weiteres möglich ist. Insofern tragen einladende Institutionen bei der Entscheidung, wer Zugang zu Ressourcen und Netzwerken erhält, eine große Verantwortung. Die Nachfrage nach Residenzen steigt jährlich, sie sind über die Zeit zu einem zentralen Standbein der Kulturförderung und -politik avanciert.1 Die JUNGE AKADEMIE nimmt hier eine besondere Position ein: Als Programm mit Stipendien im In- und Ausland verfügt sie neben den Ateliers am Hanseatenweg durch die Anbindung an eine interdisziplinäre Künstler*innensozietät, durch den Zugang zu vielfältigen Archiven, künstlerischen Programmen und einer umfangreichen Vermittlungsarbeit über außergewöhnliche Ressourcen. Umgekehrt bergen Praxis, Themen und internationale wie lokale Netzwerke der Stipendiat*innen ein immenses Potenzial für die Weiterentwicklung einer Institution, gerade auch im Spiegel des gesellschaftlichen und globalen Wandels. Eine Vielfalt an jungen und zeitgenössischen Positionen, künstlerischen wie politischen Diskursen aktualisiert und kontextualisiert Inhalte und Wissen über neue Narrative und Ästhetiken und öffnet sie damit auch für jüngere Generationen und diverse Stimmen – auch außerhalb eines vorherrschenden Bildungskanons und entsprechender Bildregime. Diesen Austausch in der Gemeinschaft von Mitgliedern und

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Stipendiat*innen zu fördern und nach außen sichtbar zu machen, ist eine der entscheidenden Aufgaben der JUNGEN AKADEMIE , der Programm- und Vernetzungsarbeit: Ziel ist die Gestaltung gemeinsamer Räume der Begegnung, des Denkens, Entwerfens und Handelns. Denn diese Erfahrung am Ort der Residenz, an dem sich künstlerische und soziale Praktiken verflechten, ist ein entscheidender Faktor für die Nachhaltigkeit der Netzwerke und das Erproben neuer Formen des Zusammenlebens. Residenzen verändern ihre Rolle und Struktur im Verhältnis zu den jeweiligen gesellschaftlichen, kulturellen sowie ökonomischen Transformationen, aber auch durch die Praxis der Künstler*innen selbst, die heute vermehrt kollaborativ und interdisziplinär arbeiten. Das schließt auch den Austausch mit Wissenschaft und Wirtschaft, die transdisziplinäre Arbeit an thematischen Komplexen und neue digitale Technologien und Diskurse ein, allen voran die künstliche Intelligenz. Die rasanten Entwicklungen digitaler Technologie und des Internets transformieren die Gesellschaft in allen Lebensbereichen, in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik und bedürfen der „anderen“ Reflexionsebene der Kunst, die sich nicht dem Zwang zu technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Er­folg beugt. Die JUNGE AKADEMIE hat daher ein neues Stipendium zum Thema Mensch-Maschine ins Leben gerufen, um internationale Künstler*innen in diesem Feld zu fördern. Anliegen des dreijährigen Programms ist es, kreative und alternative, auch kritische Ansätze zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen aus der Kunst heraus zu entwickeln. Ein Fokus liegt dabei auf nichteuropäischen Perspektiven, die neue Denkmuster, Erzählungen und Weltzugänge ermöglichen.2 Die JUNGE AKADEMIE lässt sich bewusst von Impulsen der Künstler*innen prägen und sieht sich als flexibler Ermöglichungsraum herausragender individueller Positionen genauso wie kol­ lektiver Projekte, die jede Form annehmen und in Werkpräsen­ tationen genauso wie Open Studios, Publikationen wie Online- und hybriden Formaten sichtbar werden können. Im Idealfall entwickelt sich ein Projekt oder ein Thema durch und über mehrere Formate hinweg und findet sich in verschiedenen Komponenten wieder. Künstlerische Prozesse erhalten dabei denselben Stellenwert wie Produktionen, die wiederum unterschiedlich lange Zeiträume für die Recherche und Realisierung benötigen, wonach sich auch die Programmarbeit richten wird. Denn oft ist die Zeit nach dem Stipendium entscheidend für die Weiterentwicklung von Ideen und Kooperationen, sodass ein besonderes Augenmerk der nachhaltigen Arbeit mit Alumni gilt. Die JUNGE AKADEMIE agiert auf der Basis von Vertrauen und stellt bei ihrer Praxis das Prinzip der Gastfreundschaft in den Fokus.3 Sie steht inhaltlich wie strukturell für Diversität und transkulturelles Verständnis. Es ist ihre Aufgabe, diskriminierungsfreie Räume für einen unhierarchischen Austausch und gegen kulturelle Abwertung, rassistische und nationalistische Diskurse zu schaffen. Die diffusen Ängste, Parolen und Mechanismen gegen das „Andere“ oder Andersdenkende, gegen Heterogenität, Flüchtende und Migrant*innen, queere Kunst und Kultur oder Frauen* sowie die Fixierung auf eine vermeintlich homogene nationale Identität,

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auf Narrative und Erinnerungskultur zur Bewahrung einer mono­ ethnischen Nation sind international vergleichbar. Als Knoten­punkt diverser künstlerischer Denkmuster und Strategien schaffen Residenzprogramme neben der Reflexion über ästhetische Prozesse und Konzepte hier neue Möglichkeiten, sich zu verbinden und voneinander zu lernen.4 Vor allem auch in einer Stadt wie Berlin, die in den letzten Jahren wieder Ort des Exils für viele internationale Künstler*innen geworden ist. Wie andere Residenzen tritt die JUNGE AKADEMIE für die Bewegungsfreiheit, für die Selbstbestimmung des Aufenthalts­ ortes von Künstler*innen ein. Als eines der grundlegendsten Menschenrechte ist diese in vielen Nationen beeinträchtigt. Für Resi­denzen ist der garantierte Schutz dieses und anderer Rechte Fundament ihrer Arbeit.5 Vor diesem Hintergrund wird ihre Bedeutung für Künstler*innen derzeit immer wichtiger. Die JUNGE ­A KADEMIE bietet hier zusätzlich Residenzen für Künstler*innen an, die sich in ihrem Heimatland für die Freiheit der Kunst, Demokratie und Menschenrechte engagieren.6 „Freiheit der Kunst“ heißt jedoch auch, eine bestimmte Position oder bestimmte Themen in der künstlerischen Arbeit nicht vertreten zu müssen. Die Auseinandersetzung mit Akten der Zu­­­ schrei­bung, institutioneller Aneignung und Fragen der Differenz, die in der Betonung immer auch Ausgrenzung bedeutet, ist Teil der Diskussion um Diversität.7 Die JUNGE AKADEMIE öffnet über verschiedene künstlerischdiskursive Formate eine Plattform für eine Vielzahl von künstlerischen Stimmen, Geschichten und Geschichtsbildern, Selbstverständnissen und Zukunftsentwürfen, die den komplexen lokalen wie globalen Realitäten Rechnung tragen und auch das westliche Verständnis von Kunst und Künstler*innen befragen. In Kunst und Theorie setzen sich die Stipendiat*innen in ihrem jeweiligen Kon­­­­text aktuell beispielsweise mit feministischen, intersektionalen und dekolonialen Strategien auseinander, Politiken der Repräsentation, Wissen und Kunst indigener Kulturen, Diskursen um Nachhaltigkeit sowie digitalen Themen und Technologien, um nur einige Felder zu benennen. Wie die Verknüpfung mit Themen und Programmen der Akademie gelingen kann, zeigte beispielsweise das digitale Laboratory of Contested Space zum Thema Art & Truthtelling,8 das, kuratiert von der JUNGEN AKADEMIE mit der Stipen­diatin Lynn Takeo Musiol, im Rahmen der Ausstellung „John Heartfield – Fotografie plus Dynamit“ mit Online-Videobeiträgen stattfand und sich mit Geschichtsschreibung, Digitalität und Post-Truth auseinandersetzte. Im Jahr 2021 wird die JUNGE AKADEMIE am Schwerpunktthema „Arbeit am Gedächtnis“ der Akademie der Künste teilnehmen: mit künstlerischen Einzelpositionen wie auch diskursiven und Online-Formaten der Stipendiat*innen und in Zusammenarbeit mit Mitgliedern und externen Partner*innen. Durch die Corona-Pandemie ist der internationale Austausch gefährdet, und selbst in Europa kam und kommt es weiterhin zu Grenzschließungen. Der digitale Raum erhält damit neue Bedeutung für die Konnektivität und Diversität von künstlerischen Gemeinschaften im Sinne einer virtuellen Mobilität. Die JUNGE

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AKADEMIE hat bereits im letzten Jahr die Arbeit an einer digitalen

Plattform9 aufgenommen: Sie versteht sich als transdiszipli­­näres und transkulturelles Online-Magazin, Ausstellungs- und Experimen­ tierraum sowie digitales Open Studio für individuelle und kollektive künstlerische wie aktivistische Stimmen und Projekte. Sie soll die Vernetzung von Künstler*innen untereinander, von Stipen­ diat*innen und Akademie-Mitgliedern fördern, digitale Projekte und den Wissensaustausch im internationalen Netzwerk ermöglichen und sichtbar machen – über Gespräche, künstlerische Arbeiten, (Video-)Essays, Stories, Making-ofs, Online-Laboratorien, fiktionale Texte und anderes mehr. Durch das Digitale verschwindet das Analoge aber nicht einfach, es wird im Gegenteil neu be- und sogar aufgewertet. Während kulturelle Formen, Gewissheiten, Konventionen und Routinen erodieren, bilden sich neue heraus, an deren Gestaltung Residenzen aktiv mitwirken müssen.10 Im Zentrum steht immer die Begegnung mit Menschen. 1 Vgl. Andrea Glauser, Verordnete Entgrenzung. Kulturpolitik, Artist-in-Residence-Programme und die Praxis der Kunst. Bielefeld 2009, S. 14 2 Weitere Informationen zum Stipendienprogramm, das von der Innogy-Stiftung für Energie und Gesellschaft gefördert wird, unter: https://www.adk.de/de/akademie/ junge-akademie/mensch-maschine-stipendium/ 3 Vgl. dazu auch das Selbstverständnis des Arbeitskreises deutscher internationaler Künstlerresidenzen, zu dem die JUNGE AKADEMIE gehört: http://www.kuenstler residenzen.de/ 4 Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach in einer Rede bei der Konferenz des GoetheInstituts „Dialog und die Erfahrung des Anderen“ von Künstlerresidenzen als notwendigen „Knotenpunkten“ für eine „cultural intelligence“, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen. Abrufbar unter: https://auswaertiges-amt.de/de/newsroom/150223 -bm-konf-gi/269548 5 Vgl. dazu Advocacy Topics Res Artis, weltweites Netzwerk von Künstlerresidenzen: https://resartis.org/res-artis -advocacy/ 6 Diese Residenzen werden von der Martin Roth-Initiative unterstützt: https://www.martin-roth-initiative.de/de 7 Vgl. hierzu u. a. das Interview mit Hans-Ulrich Obrist, Die Gefahr der Monotonisierung, in: KUNSTFORUM international 269 (2020), Themenband „Entzauberte Globalisierung“, S. 88–101 8 Laboratory of Contested Space, Online-Veranstaltung im Rahmen des Heartfield-Programms 2020: https:// www.adk.de/de/programm/?we_objectID=61098 9 Plattform der JUNGEN AKADEMIE: www.junge-akademie .adk.de 10 Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität. Berlin 2016

CLARA HERRMANN leitet die JUNGE AKADEMIE der Akademie der Künste.


Sasha Kurmaz, Untitled, 2011


Ende Februar kam ich mit dem Flugzeug aus Berlin nach Moskau zur Auf­ führung unseres feministischen Konferenz-Theaterstückes Locker Room Talk beim russischen Theaterfestival „Goldene Maske“. Im März wollte ich mich mit meiner Mutter treffen, mir etwas Erholung gönnen, und danach sollte die nächste Aufführung des Stücks in Moskau am Meyerhold Theaterzentrum folgen. Im April wollte ich wieder in Deutschland sein, um an einer Konferenz der Akademie der Künste teilzunehmen. Leider hat die Corona-Pandemie meine

ZWISCHEN SANKT PETERSBURG UND BERLIN BEOBACHTUNGEN EINER GESTRANDETEN NOMADISCHEN THEATERMACHERIN Ada Mukhina

Screenshot des virtuellen Deutschen Theaters Berlin, Vorplatz

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Pläne durchkreuzt: Am 13. März schlossen alle Theater in Berlin, am 17. und am 18. März in Moskau respektive Sankt Petersburg. Dann machte die Euro­ päische Union ihre Grenzen dicht und ich strandete in einer viermonatigen Selbstisolation in Sankt Petersburg. In dieser Zeit wurde ich Teilnehmerin und Zuschauerin zweier Theaterfestivals in Russland und Deutschland, „The Access Point“ 1 und „Radar Ost“,2 die kurzentschlossen ins Online-­Format wechselten. Von diesen beiden Festivals soll hier die Rede sein.

SANKT PETERSBURG  Nur wenige Tage nach der Schließung der Theater in Sankt Petersburg und der Grenzen der Europäischen Union wurde das Internet mit Livestreams und Videos von Theaterproduktionen überflutet. Eine allgemeine Panik der Theatermacher*innen griff um sich: „Man wird uns vergessen! Wir müssen uns dringend an die neue Realität anpassen, aber wir wissen nicht wie.“ Das unabhängige Festival für site-specific und immersives Theater3 „The Access Point“, das gewöhnlich im Sommer unter der Leitung von Vilipp Vulakh stattfindet, hat sich schnell umorientiert und rief zur Teilnahme an seinem „Spontanen Programm“ auf. Seit dem 22. März war jeder, unabhängig von Beruf und Abschluss, eingeladen, das Konzept eines Online-Projekts zum Thema Kommunikation einzureichen. „Wir wollten diese Herausforderung annehmen“, sagt der Kurator des Programms Alexej Platunow. „Die Menschen gerieten aus Angst, den Kontakt zu verlieren, in Panik. Ein Mensch braucht andere Menschen. Unsere Idee war es, diese Kommunikation irgendwie zu ermöglichen. Das stand an erster Stelle, erst danach fragten wir uns: Wo ist die Kunst dabei? Was wissen wir über das heutige Internet? Ist das Internet an sich nicht site-specific? Was ist das eigentlich, ‚ortspezifisch‘, wenn der ‚Ort‘, d. h. ein Treffpunkt, in diesem Fall virtuell ist? Darüber hinaus stellte sich ein Gefühl des Umbruchs ein, das Möglichkeiten eröffnet, weil niemand so richtig weiß, was zu tun ist. Und man selbst weiß es auch nicht. Aber gerade des­ wegen kann man tun, was man will.“ Nach Meinung von Alexej Platunow konnte das Festival sich deswegen so schnell transformieren, weil „The Access Point“ keine Institution, sondern eine Vereinigung von Gleichgesinnten ist. Wer über geringere Budgets verfügt, muss auch weniger Verantwortung tragen. Das bedeutet größtmögliche Freiheit. Das spontane Programm des Festivals hat sich zu einer Plattform für zahlreiche Online-Experimente von Künstler*innen aller Couleur und Richtungen entwickelt. Das Festival stellt keine Budgets für die Produktion von Stücken zur Verfügung, sondern unterstützt in Organisa­ tion und PR. Auch lädt es regelmäßig Theaterkritik­er*innen ein, um die entstandenen Performances, Interventionen, Streams, Konzerte und das, wofür es noch keinen Namen gibt, zu diskutieren. Nach Abschluss des Programms lobte das Festival einen kleinen Geldpreis für die besten Projekte aus. Ich verfolgte die Entwicklung des „Access Point“ wie alle anderen Teilnehmer*­innen und Zuschauer*innen online, während ich die Wohnung renovierte, in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Im April nahmen 44 Teams mit ihren Online-Projekten am spontanen Programm teil, während das Festivalteam das Haupt- und Bildungsprogramm vorbereitete.


„CLOUDME bedankt sich bei euch für die Reise und erinnert daran, dass alle Handlungen Spuren hinterlassen. Dies ist die einzigartige Choreografie e­ ines Cursors, die ihr in der letzten halben Stunde kreiert habt.“

BERLIN  Am 13. März, als die Schließung der Berliner Theater angekündigt wurde, hatte Birgit Lengers, Kuratorin von „Radar Ost – Deutsches Theater Berlin“, noch die „irrationale Hoffnung“, dass das Festival irgendwie am Ende der Spielzeit würde stattfinden können. Also flog sie nach Kiew, um die letzte Produktion für das von ihr kuratierte Programm zu sichten. Ein thematischer Schwerpunkt des diesjährigen Festivals sind weibliche Perspektiven und Positionen im osteuropäischen Theater: Autorinnen, Regisseurinnen und Aufführungen, in denen die weibliche Sicht im Zentrum der Erzählung steht. Tamara Trunowas Inszenierung Bad Roads nach Natalia Woroschbits Stück über den Krieg in der Ukraine aus der Sicht der Frauen ist ein gutes Beispiel für diese selten auf die Bühne geholte Perspektive. Doch noch während Birgit in der Ukraine war, wurde ihr klar, dass die Aussichten gering sind, diese Produktion nach Deutschland einladen zu können. Einen Tag später wurden die Grenzen geschlossen und sie erwischte einen der letzten Flüge zurück nach Berlin. Im April hatten Birgit und ich Kontakt per Facebook, um unsere Pläne abzustimmen: Wir wollten ein gemeinsames Projekt oder eine Diskussion im Rahmen des Festivals entwickeln. Damals erwähnte Birgit zum ersten Mal, dass diskutiert wurde, „Radar Ost“ und die „Autoren­[theater]­tage“ zeitlich zu trennen; letztere wurden dann auf den Herbst verschoben. „Radar Ost“ jedoch sollte, wie geplant, im Juni als eine selbstständige Veranstaltung stattfinden, allerdings online. „Radar Ost ist für das Deutsche Theater nicht nur ein Festival, sondern auch die vielen Kontakte und Beziehungen, die wir inzwischen mit Künstler*innen aus Osteuropa und Russland haben“, meint Birgit. „Gerade wenn Grenzen geschlossen werden, ist es umso wichtiger, den kulturellen Austausch fortzusetzen. Wir haben mit befreundeten Künstlern und unseren Partner-Theatern gesprochen und alle waren sich einig: ‚Lasst uns unbedingt was machen.‘ Ich finde, dass man nicht nichts machen kann. So privilegiert wie wir in Deutschland sind, wenn wir ein voll finanziertes Festival haben, können wir nicht sagen: Wir können nicht arbeiten, weil die Bedingungen nicht optimal sind, denn wir müssten so vieles anders machen als sonst.“

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SANKT PETERSBURG  Anfang Mai gab die Expertenjury von „The Access Point“ die Gewinner*innen des „Spontanen Programms“ bekannt. Alexej Platunow zufolge fiel die Beurteilung der neuen digitalen Kunstwerke nicht leicht. „Zuerst dachten wir, dass die Expert*innen wie üblich eine Entscheidung treffen werden, wer der Beste ist. Nach Sichtung der über 40 völlig unterschiedlichen Arbeiten wurde uns aber klar, dass die Frage der Qualität sich hier ganz anders stellt. Unsere Expertenjury aus Theaterschaffenden betrat ein völlig unbekanntes Terrain. Folglich haben wir eine neue Bewertungsskala entwickelt, bei der ‚Qualität‘ nur einen unter mehreren Parametern darstellte.“ Am Ende schloss die Bewertung beispielsweise Kriterien wie Aktualität, Kompatibilität mit der genutzten Online-Plattform, praktischen Nutzen, Innovationskraft u. a. ein. Auch ob die Projektidee originär für die Online-Medien entwickelt wurde, war für die Jury wichtig. Debütarbeiten wurden gesondert ausgezeichnet. Parallel zur Diskussion der Ergebnisse des „Spon­ tanen Programms“ zwischen den Zuschauer*innen, Teilnehmer*innen und Jurymitglieder*innen im OnlineStream präsentierte Kuratorin Julia Kleiman das OnlineBildungsprogramm mit westlichen Theatergurus, und Kurator Alexej Platunow führte in das Hauptprogramm von „The Access Point“ ein. Darunter fanden sich OnlineProjekte von Regisseur*­innen aus Russland und Westeuropa, die eigens der Erforschung des Digitalen gewidmet waren. Viele davon wurden als Koproduktionen realisiert oder waren eigens vom Festival in Auftrag gegeben worden. Als interessant erwies sich, dass einige Projekte und Künstler*innen aus dem „Spontanen Programm“ in das Hauptprogramm des Festivals aufgenommen wurden. Eines davon, CLOUDME von Maria Patsyuk und Nikolay Mulakow – „die digitale Antwort auf Marina Abramovics Rythm 0“ –, veranlasste mich schließlich zur Teilnahme am Zoom-Meeting. Die Funktionsweise von CLOUDME ist so simpel wie elegant: Zu Beginn der Vorstellung überlässt eine Performer*in einer/m Freiwilligen aus den Zuschauerreihen für 30 Minuten die volle Kontrolle über seinen oder ihren privaten Computer. Am Bildschirm meines

Notebooks spielt sich eine Performance ab, bei der ich als Zuschauerin verfolge, wie jemand (und mit ihm oder ihr auch ich) hier und jetzt das Privatleben eines anderen Menschen hackt: seine oder ihre Notizen und Fotos durchsucht, seine oder ihre Musik hört, auf private Nachrichten in sozialen Netzwerken antwortet. In den ZoomVideoscreens sehe ich die Gesichter der „Eigentümer*in“ und der „Hacker*in“ und werde Zeuge ihrer Verlegenheit, ihres Schmunzelns, ihrer Empörung. „Wie soll ich weitermachen?“, fragt die ratlose „Hackerin“ im Chat, „habt ihr Ideen?“. „Wirf einen Blick in den Papierkorb“, schreibe ich. Und zack, bin ich von einer passiven Beobachterin zur aktiven „Mittäterin“ mutiert. „Irgendwie ist die junge Dame viel zu moralisch veranlagt. Sie geniert sich, tiefer zu graben – langweilig“, „Gib ‚Liebe‘ und ‚Sex‘ bei der Schlüsselwortsuche ein“, „Offenbar hat unser Performer seinen Computer im Vorfeld der Aufführung bereinigt“, erscheinen meine und Kommentare anderer Zuschauer*innen im Chat. Sie alle bewerten, provozieren, lechzen nach Blut, fordern einen rasanten Handlungs- und Ereigniswechsel. Die Erfahrung der Teilnahme an CLOUDME hinterließ bei mir eine Reihe brennender Fragen über Ethik und Verantwortung des Zuschauers und brachte vor allem ein Paradox hervor, das mich erschrecken ließ: Ist ethisches Verhalten im Theater notwendigerweise langweilig? In einer der nächsten Aufführungen drehte Nikolay Mulakow, einer der Autoren des Stückes, diese Frage in eine andere Richtung. Als Performer bat er das Publikum, in dieser Zeit etwas für ihn Nützliches zu machen, beispielsweise sein Showreel zu bearbeiten, einen Termin mit guten Casting-Verantwortlichen, Agent*innen oder Regisseur*­innen für ihn zu vereinbaren oder ihm Ratschläge zu geben. Er sagte, dass er an der Performance wegen des Geldes teilnimmt und keine traumatischen Erfahrungen sammeln will. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, dass digitales Theater eventuell mehr als nur ethische Fragen über Digitales stellen kann. Es kann uns möglicherweise alternative Angebote zu unserer Offline-Zukunft machen, wo Zuwendung, Verletzlichkeit und Einverständnis eine wichtige Rolle spielen.

CLOUDME von Maria Patsyuk und Nikolay Mulakow, Screenshot von „The Access Point“ „Willkommen bei CLOUDME. Ich heiße Margarita und das ist mein Computer. Wenn du mein VPN abschaltest, funktioniert nichts mehr, also mach das bitte nicht. Alle, die Zugang zu meinem Computer h ­ aben wollen, schalten bitte ihre Kamera an. Ich werde jetzt einen von euch auswählen, indem ich die anderen der Reihe nach abschalte.“

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screen aufgenommen hatte, als Kulisse.“ Birgit Lengers ergänzt, dass auch die Adaption des Projekts Queendom von Veronika Szabó aus Ungarn als digitales Theater bezeichnet werden könne. Die Darstellerinnen wurden zunächst ebenfalls vor einem Greenscreen gefilmt, anschließend wurden ihre nackten, ästhetisch in Szene gesetzten Körper in den virtuellen Raum des Spiegelfoyers des Deutschen Theaters überführt. Die allmählich aus ihren Körpern emporwachsenden Augen – Symbole für den männlichen, auf die Frau gerichteten Blick – hätten im herkömmlichen Theater technisch nicht realisiert werden können.

Szene aus Locker Room Talk. Der Greenscreen dient dazu, den Satz „Was wäre, wenn sie einen Körper aus Baywatch und ein Gesicht von einem Fahndungsfoto hätte?“ zu inszenieren. Auf dem virtuellen Hintergrund ist Malibu Beach als Projektion zu sehen. Eine virtuelle Maske verzerrt das Gesicht der Performerin (Ada Mukhina).

BERLIN  Birgit Lengers zufolge herrscht in Deutschland eine quasireligiöse Überzeugung, dass Theater nur live stattfinden könne, andernfalls sei es kein „richtiges“ Theater. Vorurteile gegenüber dem Internet stehen nicht nur der entsprechenden digitalen Weiterentwicklung der deutschen Theater im Wege. Sie führen auch dazu, dass die Interaktion mit Zuschauer*innen in sozialen Netzwerken viel braver und reduzierter erfolgt, als es beispielsweise bei social-media-affinen russischen Theatern der Fall ist. Andererseits vermisst Birgit bei anderen Online-Festivals das Gefühl der Ko-Präsenz, mit anderen Zuschauer*innen am gleichen Ort zur gleichen Zeit zu sein. Hieraus entstand die Idee, für das Festival „Radar Ost Digital“ einen virtuellen Raum mit Möglichkeiten der Live-Interaktion durch Chaträume zu schaffen – eine 3D-Version des Deutschen Theaters in Berlin. Auf diese Weise konnte die Festivalstruktur nicht nur in einer bestimmten Zeitstruktur – drei Festivaltage –, sondern auch topografisch organisiert werden. Die Live-Streams dreier großen Gastaufführungen aus Russland und Polen wurden abends auf je einer der drei digitalen Bühnen des Theaters gezeigt. Es gab Premieren länderübergreifender Kollaborationen, die während der Pandemie vom Deutschen Theater und seinen Partnern realisiert wurden – im Foyer, in der Bar und auf einer digitalen Bühne des Partnertheaters in Tiflis, die man vom digitalen DT aus „betreten“ konnte. Digitale Adaptionen von Gastspielen, die von Birgit für das Programm zum Thema „female gaze“ ausgewählt wurden, waren on demand an allen Festivaltagen in unterschiedlichen virtuellen Räumen zugänglich – in der Kantine, im Spiegelfoyer, auf der Unterbühne und sogar im Keller. Insofern lief es ganz wie bei einem analogen Festival ab, wo alles an verschiedenen Spielorten stattfindet und man dem Programm aufmerksam folgen muss, um nichts Spannendes zu verpassen. Björn Lengers, Mitglied des VR-Projekts „CyberRäuber“, das die 360-Grad-Aufnahmen der Räumlichkeiten des Deutschen Theaters kreiert hat, betont, es sei von Anfang klar gewesen, dass ein virtueller Raum für Inszenierungen und Projekte geschaffen werden musste, die im Rahmen des Festivals dann im Videofor-

mat präsentiert wurden. „Was wir bei ‚Radar Ost Digital‘ machen sollten und wollten, war, die Theaterkunst in einen digitalen Rahmen zu setzen, das Theater erlebbar zu machen für das Publikum zu Hause. Und insofern ist unser Projekt selbst – das virtuelle DT – auch ein Werk digitaler Kunst. Das Programm von Radar Ost dagegen enthielt weniger explizit digitale Theaterstücke, also solche, die mit digitalen Mitteln entwickelt wurden, die digitale Tools brauchen oder für die Bühne als digitales Theater entwickelt wurden. Wir haben also eher einen ästhetischen, digitalen Rahmen geschaffen. Etwas Besonderes jedoch war unsere Zusammenarbeit mit dem Royal District Theatre aus Tiflis, In dritter Person. Um diese Inszenierung von Data Tavadze zu sehen, mussten die Zuschauer den Großen Saal des Deutschen Theaters durch eine virtuelle Seitentür verlassen, um sich dann im Zuschauersaal in Georgien wiederzufinden. Auch hier kam die Ästhetik des virtuellen Deutschen Theaters zum Einsatz: 360-Grad-Aufnahmen des Royal District Theatre wurden ästhetisch bearbeitet und dienten den Schauspielern, deren Spiel man zuvor vor einem Green-

SANKT PETERSBURG – BERLIN  Im Mai treten Birgit Lengers und ich erneut in Kontakt, um eine Performative Lecture für das Rahmenprogramm von „Radar Ost Digital“ zu besprechen. Ich schlage vor, Olga Schiljajewa mit ins Boot zu holen. Sie ist die Autorin des Stücks 28 Tage, das Birgit bereits für das kuratierte Programm ausgewählt hatte. Wie ich wartet auch Olga in Sankt Petersburg auf das Ende des Lockdowns. Zuvor waren wir einander bereits mehrfach begegnet und hatten uns über unsere jeweiligen Theaterarbeiten ausgetauscht: ihre im Moskauer Theater.doc inszenierte Tragödie über den Menstruationszyklus und meine Inszenierung Locker Room Talk über sexistische Sprache, entstanden im Meyer­­hold Zentrum in Zusammenarbeit mit der Choreografin Daria Iuriichuk und der Dramaturgin Olga Tarakanowa. Birgit bittet uns, ein Video von etwa 5 bis 15 Minuten aufzunehmen, in dem wir zum Thema Feminismus und Sexismus im russischen Theater und im Land insgesamt diskutieren und dieses mit Fotografien und Videofragmenten aus unseren Arbeiten illustrieren. Olga Schiljajewa und ich halten eine Skype-Konferenz ab, verfassen ein Skript für die Lecture in einem gemein­ samen Dokument auf Google Docs. Dann treffen wir das Kamerateam in einem für Besucher*innen geschlossenen Café, zu dem unsere Video-Regisseurin über Bekannte einen Zugang hat. Ein weiteres Treffen findet im Büro des Filmstudios statt, wo wir den finalen Schnitt sichten und die Schrift für die Titel auswählen. Parallel dazu macht Olga sich mit TikTok vertraut und produziert zu Hause kurze, witzige Videos zu ihrem Stück und zum Thema Feminismus. Zusammen mit meinem Team von Locker Room Talk bearbeiten wir währenddessen eine

In dritter Person von Data Tavadze, eine Koproduktion vom Deutschen Theater (Berlin) und Royal Distric Theatre (Tiflis)

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Generalprobe zu Call Cutta Home von Rimini Protokoll bei „The Access Point“. Der Text ist eine russische Übersetzung von dem, was Madu, eine der Performerinnen aus Kalkutta, zum Publikum sagt: „Ich kam an den Ort, wo ich meinen Tee nicht alleine trinke, sondern zusammen mit denen, die in unserem Haus wohnen. Sie sind aber keine Menschen.“

Szene unserer Inszenierung für Zoom, zeichnen sie unter Einsatz virtueller Hintergründe, Masken und Video-Art auf – ich von zu Hause in Sankt Petersburg, die anderen von ihren jeweiligen Moskauer Wohnungen. Dabei benutzen wir Elemente der Inszenierung im Meyerhold Zentrum, bei der wir von Anfang an mit dem Greenscreen und digitalen Projektionen gearbeitet haben. Am 20. Juni wird unser Video neben weiteren Lectures aus Polen und der Ukraine im virtuellen Saal des Deutschen Theaters und auf der Website des Theaterportals Nachtkritik gezeigt. Im Anschluss nehme ich von zu Hause aus an der live gestreamten Diskussion „Alles, was Sie schon immer über Polen, Russland und die Ukraine wissen wollten“ teil. Später, in Vorbereitung auf diesen Artikel, frage ich Birgit, ob sie glaubt, dass das Festival „Radar Ost Digital“ in erster Linie möglich sei, weil die Menschen in Osteuropa und Russland anders mit Risiken umgehen als in Deutschland. „Ich kann mir vorstellen, dass es eine gewisse Rolle spielt“, sagt sie. „Aber darüber hinaus seid ihr, in Russland oder beispielsweise in der Ukraine, gewohnt zu improvisieren, ad hoc zu reagieren und mit den Ressourcen zu arbeiten, die gerade verfügbar sind. Corona hat uns gezeigt, dass die freien Künstler sehr viel agiler, beweglicher, schneller sind und kreativer mit der aktuellen Situation umgehen. Sicher, deutsche Staatstheaterstrukturen sind toll, es gibt viele Mitwirkende und eine Arbeitsteilung, aber sie sind stark reglementiert und vermeiden eher das Risiko.“ BERLIN – SANKT PETERSBURG – WELT   Ende Juni besuche ich die Generalprobe der „The Access Point“Festivalpremiere Call Cutta at Home des deutschen Theaterkollektivs Rimini Protokoll. Zwei frühere Fassungen des Projekts – Call Cutta und Call Cutta in a Box, die das Kollektiv 15 und 12 Jahre zuvor herausgebracht hatte, verbanden die Menschen über weite Strecken miteinander, bereits damals mithilfe der Telekommunikationstechnologie. Im ersten Stück führte die Stimme eine*r Callcenter-Mitarbeiter*in einen Zuschauer oder eine Zuschauerin mittels eines Mobiltelefons durch die Stadt. Im zweiten Projekt befand sich der oder die Zuschauer*in allein in einem eigens umgebauten Büroraum. Von dort

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aus kommunizierte er oder sie per Skype mit einem bzw. einer Callcenter-Mitarbeiter*in in Kalkutta und hatte die Möglichkeit, ihn oder sie am Bildschirm des Com­ puters anzuschauen. In Call Cutta at Home befinden sich zwei Teilnehmerinnen vorausgehender Projektfassungen während des Lockdowns in ihren Häusern in Indien und Estland. Von dort aus kommunizieren beide über Zoom-Videoscreens mit einer Zuschauergruppe auf Englisch mittels einer Synchronübersetzung ins Russische. Zum Ort der Handlung im Stück avancieren zeitgleich sowohl mein Haus, in welchem ich mich auf Anweisungen der Performerinnen bewege, als auch der Bildschirm meines Notebooks, über den ich die Ortswechsel der anderen Zuschau­er*innen und diejenigen der Performerinnen in ihren Häusern verfolge. Zusammen kriechen wir unter den Tisch, zeichnen, trinken Tee in der Küche, liegen auf dem Bett – im Grunde tun wir nichts spezifisch „Theatrales“, außer dass wir uns gegenseitig aufmerksam studieren und zuhören, Fragen stellen und Antworten bekommen. Im August, nachdem ich erfolgreich die EU-Grenzen überschritten habe, treffe ich mich mit Helgard Haug für ein Interview in Berlin. „Wir befinden uns jetzt alle in einer ganz ähnlichen Situation,“ erzählt mir die Regisseurin von Rimini Protokoll. „Wir sind alle zu Hause. Alle haben Tische, alle haben Sofas, alle haben irgendwo Fotos, alle haben Küchen. Sie sehen total verschieden aus, und wir nutzen das. Ob das digitales Theater war, weiß ich nicht. Aber für uns war es der Versuch einer realen Begegnung, die auf dem tiefen Interesse an der Realität anderer Menschen fußt.“ Wie ist die Situation im Moment in Kalkutta? Wie erleben die Menschen die Pandemie in Sankt Petersburg? Wie reagiert die Regierung in Berlin, Tallinn oder einer anderen Stadt auf der Welt, in der sich das Publikum dieser Online-Show möglicherweise befindet? Die Telekommunikation ist für Rimini Protokoll das Mittel zum Zweck, mit dem internationale Kontakte, Begegnungen, Gespräche stattfinden, die letztlich den ästhetischen Kern des Stückes bilden. Das Festival „The Access Point“ erstreckte sich über insgesamt vier Monate (Ende März bis Ende Juli 2020) und wurde selbst zur durational digital performance.

Als Zuschauerin verfolgte ich mit Spannung nicht nur das Programm, sondern nahm im Laufe der Zeit wahr, wie das Festivalteam immer mehr an Übung gewann, wie die technische Ausstattung von Veranstaltungen immer komplexer wurde, wie das Vokabular und die Bewertungskriterien für die neuen digitalen Erscheinungsformen in den Texten der Manifeste weiterentwickelt wurden. Dagegen war „Radar Ost Digital“ zeitlich radikal komprimiert: auf drei Tage, vom 19. bis zum 21. Juni 2020. Das Festival fand als ein einmaliges, konzentriertes Ereignis innerhalb der eigens dafür geschaffenen Szenerie statt und verflüchtigte sich, hörte auf, endete auf dieselbe Weise wie ein Theaterstück. Was wird von diesen Online-Festivals übrig bleiben, wenn die weltweite Corona-Pandemie vorüber ist? Das Zuschauererlebnis, eine gemeinsame Erfahrung zu teilen, egal, wo der oder die Einzelne sich befindet? Die Suche nach neuen Möglichkeiten, „zusammen zu sein“? Die Erfahrung der Künstler*innen, von denen viele ein völlig neues Spiel- und Experimentierfeld gefunden haben? Ein Spielfeld frei von Expertendruck, wo es noch unklar ist, was richtig und was falsch ist? Die Entdeckung einer anderen Ästhetik und einer anderen Sprache im digitalen Bereich, die das Theater, von selte­ nen Ausnahmen abgesehen, zu ignorieren versuchte? Zumindest für mich haben beide Festivals eine rettende Rolle in der Pandemie gespielt. Eine Rettung vor Depression, Arbeitslosigkeit und der Angst vor der Zukunft. Und allein das war es wert. Aus dem Russischen von Julia Kuniß 1 „The Access Point“, gegründet 2015 von Vilipp Vulakh und Andrey Pronin, ist ein internationales, unabhängiges Sommerfestival für ortsspezifisches und immersives Theater, bei dem russische und westliche Regisseure neue Wege der Kommunikation in unkonventionellen Räumen erforschen. 2 „Radar Ost“, gegründet 2018, ist ein Festival des Deutschen Theaters Berlin, das den internationalen Auftakt der „Autorentheatertage“ bildet, eines jährlich statt­ finden Festivals der deutschsprachigen Gegenwarts­ dramatik. Gegenstand sind Autor*innen und Regisseur*innen aus Osteuropa und Russland, die mit aktuellen Texten arbeiten. 3 Im weitesten Sinne ist ein site-specific, also ortsspezifisches Theater jede Art von Theaterproduktion, die außerhalb der konventionellen Theaterbühne geschaffen und auf den jeweiligen Ort zugeschnitten ist. Immersives Theater hebt die Trennung von Bühne und Zuschauerraum auf und lässt den Zuschauer vollständig in die Handlung des Stücks eintauchen, das sich um ihn herum entfaltet.

ADA MUKHINA ist eine nomadische Theatermacherin, Regisseurin, Performerin, Kuratorin und Gastdozentin an verschiedenen Kunsthochschulen. Sie studierte an der Staatlichen Akademie für Theaterkunst in Sankt Petersburg und der Royal Central School of Speech and Drama in London. Ihre experimentellen, politisch engagierten, dokumentarischen und partizipativen Performances laden oft verschiedene Künstler*innen, Communitys und Zuschauer*innen auf die Bühne ein. Die Gewinnerin der Black Box Residency am Meyerhold Theaterzentrum, Moskau, ist derzeit Fellow am Georgetown University Laboratory for Global Performance and Politics und Stipendiatin der JUNGEN AKADEMIE der Akademie der Künste.

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Heute, in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts, zeichnet sich am Horizont unseres Bewusstseins ein bedeutendes Ereignis ab: das Erwachen der machine-mind­matrix, die technologische Singularität, der Moment, in dem einem leblosen Automaten bewusst wird, dass er über sein eigenes Denken nachdenkt. Diese Schwelle wird von vielen als das unvermeidliche nächste Stadium in der Entwicklung unserer Spezies bezeichnet: Der Homo sapiens steht kurz davor, Homo Deus zu werden, eine gott­gleiche Symbiose zwischen Mensch und Technologie auf Siliziumbasis.

DIE RADIKALE GLEICHGÜLTIGKEIT DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ

Spätestens seit dem Franken­s tein’schen Zeitalter der Elektri­zität scheint der prometheische Drang, die Biologie zu überwinden – den Wundern von Wissenschaft und Maschinen sei Dank –, zunehmend vorstellbarer. Sicher, zunächst erscheint das Angebot, Homo Deus zu werden, nicht unattraktiv. Doch Spekulationen über tatsächliche Sze­n arien – Gegenstand unzähliger Geschichten, die augen­s cheinlich das Dogma adaptieren, das in Mary ­Shelleys Proto-Science-Fiction-Klassiker von 1818 untersucht wurde – haben eine Erzähltradition warnender Beispiele hervorgebracht, die vehement zu Vorsicht vor einer solchen Hybris raten. Und dennoch wird trotz dieses literarischen Kanons ein fast masochistisches Spiel der Anziehung/Abstoßung von Propheten des Silicon Valley gespielt, die unsere Fantasie weiter­hin mit der Idee beflügeln, dass wir uns im Eiltempo dem Zeitalter der künstlichen Super­ intelligenz nähern, ob zum Guten oder Schlechten, ob wir es mögen oder nicht.

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Das große Versprechen der Technologischen Singularität ist ein Anthropomorphismus deines Computers, der dir zu gegebener Zeit den Roboter-Butler oder Siri-ähnlichen Assistenten zur Verfügung stellt, der deine Fragen kennt und beantworten kann, bevor du selbst weißt, dass du überhaupt eine Frage stellen wolltest; ein Computeragent, der weitaus intelligenter ist als du, selbstbewusst und wohlwollend. Aber wer wagt es zu behaupten, dass eine künstliche Super-intelligenz (KSI) tatsächlich daran interessiert wäre, ein Dienstbote zu werden, geschweige denn unser Freund?

Die Erkenntnis, dass der Einzug der Technologischen Singularität sich nicht für einen Hollywood-Blockbuster eignet, ist vielleicht einer der Gründe, warum Stanisław Lems Roman Golem XIV, der zwischen 1973 und 1981 in Teilen veröffentlicht wurde, mit seiner Vorstellung einer völlig desinteressierten KSI eine so einzigartige Position im Science-Fiction-Kanon einnimmt. Genau diese radikale Gleichgültigkeit, die der gleich­namige Held des Romans – ein Supercomputer, der vom US-Militär gebaut wurde – zeigt, ist eine der originellsten Wendungen in diesem Buch voller visionärer Vorstellungskraft. Zum Entsetzen seiner Betreuer wendet er sich – im wörtlichen Sinne – von seinen Schöpfern ab, um ganztägig zu philosophieren, und sich letztendlich vollständig herunterzufahren und/ oder sich auf eine kosmisch-psychische Reise zu begeben. Ich nenne das Verhalten von Golem XIV „radikale Gleichgültigkeit“, weil es eine vollständige Abkehr von den gängigen KI-Diskursen verkörpert, die entweder zu rosigem Optimismus oder zu düsteren Erzählungen tendieren.

Golem XIV begegnet den Problemen und Träumen seiner Schöpfer mit Gleichgültigkeit. In der Tat gibt es viel dringlichere Fragen, die weit über unser Verständnis hinausgehen, und so macht uns der Computer mit seinem Schweigen klar, dass die Antworten auf die ältesten Fragen der Menschheit sich nicht finden lassen, indem wir die Verantwortung einer KSI überhelfen.

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Das ist eine entscheidende Erkenntnis. Golem XIV weigert sich grundsätzlich, die Arbeit zu erledigen, für die er konzipiert wurde: Kriege zu planen. Dass eine KSI intelligent genug ist, eine solche Entscheidung zu treffen, genau darauf sollten wir hoffen. Mit anderen Worten: Der Glaube, dass künstliche Intelligenz alle unsere Fragen beantworten wird, gibt Anlass zur Sorge und führt bereits heute zu schwerwiegenden Konsequenzen. Sich die Technologische Singularität vorzustellen, bedeutet auch sich vorzustellen,

dass es eine einzige Lösung für alle menschlichen und nicht-menschlichen Probleme gibt. Die Lösung gesellschaftlicher Probleme mit KI-Werkzeugen, die von einem Trupp kaum postpubertärer Männer entwickelt wurden – deren Motto lautet: move fast and break things – ist besten­ falls naiv und schlimmstenfalls katastrophal für die Gesellschaften, denen diese Technologie eigentlich helfen soll. Technikbasierte Lösungen werden von jungen Computeringenieuren (oder totalitären Regimen) als Antwort auf uralte Fragen heran­gezogen, die Jahrhunderte der philosophischen Theorie und der praktischen Gesetzgebung noch nicht beantworten konnten. Schnelle Lösungen solcher Art werden mit Sicherheit nicht durch ihre makellosen, universell einsetzbaren Designfeatures dazu beitragen, eine bessere Welt für alle zu erschaffen, sondern nur durch einen Zufall. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer Die Bilder entstammen der Arbeit Lecture About Myself (2019) Komposition und Text: Kaj Duncan David (via Stanisław Lem, Donna Haraway u. a.) Video: Carl-John Hoffmann Mit freundlicher Unterstützung von: Danish Arts Council, KODA Kultur, Musikfonds/BKM und Studio für Electro­ akustische Musik an der Akademie der Künste, Berlin

KAJ DUNCAN DAVID ist Komponist und war 2019 Stipen­d iat der JUNGEN AKADEMIE. Von 2006 bis 2016 studierte er am Goldsmiths, University of London, sowie an den Musikaka­ demien in Aarhus und Dresden. Er komponiert Musik u. a. für kolla­b orative Produktionen in den Bereichen experimentelles Musik­t heater und Tanz. Sein Werk verortet sich zwischen notierten Kompositionen, elektroakustischer Musik und audiovisuellen Performances. Häufig verwendet er Licht, um die Interaktionen von visuellen und musikalischen Elementen zu einem einzigen musikalischen Ausdruck zu verbinden. Er lebt in Berlin.

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DAS LICHT IN HÄNDEN DER ALGERISCHE FOTOGRAF FERHAT BOUDA ERHÄLT DAS ELLEN-AUERBACH-STIPENDIUM Hubertus v. Amelunxen

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Wir haben telefoniert, wir haben einander in deutscher und in französischer Sprache geschrieben, und viele seiner Fotografien habe ich sehen dürfen, leider nicht im Original, aber am Bildschirm. Seine Antworten habe ich aus dem Französischen übersetzt und zusammengefasst.

AUFGEZEICHNETE GESPRÄCHE Ferhat Bouda ist im Land der Berge, der Kabylei im ­Norden Algeriens, zur Welt gekommen, zwischen den Frei­ heitskämpfen gegen Frankreich, die 1962 zu einem unabhängigen Algerien führten, und dem Schwarzen Frühling 2001, den blutigen Aufständen der Kabylen gegen den zentralistisch geführten algerischen Staat. Kabylisch wurde im Anschluss als eine Nationalsprache anerkannt, politisch aber verbleibt die Region in der Abhängigkeit von Algier. Filmen wollte Ferhat Bouda, um seiner Großmutter einen ersten Film in der Sprache der Berber zu schenken, dann fand er in Paris zur Fotografie, stumme Bilder, Einzelbilder in Schwarz-Weiß, Augenblicke angehalten zur Bewegung wie die der 83 Jahre alten Fathma, die ein Leben lang ihre Felder bestellte und sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnt, gehalten von der Natur und die Natur haltend. Auf meine erste Frage hin, warum er fotografiere, antwortete er, aus Notwendigkeit. Seit 2005 lebt Ferhat Bouda in Frankfurt am Main, in Paris wird er von der Fotoagentur Agence VU’ vertreten und bereist die Welt im Auftrag, die Heimat der Kabylei aber oder das Atlasgebirge, die Welt der Tuaregs, Chleuhs oder Chaouis, aus tiefer, leidenschaftlicher Verbundenheit. Das Lebensprojekt Ferhat Boudas gilt den Berbern, auch Imazighen (freie Menschen) genannt; ihre Kultur vor jeglicher Repression mit Bildern und im Bild zu beschützen ist seine große Aufgabe. Für Geo fotografiert er in Farbe: Dörfer in Mauretanien, Wüstenlandschaften oder eine Zugfahrt durch Australien. Er führt auch Tagebuch, schreibt in berberischer, französischer oder deutscher Sprache, dazwischen finden sich Zeichnungen und Fotografien – fragmentarische Mitteilungen. Seine Bilder haben uns, die Jury des Ellen-AuerbachStipendiums – Barbara Klemm, Tina Bara und mich –, tief bewegt. Der Moment schwebt in ihnen, weil Ferhat Bouda mit der Bewegung des Menschen – und wenn es nur ein Blick ist – Zeit und Raum zu einer singulären Konstellation zu tragen vermag, der die Dauer auch unseres Blicks innewohnt, die sie mit einer Zukunft versieht. In Frankfurt am Main fotografiert er das Drogenmilieu um den Hauptbahnhof herum. Ein Paar aus Tschechien zeigt ihm, von drei Händen in die Kamera gehalten, das Foto ihres Kindes, das sie, einmal drogenfrei, wiederfinden wollen. Von welcher Art ist Ferhat Boudas Fotografie? Ob Dokument, Reportage oder Kunst, ist ohne Bedeutung. Die Bilder der Berber aus den Krisengebieten Nordafrikas ebenso wie die Reportagen sozialer Ausgrenzungen aus Frankfurt am Main sind von einer bewegenden menschlichen Suche geprägt: ein optisches Abtasten, das mit jeder Belichtung die Frage nach der Menschlichkeit stellt. Und solange Bilder noch zum Sehen durch das menschliche Auge geschaffen werden, dem Sehen selber eine ebenso offene wie kritische Bildung durch die Gesellschaft zuteil wird, Bild und Wirklichkeit sich im Widerstreit nähren: So lange erhält sich die Aufgabe des Bildes, eine Welt verstehen zu lernen, zu lehren.

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„Ich habe mich nie einem bestimmten Stil in der Foto­gra­ fie zugehörig gefühlt, sondern immer gedacht, ich bin ein Fotograf, sonst nichts. Das Wichtigste ist doch, etwas zu sagen, zu zeigen zu haben. Ich versuche, das Menschliche oder die Menschlichkeit und seine Umgebung zu fotografieren. Das Projekt über die Berber stand am Anfang. Ich habe mit meiner Familie begonnen, meinem Dorf in der Kabylei im Norden Algeriens. Einige Jahre später habe ich ganz Tamazgha in Nordafrika fotografiert, weil diese Kultur in Gefahr ist: durch die Politik der Regierungen in Nordafrika, durch die Assimilation der Völker und Kulturen, durch die Verneinung der kulturellen Eigenart. Es gibt Länder, in denen die Kultur zu verschwinden droht. Wir müssen etwas unternehmen, bevor die Werte verschwinden – Toleranz, Liebe, Demokratie, Hilfsbereitschaft, Zusammenleben … vielleicht sind sie nicht typisch berberisch, aber sie sind menschlich. Das sind die Gründe, die mich zur Fotografie geführt haben. Ich bin in einem Dorf in der Kabylei geboren und habe eine glückliche Kindheit verlebt wie alle Kinder in meinem Dorf, trotz der Abwesenheit meines Vaters, der nach Frankreich emigriert war, aber ich fühlte mich von meiner Mutter, meiner Großmutter und meinem Dorf beschützt. Mit fünf Jahren kam ich zur Schule und fand eine Sprache vor, die mir vollkommen fremd war, das Arabische. Ich habe mich aber nicht gewundert, es musste so sein, dachte ich. So habe ich gelebt, in der Schule sprach man bestimmte Sprachen, außerhalb der Schule aber wurde eine andere gesprochen. 1994 und 1995 boykottierte die ‚Kulturelle Bewegung der Berber‘ (Mouvement Culturel des Berbères) die algerischen Schulen, um die eigene Sprache der Berber anerkennen zu lassen. Mir wurde bewusst, dass wir in einem Land lebten, in dem wir dieselben Pflichten, doch nicht dieselben Rechte hatten, obwohl auch unsere Eltern gegen den Kolonialismus in den Krieg gezogen waren. Als junger Mann begann ich, mich für diese Kultur, für ihre Rechte einzusetzen, ich schlug einen politischen Weg ein, ich versuchte es mit Musik, mit Theater, und ich wollte einen Film für meine Großmutter in ihrer Muttersprache drehen, in Kabylisch, weil sie keine andere Sprache versteht. Es hatte mich sehr berührt, sie zu Hause sitzen zu sehen, sie schaute fern und verstand doch kein Wort Arabisch oder Französisch, obgleich auch sie gegen den Kolonialismus und für die Unabhängigkeit gekämpft hatte. Mit dieser Idee im Gepäck habe ich im Jahr 2000 Algerien verlassen. Doch es kam anders: In Paris fand ich einen Fotoapparat. Am Anfang ging es mir nicht darum, Geschichten zu erzählen oder eine Reportage zu machen, ich interessierte mich für die SchwarzWeiß-Fotografie, und doch machte ich Aufnahmen von der Diaspora, von meinen Dörfern – hatte aber nicht wirklich etwas damit vor. Zehn Jahre habe ich diese Bilder als Amateur gemacht, habe an Workshops teilgenommen, manches Mal gab es in Cafés kleine Ausstellungen meiner Bilder, langsam habe ich mich

über berühmte und weniger berühmte Kollegen an die Fotografie herangetastet. Sie ist eine universelle Sprache, die von vielen verstanden wird. Im Jahr 2010 entschied ich mich ganz für die Fotografie und reiste in die Mongolei, wo ich ein Volk wie das meine kennenlernte, obgleich wir nicht die gleiche Sprache sprechen. Ob es eine dokumentarische Fotografie gibt? Wichtig ist doch, dass wir mit den Bildern etwas zu sagen haben, alles andere ist nur leeres Gerede. Eine Ethik des fotografischen Bildes? Ja, wir sollten versuchen, unsere Bilder ethisch zu begründen. Aber ist das heute noch Fotografie, diese Milliarden von Bildern auf dem Smartphone und anderen digitalen Apparaten? Wir befinden uns mitten in einem tiefgreifenden Wandel, doch die Schnelligkeit der Bilder im Internet und in den sozialen Netzwerken spricht uns nicht davon frei, die Würde


der Menschen, die wir fotografieren, oder die Würde des Planeten Erde zu respektieren. Bilder zu machen ist einfach, Verantwortung zu tragen ist schwer, sie ist eine wahrhafte Bürde. Wir haben nicht das Recht, alles Mögliche mit den Menschen zu machen, die wir fotografieren, wir müssen sie immer als Mitglieder unserer Familie begreifen, denn die Menschheit ist eine große Familie. Vergessen wir nicht, dass es Menschen gibt, die sich eine Veränderung davon erhoffen, fotografiert zu werden. Das ist ein großes Gewicht, das wir schultern, oft haben wir nicht die Möglichkeit, die Dinge zu verändern, und die Last tragen wir ein Leben lang bis zum Tod! Damit zu leben, ist sehr schwer. Es dauert lange, bis ein Bild entsteht, manchmal benötige ich Wochen. Die Bildwerdung erfolgt über die Augen: Nicht ich, sondern sie, die Augen der anderen, machen

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das Bild, und wenn Auge und Herz, Raum und Zeit zusammenkommen, dann schenken sie, die Menschen, mir das Bild, sie machen das Bild. Also ja, eine Ethik des Bildes ist geradezu lebenswichtig. Ob mit dem Smartphone oder einem anderen Apparat, wir benötigen eine Bildung zum Bild und zur Ethik hin, damit künftige Generationen in diesem Bewusstsein einer geteilten Verantwortung heranwachsen.“

↑  Fathma, 83 Jahre alt, hat noch nie ihr Dorf in der Kabylei verlassen und kennt nur ihre Muttersprache. Für ihre Tiere klettert sie noch auf Bäume, um Blätter als Futter zu sammeln. Kabylei, 2014 S. 21  E. und M. aus Tschechien lebten als Drogen­a bhängige in Italien auf der Straße, ihr Sohn Sam wurde ihnen von den Behörden abgenommen. In der Hoffnung auf eine besseres Leben kamen sie nach Frankfurt, wo Ferhad Bouda ihnen begegnete. Aber auch in Frankfurt schafften sie es nicht, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Frankfurt am Main, 2011

HUBERTUS V. AMELUNXEN, Kultur- und Kunst­ wissenschaftler, ist seit 2003 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Bildende Kunst.

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RADICAL WORLD-BUILDING

DIE STADT BEGUMPURA

Dry Salvages, 2017, Performance

SAHEJ RAHAL IM GESPRÄCH MIT CLARA HERRMANN Die komplexen Beziehungen zwischen Mensch und Maschine sind seit Beginn des Industriezeitalters Gegenstand von Kunst und künstlerischer Praxis. Und gerade heute, angesichts der Digita­li­sierung, hat das Thema an Brisanz gewonnen, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz – mit ihren Chancen, aber auch dunklen Seiten. Die Künste können hier ein spezifisch ästhetisches Wissen erzeugen, verfügen sie doch über die Fähigkeit, Konzepte zur Diskussion zu stellen, Szenarien durchzuspielen und Spekulationen über die Zukunft anzustoßen. Ein Gespräch mit dem indischen Künstler Sahej Rahal, dem ersten Stipendiaten des „MenschMaschine“-Stipendiums, das von der JUNGEN AKADEMIE in Zusammenarbeit mit dem Artist-in-Residence-Programm VISIT ins Leben gerufen wurde.

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CLARA HERRMANN   Als erster Stipendiat des Programms „Mensch-Maschine“ stellen Sie ein bemerkenswert vielschichtiges Projekt mit dem Titel Citizen Strange vor, das KI-Programme, nationale Mythen oder Mechanismen der Mythenbildung und politische Themen kombiniert. Können Sie den Kontext von Mythen und Mythologie in Ihrer Arbeit erläutern und beschreiben, wie Sie Ihr künstlerisches Konzept ästhetisch umsetzen? SAHEJ RAHAL   Der kontinuierliche Aufstieg von rechtem Nationalismus in Indien fällt mit der Rückkehr der mythologischen Vergangenheit in die Gegenwart zusammen. So wird ein Zustand erreicht, in dem die Zeit gewissermaßen in sich zusammenbricht. Jedes Anzeichen von Demokratie und den dazugehörigen Institutionen wurde praktisch ausgelöscht. Wir marschieren blindlings in ein mehrheitliches „Hindu Rashtra“: eine hinduistische Nation, die auf einer halbherzigen Vorstellung von indoarischer zivilisatorischer Reinheit basiert. Der Staat orchestriert diesen Prozess, indem er den Mythos selbst manipuliert und gefälschte archäologische Propaganda verbreitet; archäologische Objekte, die zeitlich sogar vor der Abfassung der Veden liegen, werden in das hinduistische Pantheon verlegt. Wie zum Beispiel die Umbenennung der bronzenen „Tänzerin von Mohenjo-Daro“ zur Göttin Parvati oder das Versprechen, ehemalige hinduistische Tempel anstelle von Moscheen


Antraal, 2019, KI-Simulation

zu neuem Leben zu erwecken. Selbst jetzt, da das Coronavirus das Land verwüstet, führt unser Premierminister persönlich riesige Prozessionen an, bei denen aus Silber gefertigte Backsteine in das umstrittene Ayodhya gebracht werden, um den Grundstein für einen Rama-Tempel zu legen, der am Ort der zerstörten Babri-Moschee errichtet werden soll. Der Staat propagiert diese mythischen Erzählungen, die seinen Autoritarismus bestätigen, und beschwört eine mythologische Vergangenheit als historische Wahrheit, die seinem gegenwärtigen Handeln den Anschein von Wahrhaftigkeit verleihen soll. Mein Ziel ist, dieses mythologische Narrativ mit Hilfe von Szenarien zu hinterfragen, die komplexe, parallel existierende und widersprüchliche Fiktionen in sich bergen. Diese Szenarien gestalten sich als absurde Rituale des world-building, die gemeinsam von Geistwesen, schamanischen Kreaturen und quasi-empfindungsfähigen KI-Programmen ausgeführt werden. Das zentrale Ziel dieser Rituale ist es, sich mögliche Welten vorzustellen, in denen menschliche und nichtmenschliche Systeme über die Grenzen des Realen, Imaginären, Physischen und Virtuellen hinweg kommunizieren. Dieses Gespräch wird mithilfe von Musikinstrumenten begonnen, die ich aus gefundenen Objekten der echten Welt anfertige und mit Hilfe der Videospiel-Design-

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Software Unity aus interaktiven KI-Programmen erstelle. Die Programme fungieren als „lebende Musikinstrumente“, die auf externes Audio-Feedback reagieren und prozedural erzeugte Klanglandschaften erzeugen können. CH   Wie erforschen, verstehen und artikulieren Sie die Mensch-Maschine-Beziehung in diesem Zusammenhang? Gibt es bestimmte theoretische oder philosophische Ideen, die Sie inspiriert haben? SR   Mir geht es darum, die Verstrickung der MenschMaschine-Intelligenz durch die Linse des Nicht-Menschlichen zu untersuchen. Das Nicht-Menschliche kann als ein Körper mutierender Prozesse verstanden werden, die uns über menschliche Grenzen aufklären, sie erweitern und auflösen, um seltsame Morphologien auf bakterieller, technologischer und planetarischer Ebene zu erzeugen. In meinem Projekt Citizen Strange wird das NichtMenschliche im Prozess des world-building und der Mythenbildung zum konspirativen Gefährten. CH   Sie beziehen sich auf die Idee der „Staatsbürgerschaft“, die – in ihrer Definition als Recht auf Rechte wie Gleichheit, Redefreiheit, Stimmrechte und Nichtdiskriminierung – derzeit in Indien bedroht ist. Wie sehen die rechtlichen und politischen Entwicklungen aus und welche Auswirkungen haben sie auf das Leben der Menschen?

SR   Die Staatsbürgerschaft in Indien wird durch den Widerruf der Grundrechte von Minderheiten kodifiziert und strukturiert: Die Bürger*innen werden so zu Geistern, die in diesem Reich der kollabierten Zeit umherirren. Vielsagende Beispiele hierfür sind die Änderungen der Staatsbürgerschaftsgesetze durch den Citizenship Amendment Act und das National Register of Citizens. Beide haben geholfen, den bürokratischen Staatsapparat gegen Muslime aufzurüsten. Dieses gewaltsame Othering hat seine Wurzeln in einer alten Form der Segregation, die im Herzen der indischen Gesellschaft verankert ist: der historischen Gewalt des Kastensystems. Dessen Besonderheit besteht darin, dass es im Gegensatz zu anderen Formen der Bigotterie und Unterdrückung auf einem rein metaphysischen Glaubenssystem beruht. Eine ausgefeilte Mythologie, in der der Leichnam des kosmischen Patriarchen im Zentrum des Universums liegt: der universelle Übervater, der entweder Manu, Brahma, Vishnu oder Vishwa Purusha heißt, je nachdem, welche vedischen Shastras oder Whats-AppWeiterleitungen man wiederkäut, um seine zombifizierten Überreste zu beschwören. Diese himmlische Leiche bildet die Grundlage der Kastenhierarchie in der indischen Gesellschaft. Sein Kopf bringt die Brahmanen der hohen Kaste zur Welt, seine Schultern verwandeln sich in die Kriegerkaste Kshatriyas, seine Schenkel werden die

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Vaishyas, die Handelskaste, und aus seinen Füßen bilden sich die niedrigen Kasten. Die Höchsten werden in einer kosmischen Trennung zwischen Geist und Gliedmaßen von den Niedrigsten getrennt. Diese Aufteilung schafft ein mythologisches System, das diejenigen unterdrückt, die sich am Ende der metaphysischen Hierarchie befinden. CH   Hat sich die Situation mit COVID-19 verschlechtert, so wie es in vielen rechtsextremen Ländern der Fall ist? SR   COVID-19 hat die Situation in der Tat verschlimmert. Einerseits erleben wir die Rückkehr der Naturgeschichte. Die Biologie steht wieder im Mittelpunkt. Taifune und Hurrikane werden so alltäglich wie der nachmittägliche Regen, während wir uns bemühen, unser Leben im Schatten dieser globalen Pandemie wieder auf die Reihe zu bekommen. In den urbanen Ballungsgebieten, schon zuvor ein unsicheres Terrain, ist die Infrastruktur vollständig zusammengebrochen; die Wanderarbeiter müssen zu Fuß in ihre Heimatstaaten zurückkehren. Während die Coronavirus-Fallzahlen im ganzen Land konstant gestiegen sind, verharrt der Staat weiterhin in seinem Dementi und bekämpft lieber regierungskritische Stimmen. Abweichende Meinungen werden durch den Unlawful Activities (Prevention) Act zum Schweigen gebracht. Intellektuelle, Akademiker*innen, Journalist*innen, Progressive und Studierende, die den Staat

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brüskieren, werden systematisch aufgespürt und mit stiller Zustimmung des Obersten Gerichtshofs verhaftet. CH   Gibt es Mythen über Krankheiten, die das Bild einer hinduistischen Nation bestärken? SR   Pandemien auf dem indischen Subkontinent sind seit jeher mit dem außerweltlichen Bereich der Gespenster und Geister verbunden. Während der Zeit des Raj in Indien herrschte die Vorstellung, dass Krankheiten durch Geister und übernatürliche Wesen verursacht wurden, die denselben kläglichen Raum bewohnten, der den Menschen auf der untersten Stufe der Kastenhierarchie aufgezwungen wurde. Wir finden umfangreiche Beispiele für diesen Glauben in der Folklore of Bombay von Reginald Edward Enthoven, einem Beamten des britischen Raj. In einer Passage berichtet Enthoven vom allgemeinen Glauben, dass die Göttinnen der Krankheit, Sheetala Devi und Mahamari Devi, die angeblich von Menschen niedriger Kasten verehrt wurden, den Ausbruch von Cholera und Beulenpest verursacht hätten. CH   Können Sie ein Beispiel für den Einfluss von KIProgrammen auf die Unterdrückung der Meinungsvielfalt und die Verfestigung der Klassen-, Kasten- und heteronormativen Strukturen geben, auf denen dieses nationalistische System basiert?

SR  Ein eindrückliches Beispiel, wie hierarchische Systeme durch künstliche Intelligenz verschärft werden, zeigt die Dating-App betterhalf.ai, die einen Algorithmus verwendet, der zukünftige Paare anhand ihrer Lebensläufe zusammenbringt. Die Benutzer*innen werden eingeladen, sich mit „Fachleuten erstklassiger Unternehmen wie Google, Amazon, Adobe, Accenture usw. zu connecten und Anfragen basierend auf einer Kompatibilitätsbewertung zu verschicken/anzunehmen, um die anstrengende Suche nach einem Lebenspartner zu beenden“. Dabei passt sich die Zukunftssicherung des Klassendenkens an das digitale Zeitalter an. CH   In Ihren virtuellen Settings und den von Ihnen als Guerilla-Skulpturen betitelten Installationen setzen Sie künstliche Intelligenz spielerisch ein. Wann haben Sie als bildender Künstler angefangen, digitale Technologien in Ihrer Arbeit zu nutzen? Wie gestaltete sich Ihre Praxis zuvor und welche Möglichkeiten ergeben sich für Ihre künstlerische Praxis und deren Inhalte? SR   Meine Praxis kann als wachsende mythologische Erzählung angesehen werden, in der jedes Werk als Teil eines ständig wachsenden Puzzles fungiert. Die konzeptuelle und physische Gestalt dieser Erzählung wird durch gefundene Objekte, eingebundene Geschichten, ScienceFiction, Folklore geformt – und durch die Betrachter*innen, die ihre eigenen subjektiven Erfahrungen in bruchstück-


Contingent Farewell, 2016, Performance

haften Akten des kollektiven world-building in die Arbeit einbringen. Mit diesen gefundenen Objekten erschaffe ich seltsam anmutende Artefakte, Totems und Musikinstrumente, die von merkwürdigen schamanischen Wesen in absurden rituellen Darbietungen als Requisiten verwendet werden. Ich mag Videospiele und KI-Programme, weil ich diese Technologien als spannende Möglichkeit begreife, nichtmenschliche Intelligenz in die Diskussionen zu kollektiver Sinnfindung einzubeziehen. CH   Was mir bei Ihrer Herangehensweise besonders ins Auge sticht, ist die Fähigkeit, alternative Formen des Denkens und des world-building aufzuwerfen – in den Geschichten, die Sie erzählen, in den Modellversuchen, die sie bieten, und sogar in der Kuriosität der nichtmenschlichen Objekte, die sich durch ihre Welten bewegen. Wenn ich mir erlauben darf, einen Hauch von Optimismus in Ihrer Arbeit zu lesen, würde ich gerne wissen, ob Sie glauben, Begumpura könnte zum Vorbild für eine zukünftige Welt werden? SR   Das Gedicht „Begumpura“ von Ravidas ist ein Akt des radikalen world-building. Ravidas war ein Mystiker, Dichter und Philosoph des 15. Jahrhunderts, der daran arbeitete, soziale Hierarchien von Kaste und Geschlecht in Indien abzuschaffen. „Begumpura“ bezeichnet in wörtlicher Übersetzung einen Ort ohne Trauer. Bei Ravidas ist es ein Ort, der frei von Gewalt, Folter und Schmerz

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ist – denn in Begumpura besitzt niemand Eigentum. Es ist eine Stadt der Freiheit, in der Menschen kommen und gehen, wie es ihnen gefällt, denn jeder und jede ist willkommen. Der radikalste Aspekt von Begumpura ist jedoch, dass Ravidas es nicht als fiktive Utopie im Reich der Fantasie entwirft, sondern in der Gegenwart. Er erklärt, dass er dorthin geht und diejenigen, die mit ihm gehen, seine Freunde sind. Angesichts des exklusiven Nationalismus, den der indische Staat propagiert, befindet sich die Stadt Begumpura heute zwischen den porösen Grenzen des Realen und des Imaginierten, einem ätherischen Ort des Widerstands, der für alle Möglichkeiten offen bleibt.

SAHEJ RAHALS Installationen, Filme, Performances und Videospiele sind Teil einer konstruierten Mythologie, die er selbst erschafft und dabei auf Quellen zurückgreift, die von lokalen Legenden bis hin zu Science-Fiction reichen. Indem er einen Dialog zwischen diesen Quellen anstößt, erzeugt der Künstler Szenarien, in denen unbestimmte Wesen aus den Rissen unserer Zivilisation auftauchen. Sahej Rahal wirkte bereits an verschiedenen institutionellen, Einzel- und Gruppenausstellungen mit, darunter ACCA Melbourne (2019), Vancouver Biennale (2019), Centre for Contemporary Arts Glasgow (2017), Liverpool Biennale (2016); Jewish Museum, New York (2015) und MACRO Museum, Rom, 2014.

Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

Mehr Informationen zum Mensch-Maschine Stipendium, das von der innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft gefördert wird, unter: https://www.adk.de/de/akademie/ junge-akademie/mensch-maschine-stipendium/

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CARTE BLANCHE IN DEN FARBEN DER DUNKELHEIT Péter Nádas

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Es sah nicht gerade gut aus für die Fotografie. Als ich vom Lichtschachtsucher meiner Kamera aufblickte, bemerkte ich mit einem Mal, dass wir sinken, obwohl wir uns auf keinem Schiff befanden und weit und breit kein Meer in Sicht war. Von meinem Wohnort ist Wien genauso weit entfernt wie Budapest. Früher konnte ich mir die für die analoge Fotografie benö­ tigten Materialien in den näheren Kleinstädten besorgen, heute ist das nicht mehr möglich. Sie sind aus. Sie wurden nicht geliefert. Es gab keine Filme mehr, keine Kleinbildfilme, keine Rollfilme, weder mit dieser Empfindlichkeit noch mit einer anderen. Nächste Woche vielleicht. Zuerst verschwanden die Schwarz-Weiß-Materialien, die extrem empfindlichen, beziehungsweise die extrem unemp­ findlichen, dann war auch die Massenware für das breite Publikum nicht mehr erhältlich. Eine Woche darauf gab es kein Fotopapier mehr, weder weiches, noch hartes, kein spezielles und auch kein gewöhnliches, ich hatte nichts mehr zum Vergrößern. Schließlich wurde das Fachgeschäft neu gestaltet, das in der Elektronik bewanderte junge Verkaufspersonal verstand nicht, was ich wollte und wovon ich redete. Auch Fotochemikalien waren nicht mehr zu bekommen. Ich hätte anfangen müssen, die Komponenten einzeln zu besorgen, um sie selbst zu mischen. Trotzdem war, so schien es, der ganze Berufsstand glücklich. Nicht nur in den nahen Kleinstädten, sondern auch in Wien und ­Budapest. Endlich hatte es mit den Chemikalien und dem vielen Herumge­pan­tsche ein Ende. Man drückte einen Knopf auf dem nagelneuen ­digitalen Gerät und schon war das Bild an seinem ­Bestimmungsort am anderen Ende der Welt angekommen. Nur war das Bild jetzt ein anderes. Die Leute schienen gar nicht zu bemerken, dass es nicht mehr das Bild war. Das war kein Bild. Auf diesem Bild standen die Gegenstände nicht im Raum. Und die Schatten der Gegenstände schien irgendjemand stark ausgeleuchtet zu haben. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht, obwohl ich im ersten Moment nicht hätte sagen können, was da nicht in Ordnung war. Es gab keine signifikanten Kontraste. Die Farben waren verwischt, ein seltsamer gelber Schleier schien über ihnen zu liegen, oder sie waren irrsinnig plakativ. Doch auch in anderen Teilen der Welt gab es nur noch wenige, die nicht von den Gradationen, der Tiefenschärfe und der An­nahme lassen wollten, dass die Umrisse der Gegenstände nicht von d ­ iesen selbst, sondern von der Plastizität von Licht und Schatten geschaffen werden. Schließlich haben wir zwei Augen, wir sehen in die Tiefe, sind Fleckenseher. Wir müssen zwischen Licht und Schatten wählen. Wenn aber das menschliche Gesicht keine Räumlichkeit hat, hat der Mensch auf dem Bild kein Gesicht, beziehungsweise hat das Gesicht keinen Ausdruck. Ich gelangte zu der Auffassung, dass der Mensch auf der digitalen Fotografie seine eigene Existenz auslöscht. In Wien und Budapest wurden die abgelaufenen fotografischen Artikel noch abverkauft, jedoch waren das keine Materialien, die zum Beispiel ich hätte gebrauchen können. Das lag weder an deren Qualität noch an der fehlenden Gewährleistung. Denn so läuft das eben nicht im Leben eines Fotografen, dass er, wenn er bisher mit Material von Fortepan oder Agfa gearbeitet




hat, und diese Hersteller den Betrieb einstellen, dann brav auf Kodak oder Fuji umsteigt, weil die noch produzieren. Warum das nicht so läuft, ist eine lange Geschichte. In Kurzform ist dazu zu sagen, dass man zusammen mit der Marke die ästhetischen Anschauungen, die Bilderzeugungsverfahren und die Farbenlehre der Entwicklungsingenieure mitkauft. Daran muss man seine Sichtweisen anpassen. Was entweder funktioniert oder auch nicht. Ich kannte Fortepan, ich kannte Agfa, ich kannte auch die anderen, nur akzeptierte ich die anderen nicht. Und mit der Digita­ lisierung müsste ich mir das Menschenbild der vierten Moderni­ sierungswelle in den speziellen Interpretationen der verschiedenen Markenstrategien zu eigen machen. Oder du bist widerspenstig und trägst die eigenhändig her­ gestellte Emulsion selbst auf. Ein Drittes gibt es nicht. Die Materialien von Fuji zum Beispiel erzeugen eine faszinierend klare Bildoberfläche, mit der formidablen, mehrere tausend Jahre alten Geschichte der japanischen Malerei und Kalligrafie im Hintergrund, jedoch bei alledem auf unendlich kühle und gleichgül­ tige Weise. Kann sein, dass das dort nicht so stark, oder nicht als Gleichgültigkeit empfunden wird. Kodak geht umgekehrt vor und überschüttet uns mit seinem Überschwang. In dieser Darbietung soll alles strahlen, alle haben die Verpflichtung, breit in die Mittags­ sonne zu lächeln. Ich aber fotografiere nicht den Überschwang von irgendjemand, sondern das Licht selbst. Ich kann nichts dafür, es hat sich so ergeben. Zu dem Zweck war Fortepan geeignet, und bis zu einem gewissen Grad Agfa. Auch wenn ich die Mitglieder m ­ einer eigenen kleinen Familie aufnehme, bin ich nur darauf gespannt, wie und in welchem Licht ihre teuren Angesichter im Raum platziert sind, und wie ich ihre unverwechselbaren Züge im Raum her­ vorheben kann. Ich weiß starkes Gegenlicht auf ihren Gesichtern zu schätzen, dessen ungeachtet bemühe ich mich, möglichst viele Grauschattierungen festzuhalten. Mich in die Dunkelheit hineinzuwagen, tut gleichfalls gut, dort versetzen mich die Masse der Schatten und das Minimum an Licht in Aufregung. Derlei Bedürfnisse kennt die digitale Fotografie nicht, sie kann sie nicht befriedigen. Die Veränderung war für mich tiefgehend, sie drang mir bis ins Mark. Es gab achtenswerte Kollegen, die ernsthaft Widerstand leisteten, sie ergriffen nicht die Flucht, sie mischten allen Ernstes Chemikalien, trugen Emulsionen auf, das heißt, sie kehrten in die handwerkliche Epoche der Fotografie zurück. Eine vernünftige Haltung. Die Silberkörner der Emulsion haben eine dreidimensionale Ausdehnung, darum geht es. Einen Raum tausche ich nicht so ohne Weiteres gegen eine Fläche. Das digitale Signal hinterlässt seine Spuren auf einer Fläche. Es macht die Perspektive zunichte, es liefert keine oder rechnet nicht mit ihr. Das Grundelement der lichtempfindlichen Schicht hingegen, ob es nun Licht bekommen hat oder nicht, steht im Raum. Wir nehmen es in Relation zur Räumlichkeit anderer Körner wahr. Das menschliche Auge ist dazu imstande, in der Menge der mikroskopisch kleinen lichtempfindlichen Silberkörner auf Entdeckungsreise zu gehen, das heißt, ihre graduellen Unterschiede dreidimensional zu erfassen. Ganz so wie in der Malerei. Die Fotografie ist

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bei der Malerei in die Schule gegangen. Der Maler hinterlässt mit seinem Pinsel, ob er die Farben nun mischt oder nicht, ob er sie expressiv aufträgt oder lasurartig, eine unverwechselbare Textur. Die reine oder gemischte Farbe steht in drei Dimensionen auf der Leinwand. So wie auch die Silberkörner von Brassaï oder André Kertész nicht mit­einander verwechselt werden können und mit ihren Themen in enger Verbindung stehen. Wer ein mit analogen fotogra­fischen Mitteln erzeugtes Bild betrachtet, tritt in einen unbekannten Raum, wo ihm die Maße, die Position, die Farbe, die Gradation der belichteten und unbelichteten Körner im Dschungel der individuellen Eigenschaften Orientierung geben. Es sah so aus, dass das Pixel gerade das selbständige und unverwechselbare Leben der Emulsion aus der Fotografie verbannte. Schon allein deshalb, weil der Zufall für das Pixel ein irrelevanter Begriff ist, es kennt allein das Gesetzmäßige. Es sah so aus, dass der Impuls und der grafische Raster dennoch ohne jede philosophische Überlegung die Physik und Chemie der Silberjodidund Silberbromidkörnchen ablösten, obgleich nicht nur keine analoge Verbindung zwischen ihnen bestand, sondern überhaupt keine Verbindung. Das Digitale ging äußerst weit mit seinem Angebot. Es sah so aus, als ob die Digitalisierung der Fotografie nicht nur der Epoche der Individualität, sondern auch mehreren Jahrtausenden der perspektivischen Darstellung und der Lichtempfindlichkeit den Rücken kehrte. Sie brach nicht mit ihnen, denn das würde voraussetzen, dass die Existenz von jemandem oder von etwas bereits zur Kenntnis genommen worden und im Bewusstsein gegenwärtig ist. Es sah so aus, als ob das Digitale die Fotografie von ihrer Räumlichkeit und ihrer Stofflichkeit en bloc loslösen könnte. Sie wendete sich ab. Bis dahin sahen die Lichtbilder so aus, und jetzt so. Wiewohl es auf dem digitalen Bild nicht mehr um Licht, nicht mehr um Lichtbrechung, nicht um Lichtquellen, nicht um die verschiedenen Eigenschaften des Lichts und auch nicht um seine Menge ging, sondern um die kühne Behauptung, dass die einzige sichtbare Welt die Farbwelt sei. Auf dem digitalen Bild ist es einerlei, ob die Lichtquelle künstlich oder natürlich ist. Den Unterschied nimmt es ausschließlich als Farbe wahr. Einzig die Farbe des Gegenstands zählt, und was in der Wirklichkeit was verfärbt, was auf was reflektiert oder aufgrund welcher Lichtbrechung sie als Farbe entsteht, wo und wie sie im Paradies der Farben ihren Platz hat, ist dem Digitalen egal. Auf dem digitalen Bild ist jedes Drama dahin. Die digitale Fotografie, ob sie es weiß oder nicht, erschafft ein Universum, in dem es, um mit Rorty zu sprechen, keine Antworten gibt, denn es gibt auch keine Fragen, in dem es keine Sorgen gibt, denn es gibt auch keine Probleme. Jedenfalls war etwas zu Ende gegangen, etwas war in der Fotografie aus und vorbei. Als erste demonstrierten Kunsthändler in Galerien und auf Auktionen, dass es keinen Weg zurück gab. Die Preise für Fotografien der zurückliegenden anderthalb Jahrhunderte stiegen sprunghaft und exponentiell an. Nicht nur die­ jen­ig ­ en von Werken anerkannter Meister. Die Kunstsammler stürzten sich auch auf Amateurfotografien. Auf außergewöhnliche

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Bilder, die ein Zusammenspiel von Zufall und Unkenntnis hervorgebracht hat. Kunsthändler und -sammler schienen es als Faktum akzeptiert zu haben, dass in der digitalen Welt, die auf Gesetzmäßigkeit und Monotonie gegründet ist, Zufall und Eventualität sich niemals mehr ereignen können. In den vergangenen zwanzig Jahren haben Galeristen tatsächlich Großartiges geleistet, sie haben unbekannte Lebenswerke aus den Schubladen gefischt, fotografische Schulen und Epochen überschaubar gemacht. Schön, es gibt kein Zurück, hätte ich mir sagen können, doch es ging nicht um mich, beileibe nicht, sondern um mein Metier, um die Abbildung, um die europäische Tradition der Abbildung, mehr noch, um unsere philosophischen und theologischen Vorstellungen von Raum und Zeit. Die Materialität der Fotografie stand auf dem Spiel. Der Gedanke peinigte mich, dass der Mensch zwar das Rad erfunden, aber deswegen doch nicht seine Beine auf den Müll geworfen hat. Wir sollten nicht einen Moment lang vergessen, dass die Fotografie nicht nur durch Stile, nicht nur mit einzelnen Schulen in die Fußstapfen der Malerei getreten ist, sondern mit ihrer Materialität. Sie arbeitete nicht mit Theorien, sondern mit Materialien. Schließlich ist die Camera obscura keine Abstraktion und keine Spekulation, sondern eine Naturerscheinung, das Resultat der Entdeckung der Kontraste und der Strahlen. Wir können ein optisches Bild vermitteln, durch das Schleifen des Glases kann die Lichtbrechung perfektioniert werden. Wir tragen die Stoffe auf einen Träger auf, fixieren sie darauf mit anderen Stoffen. Die Unter­ schiedlichkeiten der Silberkörner der aufgetragenen Emulsion stehen zur Belichtungsdauer und Lichtstärke in Relation. Die Sehnerven des menschlichen Auges sind von vornherein so beschaffen, dass sie fähig sind, in den von Stoffen gesättigten fotografischen Raum einzutreten und sich gemäß den eigenen physiologischen Eigenschaften darin auch zu orientieren. Die analoge Fotografie steht mit jedem einzelnen ihrer Elemente in einer Wechselbeziehung zur Physiologie und hält eine Wechselbeziehung zur Erkenntnis aufrecht. Die Bündel der Sehnerven fühlen sich vom Licht angezogen und es graut ihnen vor dem Licht, in jedem Moment erfassen sie die Natur und das Ausmaß der Anziehung und des Grauens, die Gehirnzellen speichern es. In die Dunkelheit treten sie immer gerne ein, selbst dann, wenn sie Angst haben. Die Überwindung der Angst ist schaurig anziehend. Der grafische Raster der Pixel erinnert amüsanterweise an die Bündel der Sehnerven. Es kann gar nicht anders sein, die Darstellung des Pixels ist das Resultat grafischer Arbeit, auf diese Weise hat die Vorstellungskraft und das Wissen des Grafikers Anteil an seiner Existenz. Auch wegen seiner eigenen Nervenbündel kann dieser gar nicht anders, als mit der Physiologie in Beziehung zu treten. Trotzdem ist das Pixel keine Materie, sondern Impuls und Fiktion. Ihn zu erzeugen, genügt die Fantasie des Grafikers. Niemand braucht einzeln an den Bündeln der Nervenfasern zu zupfen. Nur die geometrischen Koordinaten der vorgestellten Gestalt müssen in elektronischer Form angegeben werden. Angeben muss sie

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dennoch jemand. Demgegenüber hat der Impuls nichts mit der Person, nichts mit Vorstellung oder Theorie zu tun, ebenso wenig mit dem sinnlichen Erfassen des Erscheinungsbilds, sondern einzig mit der Farbe und der Farbtemperatur der Stoffe, auf die er reagiert, weshalb er mit den bildgebenden Fähigkeiten des Lichts nur in mittelbarem Zusammenhang steht. Er ist den Farben verhaftet, diese tastet er ab. Es interessiert ihn nicht, wovon er die Farbe aufnimmt, ebenso wenig, wovon dieses Detail ein Detail ist und wo es im sichtbaren Ganzen seinen Platz hat. Das Pixel ist ein elektronischer Impuls, der sich in Verbindung mit der Farbe der Stoffe bewegt, und den ich mit Hilfe der Bildpunkte, Bildzellen, Bildelemente eines grafischen Rasters wahrnehme, auf einem Bildschirm oder Display, der über eine Länge und Breite, doch über keine Tiefe verfügt. Der Auslöser ist geblieben, wir drücken ihn gerne und oft. Gleichwohl hält die mit einer Linse versehene Vorrichtung durch die Belichtung nicht das Abbild des gewählten Gegenstands fest, sondern bringt auf einem gefüllten grafischen Raster ein einziges Zeitintervall eines Systems von Farbtemperaturen zur Darstellung. An einer digitalen Kamera kann man deshalb mit einem einzi­ gen Knopfdruck zwischen Standbild und beweglichem Bild wählen. Wenn ich auf Videoaufnahme stelle, kann ich dieses Etwas, das ich als Standbild eine Hundertstelsekunde angesehen habe, bis zum Ende aller Zeiten betrachten. Ich habe ein wahres Wunderding von einem Gerät. Die Frage ist nur, was ich mit ihm sehe. Wenn nämlich im Universum des Ingenieurs nur Farben existieren und jeder einzelne Impuls jeder Farbe im gegebenen grafischen Raster gleichwertig ist, dann wird das auf diese Weise generierte Bild keine Tiefendimension haben, woher auch, und es wird nicht nur im konkreten Sinn keine Tiefe haben. Die Entwicklungsin­ genieure behaupten, es gäbe kein Universum. Das mit zwei Augen Sichtbare, die dritte Dimension, leugnen sie nicht einmal. Ganz zu schweigen von Poincarés mathematischer Annahme, der drei­ dimensionale Raum sei der sichtbare Teil einer vier- oder fünfdimen­ sionalen Welt. Obwohl sie doch wirklich wissen könnten, dass allein schon der Begriff des grafischen Rasters aus der Renaissance stammt und an die perspektivische Darstellung geknüpft ist. Doch mit der Raumwahrnehmung der Renaissance hat das digitale Bild am allerwenigsten zu tun. Vom zentralperspektivischen Raum behalten wir den Raster und die Optik bei, mochten sich die braven Ingenieure gedacht haben, doch Verkürzung, Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund werfen wir auf den Müll. Für sich genommen macht das natürlich nichts aus, denn das Raumempfinden der Renaissance ist lediglich eine Variante der Möglichkeiten menschlichen Sehens und bei Weitem nicht das letzte Wort in der Geschichte des Sehens. Die zentralperspektivische Betrachtung ließ auch selbst außer Acht, dass sich der Mensch nicht nur auf eine Landschaft oder einen Gegenstand zentriert und sein peripherisches Sehen bei und trotz aller Konzentration unausgesetzt arbeitet. Die digitale Fotografie behielt zwei wesentliche Werkzeuge der zentralperspektivischen Darstellung bei, die Linse und den

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Raster, zugleich verbannte sie die Perspektive zusammen mit deren Anspruch auf Konzentration aus dem Bild, das peripherische Sehen hatte sie anscheinend niemals zur Kenntnis genommen. Die Entwicklungsingenieure, die den Prototyp der Digitalkamera in die Hände der Großindustrie legten, schienen weder Biologie und Optik noch Theologie und Philosophie gelernt und niemals einen Fuß in ein Museum gesetzt zu haben. Vor ihnen das Leben. Was mich betrifft, reagierte ich viel zu hitzig. Den kleineren Teil der Gerätschaft meiner Dunkelkammer warf ich weg, den größeren schenkte ich zusammen mit meinen sämtlichen Kameras und Belichtungsmessern einem Museum. Wenn ich nicht die Intensität des Lichts messen und den erhaltenen Wert zur Belichtungszeit und zur Tiefenschärfe in irgendeine Relation setzen kann, dann adieu liebe Ingenieure, ich für meinen Teil mache Schluss mit dem Fotografieren. Abgetan war die Sache damit nicht. Wo ich nun mal zwei Augen zum räumlichen Sehen und ein teures Smartphone mit Fotografierfunktion hatte, drückte ich dann doch manchmal auf den Knopf. Ziemlich schnell bekam ich heraus, was man mit dem Mangel an Tiefe und den plakativen Farben alles anstellen konnte. Die Farben der Dunkelheit zum Beispiel nimmt es viel genauer wahr als das menschliche Auge. Alles sieht es heller als das menschliche Auge. Vielleicht deshalb verträgt es keine Konturenbeleuchtung. Um Farben wahrzunehmen, benötigt es nämlich eine minimale Lichtmenge, wenn diese aber vom Minimalen ins Nichts übergeht, mischt es daraus in seiner kindlichen Verwirrung ver­ blüffende Farbflecken zusammen und bringt auf dem Display mit seinen Pixeln höchst interessante Valeurs hervor. Ich begann so­zusagen mit den Konstruktionsfehlern des Apparats zu spielen. Früher einmal hatte ich auch schon mit den Schwächen der genialsten Erfindung farbigen Rohmaterials, mit dem Polaroid, gerne herumgespielt. Wenn wir das entsprechende Papier für die Drucke wählen, führen uns die von Verwirrung zeugenden Bildoberflächen durch die Schwächen der Ingenieurskonzeption zu zwei Traditionen zurück, die im Prinzip der Elektronik fremd sein müssten, zur Erfahrung und zur Historizität. Konkret zu einer äußerst fruchtbaren foto­gra­ fischen Episode des Modernismus, dem Piktorialismus, den für die Malerei empfänglichere Fotografen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kultiviert hatten, und von dort noch weiter zurück, geradewegs zum Kult der Dunkelheit der Romantischen Malerei. Das Spiel mit den natürlichen menschlichen Schwächen ist mir schon allein deshalb wichtig geworden, weil ich gerade Schauer­ geschichten schreibe, und je schauerlicher eine Geschichte, das heißt, je mehr sie sich aus der archaischen Schicht des mensch­ lichen Bewusstseins nährt, umso mehr brauche ich, um sie zu schreiben, Klarsicht und klares Sehen. Aus dem Ungarischen von Heinrich Eisterer

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PÉTER NÁDAS, Schriftsteller, lebt in Gombosszeg/ Ungarn. Mit Werken wie dem Buch der Erinnerung (dt. 1991) und den monumentalen Parallelgeschichten (dt. 2012) hat er sich in die Weltliteratur eingeschrieben. „Visuelle Poetik“ nennt Irmgard Wirtz Eybl, Leiterin des Schweizer Literaturarchivs, seinen Stil: „Seine literarische Spurensuche historischer Ereignisse erfolgt seit den Anfängen in Bildern. Sein Gedächtnis ist ein visuelles, so heissen seine autobiographischen Erinnerungen folgerichtig Aufleuchtende Details.“ Es verwundert also kaum, dass er auch als Fotograf über erstaunliche Qualitäten verfügt. Seine Aufnahmen – Andreas Breitenstein spricht in der NZZ von einer „eminenten Doppelbegabung“ – wurden 2012 im Kunsthaus Zug mit einer kunsthistorisch ausgreifenden Retrospektive und 2018 mit einer Ausstellung der jüngeren, digitalen Werke geehrt. Seit 2006 ist Péter Nádas Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Literatur; das Péter-Nádas-Archiv wird seit 2018 von der Akademie betreut.



KUNSTWELTEN ON MY WAY GESCHICHTEN AUS EUROPA Das Thema des Reisens inmitten der Corona-Pandemie ins Zentrum eines Programms von Kindern, Künstlerinnen und Künstlern zu stellen, mag verwundern. Schon Monate vor der Pandemie, als unsere Vorbereitungen für die Ausstellung „ON MY WAY – Geschichten aus Europa“ begannen, haben Kinder aus Madrid, Barcelona, Saaremaa, Prag, Livadia, Berlin, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern der Akademie der Künste von ihren Reiseerfahrungen in Europa in Texten, Bildern, Filmen, Modellen, Musik- und Theaterstücken erzählt und im Akademie-Archiv erzwungene Reisen kennengelernt. Der Corona-Lockdown hat die Reisetätigkeit wochenlang lahmgelegt, inzwischen mehren sich die Zeichen, dass ihre Wiederaufnahme nicht von vernünftigem Verzicht zum Beispiel auf umweltschädliche Reiseformen bestimmt sein wird. Umso wichtiger sind die Ideen von Schülerinnen und Schülern des Landkreises AnhaltBitterfeld und darüber hinaus für künftige Reisen. Was geht, ohne die Umwelt weiter in Mitleidenschaft zu ziehen? Ist klimaneutrales Reisen möglich? Vielleicht sind ihre Vorschläge von Ängsten bestimmt, vielleicht auch von einem gewachsenen Selbstbewusstsein gegenüber den älteren Generationen. Die Kooperation mit dem vom Goethe-Institut europaweit ausgelobten Jugendwettbewerb #OEKOROPA führt von Bitterfeld in die Welt, und junge Menschen erleben den grenzübergreifenden Austausch als Selbstverständnis von Europa. Durchgeführt wurden Reisen in der nahen Umgebung, sogar im eigenen Zimmer. Annesley Black unternahm mit Mädchen und Jungen aus Bitterfeld-Wolfen eine musikalische Exkursion in Paddelbooten auf einem See nahe ihrer Schule. Nach Anna Seghers’ 1938 im Pariser Exil entstandenen Hörspiel Ein ganz langweiliges Zimmer entwickelten Kinder gemeinsam mit Elena Zieser und

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EIN AUSSTELLUNGS­P ROGRAMM IM METALL-­L ABOR DES CHEMIEPARKS BITTERFELD-WOLFEN, 3.11. – 20.12. 2020

Gesine Bey ein Hörspiel, das von den Dingen handelt, die sie umgeben und die möglicherweise von anderswo herkamen, während sie selbst in Zeiten des Lockdowns in ihren Zimmern bleiben mussten. Auf Saaremaa und in Wolgast suchten Jugendliche mit Michael Bräuer, Irina Raud und Theresa Schütz anhand konkreter Stadtsituationen nach Lösungen für nachhaltigen Tourismus an der Ostseeküste. Kinder aus Köthen und Berlin ließen sich von Daniel Chodowieckis Zeichnungen seiner Reise von Berlin nach Danzig (1773) und Carl Blechens AmalfiSkizzenbuch (1829) zu neuen Bildern inspirieren. Der von Benjamin Scheuer mit Mädchen und Jungen aus Bitterfeld-Wolfen, Madrid, Prag, Berlin und Oslo kon­ struierte Ultimative Übersetzungsapparat überträgt Wörter aus dem Deutschen in europäische und außereuropäische Sprachen und zurück, bringt sie zum Klingen, lässt immer etwas schief gehen, ist ein Plädoyer für Europas Sprachenvielfalt und lädt zu überraschenden Interaktionen ein. Bereits detailliert geplante Vorhaben wurden ver­ schoben: Eine Bahnfahrt nach Venedig mit Mädchen und Jungen aus Wolfen, Moritz Nitsche und Kristiane Petersmann kann stattfinden, sobald sie gesundheitlich unbedenklich ist. Die Kinder werden mit Muranoglas im Gepäck zurückkehren, das sie mit Unterstützung der Künstler und der Stadt als bleibende Mosaike an mehreren öffentlichen Plätzen von Bitterfeld-Wolfen aus­ legen. Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel und Erdmut Wizisla, Leiter des Walter Benjamin Archivs der Akademie der Künste, planen mit Berliner Gymnasiastinnen für das Frühjahr 2021 eine Reise nach Portbou, um Walter Benjamins Wegen während der letzten Tage vor seinem Suizid 1940 zu folgen. In ihrer Bewerbung für unser Vorhaben nähern sie sich Walter Benjamin über seine auf der Flucht verschwundene Aktentasche.

„Ihr mit Engagement und Behutsamkeit eröffnetes Buch der Erkundungen hat noch viel freien Raum“ (Erdmut Wizisla) und ist in der Ausstellung ebenso zu sehen wie ein entstehender Reisefilm. Aufgrund der Pandemie mussten wir die ursprüng­ liche Idee einer aus Zelten bestehenden Ausstellungsarchitektur aufgeben und ein neues Raumkonzept entwickeln. Unter Berücksichtigung der geforderten Abstands- und Hygieneregeln planen wir ein großes, auf einem Raster basierendes Spielfeld, das wiederum aus 32 mit farbigen Klebebändern auf dem Boden markierten, ca. 100 x 120 cm großen Feldern besteht. Auf dem Raster mit seiner ihm eigenen egalitären Struktur werden die Arbeiten in verschiedenster Form präsentiert. In Anlehnung an Pieter Bruegels Kinderspiele können zahlreiche parallele Interaktionen stattfinden: Es wird „Himmel und Hölle“ gespielt, eine Windmaschine bläst, selbstgefaltete Papierflieger starten von der Galerie, eine Camera Obscura verändert die Sehgewohnheiten, ein Mosaik wird gelegt – und vieles mehr. Sieben große, noch verpackte UN-Rettungszelte haben Kinder mehrerer Schulen des Landkreises AnhaltBitterfeld unmittelbar nach dem verheerenden Brand im Flüchtlingslager Moria einer Hilfsorganisation auf Lesbos mit Videobotschaften übergeben.

MORITZ NITSCHE, Bühnenbildner, ist SerpentaraStipendiat der Akademie der Künste 2020. Er lebt in Berlin. KRISTIANE PETERSMANN ist bildende Künstlerin und Kuratorin. Sie lebt in Linz. MARION NEUMANN leitet das Vermittlungsprogramm KUNSTWELTEN der Akademie der Künste.


„DIE PHYSIKALISCHEN EIGENSCHAFTEN EINES GEWÄSSERS ERFORSCHEN“

Die Komponistin Annesley Black spricht mit Tuan Do Duc über ihren Workshop.

TUAN DO DUC   Wie ist der Titel Ihres Workshops „Nach Schallwellen auf Seen schwankend“ entstanden und was erwartet die Kinder? ANNESLEY BLACK Die technische Beschreibung von Schall als Schallwelle passt gut zum Charakter unserer Exkursion. Wir werden die physikalischen Eigenschaften eines Gewässers erforschen, werden untersuchen, wie Wasser Schall überträgt. Als Klangerzeuger ver­ wenden wir unsere Boote und Paddel, unsere Stimmen und eine kleine Auswahl von Schlaginstrumenten aus der Schule. Wir werden auch beobachten, inwiefern die kleine Gruppe der Kinder an Bord sich beim Paddeln unbewusst synchronisiert und welche rhythmischen Muster sich daraus ergeben. TDD   Was kann für Kinder und Jugendliche das Besondere am Musizieren und Komponieren sein? Was können sie aus der Beschäftigung mit Klängen lernen?

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AB  In meinen Kinderworkshops habe ich festgestellt, dass die meisten von ihnen schnell vom Musikmachen begeistert sind. Häufig ermuntere ich sie, selbst zu improvisieren oder sich kleine Stücke auszudenken. Dabei konzentriere ich mich oft auf Umgebungsgeräusche, weil sie unberührt sind von etablierten Vorstellungen, wie Musik zu definieren ist. Bewertungen wie „gute“ oder „schlechte“ Musik fallen hier weg. TDD   In Ihrer Arbeit beschäftigen Sie sich mit teils sehr diversen Klängen und experimentieren in verschiedenster Form mit Sounds, mischen traditionelle Instrumente mit außermusikalischen Klängen, evozieren neue Klangwelten. Wie entsteht eine neue Komposition bei Ihnen? Was kann Klangkunst? AB  Wenn ich mit Live-Instrumentalist*innen und Medien wie elektronischen Klängen, modifizierten Instrumenten, Videos oder speziellen Bühnenbildern arbeite, begeben sich die Musiker*innen in einen klanglichen oder visuellen Raum, in dem sich die gewohnten Abläufe, Klänge und ihre Interaktionsweisen verfremden. Wenn ich beim Komponieren zum ersten Mal über ein Stück nachdenke, überlege ich häufig, für welche Musiker*innen ich es schreibe. Ich denke über die Geschichte, die Konstruktion und das Repertoire ihres Instruments nach. Ich suche nach Spannungen, Diskrepanzen und versuche die Identi­tätskonflikte eines Instruments oder Ensembles in meinem Stück greifbar zu machen. Manchmal erzeugen meine Stücke eine interkulturelle Dissonanz, da ich die Musiker*innen mit ungewohntem, fremdem Material wie field recordings oder Musik aus anderen Kulturen konfrontiere. Ein Thema, das in meiner Arbeit immer wieder auftaucht, ist die Beziehung zwischen Technologie und Kunst beziehungsweise Technologie und Mensch. Das kann bedeuten, dass die Funktion von Geräten wie Plattenspielern, Tonbandgeräten, Mischpulten, Kameras, Lampen und Computern auf der einen und die Rolle der Musiker*innen auf der anderen Seite neu definiert wird: Sie werden von Benutzer*innen zu Erfinder*innen. Manchmal ist es ein mikroskopischer Blick in das Innenleben eines Instruments. Das Klavier zum Beispiel ist ein komplexes mechanisches Instrument, das von Hämmern, Hebeln, Federn und Wellen angetrieben wird und dessen Geschichte nicht nur ästhetische Entwicklungen in westlicher Musik widerspiegelt, sondern auch Industrie- und Gesellschaftsentwicklungen der Menschen, die sie gebaut haben. Dramaturgisch konstruiere ich diese Konflikte kontrapunktisch: Das Stück entwickelt sich zu unterschiedlichen Zeiten parallel zu den vertrauten Erwartungen an das Geschehen in einem Konzertsaal – oder entgegengesetzt zu ihnen. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer Das Interview wurde am 4. August 2020 geführt.

ANNESLEY BLACK ist Komponistin und Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Musik. Sie lebt in Frankfurt am Main. TUAN DO DUC ist Medientechniker und Kulturwissenschaftler und arbeitete von Anfang September 2019 bis Ende August 2020 als Trainee im Rahmen des KIWit­P rogramms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – BKM im Vermittlungsprogramm KUNSTWELTEN der Akademie der Künste.

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„EINE ILLUSTRATION IST KEINE BEBILDERUNG“

Kerstin Hensel im Gespräch mit Tuan Do Duc über Reisen und Bilder

TUAN DO DUC   Sie haben in Zerbst, Bitterfeld-Wolfen und Gröbzig Kinder aus Grundschulen getroffen. Was erzählen sie mit ihren Bildern und Geschichten vom Reisen? KERSTIN HENSEL   Das kommt auf die soziale Situation an. Es gibt Schüler, für die sind Ferienreisen und Ausflüge normal, andere haben ihren Heimatort noch nie verlassen. Für viele Acht- und Neunjährige scheint jedoch zu gelten, dass Reisen nicht unbedingt zu ihren Leidenschaften zählt. Das hat unter anderem Ursachen in der kaum ausgeprägten Neugier auf die reale Welt (virtuelle Welten sind stärker), im Schutz- und Kontrollraum der Eltern sowie in der heutigen Selbstverständlichkeit des Reisens. Der Erfahrungs- und Wissensradius dieser Kinder ist noch sehr gering. Da sie wenig lesen, ist auch das „Reisen im Kopf“ selten von Bedeutung. Im Gegensatz zum handschriftlichen Aufschreiben von Reiseerlebnissen haben die Kinder beim bildnerischen Gestal-

ten Lust und Fantasie entwickelt. Dabei ging es ihnen weniger um das Thema Reisen, als um die für sie neue Erfahrung, mit außergewöhnlichen Materialien und Drucktechniken eine Freiheit der Gestaltung zu erwirken. TDD  Was ist für Schüler spannend, in einer Bild- und Schreibwerkstatt den Spuren von Daniel Chodowiecki zu folgen? KH   Zunächst: In diesem Fall werden es Schüler höherer Klassen sein, die die Werkstatt außerhalb der Schule besuchen. Eine Herausforderung wird unter anderem darin bestehen, dass die Arbeiten Chodowieckis einen spannenden Gegensatz zur aktuellen, überbordenden Bildwelt darstellen. Durch Chodowieckis handwerkliche Perfektion, durch seine vielfältige, genaue Wahrnehmung von dem, was er auf seiner Danzig-Reise gesehen hat, ist er zum Ideal und Maßstab seiner Zeit geworden. So etwas gibt es heute nicht mehr in dieser Form. Vielleicht lernen die Schüler mit den Augen eines Künstlers zu sehen, der

vor mehr als 200 Jahren gelebt und gearbeitet hat; und sie werden es mit ihrer Gegenwart vergleichen. TDD  Wie ist die Werkstatt aufgebaut? Was wird in der Ausstellung „ON MY WAY. Geschichten aus Europa“ zu sehen sein? KH   Ziel ist die Herstellung eines „Berliner Tagebuches“ in Schrift und Bild. Wir führen die Schüler durch mehrere „Erlebnisstationen“ in Berlin, unter anderem ins Kupfer­stichkabinett, ins Archiv, an Emilio Vedovas Installation des „absurden Berliner Tagebuches“. Sie werden lernen, die Stadt aus verschiedenen Perspektiven zu sehen, das Gesehene zu reflektieren und zu gestalten. Außerdem lernen die Schüler verschiedene grafische und poetische Techniken kennen. Die praktische Arbeit geschieht im Atelier des Grafikers Karlkurt Köhler sowie in meinem Arbeitszimmer. TDD  Wie illustriert man Texte, oder wie kann man Texte zu Bildern beziehungsweise Zeichnungen verfassen? KH   Eine Illustration sollte keine simple Bebilderung sein, sondern die Fantasie des Lesers oder Betrachters anregen. Heute ist die Buchillustration im Vergleich zum 18. Jahrhundert kaum noch von Bedeutung, außer im Kinderbuchbereich. Die Verlage sparen. Hinzu kommt das zweifelhafte Argument, dass ein illustrativ vorgegebenes Bild die Fantasie des Lesers beschränken würde. Chodowiecki und Vedova sind zwei konträre Beispiele, wie man mit dem Text und seinem Abbild umgehen kann: realistisch an der Natur orientiert oder in expressiver abstrakter Manier. Das Interview wurde am 28. Juli 2020 geführt.

KERSTIN HENSEL ist Schriftstellerin und Stellvertretende Direktorin der Sektion Literatur der Akademie der Künste. Sie lebt in Berlin. TUAN DO DUC ist Medientechniker und Kulturwissenschaftler und arbeitete von Anfang September 2019 bis Ende August 2020 als Trainee im Rahmen des KIWitProgramms der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien – BKM im Vermittlungsprogramm KUNSTWELTEN der Akademie der Künste.


„DER TAG GEHÖRT DEN LEBEWESEN, DIE NACHT ABER DEN DINGEN.“ 1

Martina Krafczyk im Gespräch mit Gesine Bey und Elena Zieser über die Werkstatt „Ein ganz langweiliges Zimmer?“, die vom 21. bis 25.9.2020 mit Schüler*innen der Evangelischen Grundschule in Wolfen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld stattgefunden hat.

MARTINA KRAFCZYK   Woher kommt der Titel der Werk­statt? GESINE BEY   Er ist angelehnt an das gleichnamige Hörspiel von Anna Seghers, das sie 1938 geschrieben hat. Der Bereich KUNSTWELTEN arbeitet seit dem Ausstellungs- und Werkstattprojekt „Kinder im Exil“ immer wieder eng mit dem Archiv der Akademie der Künste zusammen. Dazu gehört auch, dass man interessante Manuskripte oder Kunstwerke im Archiv findet und versucht, mit den Kindern schöpferisch eigene Werkstätten durchzuführen, die sich nach Motiven dieser Kunstwerke gestalten. Für das große Projekt „Reisen“ boten sich vom Archiv her viele Materialien an. In der Geschichte von Anna Seghers geht es um einen Jungen, der in seinem Zimmer ist und nicht einschlafen kann: Die Mutter: Sieh dich einmal rund um im Zimmer. Von allem, was du siehst, kannst du dir Geschichten erzählen. Der Bub: Das ist ein ganz langweiliges Zimmer, in dem ich längst alles kenne. Und alle Sachen drin sind langweiliges Zeugs. Die Mutter: Stell dir mal vor, dein Zimmer ist ein Hafen. Alle Sachen drin sind von weither gekommen.Der Bub: Von wo sind sie hergekommen? Erzähl es mir.2 Es kommen Produzenten aus der ganzen Welt und verlangen ihre Gegenstände zurück, die sie hergestellt haben. Der Junge ist erstaunt und sagt, seine Mutter habe die Sachen gekauft, sie jedoch sprechen von „geliehen“. Spannend dabei ist, dass gar keine Reise im wörtlichen Sinn unternommen wird, sondern das Zimmer im Mittelpunkt steht. MK   Was macht ihr mit den Kindern in der Werkstatt? GB / EZ   Wir lesen gemeinsam den Text, finden Motive für die eigene Werkstatt. Die Kinder bringen Gegen­stände mit, die sie gernhaben, erzählen ihre Geschichte und wissen von einem anderen Gegenstand, wie und wo er hergestellt wurde, und wie sich Dinge in der Wahrnehmung der Nacht verwandeln. Um das Medium Hörspiel wird es gehen, um viele Geräusche. Wir möchten, dass die Kinder Dinge zum Sprechen bringen.

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MK   Was können Kinder durch Hörspiele und die Beschäftigung mit akustischer Kunst erfahren oder lernen? EZ   Das Hörspiel kann reine Unterhaltung oder politisch sein, es kann ganz unterschiedliche Formen annehmen. Wiederholung ist wesentlich. Aber mit Büchern werden Bilder bereits vorgegeben, die man weiterdenken kann, beim Hörspiel sind wir noch einen Schritt davor, weil man sich alles selbst ausdenkt: die Leute, die sprechen, und die Visualisierung dessen. MK   Warum interessiert sich Anna Seghers immer wieder für die Reisen von Dingen? GB   Sie interessiert sich ja auch für die Reisen von Menschen. In ihren Märchen und Geschichten – und auch in den Romanen – machen sich Menschen oft auf die Reise und suchen etwas ganz Bestimmtes. Hier ist es einmal umgekehrt, dass die Dinge reisen. In einem Brief von 1938, als sie wahrscheinlich an diesem Hörstück gearbeitet hat, schreibt sie: „Ich habe zu sehr das Bedürfnis nach etwas Wahrnehmbarem, Optisch Zugänglichem, nicht bloss Gedanklichem. Ich arbeite jetzt viel, die letzte Zeit durch Müdigkeit etwas behindert. Kommen doch immer noch die Kinder dazu.“3 In diesem Jahr hat sie einerseits ihren großen Roman Das siebte Kreuz vorbereitet, andererseits war sie mit ihren beiden Kindern, die oft krank waren, ziemlich allein, da der Mann beruflich viel unterwegs war und das Kinder­ mädchen in Deutschland zurückbleiben musste. Auch aufgrund von Geldsorgen hat sie wahrscheinlich Auftragsarbeiten wie dieses Hörspiel für den flämischen Rundfunk angenommen. Es geht sicher auch auf die Situation zurück, dass sie ihren Kindern selbst etwas zum Einschlafen erzählt hat. Gleichzeitig ist der Druck wahrnehmbar, dass sie eigentlich etwas anderes zu tun hat – wie in ihrem Hörspiel. Das ist eine ganz menschliche Erfahrung, die sie hier beschreibt, aber auch eine „Zimmergeschichte“, die seit dem 18. Jahrhundert existiert. Anna Seghers gehört in diese Literaturgeschichte. EZ   Wir möchten die Kinder mit dem Text, mit Anna Seghers und ihren Gedanken in Berührung bringen und sie Geschichten erzählen lassen, sie dazu führen, dass sie Geschichten in Dingen finden und Dinge zum Sprechen bringen. Gesine wird ihnen auch Scans von verschiedenen Fassungen der Manuskripte zeigen. GB   Denn Anna Seghers hat zunächst eine Fassung in die Schreibmaschine getippt – offenbar in großer Eile – und vielleicht schon bei der Erstfassung korrigiert, handschriftlich. Nach dem Exil ging es dann um Druckfassungen. 1975 ist das Hörspiel zum Beispiel in der Zeit­schrift Neue Deutsche Literatur veröffentlicht worden. Die Versionen wurden von der Autorin immer noch einmal durchgesehen. Meiner Meinung nach hat sich das Stück so ein bisschen entschärft. Die Mutter, die es ja eigentlich eilig hat, sagt am Anfang noch deutlich expressivere Sachen zu ihrem Sohn: „Du willst mich vielleicht umbringen oder was, wenn du verlangst, dass ich hier andauernd bei dir sitze!“ Das ist sehr spannend und mit Situationen vergleichbar, die viele Eltern kennen. Die Kinder sollen zudem lernen, wie alt Papier sein kann, es dem Alter nach sortieren und auf Schreibmaschinen ­schreiben – dann betrachten sie so einen Scan ganz anders. MK   Elena, in deiner Arbeit beschäftigst du dich mit nicht-sichtbarer Kommunikation, mischst oft Originaltonaufnahmen mit Fiktion, wodurch neue Kontexte und Geschichten entstehen, hast auch schon oft Hörspiel

und Theaterspiel gemischt, soundtechnisch begleitet: Was kann Hörspiel, Audiokunst, Klangkunst? EZ   Das Medium kann ziemlich viel. Vor allen Dingen kann es Geschichten besonders gut erzählen, weil es ganz andere Räume öffnet. Es hängt immer mit dem Gegenüber zusammen, aber dadurch, dass man nur über gesprochene Sprache, Klänge und atmosphärisch erzählt, entstehen oft die Bilder und die Gefühle dazu bei den Zuhörerinnen und Zuhörern selbst. Die Mischung von Fiktion und Original oder Interviewmaterial ist dann eigentlich nur noch der Versuch, eine Ebene hinzuzufügen, weil durch das dokumentarische Material noch eine Realitätsebene dazukommt. Oft ist die von mir gebaute Geschichte für die, die die Interviews geben, dann nicht mehr ihre eigene. Das Ganze hat etwas von kollektivem Geschichtenerzählen oder erinnert in bestimmten Aspekten an das kollektive Gedächtnis. Und das ist ja eigentlich das, wo wir herkommen, wenn es um Kunst und Kultur geht: dass Geschichten erzählt werden. Das Interview wurde am 15. Juli 2020 geführt. 1 A lphonse Daudet, Briefe aus meiner Mühle, 1896 2 E in ganz langweiliges Zimmer, Hörspiel von Anna Seghers, erstmals 1938 im flämischen Rundfunk gesendet, abgedruckt in Neue Deutsche Literatur 21 (1973) 3 A nna Seghers an Alfred Kurella, Paris, vermutlich Juli 1938, in: Anna Seghers, Briefe 1924 – 1952, hrsg. von Christiane Zehl Romero und Almut Giesecke. Berlin 2008, S. 48

GESINE BEY, Autorin und Literaturwissenschaftlerin, ist Kuratorin der Ausstellung „Kinder im Exil“ (2016). ELENA ZIESER ist Audiokünstlerin und war 2016 Stipendiatin der Jungen Akademie (Berlin-Stipendium, Film- und Medienkunst). MARTINA KRAFCZYK ist Mitarbeiterin des Vermittlungsprogramms KUNSTWELTEN der Akademie der Künste.

Der Chemiepark Bitterfeld-Wolfen plant ein Crowdfunding mit Firmen vor Ort und möchte so die Identifikation mit dem Programm für Kinder und Jugendliche der Region stärken. Die Ausstellung reist dank dem Goethe-Institut in die EURatshauptstädte Ljubljana und Lissabon. Das Projekt findet in Zusammenarbeit mit der Arbeits­gemeinschaft selbstständiger Kultur-Institute e. V. - AsKI, dem Goethe-Institut, dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld und dem Chemiepark BitterfeldWolfen statt.

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DER KÄTHE-KOLLWITZPREIS

BIS HEUTE EIN PREIS VON KÜNSTLER*INNEN FÜR KÜNSTLER*INNEN Anke Hervol

Käthe Kollwitz steht bis heute für eine beispielhafte Künstlerinnenpersönlichkeit, die gesellschaftliche Defizite und insbesondere die Situation der Arbeiterschaft, Frauen und Familien ungeschönt aufzeigte. Dass sie am 24. Januar 1919 zum ordentlichen Mitglied in die Preußische Akademie der Künste gewählt wurde, und zwar als erste Künstlerin seit 1833,1 läutete eine neue Phase in der Geschichte der damals 200 Jahre alten Institution ein. Die Künstlerin hat trotz anfänglicher Vorbehalte ihre Mitgliedschaft aktiv genutzt und sich in den Ausstellungskommissionen, als Leiterin von Meisterateliers, durch Wahlvorschläge für neue (auch weibliche) Mitglieder eingesetzt und schließlich auch als Mitglied des akademischen Senats eingebracht. Die unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 durch die Nationalsozialisten einsetzenden Repressalien richteten sich gegen Kollwitz, als Person und als Künstlerin. Anlass für den ihr und Heinrich Mann nahegelegten Ausschluss war ein Wahlplakat des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes für die bevorstehende Reichstagswahl am 5. März 1933; dieser forderte eine Einheitsfront von SPD und KPD gegen die Nationalsozialisten – eine Forderung, die beide unterstützt hatten. An der Preußischen Akademie folgten weitere Austritte und Ausschlüsse (und nur vereinzelte Widersprüche in der außerordentlichen Sitzung der Akademie) u. a. von Alfred Döblin, Martin Wagner, Ricarda Huch, Thomas Mann und Max Liebermann. Letzterer wurde ebenfalls über den herabwürdigenden Umweg eines Ehrenpräsidenten zum Austritt bewegt.

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Nun erfassen Künstler*innen jeder Epoche das Virulente, damit es zur Aktualität der Geschichte wird und morgen nicht vergessen ist. Deshalb ist auch der Aufschrei der Kollwitz, die Gesellschaft in der künstlerischen Produktion nicht zu vergessen, für uns, die Rezipienten*innen, damals wie heute aktuell. Das Selbstverständnis, auf dem die Neugründung der Akademie der Künste (Ost) am 24. März 1950 basierte, war eine demokratische Tradition, mit den Werten und Zielen der Preußischen Akademie zwischen 1919 und 1933. Dazu gehörten eigentlich auch Gedächtnisausstellungen der zu NS-Zeiten verfemten Künstler*innen wie Ernst Barlach und Käthe Kollwitz.2 Allerdings waren bereits die ersten Ausstellungen in der Akademie, wie die Retrospektive der Käthe Kollwitz im Juni 1951, von der Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED wegen mangelnder ideologischer Führung stark kritisiert worden, gefolgt von Eingriffen in die Vorbereitungen des Kataloges und der ErnstBarlach-Ausstellung 1951 bis hin zu einem Briefwechsel zwischen der Kulturredaktion des Neuen Deutschland und der Kulturabteilung des Zentralkomitees über die Barlach-Ausstellung. All das in diesen frühen Jahren Dokumentierte macht die Vorbehalte des ZK und die schwierigen Zeiten des sogenannten For­malismusStreites deutlich. Ab 1956 diskutierte schließlich die Sektion Bildende Kunst über die Einrichtung eines Akademie-Preises zu „Förderung einer volksverbundenen realistischen bildenden Kunst“. Die Entscheidung fiel auf Käthe Kollwitz als Namensgeberin, ein frühes Bekenntnis der Akademie, das nicht nur die Würdigung eines Werkes und einer Persönlichkeit bedeutete, sondern auch ihre enge Bindung zum Sozialismus und der Arbeiterklasse in den Vordergrund stellte. Darüber hinaus dokumentiert diese Haltung auch eine „kritische Distanzierung von den Auswüchsen der Formalismus-Debatte, zu der die offizielle Kulturpolitik der SED erst 1978, also zwei Jahrzehnte später, mit der Ausstellung Weggefährten – Zeitgenossen. Bildende Kunst aus drei Jahrzehnten (Altes Museum, Berlin 3.10. – 31.12.1979) in vorsichtigen Artikulationen fähig war“.3 Gezielt zum zehnten Jahrestag der Gründung der Akademie der Künste (Ost) am 26. März 1960 verlieh die noch junge Institution

↑  Käthe-Kollwitz-Preis 1984 an Manfred Böttcher: Manfred Böttcher und Werner Stötzer ↖  Käthe-Kollwitz-Preis 1966 an Fritz Dähn (Mitte)


Preisträgerin 2018: Adrian Piper, Mauer, 2010, Videoinstallation: Fernsehmonitore, Videos mit zufällig programmierten Bildern, frische Rosen, Format variabel

Preisträgerin 2019: Hito Steyerl, Hell Yeah We Fuck Die, 2016, Drei-Kanal-­­ HD-Videoinstallation, Environment, 4:35 Min


Preisträger 2020: Timm Ulrichs, „Weiter im Text“

erstmals diesen Preis, an Karl Erich Müller (1917–1998), gemeinsam mit dem Heinrich-Mann-Preis an Helmut Hauptmann (geb. 1928) und Annemarie Reinhard (1921–1976) im Plenarsaal am Robert-Koch-Platz. Da es sich beim Käthe-Kollwitz-Preis um ein klares politisches Statement und eine staatliche Auszeichnung der Akademie handelte – über Jahrzehnte persönlich genehmigt vom Ministerpräsidenten –, unterlag diese auch den gesetzlichen Bestimmungen der DDR. Bereits im Jahr 1962 erfolgt die erste Anpassung der Statuten durch den Ministerrat, darin wurde die Bestätigung jeder Nominierung durch den Minister für Kultur vorgeschrieben – eine Vorgabe, die bis 1973 förmlich eingehalten wurde. §7 der Statuten von 1960 sieht als drohendes Instrument vor, dass die Auszeichnung aberkannt werden kann, wenn der Preisträger oder die Preisträ­ gerin sich als „der Ehre unwürdig“ erweisen sollte. Die Aktenlage verdeutlicht, dass mit der Genehmigung durch das Ministerium Eingriffe in die Vorschlagsliste verbunden waren. Mitglieder der Akademie der Künste wurden als Preisträger*innen grundsätzlich ausgeschlossen. In den frühen Jahren der Preisvergaben lässt sich eine starke Präsenz der Kollwitz-Zeitgenoss*innen wie Sella Hasse (1962), Herbert Tucholski (1964) oder Otto Nagel (1967) beobachten, letzterer mit Mitglieder-Ausnahmeregelung. Mit der Einführung einer neuen Tradition ab 1984 etablierte sich eine aktive Mitwirkung der Vorjahrespreisträger*innen als Laudator*innen, die

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bis heute durch die Sektions-Mitglieder der Akademie der Künste als Juroren*innen erweitert wurde. Die kritische Auswertung der Vergabepolitik des Preises und der damaligen Auffassung der Sektion, sich als „künstlerisches Gewissen“ zu verstehen, „als Regulativ am staatlich gelenkten Kunstleben, ohne ihre Möglichkeiten aufs Spiel setzen zu wollen“, steht in der Forschung bis heute aus. Die Akademie wird sich diesem Thema in den kommenden Jahren widmen und sieht die anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Käthe-Kollwitz-Preises online publizierte Zusammenfassung als Grundsteinlegung für diese kritische Aufarbeitung: 59 Preisträger*innen werden erstmals mit Laudationen, Jury-Begründungen und Danksagungen als Textund teilweise auch als Audiomaterial unter www.adk.de/kaethe-kollwitz-preis vorgestellt. 1 Erst die Reformphase nach 1786 hatte Künstlerinnen als aktive Mitglieder der Akademie der Künste zugelassen. 2 Vgl. Max Lingner, Archiv der Akademie der Künste, LingnerArchiv, IV.A.102 u.IV.C.108, Bericht von PommeranzLiedtke datiert. 11.11.1950 3 Karin Thomas, Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung „Kollwitz-Preisträger der Akademie der Künste zu Berlin. Sabine Grzimek, Dieter Goltzsche, Joachim John“, 16.10.1991, Käthe Kollwitz Museum, Köln ANKE HERVOL ist Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste.


NEUES AUS DEM ARCHIV

NEOFASCHISMUS HEUTE

EINE DEBATTE IN DER AKADEMIE DER KÜNSTE DER DDR IM FRÜHJAHR 1979 Haiko Hübner

↑  Flyer zur Veranstaltung „ANTIFA ’79“

JOURNAL DER KÜNSTE 14

Auf der Plenartagung der Akademie der Künste der DDR am 7. Mai 1979 mit dem Titel „Kunst im Kampf gegen Faschismus – gestern und heute“ mahnte der Präsident Konrad Wolf in seiner Eingangsrede: „Die Verarmung und Verwirrung des Gefühlslebens, Kaltschnäuzigkeit und Brutalisierung, der Abbau des Gefühls für das Schöne bereiten ein Vorfeld für Faschismus. Der Faschismus vernichtet den ganzen Menschen, seine ganze Humanität. Sein Gift dringt durch alle Poren. Deshalb müssen wir den ganzen Menschen gegen dieses Gift widerstandsfähig machen. Dafür reicht die nackte Information, das blanke Wissen nicht aus.“ Diese Mahnung richtete sich nicht nur an die versammelten Künstlerinnen und Künstler, sondern ebenso an die Staatsmacht. Als „höchste[r] Institution […] im Bereiche der Kunst“ kam der Akademie gemäß der Eröffnungsrede des Ministerpräsidenten von 1950 die Aufgabe zu, die Regierung kulturpolitisch zu beraten. Aus Sicht der Funktionäre des SED-Apparates und des Kulturministeriums erfüllte die Akademie die ihr zugedachte Rolle jedoch meist nur unzureichend, jedenfalls nicht immer im gewünschten Sinne.

Für viele Mitglieder bot die Akademie der Künste ei­nen Ort der Meinungsbildung und Selbstvergewisserung. Die Positionen, die hier zusammentrafen und sich weiterentwickelten, lagen nicht immer auf der offiziellen Linie der DDR-Regierung. Stefan Heym resümierte auf der Plenar­tagung im Oktober 1991 zwar hart, dass „jedes Mal, wenn es an der Zeit gewesen wäre, dass diese Akademie ihre Stimme erhebt und etwa protestiert gegen einen Schritt der DDR-Regierung, […] die Akademie geschwiegen“ habe. Andererseits sprach Christa Wolf aber für viele Mitglieder, als sie auf einer Plenarsitzung im September 1991 betonte, dass „die Akademie jahrelang für mich der einzige Raum [war], in dem ich mich noch mit Kollegen treffen, diskutieren, Vorschläge einbringen, halböffentlich Kritik üben und sogar öffentlich lesen konnte“. Eine der wichtigen Diskussionen in der Geschichte der DDR-Kunstakademie galt aufkeimendem Antisemitismus und Neofaschismus. In Vorbereitung der Plenartagung im Mai 1979 tauschte man sich in allen Sektionen zu diesem Thema aus. Auffallend kontrovers erscheinen die Diskussionen, die im Januar und März 1979 in der Sektion Literatur stattfanden. Von den Betei­ ligten standen viele unter dem Eindruck der kurz zuvor vom Westfernsehen gesendeten amerikanischen Serie Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss und nahmen immer wieder darauf Bezug. Die offizielle Haltung der SED lautete damals: Die Shoa ist ein NS-Verbrechen unter vielen gewesen, besonders hervorzuheben ist jedoch die Unterdrückung und Verfolgung der kommunistischen Widerstandskämpfer. Durch die Enteignung der Kapitalisten sind die Ursachen für Faschismus und Antisemitismus in der DDR „mit der Wurzel ausgerottet“. Neofaschistische, antisemitische Tendenzen konnte es aus offizieller Sicht also gar nicht geben. Entsprechende Ereignisse wurden öffentlich nicht erwähnt, strafrechtliche Verfahren zum Teil per Dekret beendet oder auf jugendliches „Rowdytum“ reduziert. In der Sektion Literatur war man sich indes schnell darüber einig, den Faschismusbegriff zunächst klar defi­ nieren zu müssen und sich außerdem auf den deutschen Faschismus und seine Folgen bis in die Gegenwart zu konzentrieren. Da man vor allem die Jugend erreichen wollte, sollte nicht, wie sonst üblich, auf Ereignisse außerhalb des Landes verwiesen werden, nicht zum x-ten Mal von Nicaragua oder Kampuchea die Rede sein – wie der Lyriker Stephan Hermlin mahnte. Erstaunliche und erschreckende Begebenheiten aus dem Alltag kamen nun zur Sprache. So erzählte Hermlin von einer Frau, die in einer späten S-Bahn einen Mann anspricht, der einen anderen anpöbelt: „Und sie sagt zu dem Mann: ‚Aber Sie sind doch ein Nazi!‘ Und darauf ant­w ortet der: ‚Natürlich bin ich einer! Für mich ist Adolf Hitler der Führer des deutschen Volkes. […] Sie können mich ruhig anzeigen. Ich bin übrigens Lehrer.‘“ Weiter berichtet Hermlin von einer Kleinstadt, in der nachts „eine grölende Horde von Jugendlichen unter Absingen von Naziliedern in Viererreihen auf dem Marktplatz erscheint“, ein zu Hilfe gerufener Volkspolizist jedoch resignierend mit dem Verweis auf seine Machtlosigkeit das Einschreiten versagt. Der Schriftsteller und Regisseur Günther Rücker berichtete wiederum von der Tochter des Schauspielers Roman Silberstein, die in der Straßenbahn von einem Mitschüler als „Judensau“ beschimpft wurde. Der damit konfrontierte Direktor der Schule versetzte den Mitschüler an einen anderen Ort,

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mochte ansonsten aber nicht weiter öffentlich darüber sprechen mit dem Hinweis, es sei dem Frl. Silberstein überlassen, eine Privatklage einzureichen. An dieser Stelle fühlte sich der Schriftsteller und SED-­ Funktionär Otto Gotsche berufen, seine Position zu vertreten. Er bestand darauf, dass „die Reduzierung des Faschismus auf den Antisemitismus […] eben auch falsch“ sei und erntete scharfen Widerspruch durch Stephan Hermlin: „Ich kenne das berühmte Argument der Reduzierung zu genau, um nicht zu wissen, was dahintersteckt. In Wirklichkeit ist es in der DDR seit mindestens zehn Jahren […] zu einer Peinlichkeit geworden, das Wort Jude auszusprechen und was damit zusammenhängt. […] In Wirklichkeit ist es so, […] dass die gemeinste, blutigste Untat des Faschismus die Ausrottung des Judentums gewesen ist. Das ist die Nummer eins, das kann nicht reduziert werden.“ Hermlin war durch die Äußerung Gotsches innerlich sehr bewegt. In einem zwei Tage später verfassten Brief von SED-Politbüromitglied Kurt Hager an Erich Honecker heißt es, Hermlin sei in einem lebensgefährdenden Zustand gewesen. Den Ausführungen Hermlins stimmen u. a. die Sektionsmitglieder Alexander Abusch und Dieter Noll wortreich zu. Eine interessante Koalition, bedenkt man die Umstände. Abusch galt als jemand, der die offizielle DDR-Kulturpolitik rücksichtslos umsetzte. Als stellver­ tretender Vorsitzender des Ministerrates hatte er 1963 nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass sich Hermlin nach der von ihm in der Akademie initiierten Veranstaltung „Junge Lyrik“ aus seinen Ämtern zurückziehen musste. Doch stammte Abusch aus einem streng reli­ giösen jüdischen Elternhaus und musste sich von der Debatte besonders betroffen gefühlt haben. Auf seiner Seite der Schriftsteller Dieter Noll, der nur Wochen nach dieser Sektionssitzung mit einem offenen Brief im Neuen Deutschland vom 22.5.1979 an Erich Honecker Schriftstellerkollegen wie Stefan Heym, Joachim Seyppel und Rolf Schneider als „kaputte Typen“ bezeichnete und damit öffentlich deren Ausschluss aus dem Schriftstellerverband begrüßte. Doch Otto Gotsche ließ sich nicht beirren: „Wenn in einer Situation, in der Klassenfragen und politische Fragen ganz scharf gestellt sind und wo man sich entscheiden muss, Parteimitglieder oder Parteigenossen, weil sie anderer Auffassung sind als zum Beispiel das, was unsere Partei beschließt […], öffentlich dagegen auftreten, gucke ich mir genau an, wer das alles ist. Und wenn dann von zehn, die da unter Kontrolle stehen, vier oder fünf oder vielleicht noch sechs Juden sind, da gucke ich genau hin.“ Und direkt an Hermlin gewandt: „[…] das ist die Frage, wo wir uns unterscheiden.“ Worauf Hermlin antwortete: „Wir unterscheiden uns, dass ich ein Jude bin und Du ein Antisemit!“ und weiter „Die Römer haben gesagt: Si tacuisses, wenn Du geschwiegen hättest …“ Die Aussagen Gotsches erregten in der Folge allgemeinen Widerspruch, und selbst den Parteigenossen schien er zu weit gegangen zu sein. Im SED-Zentral­ komitee gab es eine erregte Diskussion, und Gotsche erhielt eine strenge Parteirüge. Der Disput fand in der nächsten Sitzung der Sektion Literatur eine Fortsetzung. So schloss sich Christa Wolf noch einmal den Aussagen Hermlins an und fragte nach den Ursachen dafür, „wie Wahn entsteht und wie Massen aufgeputscht werden können zu bestimmten Handlungen gegen ganz bestimmte Gruppen. […] Das ist ein Teil der sogenannten jüdischen Frage, dass hier

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ein Massenwahn erzeugt werden konnte […] eine Massenverblendung, die bis heute reicht und bis heute zu untergründigen antisemitischen Äußerungen führt, wie wir sie in der letzten Sitzung erleben mussten.“ Wolf verwies darauf, dass es in der DDR üblich sei, das deutsche Volk während der NS-Zeit als verführt anzusehen und dass diesem aus politisch-taktischen Gründen eine Opferrolle zugeschrieben werde: „Ich kann mich erinnern, dass Anfang der 60er Jahre, als ich das Empfinden hatte, dass dieses Problem bei uns zu wenig oder nicht mehr oder falsch behandelt wird, mir jemand antwortete: ‚Wir können nicht den Sozialismus aufbauen mit einem Volk, das sich schuldig fühlt.‘“ Franz Fühmann wird noch deutlicher in seiner Kritik: „Ich habe einen physischen Ekel, wenn ich diese Presse lese, in der mit einer pharisäischen Selbstgerechtigkeit, die ihresgleichen sucht, immer nur auf den anderen gezeigt wird und in der etwas aufgemacht wird von einer heilen, herrlichen Welt, und ich möchte schreien und sagen: Leute, was sind das für 14-Jährige, die Hakenkreuze auch hier bei uns machen? Wie kommen wir an sie heran?“1 Die Sektion verständigte sich schließlich darauf, die anstehende Plenartagung dafür zu nutzen, öffentlich wirksam zu werden, eigene Erlebnisse und Erfahrungen nach außen zu tragen und sich dabei vor allem auf die Jugend zu konzentrieren. In einer gemeinsamen Veranstaltung der Sektionen bezogen die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler unter dem Titel „ANTIFA ’79 – Kunst im Kampf gegen Faschismus – gestern und heute“ am 7. Mai 1979, wiederholt am 2. Juni beim Internationalen Jugendfestival der DDR, Position. In Interviews mit dem Liedermacher Reinhold Andert berichteten sie, ausgehend von eigenen Werken, über ihre Erfahrungen mit Faschismus. Die Gespräche wurden, zum Teil vollständig und mit Fotos illustriert, in der Presse abgedruckt, ebenso wie die Eröffnungsrede Konrad Wolfs zur Plenartagung. Die dargestellten Diskussionen wirkten sich auf die gesamte Akademiearbeit der nächsten Jahre aus. Das Thema wurde immer wieder bei Veranstaltungen aufgenommen, beispielsweise während der Arbeiterfestspiele in Rostock im Juni 1980: „Antifa III – Zeugen der Zeit“, während der Plenartagung im Herbst 1980: „Antifa 80“, anlässlich des 40. Jahrestages des Endes des II. Weltkriegs: „Antifa 85“ oder auch bei den Uraufführungen der Filme von Heynowski/Scheumann Die Lüge und der Tod und Kamerad Krüger 1988. Selbst die Mitarbeitenden der Akademie setzten sich bei einer Kulturveranstaltung der Gewerkschaft mit dem Thema auseinander und luden den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin, Peter Kirchner, zu einem Vortrag ein. Dessen Ausführungen zu jüdischem Selbstverständnis in der DDR, vor allem aber zur problematischen Haltung der DDR zu Israel rührten an tabuisierte Sachverhalte. Dass im November 1988 der symbolische Grundstein zum Wiederaufbau des Gebäudes der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin gelegt wurde, war auch den Bemühungen der Jüdischen Gemeinde zu verdanken, die jahrelang gegen Abrissbestrebungen gekämpft hatte. Von einer nachhaltigen Wirkung der AkademieInitiative von 1979 tief in die DDR-Gesellschaft hinein kann aber kaum gesprochen werden. Die erste öffentlichen Analyse zum Rechtsradikalismus in der DDR erschien erst im März 1989. In seiner Studie „Die neue

alte Gefahr. Rechtsradikale in der DDR“ wies der Regisseur und Bürgerrechtler Konrad Weiß nach, dass die politische Kultur der DDR in weiten Teilen autoritären und rechten Ideologien entgegenkam, und formulierte sehr deutlich: „Diese jungen Faschisten sind das Produkt unserer Gesellschaft.“ Eine Tatsache, die man auf Regierungsebene lange nicht wahrhaben wollte. Sicher, die in den Debatten innerhalb der Akademie geäußerte Kritik an den offiziellen Lehrmeinungen blieb „halböffentlich“, wie es Christa Wolf 1991 ausdrückte. Unbemerkt von den politischen Entscheidungsträgern blieben die Aussagen von Hermlin, Wolf, Fühmann und anderen jedoch keinesfalls. Dafür wurden genügend offizielle und inoffizielle Berichte verfasst. Antisemitismus, Neofaschismus – mit diesen gesellschaftlichen Strömungen sieht sich die Welt heute wieder konfrontiert. Die differenzierende Beschäftigung mit historischen Details vermag den Blick zu schärfen für Gefahren, denen ein demokratisches Gemeinwesen ausgesetzt ist, mit denen es sich – auf den unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen, sowohl politisch-juristisch als auch kulturell-mental – auseinandersetzen und denen sie konsequent begegnen muss. In einem Interview anlässlich des Gründungsjubiläums der Akademie der Künste der DDR betonte die heutige Präsidentin der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel: „Was die Akademie heute ganz speziell umtreibt, [ist] die Sorge um den aufkommenden Rechtsradikalismus.“ 1 A lle Zitate aus den Sitzungen der Sektion Literatur von Januar und März 1979 in: Akademie der Künste, AdK-O, Nr. 897.

HAIKO HÜBNER ist Mitarbeiter im Historischen Archiv und Datenbankredakteur des Archivs der Akademie der Künste.

Die Akademie der Künste der DDR – gegründet vor 70 Jahren am 24. März 1950 – existierte unter verschiedenen Namen bis 1993 und fusionierte dann in reformierter Form mit der Akademie der Künste, Berlin (West). Gründungsmitglieder waren u. a. Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Gret Palucca, Anna Seghers, erster Präsident wurde Arnold Zweig anstelle des kurz vor Amtsantritt verstor­b enen Heinrich Mann. Die zentrale Kunstakademie der DDR mit den Sektionen Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Literatur und Musik agierte im Spannungsfeld des staatlichen Auftrags, die Kunst der DDR zu repräsentieren, und dem Anspruch, Kunst und Gesellschaft öffentlich kritisch zu reflek­t ieren und zu kommentieren.


Ausschnitte aus der Zeitung Sonntag vom 20. Mai 1979


„EIN MANN, DER KEINE ZEIT MEHR HAT“ BRECHT PROBT GALILEI 1955/56 DER THEATERREGISSEUR STEPHAN SUSCHKE ÜBER EINEN UNGEWÖHNLICHEN FUND Stephan Suschke

Bei der Vorbereitung auf eine Galilei-Inszenierung 2014 stieß ich im Bertolt-BrechtArchiv der Akademie der Künste auf die Tonaufnahmen der Galilei-Proben aus Brechts letztem Lebensjahr. Seine Klugheit, sein Wissen und seine Sinnlichkeit zogen mich magisch in die Proben hinein, ich begriff, wie ausgezehrt das Brecht-Bild war, das durch sechzig Jahre Rezeptionsgeschichte zu einem leblosen Granitdenkmal geronnen war. Dieser schlummernde Schatz musste zugänglich gemacht werden.

Die damals ungewöhnlichen Ton-Aufzeichnungen von Proben waren eine Idee von Brechts Assistent Hans Bunge, der ihn anstiftete, ein Tonbandgerät zu kaufen. Damit zeichnete Bunge auf 133 Tonbändern alle Proben von Galilei auf – ein außergewöhnliches Material von knapp 100 Stunden. Diese Bänder wurden durch die Akademie der Künste digitalisiert und bilden die Basis dieser Edition. Brecht schrieb die erste Fassung seines Stückes im Oktober/November 1938 im dänischen Exil. Im Mittelpunkt stehen der Mut, die Klugheit und die List, die nötig sind, um die Wahrheit zu verbreiten. Zusammen mit Oscar-Preisträger Charles Laughton entstand eine zweite, amerikanische Fassung, die 1947 in Los Angeles mit Laughton als Galilei Premiere hatte. Im Zusammenhang des Aufstands vom 17. Juni 1953 überarbeitete Brecht sein Stück zur dritten, endgültigen Fassung – auch ein Reflex des Stückeschreibers auf sein schwieriges Verhältnis zur Staats-Macht und zur DDR-Kulturbürokratie. Das utopische Potenzial der DDR wurde durch den alltäglichen Kleinkrieg mit biederen, häufig dummen Funktionären auf eine harte Probe gestellt. Brecht agierte mit praktischer Klugheit, immer im Wissen, dass die Wirkung der Arbeit wichtiger ist als Moraldiskussionen. Aus dieser Perspektive ist Galilei ein biografisches Stück. Im Dezember 1955 begann die Probenarbeit. Einer der häufigsten Sätze: „Man muss das untersuchen.“ Das war Brechts praktischer Beitrag zur „Ideologiezertrümmerung“, stellte einmal gefundene, fortan geglaubte Wahrheiten zur Disposition, stellte Herrschaft, die auf Ideologie beruht, fundamental in Frage. Brechts Arbeit war geprägt durch seine intuitive Sinnlichkeit, seine Lust, seinen Spaß, seine Gier. Die Basis bildete ein genaues Wissen um die differenzierten sozialen Tableaus, die er in seinem Stück beschrieben hatte. Ein fast schlafwandlerisches Verfolgen der Ziele ohne

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jeglichen Dogmatismus. Daher kam die Leichtigkeit, der Spaß bei der Suche nach den intelligentesten Lösungen, die schön sein sollten. Im Bewusstsein, dass die Widersprüche größer werden, wenn die Figuren recht haben, versuchte er jeder Figur, jeder Figurengruppe ihre Berechtigung zu verschaffen. Die damals übliche vulgärmarxistische Stigmatisierung von sozialen Gruppen durch Klischees, die stets die Gefahr der Denunziation in sich bergen, vermied er. Die oft gestellte Frage „Wie machen wir das?“ ist eine Einladung zur Mitarbeit an die Schauspieler, unter ihnen Ernst Busch, Fred Düren und Regine Lutz, aber auch an die anderen Mitarbeiter. Brecht ist offen für die spielerischen Angebote der Schauspieler, provoziert, verführt sie mit seinem Interesse, seinem gickernden Lachen und durch die Originalität seiner Beschreibungen. Dem später als (Ekel) Alfred Tetzlaff berühmt gewordenen, damals jungen Schauspieler Heinz Schubert etwa beschreibt er mit ungeheurer Geduld den existenziellen Zwiespalt eines jungen Mönches zwischen Ideologie und Wissensdrang, bringt ihn dazu, auf Augenhöhe mit/gegen Galilei zu argumentieren. Das alles geschieht in einer Atmosphäre der Angstfreiheit, des Humors und der Ernsthaftigkeit. Dabei war sein Text nie sakrosankt. Die Lust zu denken war für ihn physisch. Sein Interesse galt dem Gang mit Strohschuhen, weil sie ein wischendes, also sinnliches Geräusch machten, aber auch weil sie den Gang von Galileis Tochter Virginia veränderten. Es ging ihm um Realität, die er ins Artifizielle steigerte. Deutlich wird in den Aufnahmen, dass seine Arbeitsweise im Gegensatz zur gängigen Brecht-Rezeption nie didaktisch, sondern die Arbeit der Schauspieler immer auch emotional grundiert war. Brecht ließ Emotionen zu, war aber sensibel gegen falsches Pathos. Der direkte Ton, auf dem er bestand, war Teil einer Gegenbewegung zum „Göring-Theater“ des Nationalsozialismus und zur DDR-Wochenschau.

Dabei hatte er einerseits die theatralische Wirkung im Sinn, arbeitete aber andererseits gegen eine naturalistische Sprech- und Spielweise. Das war politisch, weil die Figuren dadurch einen Platz im gesellschaftlichen Gefüge erhielten und klar wurde, dass Individuen eingebettet in gesellschaftliche Strukturen agieren – was eine ungeheure Differenziertheit in den Haltungen und Emotionen ergab, die sozial und individuell gleichermaßen grundiert waren. In den Proben zum sogenannten Balladenbild sagte Brecht: „Eine breughelsche Welt des Paradieses entsteht. Etwas ganz Jammervolles als Kunstwerk – aber groß gedacht.“ Das ist auch eine Beschreibung der DDR, die ihm ein Theater zur Verfügung gestellt hatte, das er nutzte, um mit jeder neuen Arbeit die festgefügten, ideologischen Denkmuster infrage zu stellen, mit kritischer Solidarität gegenüber der Jämmerlichkeit der Realisierung eines groß gedachten Entwurfs. Am 27. März 1956 findet die letzte Probe mit Brecht statt. Am 23. April teilt er dem Kulturminister Johannes R. Becher mit, dass er die Proben im Oktober wieder aufnehmen werde. Dazu kommt es nicht: Am 14. August stirbt er in seinem Haus in der Chausseestraße 125.

STEPHAN SUSCHKE war in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren enger Mitarbeiter von Heiner Müller bei dessen Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin. 1995 wurde er stellvertretender Intendant am Berliner Ensemble, von 1997 bis 1999 dessen Künstlerischer Leiter. Ab 1999 arbeitete er als freier Regisseur. Zur Saison 2016/2017 übernahm er die Stelle des Schauspieldirektors am Landestheater Linz.


↑  Bertolt Brecht und Ekkehard Schall bei den Proben, Berlin 1956 ↓  Bertolt Brecht und Ernst Busch, Berlin 1956

Die Edition folgt dem Geist von Brechts Arbeit. Ein zweistündiges dokumentarisches Feature auf zwei CDs verdichtet und inszeniert das historische Originaltonmaterial, folgt dem Stück im Kontext des gesellschaftlichen Hintergrunds. In der Form verschieden ist das Feature von Joachim Werner auf einer Extra-CD. Er verwebt unzählige Probenschnipsel zu einem vielschichtigen und beweglichen Bild, in denen Brechts Sinnlichkeit, Klugheit, Strenge, Weitherzigkeit und Lust in wild tanzender Dialektik ein Fest feiern. Komplettiert wird die Edition durch ein großzügig ausgestattetes Booklet mit Kommentar, Fotos, Typoskripten. BRECHT PROBT GALILEI – 1955/56 – „EIN MANN, DER KEINE ZEIT MEHR HAT“ 3 CDs, illustriertes Booklet. Herausgegeben von Stephan Suschke mit einem Feature von Joachim Werner. In Zusammenarbeit mit dem Archiv der Akademie der Künste. Berlin: speak low 2020. Historische Originaltonaufnahmen mit Bertolt Brecht, Ernst Busch, Hanns Eisler, Fred Düren, Angelika Hurwicz, Erik S. Klein, Regine Lutz, Willi Schwabe, Heinz Schubert u. v. a. In Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung

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NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCK

„O DICHT’, SOLANG’ DU DICHTEN KANNST!“ DIE AUTOGRAMMBÜCHLEIN DER SUSI ALBERTI Werner Grünzweig

Mitunter sind es die kleinen Dinge, die zumindest symbolisch dem großen Unrecht in der Geschichte ein wenig die Stirn bieten: Mit den drei Autogrammbüchlein der Susi Alberti hat ein sehr persönliches, ein ganzes Jahrhundert lang über viele Länder hinweg sorgsam bewahrtes Andenken an die Begegnung mit großen Künstlern der ernsten wie der Unterhaltungsmusik aus dem Berlin vor 1933 die historischen Katastrophen der letzten 100 Jahre überlebt. Nun haben Albertis Erben die Büchlein aus Australien in die Stadt zurückgebracht, die die darin verewigten Künstler einst rigoros aus ihrem Leben ausgeschlossen hatte. Susi Alberti war die jüngere Tochter des 1884 in Miskolc im Nordosten Ungarns geborenen Musikverlegers Victor Alberti (eigentlich Victor Altstätter), der in Budapest die Verlagsnotenhandlung Rózsavölgyi führte und nach dem Umzug nach Berlin die Musikverlage Alrobi, Alberti Musik, Ufaton, Dreiklang-Dreimasken und Doremi gründete. Vor seiner Flucht aus Deutschland war er stellvertretender Schatzmeister des Deutschen Musikverleger-Verbandes. Bis 1938 leitete er in Wien den OctavaVerlag, dann flüchtete er auf Anraten des Dirigenten Antal Doráti mit seiner Familie nach Australien, wo er wiederum einen Verlag leitete. Susi Alberti war bei ihrem Eintreffen in Australien 21 Jahre alt. Sie hatte keine beruflichen Erfahrungen und arbeitete zunächst als Aupair auf dem Land in der Familie von Yehudi Menuhins Schwester, Hephzibah Menuhin. Da sie in Europa jedoch immer in großen Städten gelebt hatte, zog es sie bald nach Melbourne, wo sie eine Stelle in einer Buchhandlung antrat, die nicht zuletzt durch ihr Engagement zu einem kulturellen Zentrum der Stadt wurde und den bezeichnenden Namen „Hill of Content Bookshop“ führte. Die Autographenbüchlein hatte der Vater für seine Tochter unmittelbar nach ihrer Geburt als eine Art von künstlerischem Stammbuch angelegt. Sie war noch nicht einmal im Schulalter, als die Geiger Fritz Kreisler, Bronisław Huberman und Carl Flesch ihre Autogramme gaben, sie war gerade sechs Jahre alt, als der Pianist Paul Wittgenstein, der Geiger Joseph Szigeti, der Cellist

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Pablo Casals, die Dirigenten Erich Kleiber (nach der Uraufführung von Alban Bergs Oper Wozzeck) und Fritz Busch sowie der Komponist Igor Strawinsky unterschrieben. In einem weiteren Büchlein finden sich Unterschriften der Dirigenten Otto Klemperer, Bruno Walter, Arturo Toscanini, Wilhelm Furtwängler und Willem Mengelberg, der Schriftsteller Thomas Mann, Stefan Zweig und Ferenc Molnár (Autor des Liliom) und des Komponisten Zoltán Kodály. Dass zunächst der Vater für seine Tochter um Einträge ersuchte, wird aus einem weiteren, den Unterhaltungsmusikern gewidmeten Büchlein besser ersichtlich (Alberti trennte die Sphären „E“ und „U“ übrigens ganz deutlich). So schreiben die Mitglieder der Comedian Harmonists Susi zu Weihnachten 1932: Autogramm für Albertis Tochter Susi? Ich kennse nicht! Na, erlaub’ mal, kennst Du sie? Wir kennen sie zwar alle nicht, doch bilden wir uns ein „Es muß was Wunderschönes sein“ Die letzte Zeile paraphrasiert einen berühmten Liedanfang aus Ralph Benatzkys Singspiel Im Weißen Rössl, das erst zwei Jahre zuvor in Berlin uraufgeführt worden war. Der originale Wortlaut dieser Zeile wird in einem Eintrag von Benatzky selbst einige Seiten weiter zitiert, wo dieser im Februar 1933, mit Alberti im Nachtzug sitzend, schreibt: G’stanzl im Zug Es muss was Wunderbares sein, von Dir geliebt zu werden, doch wenn der Zug fährt, Susylein, so tut’s die Schrift gefährden, ich schreib’ zwar sonst auch nicht sehr schön doch immerhin hab’ ich noch nie so geschmiert wie heut’ auf der Fahrt Wien–Berlin! In einem Eintrag vom 23. Juli 1933 schließlich hält der Textdichter und Librettist Robert Gilbert, der uns etwa durch seine Übertragung der Songtexte aus My Fair Lady

ins Deutsche (bzw. ins Berlinerische) bekannt ist, seiner Zeit den Spiegel vor. Er braucht dafür lediglich zwei Zeilen, weil er darauf zählen kann, dass die Anspielung auf Ferdinand Freiligraths „O lieb’, solang du lieben kannst“ ebenso verstanden wird, wie die auf der Hand liegende Doppelbedeutung von dichten und leck: O dicht’, solang’ Du dichten kannst, Die Welt ist leck genug! Die Lust, ständig mit der Sprache zu spielen und sich dabei auch noch selbst zu persiflieren, ist wohl ein Signum der Zeit. Was aber auffällt, ist die Art und Weise, wie Victor Alberti mit Künstlern umzugehen pflegte: Sie wussten sich von ihm verehrt, sahen in ihm einen Freund, und wenn er ein Geschäftsmann war, so war er auch ein Treuhänder ihrer Interessen, ein Händler, der mit Musik handelte, ohne Kunst oder Künstler zur Ware zu degradieren. Susi Alberti, die später in Australien den Sohn eines ehemaligen Sängers der Budapester Oper, Tamás Gábor, heiratete und danach Susanne Elizabeth Gábor hieß, betrachtete die Autogrammbüchlein nicht als abgeschlossene Lebens-Mitgift ihres bereits 1942 verstorbenen Vaters, sondern legte sie vereinzelt auch in Australien noch Künstlern vor (etwa 1970 dem Geiger Yehudi Menuhin) und ergänzte Einzelblätter, biographische Notizen und ausgewählte Korrespondenz. Mrs. Gábor starb 2014 im Alter von 95 Jahren. Durch die Vermittlung des Berliner Exilforschers Albrecht Dümling kam der Enkelsohn von Victor Alberti, Charles Baré, der heute in Victoria/Australien lebt, mit der Akademie der Künste in Kontakt und besuchte im Sommer 2019 mit seiner Frau Liz das Musikarchiv, um im Namen seiner Familie die Autogrammbüchlein seiner Großtante der Akademie zu übereignen.

WERNER GRÜNZWEIG ist Leiter des Musikarchivs der Akademie der Künste.


↖  Widmung Otto Klemperers in Buda­ pest am 25. Juli 1933, kurz vor seiner ­E migration in die USA ↑  Sämtliche Mitglieder der Comedian Harmonists unterschreiben für Susi Alberti zu Weihnachten 1932: Roman Cycowski, Erich Collin, Robert Biberti, Ari Leschnikoff, Erwin Bootz und Harry Frommermann


DIGITAL.ADK.DE DAS AKADEMIE-ARCHIV PRÄSENTIERT SEIN DIGITALES SCHAUFENSTER Werner Heegewaldt

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Kunstarchive bedürfen der Anschauung. Ohne Bilder sind Handschriften, Fotos, Modelle, Gemälde, Zeichnungen und Videos schwer verständlich und kaum sinnlich erfahrbar. Um seine vielfältigen Sammlungen zur Kunst der Moderne besser zugänglich zu machen, hat das Archiv der Akademie der Künste daher unter digital.adk.de ein digitales Schaufenster eingerichtet. Die ausgewählten Kollektionen bieten einen Einblick in die umfangreichen Bestände des Archivs, das alle Kunstformen umfasst und Archive von herausragenden Künstlerinnen und Künstlern im deutschen Sprachraum sammelt, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Das Spektrum reicht von den avantgardistischen Fotos von Ellen Auerbach und den utopischen Architekturentwürfen Bruno Tauts über die Manuskripte des Kunstphilosophen Carl Einstein bis zur Neuen Musik von Bernd Alois Zimmermann. Für die ältere Sammlungs­tradition der Akademie steht die Kunstsammlung, die herausragende Werke von Daniel Chodowiecki, Johann Gottfried Schadow und Carl Blechen ausstellt. Einen thematischen Schwerpunkt bildet die Preußische Akademie der Künste, die 2021 ihr 325-jähriges Jubiläum begeht. Neben Mitgliederporträts werden architektonische Modelle und Zeichnungen sowie die Ausstellungskataloge der Akademie von 1786 bis 1943 gezeigt. Ein anderer Vorteil des Schaufensters liegt darin, dass neben Archiv und Kunstsammlung erstmals auch Druckwerke aus der Bibliothek digital präsentiert werden können. Wenn nicht anders gekennzeichnet, können die Digitalisate nach den Bedingungen der Creative Commons Lizenzen CC0 bzw. CC BY-NC-ND 4.0 genutzt werden.

Das Schaufenster will die herausragenden Sammlungen des Archivs sichtbarer machen, Zugang und Handhabung sind daher bewusst einfach gestaltet. Das Portal setzt auf den ästhetischen und medialen Reiz der Objekte, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Das responsive Webdesign ermöglicht eine schnelle Nutzung auch auf mobilen Endgeräten. Tools erleichtern die Anzeige der Bilder und Audiodokumente sowie die Suche und Anordnung der Fundstellen. Für weitergehende Recherchen wird auf die zugrunde liegende Archivdatenbank verlinkt, die weiterhin das wichtigste Arbeitsmittel des Archivs sein wird. Mit der Präsentation stellt sich die Akademie den veränderten Anforderungen und Möglichkeiten der digitalen Wissensgesellschaft. 2015 hat das Archiv seine Datenbank erstmals online gestellt und digitalisierte Bilder, Texte und Audiodokumente im Netz gezeigt. Seitdem wird verstärkt der Wunsch an uns gerichtet, das Angebot kontinuierlich auszubauen und Archivalien statt im Lesesaal auch online zugänglich zu machen. Parallel dazu wachsen die technischen Möglichkeiten und Herausforderungen, die digitalen Informationen aufzubereiten und verstärkt zu nutzen. Dazu gehören elektronische Texterkennung, digitale Editionen, die Vernetzung von Informationen oder auch die virtuelle Zu­­­­­­­sam­menführung von Archivbeständen. Mit automatisierten Verfahren können Quellen schneller durchsucht und analysiert werden oder über Hyperlinks miteinander und mit externen Quellen verbunden werden, wie etwa Biografien, Karten, Fotos oder Enzyklopädien. Das digitale Schaufenster des Archivs soll zur Plattform


werden, um derartige Projekte zu realisieren und neue Zugänge zu den herausragenden Sammlungen des Archivs zu schaffen. Ein anderes, informationstechnisches Ziel des Projekts ist die weitgehende Automatisierung von Prozessen. Dabei können Daten sowohl aus der Archivdatenbank als auch aus anderen Quellen in das Schaufenster überführt werden. Der offene Zugang (Open-Source) und der Fokus auf die Nachhaltigkeit der Anwendung bedingen zusätzliche Anforderungskriterien an Software und Programmcode. Zur vorausschauenden Pflege von Software und Webtechnologie sind Ressourcen notwendig, die eine einzelne Institution überfordern können. Auf der anderen Seite sind die Anforderungen an Software selten so speziell, dass es sich ökonomisch rechtfertigen ließe, einen Programmcode in Eigenregie zu entwickeln. Deshalb setzt die Akademie der Künste nicht nur bei den Inhalten des Portals auf die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, sondern auch bei der eingesetzten Software Kitodo (Key to digital objects). Im Verbund mit Bibliotheken und Archiven wie der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden und dem Schweizerischen Bundesarchiv wird die Software-Suite Kitodo gewartet und weiterentwickelt, wovon die gesamte Community profitiert.

Online-Katalog des grafischen Nachlasses von John Heartfield

DIGITALE PROJEKTE  Die Adresse digital.adk.de dient zugleich als Portal für alle digitalen Projekte des Akademie-Archivs, die vielfach in Kooperation mit anderen Einrichtungen in Wissenschaft und Kultur entstanden sind. Dazu gehören virtuelle Ausstellungen, digitale Editionen oder auch Kataloge und Werkverzeichnisse, wie die Ausstellung „Kosmos Heartfield“, die das Leben und Werk des politischen Fotomonteurs vorstellt, oder auch dessen umfangreicher Katalog grafischer Arbeiten. Zu den Editions­ vorhaben gehören die hybriden – analogen und digitalen – Ausgaben, die zu den Notizbüchern des Dichters und Dramatikers Bertolt Brecht und zu den Werken des Philosophen Walter Benjamin entstehen. Gemeinsam mit der Universitätsbibliothek Heidelberg erfolgte die Digitalisierung der Ausstellungskataloge der Preußischen Akademie der Künste. Über 200 Kataloge aus dem Zeitraum von 1786 bis 1943 sind online zugänglich und als Volltext durchsuchbar. Die Angaben zu etwa 80.000 Kunstwerken von etwa 12.000 Künstlerinnen und Künstlern sind eine zentrale Quelle für kunstgeschichtliche Forschungen, insbesondere zur Provenienz der Objekte. Weitere Vorhaben im Bereich der Digital Humanities sind in Vorbereitung.

Virtuelle Ausstellung zu Oscar Begas (1828–1883), Rompreisträger der Berliner Akademie der Künste

HEINRICH MANN DIGITAL  Zum 150. Geburtstag des Schriftstellers Heinrich Mann (1871–1950) im nächsten Jahr startet das Projekt „Heinrich Mann DIGITAL“. Ziel ist es, den über mehrere Standorte in Europa und Übersee verteilten handschriftlichen Nachlass virtuell zusammenzuführen und Teile davon online zu edieren: ein Pilotprojekt für zahlreiche andere Künstlerarchive.

WERNER HEEGEWALDT ist Direktor des Archivs der Akademie der Künste.

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Online-Präsentation der Ausstellungskataloge der Preußischen Akademie der Künste (1786–1943)

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FREUNDESKREIS

„ES SIND   DIE RÄNDER IN DER MITTE DER GESELLSCHAFT, UM DIE ES HIER GEHT“ Vom 2. Oktober 2020 bis 10. Januar 2021 präsentiert die Akademie der Künste unter dem Titel „KONTINENT – Auf der Suche nach Europa“ eine Gemeinschaftsausstellung aller Mitglieder von OSTKREUZ – Agentur der Fotografen. Als künstlerisches und politisches Statement am Pariser Platz rückt die Ausstellung in 22 Positionen die europäische Gegenwart in den Mittelpunkt. Die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste fördert die Ausstellung. Rainer Esser, Stellvertretender Vorstandsvorsitzender des Freundeskreises, hat mit den Geschäftsführern von OSTKREUZ, Anne Schönharting und Jörg Brüggemann, gesprochen.


Abbildungen: Frank Schinski, aus der Serie „Richtige Einstellung“

RAINER ESSER   Liebe Frau Schönharting, lieber Herr Brüggemann, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch genommen haben. Ich bin sehr beeindruckt vom breiten Spektrum an Motiven, Stimmungen und feinsinnigen Beobachtungen, die Sie zusammen­gestellt haben. Wer kam denn auf die Idee, zum 30-­jährigen Jubiläum der Agentur dieses „Projekt Europa“ zu visu­alisieren? ANNE SCHÖNHARTING   Es war eigentlich nicht eine einzelne Person. Im Jahr 2015 planten wir eine Ausstellung in Paris zum 25-jährigen Jubiläum von OSTKREUZ. Schon damals meinten wir: Im Grunde freuen wir uns bereits jetzt auf das nächste Ausstellungsprojekt. Doch als wir im November die Eröffnung feierten, fanden in Paris die Terroranschläge des IS statt, im selben Viertel wie unsere Veranstaltung. Das hat bei uns allen etwas ausgelöst. Soweit ich mich erinnere, saßen wir irgendwann im Hof unserer Agentur, einem kleinen Campus in Weißensee, und sprachen über Themen wie „Zusammenleben“. Plötzlich entstand das Wort „Kontinent“ und die Idee, dass wir uns mit Europa beschäftigen müssen. Wir hatten das Gefühl, aus einer Vogelperspektive auf das schauen zu müssen, was gerade abläuft. JÖRG BRÜGGEMANN   Ich bin mir nicht ganz sicher, wie die Reihenfolge war. Vielleicht war auch das Thema schon da und bekam durch die Anschläge von Paris eine noch größere Relevanz. Es war jedenfalls eindeutig: Daran arbeiten wir, da passiert etwas, was sich lohnt anzuschauen, zu reflektieren und zu hinterfragen. RE   Welchen Impuls möchten Sie mit der Ausstellung geben, wie möchten Sie die Diskussion beeinflussen?

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JB   Zuerst einmal geht es darum, dass die Menschen sich die Frage stellen: Was ist Europa für mich? Was bedeutet es für mich, was ist es mir wert? Dieses Engagement für Europa auszulösen, wäre mir wichtig. Und das eben nicht mittels Schönmalerei zu betrachten, sondern ambivalent und differenziert. Sowohl geschichtlich als auch politisch und gesellschaftlich haben wir so viele Vorteile und Gelegenheiten durch Europa, aber auch große Probleme. Wenn wir mit unserer Ausstellung ein Teil dieser Diskussion sein können, bin ich sehr zufrieden. AS   Mir ist aufgefallen, dass sich ein Großteil der Mitglieder mit dem Erinnern beschäftigt: mit der Vergangen­ heit Europas oder dem eigenen, persönlichen Erinnern. Ich denke, in der Entwicklung, in der wir uns gerade be­finden, ist es wichtig, sich stärker bewusst zu machen, worauf Europa basiert. Auch im Negativen, zum Beispiel in der Frage, woher dieser Reichtum kommt. Es muss einen Ausgleich geben, damit der großartige europäische Gedanke weitergetragen werden kann. Wenn wir drängende Themen wie die Flüchtlings­problematik außen vor lassen oder die Länder nicht mehr den Austausch miteinander suchen, verheißt das für Europa eine sehr schwierige Entwicklung. RE  Wenn ich etwas ketzerisch herangehen würde, könnte ich fragen: Würde die EU-Kommission ein Stimmungsbild über Europa erstellen, würde man vermutlich auf keine Ihrer Fotografien zurückgreifen wollen, weil Sie besonders die Probleme und die Randbereiche Europas in den Vordergrund rücken. Ist das Absicht? JB   Es sind ja die Fotografinnen und Fotografen – mit ihrer Haltung und Sicht auf die Welt –, die sich ihre Themen wählen. Vielleicht schließen wir uns zusammen, weil wir eine ähnliche Sicht haben und es als unsere Auf­gabe sehen, den Finger auch mal in die Wunde zu legen. Um nicht aus einer ideologisch, politisch motivierten, sondern humanistischen Sicht zu sagen: Es läuft hier noch nicht alles gut. Wir können auf dieses große Projekt Europa, das wir oder die Generationen vor uns bis hierhin getragen haben, stolz sein. Aber es gilt auch, einiges zu verbessern. RE   Wenn man die Politiker über Europa reden hört, beschwören sie immer das gemeinsame Erbe, die Kultur, die Menschenrechte in Europa, die Demokratie, aber auch die Schönheit. Ihre Fotografien sind eher der Gegenentwurf zu diesem großen Szenario. Sie nehmen sich die Randbereiche vor, Alkoholismus in Finnland oder Migranten, die nach Deutschland kommen und sich mitten im Schwarzwald wiederfinden. AS   Ich weiß nicht, ob es Randbereiche sind. Ich beschäftige mich zum Beispiel mit dem Thema Kolonialismus. Das ist ein Teil der europäischen Geschichte, etwas, worauf Europa auch basiert. Wir sind eher künstlerischkreative Menschen und haben den Hang, solche Themen zu suchen. Ist das ein Gegenentwurf? Kein bewusster. Ich würde es eher als ein Aufzeigen oder Sichtbarmachen beschreiben. JB   Wenn ich noch etwas hinzufügen darf: Unsere Kolle­ gin Stephanie Steinkopf, die eine Alkoholikerin in Finnland fotografiert hat, auf die Sie gerade angespielt haben, sagt: „Das wird immer als Randbereich in der Gesellschaft bezeichnet, aber das ist es gar nicht. Alkoho­lismus ist ein Riesenproblem in unserer Gesellschaft.“1 Die von ihr fotografierte Virpi ist keine Irre, die aus dem System herausgefallen ist, sondern sie ist ein pars pro toto. Es geht vielen Menschen in Europa wie ihr. Es sind die Ränder in der Mitte der Gesellschaft, um die es hier geht.

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RE   Gab es eine Arbeit, die Sie besonders berührt hat, die genau das zeigt? JB   Mehrere. Sehr beeindruckt hat mich die Serie von Frank Schinski, der sich mit Arbeit und Arbeits­suchen­ den auseinandersetzt. Mit seiner sehr analytischen Foto­ grafie zeigt er eine Schattenseite des Kapitalismus, dass einem ein kalter Schauer über den Rücken läuft. Mit einer Art Hubschrauberblick schaut er von oben auf das Konzept von Arbeit, Selbstwert, Karriere und dessen Bedeutung für uns persönlich wie auch gesellschaftlich. Das ist nicht unbedingt angenehm anzuschauen, aber ich finde es extrem wichtig und vor allen Dingen hervorragend fotografiert. Man muss dazu wissen, dass Frank es mit seinen Startvoraussetzungen schwerer gehabt als andere in der Agentur. Er hat zuerst eine Maurerlehre gemacht, war also auf dem normalen ersten Arbeitsmarkt unterwegs, um dann zu entscheiden, ich werde Foto­graf, begebe mich in die Selbstständigkeit, gehe einen künstlerischen Weg. Das ist ein viel größerer Schritt als für jemand wie mich, der aus einer westdeutschen Mittelschichtsfamilie kommt. Dass er zurückblickt und fragt, was ist eigentlich Arbeit, was habe ich mir für einen Wert selbst geschaffen, welchen Platz habe ich in der Gesellschaft gefunden, finde ich ganz fantastisch an der Arbeit. RE   Wie sind Sie zu Ihrem eigenen Thema gekommen, Herr Brüggemann? Verbinden Sie Demonstranten und das Recht auf Meinungsfreiheit besonders mit Europa? JB   Es geht um Artikel 11 und 12 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, das Versammlungsrecht und das Recht auf Meinungsfreiheit, die sich beide in Form von Demonstrationen äußern. Das sind wichtige Grundpfeiler unserer freiheitlichen Demokratien in Europa und unseres Verständnisses davon. Ich fand es interessant, durch Europa zu reisen und verschiedenste Menschen beim Ergreifen ihrer Menschenrechte zu fotografieren. Und die Menschen unabhängig vom politischen Umfeld möglichst gleich anzuschauen. Es sind Pegida-Demonstranten dabei, es gibt aber auch ein Bild, das bei einer Gegendemonstration entstanden ist oder bei der Unabhängigkeitsdemonstration in Katalonien,

den Gelbwesten in Frankreich oder einer Demonstration der Nationalisten in Budapest. Am Ende sind es Individuen, die für ihre Rechte einstehen. Auf eine Demonstration zu gehen, löst unglaubliche Emotionen aus: Freude, Selbstermächtigung, Trauer, Zusammengehörigkeitsgefühl, Aggression. Es fasziniert mich, diese verschiedensten Emotionen, die sich in den Gesichtern zeigen, abzubilden und damit ein Statement für die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, aber auch für die Pressefreiheit abzugeben. Wenn ich in der Öffentlichkeit Einzel­ porträts von Menschen mache, die auf die Straße gehen, um zu demonstrieren, um ihr Gesicht für etwas zu zeigen, ist das auch ein Teil der aktuellen Diskussion um das Abwägen von Persönlichkeitsrecht gegen Pressefreiheit und Freiheit der Kunst. RE   Sie, Frau Schönharting, haben sich mit ihrem Urgroßvater auseinandergesetzt, mit seinem Afrikazimmer, und dem Kolonialismus. Das ist ein Teil von Europa, den Sie offenbar gerne herausstellen wollten. AS   Das war immer ein Teil meiner Familiengeschichte, aber ich habe nie darüber nachgedacht, es zu thema­ tisieren. Plötzlich stand es im Raum. Ich habe bereits 2015 begonnen, als ich noch kaum Abstand zu meiner Familie hatte. Das Interessante ist, dass gesellschaftspolitisch wie auch bei mir selbst ein unglaublicher Prozess Schwung aufgenommen hat. Die RassismusDebatte, Kolonialthemen, das Provenienz-Thema oder die Flüchtlingsbewegung. Die ganzen Debatten, die Streits der Museen darum, was wir mit dem kolonialen Erbe machen, wie man damit umgeht, die Kommunikation mit den Museen aus den Herkunftsländern. Parallel dazu habe ich größeren Abstand zu meiner eigenen Familie gehalten, konnte mehr und mehr den größeren Kontext erkennen. Und vor allen Dingen mich selbst sehen und fragen: Wie sehe ich das eigentlich, was hat das mit mir gemacht? Zum Thema Rassismus: Was sind wir als weiße Gruppe? Wie tief ist dieses Deutungsbewusstsein in uns verankert, dass wir uns, auch Europa, als Norm bezeichnen?

RE   Das vermittelt sich gut, der ganze Schrecken des Kolonialismus, der uns jetzt teilweise in Europa einholt. AS   Ich glaube, dass es immer einen Ausgleich gibt, wie Yin und Yang. Etwas, was früher war, kommt jetzt wie ein Bumerang zurück. Auch die Natur, deren Teil wir sind, versucht immer eine Gewichtung zu finden. Daher müssen wir in die Verantwortung gehen, um uns auch selbst zu heilen. Wir als Weiße oder als Europäer müssen uns neu denken oder ein neues Verständnis entwickeln. Das ist auch ein schwieriger Prozess, es gibt nicht nur eine Lösung. Wir haben in der Ausstellung nie den Anspruch gehabt, ganz Europa darzustellen. Es ist nur ein Brennglas, eine Lupe, die wir auf den Kontinent richten, aus unserer persönlichen Sicht, eher ausschnitthaft. JB   Unsere Ausstellungen sind Mosaike, in denen aber sicherlich immer ein Teil fehlt. Wir haben keinen Vollständigkeits- oder Erklärungsanspruch. Ich hoffe, dass die richtigen Fragen gestellt werden und die Besucher sehen, dass sich hier 23 Fotografen – mit Sibylle Bergemann2 – zum Teil die gleichen Fragen stellen wie sie selbst. Und keine Antworten, sondern oft nur neue Fragen finden. Ich sehe das als Prozess, kein Richtig und kein Falsch, Schwarz und Weiß. Vieles an Europa ist ambivalent, aber es gibt trotzdem ein Gefühl von Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit. Deswegen mag ich den Titel „KONTINENT“, weil er von diesen „zusammenhängenden“ Landmassen abgeleitet ist. Das ist der Kern. Eigentlich kann man das noch weiterdenken, Europa ist auch wieder nur eine willkürlich gezogene Grenze, am Ende ist es die Welt und die gesamte Menschheit. Das Interview wurde am 23. Juli 2020 geführt. 1 „Wie definieren wir unseren Platz in der beschleunigten Gesellschaft?“, Podcast mit der Fotografin Stephanie Steinkopf, Link auf https://www.adk.de/de/ programm/?we_objectID=61262 2 S ibylle Bergemann (1941–2010) hat nach der Wende die Agentur OSTKREUZ mitbegründet und war Mitglied der Akademie der Künste.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 4 Fotos Jordis Antonia Schlösser / OSTKREUZ; S. 5 Foto Marcus Lieberenz für die Akademie der Künste | S. 7, 9 © Mark Lammert & VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Fotos Roman März | S. 10 © Yvon Chabrowski & VG Bild-Kunst, Bonn 2020; S. 13 © Sasha Kurmaz | S. 14, 16 unten © „Radar Ost Digital“, Deutsches Theater Berlin; S. 15 © Maria Patsyuk, Nikolay Mulakow; S. 16 oben Foto Ekaterina Kraeva; S. 17 © „The Access Point Festival“ | S. 18–20 Video Carl-John Hoffmann| S. 21–23 Fotos Ferhat Bouda / Agence VU’ | S. 24–27 Courtesy Sahej Rahal and Chatterjee & Lal | S. 29–35 Fotos Péter Nádas | S. 36–38 Fotos Kristiane Petersmann und Moritz Nitsche | S. 40 © Akademie der Künste Berlin, links Foto AdK-O, Nr. 498; rechts FotoAdK-O, Nr. 520, Fotos Christian Kraushaar; S. 41 oben Sammlung Adrian Piper Research A ­ rchive (APRA) Foundation Berlin © APRA Foundation Berlin, Foto Andreas ­FranzXaver Süß; unten © VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Courtesy Hito Steyerl, Andrew Kreps Gallery, New York und Esther Schipper, Berlin, Foto Andreas FranzXaver Süß; S. 42 © VG BildKunst, Bonn 2020, Foto Andreas Franz­ Xaver Süß | S. 43, 45 Akademie der Künste, Berlin, Presse-AdK-O, Nr. 26 | S. 47 Akademie der Künste, Berlin, Bertolt-Brecht-Archiv, oben: BrechtFotoarchiv 12/010.14, unten: BrechtFotoarchiv 12/010.15, Fotos Gerda Goedhart © Suhrkamp Verlag | S. 48, 49 © Alberti-Erben, Akademie der Künste, Berlin, Musiksammlung, Nr. 428 | S. 50 digital.adk.de © Akademie der Künste, Berlin; S. 51 oben https://heartfield.adk. de/; Mitte https://aski.pageflow.io/ begas; unten https://digi.ub.uni-heidelberg.de/sammlungen/adk.html | S. 52– 54 Fotos Frank Schinski / OSTKREUZ

Journal der Künste, Heft 14, deutsche Ausgabe Berlin, November 2020 Auflage: 3.000

Wir danken allen Inhaberinnen und Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Ver­ öffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Die im Journal vertretenen Auffassungen geben die Meinung der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Akademie der Künste. Den Autorinnen und Autoren ist freigestellt, in welcher Form sie Genderfragen in der Sprache Ausdruck verleihen.

Das Journal der Künste erscheint dreimal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt. Sollten Sie Einzelexemplare oder ein Abonnement wünschen, wenden Sie sich bitte an info@adk.de oder füllen das Bestellformular auf der Website der Akademie der Künste aus: https://www.adk.de/de/akademie/ publikationen/journal-bestellen © 2020 Akademie der Künste © für die Texte bei den Autorinnen und Autoren © für die Kunstwerke bei den Künst­l erinnen und Künstlern Verantwortlich für den Inhalt V.i.S.d.P. Johannes Odenthal Werner Heegewaldt Kathrin Röggla Redaktion Martin Hager Marie Altenhofen Anneka Metzger Lina Brion Korrektur Claudius Prößer, Uta Grundmann Gestaltung Heimann + Schwantes, Berlin www.heimannundschwantes.de Lithografie Max Color, Berlin Druck Druckerei Conrad GmbH, Berlin Deutsche Ausgabe ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe https://issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-1000 info@adk.de, www.adk.de akademiederkuenste

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