Journal der Künste 15 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE 15

PANDEMIE UND GESELLSCHAFT ARBEIT AM GEDÄCHTNIS TRANSFORMING ARCHIVES MEMORIES IN MUSIC

DEUTSCHE AUSGABE MÄRZ 2021


S. 4

S. 30

S. 58

EDITORIAL

FREUNDESKREIS

MEMORIES IN MUSIC

Johannes Odenthal

FREUNDE – AUCH UND GERADE IN DER NOT

TIME TUNING / ZEIT-STIMMUNG

S. 3  PANDEMIE UND GESELLSCHAFT

Bernd J. Wieczorek

DIE SCHWARZE STATION

S. 32

Raed Yassin S. 61

Maurice Weiss S. 7

THE HOLLOW SPACE

MUSEEN DER ZUKUNFT ALS ÜBERRASCHUNGSGENERATOREN EINE VORAUSSCHAU Siegfried Zielinski

Jeanine Meerapfel

MEMORIES IN MUSIC

ZUSAMMENBAUEN, ZERLEGEN, UNTERSUCHEN, TRANSFORMIEREN WALTER ZIMMERMANNS FORSCHENDE WELTWAHRNEHMUNG Julia Gerlach

S. 8

S. 37  A RBEIT AM GEDÄCHTNIS TRANSFORMING ARCHIVES

AUSGESETZT

EINE EINFÜHRUNG

Kathrin Röggla

Lina Brion

FUNDSTÜCK

S. 14

S. 40

„WIR MÜSSEN NEU ÜBER MANGEL NACHDENKEN“

CARTE BLANCHE

BERLIN 1977 EINE „BILDERGESCHICHTE“ VON WERNER DÜTTMANN

Andres Veiel im Gespräch mit Johannes Odenthal

Candice Breitz

S. 66

S. 16

S. 48

OHNE TITEL Sebastian Wells

METAMORPHOSEN STADT ZWISCHEN GESCHICHTE UND GEWISSEN

BUDAPEST – BERLIN GRENZENLOSE VERBINDUNGEN

S. 18

Matthias Sauerbruch

SKLAVEREI ALS METAPHER DIE ZUMUTUNGEN DER CORONA-PROTESTE

S. 52

Werner Heegewaldt

AUSGRABEN UND ERINNERN KÜNSTLERISCHE ARBEIT AM GEDÄCHTNIS

S. 70

Christine Hentschel S. 25

Anneka Metzger

„UM MIT DER WELT VERBUNDEN ZU SEIN, MUSS ICH ZU HAUSE BLEIBEN“

S. 55

S. 64  NEUES AUS DEM ARCHIV

Sibylle Hoiman

NEVER ENDING STORIES

Katalin Madácsi-Laube S. 69

KALENDERBLÄTTER

HEINRICH MANN DENKER, DICHTER, DEMOKRAT Gabriele Radecke

Kathrin Röggla S. 28 KUNSTWELTEN

VERTRAUEN SCHAFFEN BERICHTE AUS DEN WORKSHOPS

S. 73

WENN DEN KOLONIALMÄCHTEN DIE KRAFT AUSGEHT, WERDEN DIE OBJEKTE ZURÜCKKEHREN Njoki Ngumi und Jim Chuchu S. 57

MEMORIES IN MUSIC Julia Gerlach

THEATER IN DER PANDEMIE WAS BEDEUTET COVID-19 FÜR DIE ZUKUNFT DER DARSTELLENDEN KÜNSTE? Sara Örtel


JOURNAL DER KÜNSTE 15

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EDITORIAL

In den letzten Monaten ist es immer schwerer geworden, die substanzielle Bedeutung von Kunst und Kultur für das gesellschaftliche und politische Leben zu behaupten. Doch ohne die drei Funktionen der Künste – Demokratie, Aufklärung und Heilung – wird es keine Zukunft geben, so KATHRIN RÖGGLA in ihrer Reflexion zur aktuellen Lage. JEANINE MEERAPFEL , Präsidentin der Akademie der Künste, unterstreicht: Kunst, Kultur und Bildung müssen zur Priorität aller politischen Programme werden, die aus der Pandemie-­ Gesellschaft herausführen wollen. Leider ist dies alles andere als selbstverständlich. Aber eine Gesellschaft, die keine öffentlichen Räume des sozialen und intellektuellen Lernens besitzt, wird als Demokratie keine Zukunft haben. Der Fotograf MAURICE WEISS hat der Ausnahmesituation in den Krankenhäusern schon zu Beginn der Pandemie Ende März 2020 in beeindruckenden Schwarz-Weiß-Bildern einen nachhaltigen Ausdruck verliehen, SEBASTIAN WELLS dokumentierte die Corona-Demonstrationen am Brandenburger Tor im Herbst 2020. Die Kriminologin CHRISTINE HENTSCHEL beschreibt in ihrer Recherche zu den Corona-Protesten das ganze Ausmaß der histo­ rischen Verwirrungen, die vor allem in einer verantwortungslosen und gefährlichen Relativierung von Menschheitsverbrechen wie der Sklaverei oder der Shoa münden. Welche Rolle Kulturinstitutionen und künstlerische Praxis spielen können, thematisiert ANDRES VEIEL in einem Gespräch über seinen Film Ökozid, in dem er aus der Perspektive des Jahres 2034 die katastrophalen Fehler führender Wirtschaftsnationen wie Deutschland in der Gegenwart kritisiert. Es ist der Versuch, naturwissenschaftliche Forschungen durch künstlerische Erzählungen gesellschaftlich zu vermitteln und dadurch wirksam zu machen. Hier kommt den Kulturinstitutionen perspektivisch eine entscheidende Rolle zu – als Plattformen des Austauschs und der Übersetzung von Wissen in die Gesellschaft. Genau diesen Gedanken greift der Medienarchäologe SIEGFRIED ZIELINSKI in seinem Essay zum Museum der Zukunft auf. Es geht mit Ernst Bloch um ein Träumen nach vorne. Dabei werden die Kulturinstitutionen und Archive zu „Überraschungsgeneratoren“ der Zukunft. Auf diese Herausforderungen reagiert das Schwerpunktprogramm der Akademie der Künste unter dem Titel Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives. In einer großen Ausstellung aus Auftragsproduktionen sowie einer Reihe von Veranstaltungen nimmt die

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Akademie ihr 325-jähriges Jubiläum zum Anlass, die eigene Rolle als Gedächtnisspeicher neu zu überdenken. Denn wie und woran sich eine Gesellschaft erinnert, ist zur Schlüsselfrage geworden in einer Zeit, in der Selbstverständnisse neu verhandelt und Einund Ausschlussmechanismen infrage gestellt werden, wie es LINA BRION in ihrer Einleitung zum zweiten Schwerpunkt dieser Ausgabe formuliert. Auf diese Themensetzung geht MATTHIAS SAUERBRUCH mit einer Reflexion zur Denkmalpflege ein; JULIA GERLACH stellt Protagonisten des Festivals Memories in Music vor; NJOKI NGUMI und JIM CHUCHU , Kurator*innen der Konferenz Unexpected Lessons, hinterfragen die Deutungshoheit des Globalen Norden, wenn es um die Restitution von Kulturgütern geht. Die bildende Künstlerin CANDICE BREITZ erinnert in ihrer Carte blanche an die große Geschichtenerzählerin Scheherazade und setzt der verschwindenden Welt der VHS-Kassetten ein monu­ mentales Denkmal, das in seiner ganzen Dimension in der Ausstellung Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives erstmals zu sehen sein wird. In diesem Jahr wäre der Architekt Werner Düttmann, dem die Akademie nicht nur ihren einzigartigen Bau am Hanseatenweg zu verdanken hat, 100 Jahre alt geworden. Eine wieder-entdeckte, von ihm selbst angefertigte Bildergeschichte zu seinen Bauten in Berlin erinnert an den ehemaligen Akademiepräsidenten. Dem 150. Geburtstag von Heinrich Mann widmet das Archiv ein groß angelegtes Digitalisierungsprojekt zu den in der Welt verstreuten Nachlässen des exilierten Autors, der wie viele andere auch die Akademie der Künste im Nationalsozialismus verlassen musste. WERNER HEEGEWALDT stellt das Projekt der digitalen Kalenderblätter vor, die sich auf 325 Jahre Akademiegeschichte beziehen. Und die Archivarin KATALIN MADÁCSI-LAUBE erinnert an die Bedeutung eines europäischen Dialogs am Beispiel der großen ungarischen Schriftsteller Péter Esterházy, Imre Kertész, György Konrád und Péter Nádas, die Akademiegeschichte geschrieben haben. Wir arbeiten mit unserer ganzen Energie an aktuellen wie zukünftigen Ausstellungen und Veranstaltungen und werden sie – ob digital, hybrid oder analog im Raum – als Plattformen des Austauschs und der kritischen Auseinandersetzung erhalten. Johannes Odenthal Programmbeauftragter der Akademie der Künste


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PANDEMIE UND GESELLSCHAFT

THE HOLLOW SPACE

Jeanine Meerapfel

Es ist ein Hohlraum entstanden durch die unreflektierte Verwendung des Wortes „Systemrelevanz“: Wir müssen uns fragen, von welchem System sprechen wir? Ein System, das dazu dient, dass während der Pandemie die Aktienkurse an der Wall Street zu Höhenflügen ansetzen? Ein System, das Jeff Bezos, Mark Zuckerberg oder Elon Musk immer reicher macht? Oder ein System, das für die Menschen da ist? Systemrelevant sind im Moment nur die Ärzt*innen, die Kranken­pfleger*innen, die Supermarkt-Kassierer*innen, die Bus­ fahrer*innen – zumindest wenn wir von dem System einer bloß überlebenden Gesellschaft sprechen – was ja nicht wenig ist … (ich habe großen Respekt vor der Arbeit, die in diesen Bereichen geleistet wird, und halte es für unfair, dass in diesen Berufszweigen im wahrsten Sinne des Wortes seit Monaten „über Gebühr“ gearbeitet werden muss, um unser Überleben zu sichern). Aber überleben allein reicht nicht. Brecht hatte nicht unrecht mit: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Aber was ist ein Leben im Ersteren allein? Dieser Begriff, Systemrelevanz, ist leider missverständlich und irreführend. Er hat im Verlauf der Coronakrise eine steile, wenn auch zweifelhafte Karriere gemacht. Doch wie belastbar kann ein Begriff aus dem Finanzwesen schon sein – ein Begriff, der sich zunächst auf die strukturelle Bedeutsamkeit einzelner Großbanken bezog –, wenn er auf gesamtgesellschaftliche Prozesse übertragen wird? Im pandemiebedingten Shutdown im Frühjahr 2020 wurde von Bund und Ländern rasch definiert, welche Gesellschafts­ bereiche „systemrelevant“ sind. Auf der Seite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales kann eine auf den 30. März 2020 datierte Liste nachgelesen werden. Kunst und Kulturinstitutionen sind nicht aufgeführt. Das Dilemma ist nachvollziehbar: Die rasante Ausbreitung des Virus musste gestoppt werden. Doch was war der Preis? Was ist der Preis? Mit einem Mal wurden ganze Gesellschaftsbereiche nach diesem Kriterium hierarchisiert – und in der Folge kam es zu einem Anerkennungs-Wettkampf. Wenn „systemrelevant“ bedeutet, dass

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weiter gearbeitet und am gesellschaftlichen Leben partizipiert w ­ erden darf, dann wollten auch die davon ausgeschlossenen Gruppen dieses Label für sich in Anspruch nehmen – der Ruf nach Beachtung wurde auch in der Kunst- und Kulturszene immer ­lauter. Denn die freie Kunstszene zählte im Frühjahr und auch wieder im Herbst/Winter zu den Hauptbetroffenen der Corona-Einschränkungen. Die ohnehin prekären Arbeitsbedingungen dieser Szene verschärften sich noch, freischaffende Künstlerinnen und Künstler aller Genres konnten von heute auf morgen nicht mehr arbeiten. Sie – und damit auch wir, die Mitglieder der Akademie der Künste – forderten Wahrnehmung und Achtung, nicht nur in Form finan­zieller Unterstützung, sondern auch in Form öffentlicher Auftrittsmöglichkeiten. Dabei ist die Verwendung des Begriffs „Systemrelevanz“ höchst ungeeignet. Denn im Umkehrschluss entsteht der latente Verdacht, dass es gesellschaftliche Bereiche gibt, die für unsere Gesellschaft „irrelevant“ sind. Und in dieser Hinsicht ist der Begriff eine Kata­ strophe. Er führte dazu, dass die Gesellschaft – einmal mehr, man könnte auch sagen einmal wieder – separiert wurde. Ende Oktober sprach Christoph Markschies, der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW), mit dem Rechtswissenschaftler Christoph Möllers und mir im e­ rsten Corona-Gespräch der BBAW darüber, was in der Krise system­ relevant ist. Zum Auftakt fragte er, ob „Systemrelevanz“ nicht das Unwort des Wissenschaftsjahrs beziehungsweise des CoronaJahrs 2020 sei. Ich musste unwillkürlich an den Begriff des „Gut­ menschen“ denken, der vor einigen Jahren ebenfalls – auf höchst problematische Weise – Karriere machte … Sicher, die Welt hört nicht auf, sich zu drehen, wenn wir für ein paar Wochen keine Bilder in situ sehen, keine Musik, performativen Darstellungen oder Filme gemeinsam erleben. Doch langfristig wird das Fehlen der hier geführten öffentlichen Diskurse, der kollektiven ästhetischen Erlebnisse, der Partizipationsmöglichkeiten unsere lebendige Gesellschaft und unser demokratisches Miteinander schädigen. Zum gesellschaftlichen Leben bedarf es mehr: Solidarität, Empathie und Gemeinsamkeit müssen praktiziert werden. Noch gibt es genügend Filme und Bücher, die im Lockdown zu Hause den Blick weiten. Aber was, wenn die Produktion neuer Filme brachliegt? Wann werden wir merken, was uns fehlt? „Kann die darstellende Kunst gar im langanhaltenden Lockdown verlernt werden?“, fragte kürzlich ein Akademie-Mitglied (während der ­Mitgliederversammlung) besorgt. In François Truffauts dystopischem Science-Fiction-Film Fahren­heit 451 (1966, nach dem gleichnamigen Roman von Ray Bradbury) beginnen die Menschen, Bücher auswendig zu lernen, um sie vor dem Verschwinden zu retten. Aber was, wenn wir die Künste, die Theaterstücke, die Konzerte nicht mehr auswendig lernen oder erinnern können, weil sie erst gar nicht zur Aufführung gekommen sind? Sollen wir uns ausschließlich mit der Vergangenheit behelfen? Und wie können wir die gegenwärtigen Erfahrungen allein im Homeoffice reflektieren? A. L. Kennedy schickte uns zum Eröffnungsabend der Europäischen Allianz der Akademien Anfang Oktober aus dem Home-

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office ein Bild davon, wie wir eines Tages aus den Häusern heraustreten und uns wiederbegegnen. Sie spricht in ihrem Gedicht auch vom Brexit, von der schmerzhaften Trennung, von dem, was wir alle wieder lernen müssen: „One morning in my country we will leave our homes On that morning we will be unmasked and in safe air. That first day, those first days We will rush. I think we will rush We will hug even strangers We will hold hands We will stand body to body Breath to breath With whoever we have left. We understand the lives of others best by touching them. The lack of this has made a hollow space in us …“ Es bleibt ein diffiziler Abwägungsprozess, inwieweit und in welchen Bereichen soziale Kontakte zugunsten der Eindämmung des Coronavirus beschränkt werden sollen, können oder müssen. Und es ist klar ersichtlich, dass sich trotz bester Absicht Ungerechtigkeiten auch weiterhin nicht werden vermeiden lassen. Und doch habe ich die Hoffnung, dass es künftig besser gelingen kann. Eines muss dabei unbedingt beachtet werden: In Zeiten einer sich zunehmend polarisierenden Gesellschaft sind Kunst und Kultur substanziell für unseren sozialen Zusammenhalt. Sie müssen daher ebenso wie Bildung bei allen strategischen und strukturellen Überle­gungen eine zentrale Rolle spielen. Es ist nötig, die Vielfalt einer Gesellschaft zu erhalten, um Krisen zu überwinden und Konflikte auf friedliche Weise zu lösen. Unter großem Einsatz sind im vergangenen Jahr in den verschiedenen kulturellen Einrichtungen – in Museen, Theatern, Konzertsälen, Kinos und anderen – hervorragende Hygienekonzepte entwickelt worden. Diese sollten bei der Abwägung künftiger Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung berücksichtigt werden. Denn diese Schließung, der Verzicht auf den künstlerischen Austausch und das gemeinsame Erleben von Kunst verursacht seinerseits gesellschaftlichen und kulturellen Schaden kaum absehbaren Ausmaßes. Wir brauchen die Künste, sie sind das Gedächtnis der Menschheit, unsere gemeinsam gelebte Gegenwart und Zukunft. Wir müssen diesen hollow space – diesen Hohlraum, diese Leere, die um uns und mitten in uns entstanden ist – überwinden. Wir müssen all das, was wir vermissen, was auch durch die Schließung unserer Kulturinstitutionen verursacht wurde, bald mit „­Futter für die Seele“ auffüllen, mit Gedichten, mit Musikabenden, mit Theateraufführungen, Lesungen, Kino-Erlebnissen … Mit alledem, was uns heute fehlt. Und bald werden wir uns dann auch in die Arme fallen können …

JEANINE MEERAPFEL, Filmemacherin, Autorin von Spiel- und Dokumentarfilmen, ist seit 1998 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Film- und Medienkunst. Seit 2015 ist sie Präsidentin der Akademie der Künste.

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AUSGESETZT Kathrin Röggla

Wie organisiert man den Rücktransport einer coronapositiven Pflegerin nach Polen? Sie muss ihr Zimmer für eine gesunde Pflegerin freimachen, ansonsten fehlt eine Kraft für die bettlägerige alte Dame mit angehender Demenz, für die noch kein Platz im Pflegeheim ist. Niemand weiß, ob sie selbst Corona hat. Dort, wo sie lebt, wird nicht getestet. Kein Arzt käme ins Haus. Wer kann sich um sie kümmern? Diese Frage beschäftigt mich, während ich versuche, dem toten Hasen die Kunst zu erklären. Es klappt noch weniger als 1965 bei Joseph Beuys. So vieles hat derzeit nichts miteinander zu tun, was nebeneinandersteht. Alleinerziehende, die nicht w ­ issen, wie sie ihre Kinder jemals wieder hinter den Bildschirmen hervorbekommen, Kinder, die immer mehr durchdrehen. Daneben arbeitslos Gewordene, die keine Ahnung haben, wie sie die Miete bezahlen sollen, in Soloselbstständigkeit verlassene Kleinstunternehmer, auf Hilfen wartend, die versprochen wurden und nicht ankommen. Mit der konkreten Auszahlung hakt es immer. Bürokratie, die einen hilflos macht, daneben sogenannte Zombie-Unternehmer, die genau davon leben. Warteschlangen und Schleifen, Terminlosigkeit, nicht nur in Bezug auf Impfungen, auch auf andere Operationen, auf Psychotherapieplätze, und daneben Berichte von überfüllten Krankenhäusern und Mutationen und zigtausend neuen Gräbern in Brasilien. Und ich, ich erkläre dem toten Hasen die Kunst. Nein. Hier sitze ich nun. Post-Beuys, wie es heißt, und der Hase ist ganz schön tot, mehr in der berühmten Übersterblichkeit verlorengegangen, und kein Goldstaub zu sehen obendrein. Ich erkläre ihm auch nicht mehr die Kunst, sondern das Fehlen der Kunst. Im Dezember notierte ich noch „Worüber reden wir hier eigentlich? Kunst hat drei wesentliche Funktionen: Demokratie, Aufklärung, Heilung. Sie sichert die Sicht, sie sichert den Streit, sie sichert die Heilung.“ Nein, Unsinn, habe ich mich schon damals korrigiert, sie sichert nicht. Aber ich war in Fahrt, wollte klarmachen, dass wir ohne Kunst in üble Problemlagen geraten, sozial, gesellschaftlich, als Demokratie. Ich rede normalerweise auch nicht von „der Kunst“, min­


destens Plural muss sein, sage ich mir heute, aber der Plural war mir im Rausch des Selbstauftrags plötzlich verloren gegangen, wie das schnell passieren kann. Der Selbstauftrag, der darin bestand, die diskursiv so heikle Rede von der Systemrelevanz zu befragen und die beschädigten Lobbyworte doch in den Mund zu nehmen, denn ich müsse ja die Sache der Künste vertreten. Lautstark und deutlich. Eigentlich müssten wir gegen die Schließung der Museen rebellieren, bei geöffneten Shoppingmalls, die Malaise der Theater­ häuser und freien Gruppen vor Augen führen. Das war Anfang Dezember. Seither sind einige Wochen ins Land gegangen. Jetzt im Januar sind wir „woanders“, und ich träume jeden Tag von – naja – Massenszenen. Eigentlich im öffentlichen Raum. Überfüllte Arztpraxen, Menschenmassen in Vergnügungsparks, auf der Straße, in Transiträumen, der Kinosaal war noch nicht dabei, nicht die Theater­ szene, auch nicht die Ausstellungshalle, vielleicht, weil es in diesen Träumen nie um Aufmerksamkeit geht, nie um jenes Mitein­ander der Wahrnehmung, oder den gemeinsamen Hör- und Seh­vorgang, nicht den Ort der Möglichkeiten, der ja bekannter­maßen überall auftauchen kann. Und damit auch nicht um den öffentlichen Streitraum, den Kunst anders betretbar macht. Das Aushandeln bri­santer gesellschaftlicher Fragen kann ja nicht alleine im digitalen Raum stattfinden, der sich im Moment eher durch Live-Taktungen auszeichnet, durch einen Aktualitätsfuror, der reale Gegenwärtigkeit ausschließt, in der auch die Zukunft nicht die bloße Verlängerung des Ist-Zustandes ist. Form ist Gedächtnis, das wissen wir; die künstlerische Formbildung kann man dementsprechend auch als Speichervorgang beschreiben, als Aufbewahren einer fragilen und doch so wirkmächtigen Substanz, die ich vorsichtig mit dem Begriff „Auseinandersetzung“ bezeichnen möchte. Und die Körperlichkeit ästhetischer Prozesse schafft ein lebendiges Gedächtnis, das Erfahrung aufnimmt und in Gegenwärtigkeit überführt. So ist es überhaupt möglich, ein Miteinander zu lernen, die Fähigkeit, andere Perspektiven einzubeziehen, sie auszuhalten. Ohne diese hätten wir keinen substanziellen Dialog mehr, der fortdauern kann – Sie sehen, ich bin schon wieder beim Hasen. Die Künste stehen niemals nur im Jetzt, sondern sind immer ein Verbindungsorgan der Zeiten, sage ich da, um mich plötzlich zu unterbrechen: Es geht um Leben und Tod, erkläre ich dem armen Tier plötzlich, warum Kunst aussetzen muss, und mit dem Leben ist zu diesem Zeitpunkt alleine zu argumentieren. Es bleibt kaum noch Raum für anderes. Wie soll man angesichts dieser Perspektive noch lobbyistisch auftreten und Öffnungen verlangen? Es ist ja auch sonst ein Einbruch zu beobachten. Wir müssen jetzt einfach eine Weile stillhalten, das ist jetzt geboten, erkläre ich weiter. Mittlerweile flüstere ich, bin heiser geworden. Über Leben und Tod spricht man nicht mit voller Lautstärke, zumindest solange es irgendwie möglich ist. Und dabei wollte ich ja eigentlich meine Stimme erheben. Zum einen für eine veritable Unterstützung der Kunstschaffenden, ihrer Institutionen und Zusammenschlüsse, ihrer Räume und ihrer Rezeption. Das geschieht doch schon alles, wird gesagt, aber ist das so? So viele Nachrichten erhielten wir in der Akademie im letzten Jahr, die an­deres erzählten, von der Situation der Auszubildenden (z. B. der T ­ änzer) bis zu den älteren Kunstschaf-

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fenden, die natürlich nicht mit 67 aufhören zu wirken und jetzt aus allen Förderungen herausfallen. Meist ohne ausreichende Rente – klar. Ganz zu schweigen von doch nicht ankommenden Förderungen. Wie viele Kinos, Theater­stätten werden überleben? Sind es wirklich nur die großen „Tanker“? Und was ist mit den Clubs und kleinen Nischenorten? Ihre Systemrelevanz wird sich nicht einfach zeigen lassen, wie politisch strukturell erforderlich wäre. Das Fehlen von Theater, Tanz, Kino, Performance, Ausstellungen, Installationen, Konzertsälen und Clubs bildet keine einzelne Leerstelle in der Gesellschaft, wie es oft bildlich gefasst wird. Es gleicht jenen Schwelbränden aus dem Bergbau, wo unterirdisch ein Feuer unterwegs ist, das man nicht mehr zu fassen bekommt und das plötzlich an völlig anderen Stellen aufzutauchen vermag, nicht vorherzusehen und auch nicht mehr final zu löschen. Und manchmal kann daraus auch ein Flächenbrand werden. Es ist auch kein Luxusproblem. Und da kommen wir zu einem entscheidenden Punkt. Warum wird das so wahrgenommen? Ist Kunst der Zusammenhang, der am deutlichsten zeigt, wie diese Gesellschaft auseinanderfällt? Warum trauen wir ihren Äußerungsformen nicht mehr das Gespräch zu, das sie herstellen soll, die Auseinandersetzung? Nicht mehr die utopische Kraft, die wir alle benötigen, um uns zu orientieren, nicht mehr die Überraschung, dass die Dinge auch anders laufen können? Sie werden sich verändern müssen, soviel ist klar, und mit ihnen die Künste. Und hierbei geht es wahrlich nicht um die Frage der Digitalisierung der Künste, ihren vermeintlich pandemietauglichen ­Ausdruck, sondern um ihre gesellschaftliche Vorstellungskraft. Wir wissen derzeit nicht, wo wir landen werden. Diese Zukunft ist nicht vorzubereiten, wie wir, zumindest der globale Norden, bis eben noch dachten, Zukünfte vorbereiten zu können aus einer Verlängerung der Gegenwart heraus, und das ist eine schmerzvolle Erkenntnis. Es ist eine Übung in einer Gegenwärtigkeit, die wirklich mit dem Schlimmsten rechnet oder, anders formuliert, eine Antwort erhalten hat. Aus der Zukunft oder Vergangenheit ist ungewiss, vielleicht auch gar nicht so wesentlich. Den Hasen dürfen wir allerdings nicht gehen lassen. Längst hält er nicht mehr still. Wie wir es schaffen, ihn in unserer Nähe zu behalten, ist die Frage. Es kann sich derzeit nur um Übungen handeln, was wir unternehmen, bleibt uns doch nur das kleine Gespräch, die beschränkten Gesten, das Zurufen auf Distanz, wenn wir dafür überhaupt Zeit und Kraft haben. Vielleicht wären die solidarischen Aktionen eines erweiterten Kunstbegriffs ein Schritt? Dann wären wir womöglich dabei, wie der Hase plötzlich zuhört.

KATHRIN RÖGGLA, Schriftstellerin (Prosa, Hörspiele, Theaterstücke), ist seit 2012 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Literatur und seit 2015 Vizepräsidentin der Akademie.

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Die schwarze Station: „Ende März 2020 bekam ich den Auftrag der Zeitschrift Der Spiegel, mit dem Reporter ­J onathan Stock den Aufbau einer Corona-Station im Potsdamer Klinikum Ernst von Bergmann zu begleiten. Wir wussten genauso wenig über das Virus und seine Übertragungswege wie die Mitarbeiter*innen in der Klinik, hatten aber noch die Bilder aus Norditalien vom De­ zember mit den vielen Toten im Kopf. Wir spürten die Unsicherheit und Sorge: Wie schützt man sich und seine Familie vor dem Virus? Es war wie ein Blindflug in eine unbekannte Welt, weder wir noch das Klinikpersonal ahnten, wie groß die erste Welle werden würde und wie sehr das Virus unser Leben verändern würde. Ein Jahr ist vergangen – die Bilder sind immer noch aktuell.“

MAURICE WEISS ist seit 1995 Mitglied von OSTKREUZ und lebt in Berlin. Neben Auftragsarbeiten für deutsche und internationale Publikationen (Spiegel, Le Monde, Liberation, L’Espresso etc.) sind Schwerpunkte seiner Arbeit politische und soziale Themen, u. a. die poli­t ischen Umbrüche im nordafrikanischen Mittelmeer­r aum. Seit 2011unterrichtet er als Gastdozent an der Académie Libanaise des Beaux Arts mit einem Fokus auf die Verantwortung von Fotograf*innen für ihre Bilder und die Bedeu­t ung von Fotografie als Erinnerungsmechanismus. An der Akademie der Künste war zuletzt die Serie „Si jamais ils reviennent“ zu den Hinterlassenschaften des II. Weltkriegs in Europa zu sehen.




PANDEMIE UND GESELLSCHAFT

Probleme werden immer punktuell betrachtet. Jetzt schauen wir auf die Pandemie, dann wieder auf den Klimaschutz, irgendwann aufs Artensterben.

„WIR   MÜSSEN NEU ÜBER MANGEL NACHDENKEN“ Andres Veiel im Gespräch mit Johannes Odenthal

JOHANNES ODENTHAL  Wir sprechen über deinen Film Ökozid, in dem du mit einer Perspektive aus der Zukunft, aus dem Jahr 2034, die Bundesrepublik Deutschland vor dem internationalen Gerichtshof zur Verantwortung ziehst für die katastrophalen Folgen einer versäumten Klimapolitik der Gegenwart. Neben viel Zuspruch hat der Fernsehfilm auch massive Kritik in den Medien erfahren. ANDRES VEIEL  Die Kernfrage ist die Auseinandersetzung mit einer permanenten Verdrängung. Wenn ich die Reaktion auf Ökozid, insbesondere die negativen Reaktionen, zusammenfasse, dann sind sie alle von einem Grundmovens getrieben, dem Vorwurf des Alarmismus. Angst habe noch niemandem geholfen, Angst lähme; sie zum Kern einer Erzählung zu machen, sei kontraproduktiv. Und dann abgeleitet davon: Wir tun doch ganz viel und wir werden sicher noch mehr tun; das ist doch schon konstruktiv und warum dann so ein Szenario an die Wand malen, dass wir verklagt werden! Eine Klage bringt niemandem etwas. JO  Sie ändert nichts an den eigentlichen Ursachen der Klimakrise. AV   Richtig, aber sie ist ein Versuch, Klimagerechtigkeit herzustellen. Und angesichts des Ausmaßes der Katastrophe ist der juristische Weg eine erste Antwort auf das Versagen der Politik. Die Worst-Case-Szenarien der jährlichen Klimareporte der UNO sind Jahr für Jahr übertroffen worden. Wir sind mitten in einer Entwicklung, über

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die wir längst die Kontrolle verloren haben. Wir klammern uns an die Hoffnung, dass sich die Erderwärmung nach der Pariser Forderung auf 1,5 bis 2 Grad einpendeln lässt. Das ist eine Illusion, weil wir jetzt schon bei 1,2 Grad sind, in fünf Jahren bei 1,5 Grad und dann eine Kettenreaktion erfolgen wird, durch die wir die zwei Grad ohnehin nicht halten können. Für mich kann Angst aber auch ein Movens der Stimulanz sein. Aus der Angst heraus handelst du unter Umständen, was sonst nicht der Fall wäre. Es gibt immer beides, die Lähmung, aber auch den Antrieb. Wir wissen seit 40 Jahren genug über die kommende Katastrophe. Jeder Tag, an dem zu wenig getan wird, bedeutet, in der knapper werdenden Zeit bis 2050 unter immer größerem Druck zu ­stehen und mit mehr Aufwand immer radikaler agieren zu müssen. Der Handlungsspielraum 2034 ist bereits ein viel geringerer als heute. Davon erzählt Ökozid. JO   Das Ausmaß dieser Krise macht Angst – und die muss verdrängt werden. AV   Ja, es wird eben immer noch davon ausgegangen, dass wir mit einer anderen Form von Mobilität und ­grünem Wachstum klimaneutral werden und damit alle Probleme gelöst sind. Grünes Wachstum bleibt aber eine Schimäre in einem Wirtschaftssystem, in dem ein Weniger in die Rezession und damit in den Krisenmodus führt. Das Schön­reden dieses kaum lösbaren Widerspruchs ist auch eine Form der Verdrängung.

JO   Es geht also um eine Suche nach einer anderen Form von Sinnstiftung? AV    Ja, einer entmaterialisierten. Und das geht nur partizipativ, das geht vielleicht mit einem anderen Demokratiebegriff, über den wir sprechen müssten. Ich glaube, dass wir hier auch Impulse aus der Kunst brauchen, dass es sogar die große Chance der Kunst ist, weil sie eine Form von beweglichem Denken zwischen Wissenschaft und Politik einnehmen kann. Ökozid ist für mich wie ein Lackmuspapier in einer gegenwärtigen Debatte. Der Film zeigt viel von diesem Verdrängungskomplex, der ungefähr von der Hälfte aller großen Medien mitgetragen wird. Da geht es immer noch um die Verteidigung einer Sinnstiftung, die weiterhin auf einen Status quo der Privilegien beharrt, auf einem ­Weiter, Höher und Schneller aufbaut. JO   Das ist ja der Aspekt, den Bruno Latour beschreibt, dass elitäre Minderheiten immer noch daran glauben, dass sie von der Katastrophe nicht getroffen werden, dass sie sich retten können. Tatsächlich reden wir aber von einer globalen Zerstörung. Es wird auf diesem ­Planeten keinen Ausweg mehr geben, wenn nicht jetzt umgesteuert wird, um die systematische Zerstörung der Lebensbedingungen aufzuhalten. Die internationale Klage der Staaten, die massiv von den Folgeschäden der Zerstörungen im Jahre 2034 getroffen werden, findet in Berlin statt, wohin der internationale Gerichtshof ver-


legt worden ist. Hier sind die Auswirkungen noch nicht in dem Umfang zu spüren wie zum Beispiel in den ­Tropen. Hier ist die Welt noch einigermaßen in Ordnung. AV   Bis auf die Brände, die Trockenheit und die erhöhte Arbeitslosigkeit. Es kommt auch in Deutschland etwas an. Die Anwältin sagt zu diesem Punkt: Hier sterben die Rinder und dort sterben die Menschen. JO   Die Kläger bringen die globale Perspektive ein. Dort trifft es die Umwelt, die Menschen, die Tiere massiv, bis hin zur vollständigen Zerstörung. Die aktuelle nationale deutsche Politik wird aus der Zukunft in ihrer ganzen Lobbyisten-Abhängigkeit, in ihrer Verantwortungslosigkeit für die Weltgemeinschaft scharf kritisiert. Indem du die Klage gegen Deutschland durchspielst, wird das Ausmaß der Verdrängung sichtbar. Denn nur, weil die Naturkatastrophen die Region noch nicht mit voller Wucht getroffen haben, kommt es nicht zu einem grundsätz­ lichen Kurswechsel. AV   Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Die Wälder brennen ja schon ab. Die Tendenz ist heute schon vollkommen präsent. Du kannst das flächendeckend in der Uckermark beobachten, wo ganze Wälder schwerstgeschädigt sind. Im Grunewald in Berlin ist ein großer Teil aller Bäume jetzt schon krank. Aber die Argumentation ist: Selbst wenn es bei uns ankommt – und es kommt an –, müssen wir zuerst unseren Bauern helfen, unseren Forstbesitzern. Wir müssen unsere Autoindustrie retten, die jetzt plötzlich darbt, weil sie den Anschluss verloren hat, vor allem an die Chinesen. Germany first! Mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten. Wir müssen in zehn Jahren vielleicht wirklich Daimler retten, diesen kranken Mann in Stuttgart Untertürkheim, weil das Unternehmen dann auf die Insolvenz zusteuert. Die Ursachen dafür liegen in Managementfehlern der letzten 20 Jahre. Agiert wurde kurzfristig, ausgerichtet auf die Vierteljahresberichte für Investoren. Die wollen eine hohe Dividende, dafür müssen Gewinne hier und heute erzielt werden, was in 10 Jahren ist, interessiert keinen. Deswegen das sture Festhalten an den SUVs und dem Luxussegment bei Daimler, der S-Klasse. Wir hätten schon vor 20 Jahren ordnungspolitische Vorgaben gebraucht, die auf andere Antriebsformen jenseits des Verbrenners setzen. Um sich von den Dinosauriern der Industrie zu verabschieden, von Fahrzeugen, die zu groß, zu schwer, zu laut, zu schadstoffintensiv sind. Stattdessen wird der Aktienmarkt angeheizt. Das Geld kommt aber nicht dort an, wo es gebraucht wird, nämlich in der Forschung, in der Bildung, im Gesundheitswesen. Und das ist in der Diagnostik so bitter zu sehen, dass auch in Deutschland eine Politik betrieben wird, die keine mittel- oder langfristigen Ziele verfolgt, entgegen allen Ankündigungen. Das betrifft die SPD genauso wie die CDU. Sehenden Auges wird der Wagen gegen die Wand gefahren. JO   Die Dringlichkeit dieser Problematik hat dich dazu geführt, einem Fernsehformat der ARD – prime time, 20:15 Uhr – zuzustimmen: ein Sprachrohr für drei Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich möchte an deinen Beuys­-Film erinnern, der auch auf einer dokumentarischen Recherche basiert und sich mit der utopischen Kraft von Kunst beschäftigt. In dem Film arbeitest du heraus, wie Beuys die utopische, soziale Dimension durch die Kunst in die Welt bringt, aber in den entscheidenden Momenten an den Strukturen der Universitäten, Kulturministerien –

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oder im politischen Raum an den Grünen – scheitert. Antje Vollmer statt Josef Beuys. Nun wendest du dich der Zukunft zu, um von dort aus auf die Fehler der Gegenwart zu schauen. Und Angela Merkel sitzt auf der Zeugen­ bank, die ihr Wissen aus den Naturwissenschaften einem machtpolitischen Kalkül geopfert hat. Du wählst das Format eines Gerichtsdramas, das die umfassende Recherche zum Thema in ein Kammerspiel mit sehr prominenten Schauspielern münden lässt.

Hier sterben die Rinder und dort sterben die Menschen. AV   Natürlich ist es so, dass ARD 20:15 Uhr ein Format mitbestimmt. 2011 hatten wir mit dem Spielfilm Wer, wenn nicht wir 43 Drehtage, jetzt waren es 19 für einen abendfüllenden Film. Und dann musste ich die Entscheidung treffen, mache ich das trotzdem oder lasse ich das. Ich habe es als Möglichkeit gesehen, aus einer bestimmten Nische der Wohlmeinenden herauszutreten. Wenn ich einen Dokumentarfilm mache, läuft der in 20 Programmkinos, auch hier in der Akademie. Aber ich diskutiere überwiegend mit denen, die ich ohnehin erreiche. Die Herausforderung war: Wir gehen mit einem komplexen Thema wie der Einführung des Emissionshandels in die prime time, erzählen für ein Publikum, das einen unterhaltsamen Mittwochabendfilm erwartet, wie der Emissionshandel funktioniert, wie stark Lobbyisten die Gesetze bei seiner Einführung mitgestaltet, manchmal sogar mitgeschrieben haben. Und wie damit Klimaschutz systematisch verwässert wurde. Wir erzählen das so, dass die Emotionalität des Faktischen der eigentliche Spannungsmotor wird. Und wir sind auf ein systemisches Versagen gestoßen. Es ist nicht allein die Kanzlerin, der Verkehrsminister, Wirtschaftsminister oder diese Staatssekretärin. Es ist eine falsche oder vermeintliche Rücksichtnahme auf den Lobbyismus, der immer mit der ­Drohung kommt, dass wir nicht mehr konkurrenzfähig sind in Deutschland, in Europa, dass wir Marktanteile verlieren. Niemand möchte verantwortlich sein für das große Gespenst der Rezession, des Schrumpfens. China überholt uns, wir sind nicht mehr wettbewerbsfähig, und dann wird zurückgerudert, werden Vorgaben der EU unter­miniert, verhindert, ausgehebelt durch Tricks, durch Schiebereien, wie auch immer. Wir haben die Chance gesehen, das Thema nicht in einem Monitor-Beitrag von acht Minuten unterzubringen, sondern in einer Spielhandlung vor einem internationalen Gerichtshof, wo wir etwas Zweites – und da komme ich zurück zu Beuys – vermitteln wollen: Eine Demokratie braucht die Menschen, die sie mittragen, mit Leben erfüllen und kritisch begleiten. Es braucht eine Politik, die verantwortlich innerhalb der Gesetze handelt und in­nerhalb der Notwendigkeiten, die sich objektiv stellen. Und wenn Menschen eine Politik wählen, die diesen Versäumnissen nicht entgegentritt, dann braucht es zumindest noch eine dritte Instanz und das sind internationale Gerichte. Beuys hat mal den schönen Satz gesagt: „Wenn ein Gedanke in der Welt ist, ist er vorhanden, und dann wirkt er auch.“ In diesem Sinne war unser Ziel, diesen Gedan-

ken der rechtlichen Folgen von politischen Versäumnissen für die Weltgemeinschaft zu formulieren. Inzwischen werden ähnliche Klagen wie in Ökozid vorbereitet. Wir sind von den Entwicklungen eingeholt worden, Deutschland wird schon sehr bald genau so ein Verfahren haben, nicht erst 2034. Und das zeigt ja, dass die Rolle der Kunst, wenn sie etwas vorausdenkt, wenn sie etwas spielerisch entwirft, wenn man so will: in einer Erzählung vorwegnimmt, dann auch das Potenzial einer Wirksamkeit besitzt. JO   Wie sieht denn eine Erzählung aus, die ein anderes Wertesystem vermittelt? Anscheinend reicht es nicht, die Gefahren wissenschaftlich zu belegen. Alle wissen ja Bescheid. AV   Macron hat im letzten Sommer gefordert, den ­Ökozid als Straftatbestand in der Verfassung zu verankern. Damit geht er noch einen Schritt weiter, denn das würde jeden treffen, der die Zerstörung des Planeten zulässt oder auch nur billigend in Kauf nimmt. Damit könnte nicht nur ein Vorstand eines Unternehmens angeklagt werden, der für ein Umweltverbrechen verantwortlich ist, ­sondern auch jeder Politiker, der so etwas zugelassen hat. Darauf sind wir allerdings nicht eingegangen, wir wollten das Systemische herausarbeiten. Schuld zu personalisieren, ist letztlich zu einfach. Wir alle fliegen, wir alle fahren Auto, wir alle wollen reisen und wir alle verbreitern den ökologischen Fußabdruck. Probleme werden immer punktuell betrachtet. Jetzt schauen wir auf die Pandemie, dann wieder auf den Klima­schutz, irgendwann aufs Artensterben. Es fehlt das Verständnis, dass man alle drei Krisen gemeinsam denken und in ihren Ursachen begreifen muss. Die Natur muss als ein Rechtssubjekt betrachtet werden, man muss ihr das Recht auf Klage geben.

Für mich kann Angst auch ein Movens der Stimulanz sein. JO   Aktuell leben wir ja unter Corona-Bedingungen, um mit Schlingensief zu sprechen, in einer „Kirche der Angst“. Diese Angst ist das prägende Motiv für ein komplettes Lahmlegen des Systems, wobei die Wirtschaft natürlich noch am Laufen gehalten werden muss. Der Punkt ist aber – du hast es eben selbst gesagt –, man muss so eine Pandemie mit den Naturkatastrophen, mit der Klima­ krise zusammendenken. Also mit der Übergriffigkeit des Menschen auf die natürlichen Ressourcen der Erde. Stattdessen läuft alles darauf hinaus, die Pandemie durch eine Immunisierung des Menschen in den Griff zu bekommen und dann zu dem zurückzukehren, was ­vorher war, anstatt die Ausnahmesituation zu nutzen, um mit aller Konsequenz den gesellschaftlichen Wandel zu strukturieren. Warum ist das nicht möglich? AV   Weil es ein Umdenken voraussetzt, dass wir aus diesem Weiter, Schneller, Höher aussteigen müssen. Das ist extrem mit Angst besetzt, weil es bedeutet, nicht nur einen für eine bestimmte Zeit verordneten Verzicht zu üben, sondern dauerhaft: Wir merken ja jetzt, wir müssen gar nicht fliegen, wir können uns auch in einem kleineren Radius bewegen, man kann Freunde auch so treffen usw. Aber das bedeutet, grundlegend neu über unser

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Verhältnis zu den Ressourcen nachzudenken, über unser Verhältnis zu einer materiell abgesicherten Grundlage, zu einem Wirtschaftssystem, das einen permanenten Wachstumsgedanken braucht, sonst fällt es in sich zusammen. Das ist eine Religion, die bei 70, 80, 90 Prozent auch der Politiker – da nehme ich die GRÜNEN mit rein – weitergebetet wird. Dabei hat bis heute jedes Wachstum einen Rebound-Effekt gezeigt. Wo Wachstum war und Effizienz, hat das Wachstum die Effizienz wieder aufgefressen, weil wir mehr produziert haben, weil die Autos wieder schwerer wurden, weil sie größer wurden, weil jeder sich wieder absetzen wollte von dem etwas kleineren Fahrzeug, indem er sich ein größeres gönnte und dann noch eine Zweitwohnung und eine Drittwohnung. Wir alle wissen: Dieses Modell funktioniert nicht mehr. Dazu kommt die Verteilungsfrage: Wer verliert etwas und wer gewinnt? Es gibt viele gute Gründe, am Status quo festzuhalten, obwohl alle wissen, dass die Schatten hinter uns immer näher aufrücken. Und alle starren nach vorne und sagen, da ist doch Licht: Wenn wir die Motoren auswechseln und den öffentlichen ­Nahverkehr ausbauen, haben wir es fast geschafft. Dann verdoppeln wir die Windräder und holen uns den Wasserstoff aus der Wüste und schon sind wir am Ziel, sind klimaneutral und holen den Rest mit CO2-Extraktoren raus. Und diese Lüge, dieser Selbstbetrug, ist Teil der Verdrängung, auch der grünen. Das ist die größte Herausforderung, weil wir bei der eigentlichen Sinnfrage angekommen sind, und die hat etwas mit dem UrmenschSein zu tun: Wie schaffen wir uns einen Sinn, wenn wir uns nicht mehr ablenken können durch dieses Höher, Schneller, Weiter? Dann ist der Mensch auf sich zurückgeworfen und braucht eine andere Form von Solidarität, eine andere Form des Miteinander-Gestaltens. Und da sind wir bei der Demokratiefrage. Wir müssen neu über Mangel nachdenken. Und zwar Verzicht nicht im Sinne von zu wenig, sondern: Wie können wir das Wenige, das vorhanden ist, sinnvoll teilen? Interessanterweise passiert das bei den Impfungen gerade: Wir haben einen Mangel, und die, die am bedürftigsten und am gefährdetsten sind, bekommen die Impfung als erste. Das zeigt, dass der Staat in der Lage ist, einen Mangel zu ver­walten, ein Regelwerk aufzustellen und eine bestimmte Form von Gerechtigkeit zu erzielen. Dass es eine nationale Gerechtigkeit ist, die Afrika und viele Staaten auf dem Kontinent verhöhnt, die über einen Fond die Impfungen erst 2023, 2024 erhalten, ist ein anderes Thema. Aber die Verwaltung des Mangels ist ein Modell. Wenn klar ist, dass Energie nicht mehr in dem Maße zur Verfügung steht und mir nur ein bestimmtes Kontingent an CO2 zusteht, dann muss ich mich entscheiden, ob ich das mit einer Reise verbrauche oder mir ein Auto gönne. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass es ohne Einschränkung, Ratio­nierung und Zuteilung nicht funktionieren wird, wenn wir im Klimaschutz etwas erreichen wollen. Das bedeutet aber eben nicht eine Ökodiktatur, sondern Freiwilligkeit, jeder muss sich entscheiden, wo ist er oder sie bereit zu verzichten und damit weniger zu produzieren und auch mit weniger auszukommen.

AV   Ich habe ja die Akademie immer als ein Labor verstanden. Für sie, wie für jede andere Institution ist das Thema eine Herausforderung. Labor bedeutet, dass hier Räume sind, in denen eine andere Form von Wissensproduktion möglich ist und eine Verbindung von künstlerischen Szenarien, künstlerischen Erzählformen zusammen mit einem intensiven Dialog mit den Wissenschaften. Das in den politischen Raum zu tragen, könnte eine zentrale Aufgabe der Akademie sein. Wir merken in der Pandemie, wie die Wissenschaft mit Versuch und Irrtum ringt. Aber da herrscht ein extremes Misstrauen, es geht also darum, dieses Wissen zu durchdringen, kritisch zu hinterfragen und daraus künstlerische Formate und Erzählungen zu entwickeln, die auf diese Weise bestärkt, erweitert und gefüttert werden. Das Ganze müsste als Prozess über Formen von Beteili­ gung laufen, durch die man das Wissen gemeinsam erarbe­itet und zu dieser Erzählung kollektiv etwas beiträgt – oder umgekehrt könnte die Erzählung über Debatten wieder zurückgespielt werden und sich weiterentwickeln: ein osmotischer Austauschprozess. Die Akademie ist für mich der Ort, an dem so etwas möglich ist, wo ­solche Kooperationen denkbar sind. Dazu hat sie auch einen ganz klaren Auftrag.

ANDRES VEIEL, Autor und Regisseur, ist seit 2007 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Filmund Medienkunst. JOHANNES ODENTHAL ist Programmbeauftragter der Akademie der Künste.

18.11.2020: Am Brandenburger Tor in Berlin demonstrierten nach Polizei­a ngaben etwa 7.000 Menschen gegen das neue Infektionsschutzgesetz. Da viele der Teilnehmer sich nicht an die Corona-Maßnahmen hielten, setzte die Polizei Wasserwerfer ein, um die Versammlung aufzulösen. Quelle: zdf.de „Die Bilder sind recht ‚leise‘ – ich wollte vermeiden, die direkte Konfrontation zu zeigen, sondern eher die Körperzustände der Menschen. ‚Gewalt­- Bilder‘ können im ­a ktuellen Kontext in jede beliebige Richtung instrumentalisiert werden und feuern die Polari­s ierungs­m echa­ nismen weiter an.“ SEBASTIAN WELLS, geboren 1996, lebt und arbeitet in Berlin und ist seit 2019 Mitglied der OSTKREUZ Agentur der Fotografen. Seine Arbeiten wurden unter anderem in der Akademie der Künste, Berlin, dem Museum für

JO   Die Frage ist, welche Rolle für solche Prozesse oder Szenarien Kunst und Kultur spielen. Ich meine damit auch die Kunst- und Kulturinstitutionen, also die Theater, die Kinos, die Museen und nicht zuletzt auch die Akademie der Künste. Wie können Institutionen hier mehr Verantwortung für die Zukunft übernehmen?

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Fotografie in Braunschweig und während der 50. Ausgabe von Les Rencontres de la Photographie in Arles ausgestellt. Er wurde beim Leica Oskar Barnack Award und dem FOLA Photobook Award ausgezeichnet und gewann zweimal das deutsche Sportfoto des Jahres, die wichtigste Auszeichnung in diesem Bereich.


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PANDEMIE UND GESELLSCHAFT

SKLAVEREI ALS METAPHER DIE ZUMUTUNGEN DER CORONA-PROTESTE Christine Hentschel

SKLAVE TRÄGT MASKE „Sklave trägt Maske“, lese ich auf einem selbstgemalten Poster, geheftet an einen Laternenpfahl auf der Straße des 17. Juni in ­Berlin. Dahinter haben es sich Menschen mit Campingstühlen und Picknick gemütlich gemacht. Tausende Gegner*innen der Corona­ Maßnahmen ziehen vorbei und zeigen ihre Botschaften: „Spahnferkel“, „Coronalüge“, „Hände weg von unseren Kindern“, „1933 = 2020“ und immer wieder Gandhi, Trump und QAnon. Es herrscht Jahrmarktstimmung in Berlin an diesem 29. August 2020, zwischen zwei Wellen der Pandemie. Von der Bühne am Großen Stern schallt der Moderator in die Menge: „Wir schreiben Geschichte!“ Als prominen­tester Redner spricht Robert Kennedy Junior und erinnert an die legendäre Berliner Rede seines Onkels John F. Kennedy. „Heute ist Berlin wieder die Front gegen den globalen Totalitarismus“,1 ruft er seinem Publikum zu: „Die Quarantäne haben unsere Regierungen genutzt, um die digitale Währung zu etablieren“, und das sei der „Beginn der Sklaverei, denn wenn sie unser Bankkonto kontrollieren, kontrollieren sie unser Verhalten“. Ähnlich erklärt mir eine Teilnehmerin einer Hamburger Corona-Kundgebung, dass wir alle „mikro-gechipt“ und zu „Robotermenschen-Sklaven herange­ zogen“ werden sollen und dabei viele von uns sterben werden.2


Was macht der Sklaverei-Vergleich auf den Demons­trationen und in den sozialen Netzwerken der Gegner*innen der Corona-Maßnahmen? Wie lässt sich erklären, dass gerade Sklaverei, der Inbegriff der Entmenschlichung Schwarzer Menschen,3 von mehrheitlich weißen Demons­tr­ ant*innen verwendet wird, um Szenarien totaler Kontrolle zu entwerfen? Und was erzählt uns der unbekümmerte Gebrauch der Sklaverei-Metapher über das spannungsgeladene Verhältnis der Anti-Lockdown-Bewegung zu Black Lives Matter? Zunächst fällt auf, dass das Metaphern-Bündel um Versklavung in den Corona-Protesten anders funktioniert als die dort ebenfalls verbreiteten Vergleiche mit dem Nationalsozialismus. Die Sklaverei-­Bezüge sind eher abstrakt, während die Verweise auf die Naziherrschaft an konkreten Figuren, Symbolen und Institutionen haften: dem Judenstern (nun mit der Inschrift „ungeimpft“), dem Naziarzt Mengele (abgebildet neben Christian Drosten), Sophie Scholl als Identifikationsfigur, der Deutung des Infektionsschutzgesetzes als Ermächtigungsgesetz und der Listen für Corona-­­ImpfPriorisierungen als Euthanasieprogramm. Das Repertoire des Nazivergleichs führt zu Opfern und Schuldigen, es funktioniert als Selbst­viktimisierung und Selbstüberhöhung zugleich.4 Die Sklaverei-Metapher ist dagegen Teil von diffusen apokalyptischen Zukunftsprojektionen, in denen finale Kämpfe zwischen „hellen und dunklen Mächten“ ausgetragen werden. Letztere bleiben nur vage benannt: große Unternehmen, Vertreter eines „deep state“ oder das Weltwirtschaftsforum mit seinem Plan für einen „great reset“. „Versklavung“ und „Sklaverei“ werden hier zum Sammelbecken staatlicher und großunternehmerischer Kontrollsucht, in das wir seit der Coronakrise in rasantem Tempo hineingeschubst werden. Eine Gesprächspartnerin auf einer Demon­s­ tration im Mai 2020 mustert mich verblüfft: „Fällt dir das nicht auf? […] hier wird eine neue Weltordnung durchgesetzt und wir merken es nicht: Wir rutschen in die totale Sklaverei!“

Schwarzen Menschen wurden in die Sklaverei hineingeboren und gaben ihren Status an ihre Kinder weiter. Versklavte Menschen wurden nicht als Menschen angesehen, sondern als Eigentum, das gepfändet, gehandelt, gekauft, verkauft, verschenkt oder gewaltsam entsorgt werden konnte, schreibt Nikole Hannah-Jones im 1619 Project.8 Gerade in der Pandemie zeigen sich die Hinterlassenschaften dieses Systems: Nachfahren der Versklavten und anderer historisch ausgebeuteter Gruppen erkranken häufiger an Covid-19 und sterben deutlich häufiger als Weiße daran, weil sie sozial nach wie vor benachteiligt und damit verletzlicher sind. Trotzdem zögern Afroamerikaner*innen laut Umfragen in den USA, sich impfen ­lassen, denn das Misstrauen angesichts einer langen Geschichte der grausamen Versuche an ihren Körpern sitzt tief. So wurde etwa in den Tuskegee Syphilis Studies afroamerikanischen Männern über Dekaden suggeriert, sie würden behandelt, jedoch wurde lediglich der Krankheitsverlauf an ihnen beobachtet.9 Schwarze Männer berichten zudem, dass sie in der Öffentlichkeit mit Maske als gefährlicher gedeutet werden und sich noch leichter RacialProfiling-Praktiken der Polizei ausgesetzt sehen.10 Die Sklaverei-Metapher nimmt Schwarzen Menschen diese Geschichte und die Anerkennung der Spuren dieses Leids im gegenwärtigen Leben, ohne sich für Belange von Marginalisierten einzu­ setzen. Sie erlaubt die Behauptung, dass weiße Deutsche, mit all ihren Privilegien, zum Objekt eines globalen Projekts der Versklavung werden könnten. Gleichzeitig suggeriert die Verwendung des Sklaverei-Vergleichs, dass „wir“ diese Versklavungsversuche mutig abwenden können: Wenn „wir“ uns nur keine Angst einreden l­ assen und uns den Schikanen widersetzen.

DER GRAUSAME VERGLEICH

Im Frühsommer, nach den enthusiastischen und wütenden Demonstrationen vor allem junger Menschen gegen Rassismus und Polizei­ gewalt auch in deutschen Städten frage ich die wenigen Schwarzen Menschen, die mir auf den Corona-Protesten begegnen, nach Black Lives Matter. Sie winken ab. „Warum nur Schwarze?“, erklärt mir ein Mann of Colour und Sympathisant der QAnon-Bewegung, „nein, alle Menschen zählen“: All Lives Matter! Eine weiße Frau reflektiert im Interview: „so Menschen nach Hautfarbe zu unterteilen oder irgendwie zu bewerten: Das ist, ja, das ist ein ganz altes Menschenbild, und […] gibt’s das noch? Das, das will ich gar nicht abstreiten. [Ich] wurde die letzte Zeit einfach wenig damit konfrontiert, muss ich sagen. Also eher im Gegenteil lern ich diese Menschen kennen, die von Menschheitsfamilien sprechen. Da gibt’s diese Themen gar nicht mehr.“ Rassismus wird in Teilen der Bewegung gegen die CoronaMaßnahmen als eine veraltete Ideologie erzählt, die weitestgehend ausgestorben sei, jedenfalls im Kreise derer, für die Rassismus „kein Thema mehr“ ist. All Lives Matter sollte es also heißen! Zwei Manöver gelingen über den Griff zu All Lives Matter: Erstens wird das Anliegen von Black Lives Matter heruntergespielt oder mit

In Nordrhein-Westfalen tauchten im Herbst 2020 Handzettel der Gruppierung „Ärzte für Aufklärung“ in Briefkästen auf. Zu sehen ist das Porträt von Anastacia, einer versklavten Frau5 mit einer Art Metallkäfig um den Mund, der um den Kopf befestigt ist.6 Im ­Untertext dazu heißt es: „Wusstest Du, dass Masken im kolonialen Brasilien als Folter gegen Sklaven eingesetzt wurden?“ Wir erfahren weiterlesend, dass die „Máscara de Flandres“ ein Bestrafungsritual war, mit dem Sklav*innen am Essen gehindert wurden. Nur der „Besitzer“ konnte die Máscara öffnen. Der Titel des Flyers fasst die Botschaft zusammen: „Nur Sklaven tragen Maske!“ Ein Arzt wird zitiert, der das Tragen von Masken als „Symbol der Unter­ werfung oder der Selbstbestrafung“ beschreibt.7 Ein grausamer Vergleich, der ausblendet, was Sklaverei war: ein Jahrhunderte andauernder Handel vornehmlich weißer Menschen mit mehr als 12 Millionen aus Afrika verschleppten Menschen, die auf Schiffen zusammengepfercht, auf Plantagen zum Arbeiten gezwungen, vergewaltigt und gefoltert und, wenn in Ungnade gefallen, öffentlich gehängt und verstümmelt wurden. Generationen von

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ALL LIVES MATTER UND DIE AUSWEITUNG DER VIKTIMISIERUNGSZONE

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­ isstrauen beäugt. So erklärt mir meine Interviewpartnerin, sie M glaube, „dass diese Situation da, mit diesem George Floyd […] komplett gefaked ist. Dass da wirklich ’n Video dafür gemacht wurde, um diese Bewegung wieder […] auf die Straße zu bringen […] um Unruhe zu stiften […] und Menschen gegen [Trump] aufzuhetzen.“ Außerdem sei der Floyd ja „aus der Rotlichtszene“ gewesen und man habe ganz „merkwürdige Geschichten über ihn“ gehört. Zudem gebe es auch Videos von Gewalt in die andere Richtung, von Schwarzen Polizisten gegen weiße Bürger.11 Zweitens sind mit All Lives Matter auch die Nutzungsrechte der Sklaverei-Vergleiche an „alle“ gegangen. Sklaverei gehört somit nicht allein den Schwarzen als Erfahrung der Entmenschlichung. Denn auch „wir“ sind potenziell schon alle belogen und verkauft. Gleichzeitig schwingt mit, dass „wir“ besser sind als die eigentlichen Sklaven, denn wir können uns wehren, wenn wir nur mutig sind. Einen Platz auf dem Terrain der Viktimisierung zu behaupten, macht es auch leichter, nicht rundherum schauen zu müssen: wo die Geflüchteten an den Grenzen Europas darben, wo sich neue ­Formen von Ausbeutung von schlecht bezahlten Fremden in unseren Haushalten oder menschenverachtende Arbeitsbedingungen in deutschen Schlachtbetrieben breitmachen und wo die Folgen der Klimakrise zuvor kolonisierte Landstriche besonders hart treffen. Viele, mit denen ich während der Kundgebungen in Hamburg spreche, waren nie zuvor demonstrieren. Sie durchlaufen mit der Pandemie eine Politisierung, deren Dreh- und Angelpunkt Kontrolle oder Unter­ werfung ist. Ungleichheit, Ungerechtigkeit oder ökologische Zer­ störung sind dagegen kaum ein Ärgernis. Das Spielen mit der Sklaverei-Metapher ist in dieser Hinsicht auch ein nervöses Ringen darum, auf der richtigen Seite zu ­landen: auf der Seite derer, die ihre Freiheit und Souveränität verteidigen, nicht auf der Seite derjenigen, die gedemütigt werden. Das Negativ­ szenario der Sklaverei verweist im Umkehrschluss auf die Fantasien des „unverletzbaren Körpers“ und einer „Gesellschaft der Unverwundbaren“,12 die jegliche Abhängigkeiten und Kolonisierungsgeschichten ausblendet. Verletzbar sind die anderen (auch wenn man sich nicht besonders dafür interessiert). Dagegen setzten andere Protestbewegungen, die sich in diesem vergangenen Jahr der ausgedünnten Öffentlichkeit auf den Straßen zeigten, gerade an dieser Verletzung an: in der dramatischen Besetzung von alten Wäldern, die für Autobahnen abgeholzt werden, in Menschenketten gegen die unmenschlichen Bedin­ gungen in den Flüchtlingslagern an den europäischen Grenzen, in Protesten gegen Polizeigewalt oder gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetzgebung in unserem Nachbarland Polen. Anders als die Corona-Proteste treibt diese Protestbewegungen nicht das drohende Zukunftsszenario von Unfreiheit um, sondern die Zer­ störung, Gewalt und Ungerechtigkeit in der Gegenwart. Eva von Redecker nennt diese Bewegungen einen „Aufstand der Lebenden gegen die Lebenszerstörung“13 und eine „Revolution für das Leben“. Während die Corona-Proteste die alte Freiheit zurückwollen, war ihnen diese Freiheit immer zu wenig.

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* Herzlichen Dank an Nina Perkowski, Susann Reichenbach sowie Christian und Antonia Reisser für ihre genaue Lektüre früherer Versionen dieses Textes und an ­Friederike Hansen für ihre Forschungsassistenz. 1 John F. Kennedy sprach damals aber nicht von Totalitarismus, sondern von Kommunismus. S. „Querdenken. 711 – Stuttgart, Robert F. Kennedy Jr. | Demo 29.08.2020 | Berlin“, Youtube, 6.9.2020, https://www.youtube.com/ watch?v=GHBzjfS3PdU. 2 Die Beobachtungen und Interviewfragmente, die diesem Text zugrunde liegen, basieren auf mehrmonatiger Feldforschung auf den Kundgebungen in Hamburg seit Mai 2020 und den Großdemonstrationen in Berlin. 3 Der antirassistischen Sprache folgend wird Schwarz hier großgeschrieben und bezieht sich auf die Verbundenheit durch Rassismuserfahrungen, während weiß klein und kursiv geschrieben wird und ebenso wenig Hautfarbe, sondern vielmehr eine gesellschaftspolitische Position beschreibt („Mehrheit“, „Macht ausübend“, „normgebend“). S. Tigran Petrosyan, Schwarz ist keine Farbe, in: taz – die tageszeitung, 21.8.2020, https://taz.de/Anti rassistische-Sprache/!5702930&s=schwarz+ist+keine+ farbe/. 4 Vgl. Helene Thaa, Corona-Skepsis als Rebellion der Individualist*innen, in: Soziologiemagazin: Soziologieblog, 16.9.2020, https://soziologieblog.hypotheses.org/13718. 5 Anastacia wird dabei nicht beim Namen genannt, die Geschichte ihrer Folter nicht erzählt. In Brasilien wird sie heute als Heilige verehrt. S. Natasha Sheldon, The Girl in the Iron Mask: The Legend of the Slave Girl, St. Escrava Anastacia, https://historycollection.com/ girl-iron-mask-legend-st-escrava-anastacia/. 6 Vgl. Peter Arnegger, „Nur Sklaven tragen Masken!“ – umstrittener Handzettel in den Briefkästen, in: Neue Rottweiler Zeitung, 7.11.2020, https://www.nrwz.de/ rottweil/nur-sklaven-tragen-masken-umstrittenerhandzettel-in-den-briefkaesten/291517. 7 In den USA wurden zwei Frauen mit Postern fotografiert, auf denen stand: „Muzzles“ [Maulkörbe, C. H.] are for dogs and slaves, I am a free human being“. Zur Empörung auf Twitter s. https://twitter.com/sunnmcheaux/ status/1262510184129314816. 8 Vgl. Nikole Hannah-Jones, Our democracy’s founding ideals were false when they were written. Black Americans have fought to make them true, in: The New York Times Magazine, 14.8.2019, https://www.nytimes.com/ interactive/2019/08/14/magazine/black-historyamerican-democracy.html. 9 Vgl. Isaac Chotiner, How Racism Is Shaping the Corona­ virus Pandemic, in: The New Yorker, 7.5.2020, https:// www.newyorker.com/news/q-and-a/how-racism-is-shaping-the-coronavirus-pandemic. 10 Vgl. Derrick Bryson Taylor, For Black Men, Fear That Masks Will Invite Racial Profiling, The New York Times, 14.4.2020, https://www.nytimes.com/2020/04/14/us/ coronavirus-masks-racism-african-americans.html. 11 Zur Argumentationslogik der „Abwehrmechanismen von Happyland“ s. auch Tupoka Ogette, exit RACISM. rassimuskritisch denken lernen, Münster 2020. 12 Adriana Zaharijević, Becoming a Master of an Island Again: On the Desire to be Bodiless, in: Redescriptions: Political Thought, Conceptual History and Feminist Theory 23/2 (2020), S. 1–13, https://doi.org/10.33134/rds.322. 13 Eva von Redecker, Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a. M. 2020, S. 10.

CHRISTINE HENTSCHEL ist Professorin für Kriminologie mit Schwerpunkt auf Sicherheit und Resilienz am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Sie forscht zu autoritären und kollapsologischen Logiken der Gegenwart sowie zu neuen Sicherheitsregimen im urbanen Raum und sucht nach den narrativen und affek­tiven Dynamiken von Protest im Angesicht der Klimakrise und der Pandemie.


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PANDEMIE UND GESELLSCHAFT

„UM   MIT DER WELT VERBUNDEN ZU SEIN, MUSS ICH ZU HAUSE BLEIBEN“ EINE MITSCHRIFT AUS DER REIHE IM GESPRÄCH BLEIBEN Kathrin Röggla

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Am 15.12.2020 fand unser erster digitaler Mitgliederclub statt, ein neues Format, das sich vielleicht als zukunftsweisend erweisen wird, auch weil in ihm längerfädige Möglichkeiten stecken. In einer kleineren Gruppe als üblich sprachen wir in einer Zoom-Konferenz über die Auswirkungen der pandemiebedingten Verschiebung aller künstlerischen Äußerungen, der Produktionen und der Lehre ins Digitale. Gekommen sind Almut Grüntuch-Ernst, Nele Hertling, Ulrich Khuon, Ulrike Lorenz, Marcel Odenbach, Daniel Ott, Ulrich Peltzer, Monika Rinck, Matthias Sauerbruch, Andres Veiel und unsere Präsidentin, Jeanine Meerapfel. Unsere russische Stipendiatin Ada Mukhina aus der Sektion Darstellende Kunst und Cylixe, unsere Baselstipendiatin von der JUNGEN AKADEMIE aus der ­Sektion Bildende Kunst, sowie Siegfried Zielinski gaben uns mit ihren Statements die Gesprächsgrundlage, von der aus wir über die digitale Über- und Durchformung jeglicher Äußerung nachdachten: ob ins Netz gestellte Ausstellungen ohne Museums­ öffentlichkeit unsere Zukunft sein werden, ob vom Raum losgelöste Theateraufführungen zu begrüßen sind, wie die künstlerische Ausbildung via Zoom an ihre Grenzen kommt, ob der Tanz auf der Strecke bleibt, und was die Ökonomie der Freundschaft für künstlerisches Schaffen während der Pandemie bedeutet. Der 30 Jahre alte Gedanke von Villem Flusser „Um mit der Welt verbunden zu sein, muss ich zu Hause bleiben“ hat eine neue Relevanz bekommen, die Grenze zwischen öffentlich und privat ist dabei aufge­ hoben. Letztendlich fragten wir uns, wie wir Heterotopien und den Moment des Kairos bewahren oder neu finden können. Im Folgenden werde ich in meiner Mit- und Umschrift einige wesentliche Punkte der Online-Begegnung herausgreifen und verdichten, die zeitliche Signatur einer Zoom-Konferenz als eine Herausforderung wahrnehmend. Der Medienarchäologe Siegfried Zielinski spricht gerade über das Wesen der intelligenten Maschinen: Alles sei im Kern Mechanik und so könnten nur jene Lebensbereiche ausgefüllt oder substi­ tuiert werden, die formalisierbar sind. Alles dazwischen löse sich auf. Es gebe nur noch dafür oder dagegen, das Digitale generiere eine rein binäre Realitätserfahrung. Derzeit unter Rahmenbedingungen der bedingungslos vernetzten Kommunikation gefangen, erlebten wir auf den Raum bezogen den schmerzlichen Verlust von Heterotopien und den Verlust der Poesie des Kairos, beides essenziell für die Kunst. Gegenwart verstanden als das Erleben des günstigen Moments verschwinde im digitalen Zeitgefüge – alles sei bereits Vergangenheit oder sich bereits einstellende Zukunft. Sein Statement beendet er mit der Aufforderung, dass wir, die wir uns in jeweils autonomen Situationen befinden (und darauf vertrauen können) und in technisch vernetzten Situationen arbeiten und debattieren, lernen müssen, online zu existieren und offline zu sein. Andres Veiel reagiert auf diesen Aspekt des Kairos. Er habe im Verlauf seiner letzten Filmproduktion (Ökozid ) im letzten Jahr „eine dicke Asphaltschicht des Binären“ beobachtet, unter der er eine gewaltige Kraft wahrnehme, die die Präsenz und den Realraum einfordere. Die Vorbereitung lief digital, die konkreten Drehtage im letzten Sommer in der Zeit der Lockerung beschreibt er als ein euphorisches Erleben. Die Kräfte und Energien des Ensembles, die

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Sehnsucht nach dem Augenblick, nach der Berührung machten für ihn aus dem Dreh eine der schönsten Inszenierungserfahrungen. Das Glück dabei zu sein, verband alle: von dem, der das Licht gesetzt hat, bis zu dem, der für alle das Essen gekocht hat. Seine derzeitige Methode im Lockdown ist, ihr mit gezielten Spaziergängen zu zweit zu begegnen, um diese Asphaltschicht zu durchbrechen. Jeanine Meerapfel greift den Gedanken der Freundschaft auf, und da sie davon ausgeht, dass die Maschine nur das widerspiegele, was vom Menschen kommt, der sie bedient, also nur das reflektiere, was wir eigentlich sind, nimmt sie an, dass sie auch nur bereits existierende Freundschaften verstärken kann. Dies bejaht Siegfried Zielinski mit einer Erläuterung seines Freundschaftsbegriffs in der Tradition von Derrida und Bataille. Es geht ihm um Zwecklosigkeit, die seinem Freundschaftsbegriff zugrunde liegt, was wiederum von Ulrich Khuon und Ulrike Lorenz kritisch kommentiert wird. Warum stelle er diesen dem Ökonomiebegriff gegenüber? Die bildende Künstlerin Cylixe widerspricht ebenfalls. Sie hat gerade in einem anfangs anonymen Zusammenschluss für eine solidarische Aktion zur Coronahilfe Freundschaften geschlossen. Die allein digital zu bewältigende Hilfsaktion habe gemeinsame Interessen verstärken können und neue Verbindungen entstehen lassen, die sie durchaus als freundschaftlich wahrnimmt. Auch die rein mechanische Auffassung des Digitalen findet sie aufgrund ihrer künstlerischen Erfahrung mit Künstlicher Intelligenz als proble­ matisch. Im maschinellen Lernen bringe die KI Vorschläge, von denen sie glaube, dass sie sie haben möchte, was aber nicht stimme, insofern arbeite sie sehr eng an der Grenze zur Fehlerhaftigkeit, und diese Fehlerhaftigkeit findet Cylixe spannend. Siegfried Zielinski stimmt dem zu, spricht aber lieber nicht von KIs, sondern von Künstlichen Extelligenzen. Die Einmischung dessen, was er das „Jenseits des Programms“ bezeichnet, erzeuge diese Fehlerhaftigkeit. Die Theaterregisseurin Ada Mukhina hat uns in ihrem Statement schon von der Erkenntnis berichtet, dass es im theatralen Bereich erst spannend wird, wenn performativ mit den digitalen Tools gearbeitet wird, ein neuer Theaterbegriff entsteht und nicht einfach der theatrale Realraum simuliert wird. Ihre Erfahrung mit Online-Laboratorien sieht sie absolut positiv. So kann man in Russland den Moskau-Zentrismus mit dieser Organisationsform umgehen und sich regional sowie international vernetzen. Zum Beispiel hat sie 2020 über das gesamte Jahr mit den internationalen Fellows aus dem Laboratory for Global Performance and Politics an der Georgetown Universität, die sie nie real gesehen hat, online zusammengearbeitet. In Bezug auf die Freundschaftsökonomie erwähnte sie die Care-Ökonomie. Auch hier hat sich in der CoronaPandemie gezeigt, dass soziale Medien neue virtuelle Kontakte etablieren konnten, die zu Hilfe, gegenseitiger Unterstützung und starken Beziehungen führten, wie auch das Beispiel von Cylixe zeigt. Andres Veiel hat sich vielmehr inzwischen gefragt, wie es Ulrich Khuon geht, den er in einem Geistertheater wähnt, was dieser ne­gieren wird. Er wird vielmehr Bezug nehmen auf die Fragen des Charakters von Zoom-Sitzungen, die schon mehrfach erwähnt wurden. Was können sie, was können sie nicht, was verändert sich dadurch? Während Andres Veiel in den Zoom-Meetings die bei-

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läufigen Begegnungen und Nebengespräche in den Pausen abgehen werden, zumal die Ausrichtung der Zoom-Gespräche auf Effizienz ein Problem der fehlenden Beiläufigkeit erzeuge, wird die ­Lyrikerin und Essayistin Monika Rinck einen digitalen Backstagebereich nach Veranstaltungen vorschlagen. Nele Hertling, unsere Direk­torin der Sektion Darstellende Kunst, wird die Beiläufigkeit durchaus in den Zoom-Begegnungen mit internationalen Kollegen wiederfinden: der Blick in die Wohnzimmer und die kleinen Neben­bemerkungen; diese veränderte Wahrnehmung wird sie durchaus positiv und für freundschaftliche Zusammenarbeit belebend wahrnehmen. Erst einmal ist Ulrich Khuon dazu gekommen, aus seiner Erfahrung im Deutschen Theater und als Präsident des Bühnen­vereins zu berichten. Wie er und sein Team im letzten halben Jahr auf dem Weg vom ersten Lockdown und in der Konfrontation mit dem ­Digitalen Methoden entwickelt habe, wie man letztendlich in jenem Hybrid gelandet sei, und wie man in die analoge Wirklichkeit w ­ ieder hineinzukommen suche. Er hat das Jahr als ein Überangebot an Praxis erlebt, und eines der fehlenden Zeit für theoretische Reflexionen. Man ist wo reingestolpert. Und jetzt probe man wieder und spiele nicht, in diesem Haus mit seinen 300 MitarbeiterInnen, die natürlich wissen wollten, wie es weitergeht. Nicht nur deswegen halte er alle paar Tage Betriebsversammlungen ab, die er – auch wenn es paradox klingen mag – als realsten und aufgeladensten Moment bezeichnet, eine verdichtete Gemeinsamkeit, in der, obwohl man gerade alles runterfahre, die Ahnung des Rauffahrens bewahrt werden könne. Eine andere Perspektive auf die digitalen Besprechungen führt Ulrich Khuon exemplarisch anhand der letzten ­Sitzung der Akademiesektion ein, in der er erlebt habe, wie man gerade bei strittigen Themen unaufgelöst zurückbleibe. Schon allein deshalb, weil man im Medium nicht kühl kommuniziere und die Gefahr, sich falsch verstanden zu fühlen, groß sei; Dinge könnten auch nicht zurückgenommen werden wie in einer präsentischen Sitzung. Nele Hertling greift den Moment des Unaufgelösten auf. Könne ihm nicht begegnet werden, in dem man durch Anschlusstreffen, durch eine zeitliche Sequenzierung das Gefühl untergrabe, dass etwas Ungewolltes hängen bleibt? Die Fortsetzung wäre dann die Chance der digitalen Begegnung – etwas, das ich durchaus aufzugreifen plane. Jeanine Meerapfel versucht die sehr unterschiedlichen Phänomene zusammenzufassen und kommt nochmals auf die stumme Kommunikation zwischen Zuschauern zu sprechen, sie weist auf die kleinen Texte hin, die sie im Chat an die einzelnen Gesprächsteilnehmer geschrieben hat – ein kleines Experiment der Zweigleisigkeit dieser Kommunikation. Aber nur einer habe darauf reagiert. Ich notiere mir: Es fehlten der Resonanzraum, das Zurechtrücken, Neu-Positionieren, Sich-Verabreden, das Beiläufige, das Nebenher, das Rund-um-die-Sitzung-zu-Organisierende. Und dass es schwierig ist, einen offenen Gesprächsraum in größeren und kleineren künstlerischen Arbeitszusammenhängen zu organisieren. Ulrike Lorenz wird es später aus ihrer Erfahrung mit der Stiftung Klassik in Weimar auf den Punkt bringen: „Es geht so lange gut, wie man Informationen miteinander austauscht, und das auf der Grundlage einer relativ guten Kenntnis der Partner, die man hat.


Wenn es wirklich zum Streit über Neues kommt, was noch nicht praktiziert worden ist, was erschreckend wirkt, was zu erklären ist, wo man ein bisschen nachhaltiger miteinander argumentieren muss – das ist sehr schwer im Digitalen zu retten.“ Die Erfahrung digitaler Premierenfeiern mit getrennten Alkohol­ spiegeln und Büro-Weihnachtsfeiern mit gelieferten Einzelessen werden als hochemotional, skurril und durchaus positiv ­beschrieben, weil durch die Verschiebung ins Digitale die privaten Räume der Eingeladenen eine durchaus nette Stimmung entstehen lassen, wenn auch unklar bleibt, ob sich das Besondere daran verstetigen lässt. Der Direktor der Sektion Baukunst, Matthias Sauerbruch, berichtet über die Situation, in die die urbainable-Ausstellung durch den Shutdown geraten war. Man filmte sie ab und stellte sie ins Netz, ein Symposium fand digital statt, eine „selbstgebastelte ­Diskussionsveranstaltung mit sehr interessanten Leuten hat sehr gut funktioniert.“ Er erlebte wie Andres Veiel die veränderte Öffentlichkeit, ein weiterer Aspekt, durchaus positiv. Es kämen ganz andere Reichweiten zustande, die Öffentlichkeit würde sich enorm verstärken, vor allem, wenn man auf große Plattformen (wie die ARD) verlinkt wird. Allerdings würden sich so, fügt ­Andres Veiel hinzu, die Schlammschlachten verstärken. Der bildende Künstler Marcel Odenbach wundert sich ebenfalls über die breite Aufmerksamkeit, in der Presse, aber auch im Internet, die seine aufgebaute, ins Netz gestellte, aber nie eröffnete Ausstellung im Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld erfahren hat. Und so sei sie für ihn jetzt wie abgehakt, was ihn frustriert, weil es ja nie einen direkten Dialog mit dem Publikum gegeben habe. Die Leute haben „sich darauf gestürzt, ohne sie gesehen zu haben“. Matthias Sauer­bruch hatte schon vom Wandel des Museums zum Filmset gesprochen. „Man könnte sich vorstellen, dass man die Vorstellung einfach nur abfilmt und dann wieder abbaut. Dass gar niemand mehr kommt.“ Zukunftsweisend? Auch Ulrich Khuon hat mit dem Livestreaming der Zauberberg­ Inszenierung des DT eine ähnliche Erfahrung gemacht – viel Resonanz, 10.000 Leute haben es gesehen, aber eben als Live­streaming, möglichst nahe am Ereignis, niemals Konserve. Etwas, das Monika Rinck nicht ganz verstehen kann, denn: „Rituale sind nur sehr schwer übertragbar.“ Ihre Frankfurter Poetikvorlesung im vergangenen November hätte sie am liebsten als Trickfilm gehabt. Sie selbst habe es im Netz als ein gespenstisches und eher undurchlässiges Phänomen erlebt. Nele Hertling wiederum sieht die Möglichkeit im Streamen, dass Schwellen gesenkt werden und ein anderes Publi­ kum als sonst Theaterinszenierungen sehen könne. Doch hat der Direktor der Sektion Literatur, Ulrich Peltzer, wirklich von der Anspannung, die Zoom bei ihm erzeuge, erzählt? Ja, vor allem bei der künstlerischen Ausbildung an den Hoch­schulen. Eine Anstrengung, die auch von Ulrich Khuon wahrgenommen wird, allerdings, „eine Berg- und Talfahrt“. Es ist die fehlende Reziprozität, die Cylixe beim Unterrichten zu schaffen mache, „manchmal ist man eher eine Radiomoderatorin auf Zoom“. Wenn man Pech hat und das Netz schlecht ist. Ulrich Peltzer hat angemerkt, dass er normalerweise im Seminar durchaus mitbekomme, wer noch dabei ist, die Aufmerksamkeit wandere durch den Raum, darauf

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könne er unmittelbar reagieren, aber jetzt? Und der Tanz, das hat Nele Hertling klar gemacht, der von Berührung und Begegnung lebt, der lasse sich nun wirklich nicht digital zufriedenstellend unterrichten. „Wenn man da hineinblickt, das ist katastrophal und herzerweichend.“ Aber, höre ich Ulrike Lorenz plötzlich sagen: „Warum kann der digitale Raum nicht auch eine Heterotopie sein?“ Darauf hat sie sich gleich die Antwort selbst gegeben: „Lass uns die Ressourcen, die wir hüten, bewahren, so befragen, dass sie für die Existenzfragen heute Auskunft geben können, lasst uns das in einem offenen Raum tun, lasst uns nicht-akademische Perspektiven involvieren – wie geht das? Wenn dies diskutiert wird, sitzt man besser am Tisch miteinander, und ich frage mich tatsächlich und stimme Siegfried Zielinski zu – das Neue in dieser Welt kommt nicht aus dem digitalen Raum, das muss ausgehandelt werden. Punkt.“ Nein, kein Punkt. nachdem wir uns die Situation der Kinos vor Augen führten, von denen viele nicht überleben werden, die vielen Kunsträume, die bedroht sind, kommen strategische Überlegungen: Der Komponist und Leiter der Münchner Musikbiennale, Daniel Ott, schlägt den Akademiespaziergang zu zweit als Modell vor, neben dem digitalen Angebot eine hybride Kombination. „Im November durften wir in der Deutschen Oper proben, aber es gab keine Premiere. Da liegt einfach ein Stück, das darauf wartet, irgendwann gespielt werden zu können.“ Und: „Im Rahmen von Labor Beet­hoven 2020 bereitete die Sektion Musik im März am Hanseatenweg eine wunderbare Ausstellung über zeitgenössische Sichtweisen und Reflexionen auf Beethoven vor. Wegen des Lockdowns hat fast niemand diese Ausstellung gesehen, aber die Gerüchte, die über sie durch die Welt gehen, sind genial.“ Immerhin hat er eine schöne Probenerfahrung mitten im Wald gehabt. Almut Grüntuch-Ernst spricht über die Veränderung in der Architekturlehre. Ein Semester lang habe man den Verlust des Realraums erlebt, „im nächsten Semester müssen wir nach dem Potenzial dieser Situation suchen. Da es auf der ganzen Welt in den Architekturschulen dieses Problem gibt […], haben wir gesagt, wir machen nur noch international parallele Formate.“ Das meinte sie, um im Anschluss von einem Projekt mit Bangkok zu berichten. Wenn schon online, dann globales Denken! Das Schlusswort hatte Ada Mukhina. Sie hebt noch einmal hervor, dass sich online wesentliche Chancen ergeben: Statt immer wieder mit Freunden und bestehenden Kontakten zusammenzu­ arbeiten, kann man open calls machen, neue Leute und innovative Ideen aus der ganzen Welt für gemeinsame Projekte finden. „Kultur­ schaffende müssen digitale Tools, die schon lange da sind, erlernen und nutzen, sonst bleiben sie in der Vergangenheit stecken.“ Niemand blieb in diesem Gespräch in der Vergangenheit, die Zukunft alleine scheint ungewiss. Fortsetzung folgt!

KATHRIN RÖGGLA ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste.

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KUNSTWELTEN

VERTRAUEN SCHAFFEN BERICHTE AUS DEN WORKSHOPS Seit 4 Jahren laden Künstlerinnen Kinder und ­Frauen in Unterkünften für geflüchtete Menschen in Mal-, Fotografie- und Nähwerkstätten ein. Nachdem die Unterkunft in der Heerstraße in Charlottenburg im August 2020 geschlossen werden musste und ihre über 300 Bewohner*innen in anderen Berliner Häusern untergebracht wurden (das Bezirksamt bemühte sich, Familien im Stadtbezirk zu halten, um den Kindern einen Schulwechsel zu ersparen), führten wir unsere Werkstätten in einer Familienunterkunft mit über 150 Kindern in Treptow-Köpenick fort – im Frühjahr der Pandemie digital und bis Dezember ­wieder in realen Räumen. Manchmal entsteht auch ein fotografischer Dialog. Die Kinder fotografieren sich gegenseitig oder wollen in bestimmten Posen foto­grafiert werden. Jedes Treffen ist voller Leben, immer anders und eine Zeit zum Experimentieren.

NATAŠA VON KOPP, geboren in Baden-Baden, ist Filmemacherin und Fotografin und lebt in Berlin und Prag. www.sleeping-tiger.com

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AUSFLÜGE

MASKEN

HALLO Monique Van den Bulck

Naemi Schmidt-Lauber und Sven Tjaben Bei unserem ersten Besuch gingen wir zu dritt, mit Mohamed Kello und einem Lied in vielen Sprachen (Arabisch, Kurdisch, Farsi, Englisch) durch das ­Gebäude und klopften an die Türen, um die Kinder auf uns aufmerksam zu machen. Viele, vor allem die jüngeren, kamen und hörten sich unsere Geschichten an. Wir sangen zusammen, erlebten ihre große Freude an Bewegung, den Drang, über eigene Erlebnisse zu sprechen und aus der Enge der Unterkunft herauszukommen, Berlin kennenzulernen. Also planten wir Ausflüge. Zunächst beschlossen wir, den Zoo zu besuchen. Die meisten Kinder waren noch nie in einem Zoo gewesen, und wir bemerkten beim Erzählen von Tiergeschichten, dass sie viele Tiere nicht kannten. Einige Eltern kamen mit, denn auch sie haben selten die Möglichkeit, die Stadt ­anders kennenzulernen als auf Ämtern oder bei Arztbesuchen. Im Streichelzoo erzählten uns die Mädchen und Jungen von Tieren in ihren Herkunfts­ ländern. Auf dem in Berlin berühmten Spielplatz konnten sie sich ungehindert austoben. Plötzlich saß eine Mutter oben auf der Rutsche und traute sich nach vielen Zurufen herunterzurutschen – zum ­ersten Mal in ihrem Leben! Nach Besuchen im Schloss Charlottenburg, wo wir einander vom Krieg und von Königinnen und Köni­ gen erzählten, im Naturkundemuseum, wo unsere Gruppe über vieles staunte, über die ausgestor­benen Urpferde, Echsen und Ei-Arten, im Technik-­Museum und im Bröhan-Museum, fuhren wir im Sommer der Pandemie ein weiteres Mal in den Zoo. Und wir gingen in den Grunewald. Obwohl fußläufig zur Unterkunft gelegen, waren die Kinder noch nie dort gewesen. Im Wald tobten sie frei herum, und hier berichteten Einzelne, nachdem wir ein Wald-Märchen erzählt hatten, von ihren Fluchtwegen, dem Übernachten in Wäldern, der Kälte dort, wie die schwangere Mutter nicht mehr laufen konnte; oder andere von den überfüllten Booten, mit denen sie nach Europa gekommen waren. Wir erlebten, wie sie sich bei jedem Ausflug mehr öffneten, wie ihre Aufmerksamkeit füreinander und ihr Vertrauen im Laufe unserer gemeinsamen Zeit und Erlebnisse wuchsen. Oft erzählten sie dann in der Entspannung des Rückwegs wirklich von sich. Und sie planten, unsere Wege mit ihren Familien zu wiederholen. Oben auf dem Drachenberg im Grunewald angekommen, jubelten sie beim Blick über Berlin und skandierten: Das beste Heim der Welt: Heerstraße!

Wir sitzen an zusammengeschobenen Tischen im Com­puterraum, bei schönem Wetter auf dem Hof. Es gibt wenige Regeln, nur: keine Computer und keine Gewalt. Jedes Kind, das Lust hat zu malen, ist willkommen. An manchen Tagen malen die Kinder weniger, sind mit dem Material beschäftigt, reden dabei immer wieder, erzählen, was sich in den letzten Tagen im Haus zugetragen hat, von einem Ausflug, von einer Abschiebung, von der Geburt eines Kindes, fragen untereinander, warum eine Mutter im Krankenhaus ist, warum einem anderen Kind das Spielen auf dem Hof von den Eltern verboten wurde, dabei sind sie die ganze Zeit konzentriert an ihren Blättern. Die meisten haben monochrome Blätter hergestellt, in Schichtungen, mit Strukturen. Oft sehr dunkel. Mustafa ist immer dabei. Heute sitzt er zwischen den Kindern, still, er grundiert ein Blatt, wartet ab, trägt eine neue Schicht auf. Diese soll tiefschwarz werden. Er lächelt fast zufrieden. Malt dann auf die getrocknete Grundierung einen Stein, wie eine ­Stele. Darauf den Schriftzug NO. Ich frage ihn, ob es eine Geschichte zu dem Bild gäbe. Da ergänzt er das NO mit einem fehlenden Strich. WO. Malt weiter. Einen Geist. Er erzählt von seinem Onkel, den sie ohne Kopf beerdigt haben, von dem anderen Onkel, von dem sie nur einzelne Körperteile beerdigen konnten, weil er auf eine Mine getreten war. Und er lächelt unverändert, malt konzentriert und ist am Ende sehr stolz auf sein Bild. Einmal fragen sie, was Hallo in ihren jeweiligen Spra­chen heißen würde, auf Persisch, Arabisch, Russisch, Vietnamesisch, Somalisch oder Kurdisch. Dann fragen sie mich, was Hallo in meiner Sprache heißt. Sie wollen nicht glauben, dass es einfach H ­ allo ist.

Im Juli 2019 hatten wir das Nähatelier in der Heerstraße eingerichtet. Folgende Frauen, die ich alle hier mit ihrem Namen nennen möchte, habe ich in diesem Projekt begleitet: Fariba, Zarif, Arezo, Nassima, Afra, Nouriatou, Shanaz, Maryam, Zahra, Nidal, ­Jamileh, Zhiyan, Hodan … So schöne Namen, die ich noch nie gehört hatte; ich war von ihren Persönlichkeiten und ihrer Großzügigkeit überwältigt. Die meisten von ihnen sind Mütter, und ihre Kinder waren nie weit weg: Aya, Padya, Zainab, Yalda, Marva … Die Teilnehmerinnen wünschten sich, Kleider für ihre Kinder zu nähen, Hosen zu kürzen, zu ändern. Wir haben glücklicherweise eine Schneiderpuppe erworben, sodass sie beginnen konnten, eines ihrer Lieblingskleidungsstücke abzuformen und Schnitte herzustellen. Einige Male fuhren wir gemeinsam auf den Markt am Maybachufer, auf der Suche nach schönen Geweben und Stoffen. 2020 – ein herausforderndes Jahr nicht nur ­wegen Corona, sondern auch wegen der Verlegung der Menschen in andere Heime, was Trennungen zur Folge hatte. Wir sind gemeinsam durch dieses Jahr gegangen; es hat uns angegriffen und zum Nachdenken gebracht. Unsere WhatsApp-Gruppe „Masken“ mit Arezo, Fariba, Hassan und Hadi war täglich in Kontakt. Meine Einkaufsoptionen waren Online-Bestellungen oder endlose Warteschlangen auf Märkten. Die Gruppe nähte entschlossen und unerbittlich mehrere tausend Masken, um zuerst den Menschen aus ihrem Heim zu helfen, danach für die Menschen im Stadtbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Wir wurden Finalisten für den Integrationspreis 2020. Ich verlasse diese Menschen und das tolle Mit­ arbeiterteam mit Mothi und Sophie Claassen mit sehr viel Traurigkeit. Seit Herbst 2020 bin ich in der Gruppen­unterkunft in Berlin-Treptow, wo ich wegen der Corona-Einschränkungen zunächst mit Kindern zwischen 8 und 12 Jahren arbeiten kann. Wir weben, sie sind begeistert. Es ist ein Fest. Und dann fielen wir am 16. Dezember zurück in den Lockdown.

SIBYLLE PRANGE, geboren in Eberswalde,

MONIQUE VAN DEN BULCK, geboren in Bukavu,

SVEN TJABEN, geboren in Bremen, sind Schauspieler

ist Malerin und lebt in Berlin und Brandenburg.

ist Kostümbildnerin und lebt in Berlin.

und Erzähler und leben in Berlin.

www.sibylleprange.de

www.moniquevandenbulck.eu

www.naemi-schmidt-lauber.de, www.sven-tjaben.de

Sibylle Prange

NAEMI SCHMIDT-LAUBER, geboren in Lübeck, und

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FREUNDESKREIS

FREUNDE

AUCH

GESELLSCHAFT DER FREUNDE DER AKADEMIE DER KÜNSTE

Bernd J. Wieczorek Die Covid-19-Pandemie hat erhebliche, teils dramatische Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche, das politische Handeln, das wirtschaftliche Geschehen sowie die ganz persönlichen Situationen und Lebens­ entwürfe der Menschen. Der Kultursektor bleibt davon nicht verschont. Mehr noch, er ist einer der am verheerendsten betroffenen Sektoren. Staatliche Bühnen haben nur noch rudimentäre (Online-)Angebote, private Institutionen kämpfen um das schiere Überleben, selbstständige Künstler*innen sind oft völlig einkommenslos. Die vielfältig entstandenen OnlineAktivitäten sind zwar beeindruckend und fantasievoll, sie können jedoch das reale Erleben und die kreative Kraft des persönlichen Interagierens nicht ersetzen. Ganz besonders hart betroffen von den Folgen der Pandemie sind die jungen, noch ihren künstlerischen Weg suchenden Kulturschaffenden, so auch die Stipen­diat­ *innen und Alumni der JUNGEN AKADEMIE. Die vielfältige und beeindruckende Arbeit der interna­ tionalen Nachwuchskünstler*innen der JUNGEN AKADEMIE begleiten wir seitens der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste seit nunmehr fast zwei Dekaden sehr aktiv. Mit der vor einigen Jahren erfolgten Gründung des Bereichs der „Jungen Freunde“ innerhalb unseres Förderkreises wurde diese enge Beziehung nochmals intensiviert und vitalisiert. Legendär sind inzwischen die Willkommenspartys, die unsere Jungen Freunde jeweils für die neuen Stipendiat*innen der Akademie ausrichten. Daraus ergaben sich zahlreiche weitere gemeinsame Aktivitäten und persönliche Kontakte. Wir alle im Freundeskreis der Akademie sind beeindruckt, ja begeistert, wie durch das intersektionale Artist-in-Residence-Programm der kreative Austausch, das Experiment und der persönliche Diskurs über geogra­ fische, kulturelle und politische Grenzen hinweg ermöglicht und gefördert werden. Inzwischen pflegt die JUNGE AKADEMIE ein lebendiges internationales Netzwerk von mehr als 250 Alumni, das alle Sektionen der Akademie der Künste abdeckt: Baukunst, Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Literatur, Musik sowie Film- und Medienkunst.

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Dieses großartige Netzwerk wurde jäh gefährdet und drohte gar, durch die scharfen generellen PandemieRestriktionen und existenziellen individuellen Probleme zu zerreißen. Reisen waren kaum mehr möglich, auch Auf­tritte, Projekte und sonstige Einnahmequellen fielen abrupt weg. Daraus resultierten nicht nur große finanzielle Sorgen, sondern häufig auch künstlerische Schaffenskrisen. Und dieser prekäre Zustand dauert an, ja verschärft sich trotz der voranschreitenden Impfkampagnen zum Teil sogar noch. In dieser sich zuspitzenden Situation reagierte die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste so, wie es ein guter Freund und Wegbegleiter gerade in Notzeiten tun sollte: Sie organisierte spontan Hilfe. Bereits im April 2020 rief der Freundeskreis einen Nothilfefonds zur Unterstützung der internationalen Nachwuchs­künstler*innen im Netzwerk der JUNGEN AKADEMIE ins Leben. Unsere Grundüberlegung für die bewusst gewählte, nicht breit gestreute, sondern sehr fokussierte Hilfs­ aktion war, dass unsere begrenzten Ressourcen bei den von den Folgen der Pandemie betroffenen Nachwuchstalenten besonders wirksam eingesetzt werden können. Diese sind in der Regel weder in ihrem beruflich-künstlerischen Schaffen bereits hinreichend sichtbar und etabliert, noch haben sie sich finanzielle Polster für Krisenzeiten aufbauen können. Gleichzeitig benötigen sie für ihre künstlerische Weiterentwicklung genau in dieser Schaffensphase möglichst vielfältige Chancen für eine breitere Wahrnehmung und kreative Entfaltung. Umso tragischer ist es, wenn in diesem wichtigen Lebens­ abschnitt all dies wegbricht. Die Leiterin der JUNGEN AKADEMIE, Clara Herrmann, mit der wir zügig über das „Wie und Wer“ einer möglichen Hilfsaktion des Freundeskreises ins Gespräch kamen, wusste aus ihrem internationalen Künstlernetzwerk zu berichten: „Die künstlerische Produktion kann oft nicht fortgesetzt werden, zu den finanziellen Sorgen kommen der psychische Druck in der Isolation, die Planungsunsicherheit sowie das chaotische Krisenmanagement mancher Staaten.“

Everything has stopped: commissions, sales and even a teaching job on the side are being pushed ad libitum, making me doubt whether they will ever happen at all. Trying to reduce costs, I have returned to my parents’ home. – Künstlerin aus Spanien

Considering that there are no funds for artistic support during an emergency, artists and cul­ tural workers very quickly found themselves in the risk zone, especially those artists who are engaged in social and noncommercial artistic practice. – Künstler aus Osteuropa

They replaced me and nobody noticed. – Stipendiatin aus den Niederlanden

Nothilfe-Spendenkonto Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste IBAN DE94 1007 0000 0603 0555 01 BIC DEUTDEBBXXX (Deutsche Bank)


UND GERADE IN

Stipendiat*innen, die im letzten Jahr unter anderem aus Pakistan, Indien, dem Senegal, Russland und Europa in Berlin erwartet wurden, strandeten auf der Reise irgend­wo auf der Welt. Meldungen wie „The lockdown stranded me in Mexico“ und „The pandemic stranded me in St. Petersburg“ erreichten die Akademie aus dem gesamten Stipendiat*innen-Netzwerk ebenso wie Schilderungen ernster Notsituationen. Vor diesem dramatischen Hintergrund kam zu Zielsetzung und organisatorischer Ausführung eines Hilfsprogramms rasch ein gemeinsames Verständnis zwischen Freundeskreis, JUNGER AKADEMIE und dem Präsidialbereich der Akademie zustande. Doch dann hieß es, nicht nur Gutes zu beabsichtigen, sondern auch die finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Das damals entwickelte Marketing-Konzept ist noch heute die Leitlinie unserer Bemühungen um Spenden. In diversen bundesweiten Aktionen wendet sich seitdem der Freundeskreis mit Spendenaufrufen an die Öffentlichkeit. Er fordert dazu auf, den Stipendiat*innen und Alumni der Akademie der Künste zu helfen, ihre Projekte weiter realisieren und sichtbar machen zu können sowie ihre Lebensgrundlage zu sichern. Über das Netzwerk des Freundeskreises, die Presse, soziale Medien und Anzeigen der im Freundeskreis engagierten ZEIT treffen die Appelle auf eine überwältigende Resonanz. Die Zeitschrift Weltkunst bietet an, das Nachwuchs- und Residenz-Programm der Akademie der Künste mit einer zusätzlichen Charity-Aktion zu unterstützen. Sie spendet die Erlöse aus dem Verkauf von SolidaritätsKapuzen­pullis und Community-Masken – über die Galerie König unter anderem von Katharina Grosse, Jeppe Hein und Alicja Kwade gestaltet – an unseren Nothilfefonds. Durch externe Spender*innen und Freundeskreismitglieder kam inzwischen eine erhebliche und so nicht erwartete Summe zusammen. Dadurch konnten bereits bis Ende 2020 fast 50 junge Künstler*innen aus mehr als 20 Ländern mit einem Nothilfe-Stipendium unterstützt werden.

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Die Geschäftsführerin unserer Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste, Corinna Hadeler, koordiniert die Umsetzung der Corona-Nothilfe gemeinsam mit der JUNGEN AKADEMIE, die in engem Kontakt mit ihren Alumni und Stipendiat*innen steht. Dadurch ist sichergestellt, dass die Unterstützung gezielt, schnell und unbürokratisch geleistet wird und in vollem Umfang bei den jungen Kunstschaffenden ankommt. Neben der wichtigen finanziellen Hilfe für die Individuen bewirkt die Solidaritäts-Aktion aber weitaus mehr. Die Nothilfe der Freunde trägt auch dazu bei, die langjährig aufgebauten Netzwerke zu bewahren und die Fortsetzung des inhaltlichen Austausches zu sichern. Die internationalen Künstler*innen verstehen dies als ­starkes Zeichen, dass die Akademie der Künste sie auch in der aktuellen Krisensituation nicht vergisst. Die JUNGE AKADEMIE realisiert, wo immer möglich, auch während der Pandemie gemeinsame künstlerische Projekte. Ein zur Ausstellung John Heartfield – Foto­ grafie plus Dynamit geplantes Laboratorium zum Thema Art & Truthtelling findet nun online mit in Quarantäne produzierten Videos statt. Der iranische Filmemacher und Stipendiat Farhad Delaram, der im Frühjahr 2020 als Einziger in den Ateliers am Hanseatenweg blieb, drehte den sehenswerten Film Expo Pandemic in den leeren Räumen der Akademie. Neue Möglichkeiten für die künstlerische Zusammenarbeit eröffnet die im August 2020 gelaunchte neue digitale Plattform der JUNGEN AKADEMIE, die mit Mitteln des Freundeskreises entwickelt wurde (www.junge-­ akademie.adk.de). Sie bietet – gerade auch unter den restriktiven Bedingungen der Pandemie – Raum für Projekte, Open Studios, globale Vernetzung, kritische künstlerische Diskurse, interdisziplinären Austausch und virtuelle Residenzen. Wohl noch lange wird die Kulturwelt unter den Folgen der weltweiten Pandemie leiden, und es steht zu befürchten, dass gravierende Einschränkungen sich bis weit in das Jahr 2021 oder gar 2022 auswirken werden. Es bedarf

DER NOT

also weiterhin des entschlossenen Handelns und langen Atems, um die Akteure und Institutionen der Kultur – in unserem Fall insbesondere die jungen Künstler*innen – nachhaltig zu unterstützen. Ergänzend zu der akuten Hilfe gilt es aber auch, die künstlerischen Netzwerke und Programme perspektivisch zu sichern, um junge Posi­ tionen aus internationalen Kontexten auch in Zukunft angemessen und befruchtend in die Arbeit der Akademie einbeziehen zu können. Es ist davon auszugehen, dass in Folge der hohen Pandemiekosten die öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren zunehmend unter Einsparungsdruck geraten werden. Das wird auch den Kultursektor tangieren. Daher ist es die feste Überzeugung des Freundeskreises, dass neben den staatlichen Unterstützungen auch wir als Bürger*innen mehr denn je einen solidarischen Schutzschirm aufspannen müssen, um eine vitale internationale Künstler*innen-Community am Leben zu erhalten und in ihrem zukünftigen Wirken ermutigend zu begleiten. Künstlerische Biografien und Netzwerke dürfen nicht durch wiederholte harte Lockdowns und permanente Restriktionen einfach enden. Der Schaden wäre nicht nur individuell, sondern für das gesamte gesellschaftliche Leben gravierend und dauerhaft. Deshalb beabsichtigt der Freundeskreis, den Nothilfefonds längerfristig aufrechtzuerhalten. So sind bereits von Mitgliedern der Gesellschaft der Freunde der Akade­ mie der Künste finanzielle Engagements bis ins Jahr 2022 zugesagt worden. Zur Unterstützung der jungen Künstler*innen-Community sind also weiterhin groß­ zügige Spenden willkommen. Freunde helfen immer … auch und gerade in der Not!

BERND J. WIECZOREK ist Vorsitzender des Vorstands der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste e. V. (www.adk.de/freundeskreis)

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Nam June Paik, TV-Buddha, 1974

MUSEEN DER ZUKUNFT ALS ÜBERRASCHUNGSGENERATOREN: EINE VORAUSSCHAU Siegfried Zielinski

In philosophischer Hinsicht ist es ein Unding, Zukunft denkend erfassen zu wollen. Die Zukunft ist jener Modus von Zeit, der uns hart­ näckig verschlossen bleibt. Wir können keine Erfahrungen von der Zukunft machen. Wozu wir als Menschen, auch in Koope­ration mit Maschinen, indessen fähig sind, ist, Vorstellungen und Modelle von möglichen Zukünften zu entwickeln. Wenn also im Folgenden von künftigen Gegenwarten die Rede ist, dann betrifft es immer Konzepte, Entwürfe, so realistisch sie sich auch ausnehmen mögen.

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FACTUM & FUTURUM: ZEITMASCHINE MUSEUM Der TV-Buddha von 1974 gehört zu den Meisterwerken einer Kunst mit Medien im 20. Jahrhundert. Für viele aus der Kunstgeschichte und -kritik steht die zeitbasierte Skulptur Nam June Paiks sogar stellvertretend für die medienkünstlerische Gattung der Videokunst. Mit Blick auf meine Überlegungen zu künftigen Museen ist das Werk vor allem als besondere Zeitmaschine und somit als Modell für das Museum selbst interessant. In der closed circuit installation treffen zwei Zeitpfeile aufeinander. Der eine weist circa zweieinhalbtausend Jahre zurück in die Tiefenzeit des Zen-Buddhismus. Der andere Zeitpfeil weist durch die Gegenwart des elektronischen Buddha-Bildes im Monitor in eine mögliche Zukunft. Das in der Elektronenröhre ständig neu zu generierende Bild in der Zeit ist nicht nur fragil und flüchtig, es ist gleichermaßen manipulierbar und variierbar. Mit ihrer elliptischen Zeit-Raum-Konstruktion bietet die Installation eine Zeitvorstellung an, die prinzipiell mythisch wie magisch ist – Zeit verläuft nicht linear, sondern dynamisch, als Spirale ohne Anfang und ohne Ende. Das Aufeinandertreffen der beiden Zeitperspektiven kann auch als Spannung zwischen facta und futura verstanden werden, als Spannung zwischen der begrenzten Welt des Gegebenen und den unendlich vielfältigen Möglichkeitsräumen, die wir als Zukunft definieren und die wir als möglichst offene Handlungsfelder bewahrt wissen wollen. Das Museum der Vergangenheit ist vornehmlich dem retro-spektiven Zeitpfeil, der Welt des tiefenzeitlich organisierten Faktischen gewidmet. Museen der Zukunft fokussieren die Zeitmaschine anders, nämlich pro-spektiv. In der Verbindung mit den vergangenen Gegenwarten inszenieren sie solche, die möglicherweise noch vor uns liegen. An die Stelle der kulturell ­codierten Aneinanderreihung von Fakten und ihren Nacherzählungen zwischen Künstler-Biografie, Werk und Kontext träte die radikale Zuwendung zum Träumen nach vorn, wie der Philosoph Ernst Bloch das Potenzial der Utopie akzentuierte. Die Projektion in die Zukunft hinein muss selbstverständlich den Durchgang durch die Gegenwart und ihre Agenda, ihre Problemstellungen, Herausforderungen, Freiheits- und Glücksaggregate nehmen und sie mit den utopischen Potenzialen der Vergangenheit verknüpfen. So entstehen Überraschungsgeneratoren.1 Sich zu einem ­solchen entwickeln zu können, sollte der mindeste Anspruch eines Museums der Zukunft sein.

die Effektivität erhöhen helfen. Dem Experiment hingegen ist das Scheitern (in Würde) inhärent. Das Experiment und der Mut, es als Kultur weiterzuentwickeln, verbinden die fortgeschrittenen Künste mit den fortgeschrittenen Wissenschaften. Das Museum der Zukunft sollte sich als künstlerisches und wissenschaftliches Medium begreifen. Das Wissen, das es generiert, ist nicht identisch mit dem wissenschaftlichen Wissen, das an gemeinen Universitäten entwickelt wird. Es ist vielmehr ein trans­versales Wissen, das quer zu den Disziplinen arbeitet und zwischen Abstraktion und sinnlichem Material changiert. Die lange Geschichte der Alchemie vom alten Ägypten über das antike China bis zur Frühen Neuzeit in Europa lehrt uns, dass die Aufspaltung zwischen den denkenden (abstrakten) und den ausgedehnten ­(konkreten) Dingen weder klug noch für die Zukunft attraktiv ist. Geistiges und Körperliches entwickeln sich in ständiger Wechselwirkung. Die am meisten fortgeschrittenen Erforschungen künstlicher Extelligenzen2 üben sich gerade in diese Erkenntnis ein. HYBRID UND VERNETZT – SOWIESO Zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch einen Zweifel daran zu hegen, dass gegenwärtige wie künftige Museen sich den neuen telematischen Verhältnissen der Kommunikation offensiv stellen sollten, ist abwegig. Pionier-Institutionen wie die deutsche Titanic der Medienkünste, das ZKM in Karlsruhe, integrieren nicht nur seit Jahrzehnten medientechnisch basierte Künste in ihre Ausstellungen – von einkanaligen Videoarbeiten bis zu komplexen Installationen und vor allem computergenerierten Werken und Prozessen.

CULTURA EXPERIMENTALIS VS. TEST DEPARTMENT Kern der alchemistischen Tätigkeit ist das Experiment. Ja, man kann durchaus sagen, dass Alchemie und cultura experimentalis komplementäre Begriffe sind. Im alchemistischen Labor wird mit hohem Risiko an der Herstellung von etwas Neuem, Edlerem aus dem profanen gegebenen Material gearbeitet. Für die posthumanen Gesellschaftskonglomerate, die sich vermehrt in Pandemien einzuüben haben, ist der Test zum bestimmenden Paradigma geworden. Tests konsolidieren das noch nicht passende Einzelne für das funktionelle Ganze. Sie sollen das Scheitern vermeiden und

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Überraschungsgeneratoren zwischen vergangenen und zukünftigen Gegenwarten

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Sie (re)agieren auch mit ihrer personalen und technischen Infrastruktur wie ihren Ausstellungskonzepten auf die sich verändernden technologischen und sozialen Herausforderungen. Ich erinnere mich sehr gut, wie die neuen Qualitäten eines nervös am Puls der Zeit agierenden offenen Museumsbetriebs das Kontemplative traditioneller Ausstellungskulturen regelrecht provozierten. 2016–18 präsentierten wir in Barcelona, Karlsruhe und Lausanne DIA-LOGOS. Ramon Llull und die Kunst des Kombinierens.3 Die überaus wertvollen, viele Jahrhunderte alten Manuskripte und Bilder, Unikate von Rechenmaschinen und Skulpturen durften keines­falls berührt, sondern nur betrachtet werden. Gleichwohl gab es auch in dieser Ausstellung Elemente von Interaktionen mit Computern, beispielsweise zur Demonstration der Kunst des Kombinierens, wie sie Llull im 13./14. Jahrhundert sich ausgedacht hat. Das Aufsichtspersonal war besonders herausgefordert, denn es musste ständig zwischen den beiden unterschiedlichen Nutzungsprofilen der Kontemplation einerseits und der erweiterten Teilhabe andererseits hin- und herpendeln. Die dauerhafte Verhinderung physischer Kontakte hat 2020 weltweit zu einem enormen Virtualisierungsschub geführt. Viele Einrichtungen zwischen Seoul, Shenzhen, New York, London, Kopenhagen, Paris oder Berlin haben ihre Online-Aktivitäten stark erweitert. Sie veranstalten nicht nur Führungen im virtuellen Raum des Internets, sondern auch Festivals, Filmreihen, Vorträge, Diskus­ sionen, Werkstätten aller Art. Kurzum – Museen können zu hotspots des mondialen Nachrichten-, Kunst- und Wissenstransfers werden. Sie transformieren zu virtuellen Kinos und vor allem zu Sendekanzeln. Sie übernehmen jene Aufgaben von universeller Bildung, die Universitäten und Rundfunksender längst aufgegeben haben. Sie vermitteln ungewöhnliche, sperrige, provokante, herausfordernde und widerständige Erfahrungen in der Aneignung von Wissen und ästhetischem Reichtum. In ihren schönsten Ausprägungen werden Museen der Zukunft anregende und aufregende Denkräume4 sein. Die Innenräume künftiger Museen sind bereits heute als intelligente Umgebungen vorstellbar, die auf die internen Gedächtnisarchive ihrer Nutzer*innen und ihre ästhetischen Wunschmaschinen eingestellt sind und reagieren können, indem sie die indi­viduellen Wissens- und Erfahrungsspeicher mit den digitalisierten Objektcontainern der Museen koppeln oder kollidieren lassen. Das hat damit zu tun, dass die Öffnung des Zugangs zu den öffentlich verwalteten Erbschaften von Kunst & Kultur zu einem der wichtigsten Paradigmen progressiver Museumspolitik geworden ist. Die Sammlungs-Container der Museen transmutieren vom opaken Staatsarchiv, das nur wenigen Privilegierten zugänglich ist, zu einem zumindest an der Bild- und Datenoberfläche frei verfüg­ baren und bespielbaren Display für die heterogenen facta, die sie bewahren, pflegen und ausstellen. Die Öffnung sollte dabei nicht nur vertikal verstanden werden, also in der Perspektive der Tiefenzeit ästhetischer Reichtümer. Je weiter ich in die Schichten vergangener Gegenwarten eindringe, umso deutlicher wird, wie die verschiedenen Wissens- und Formkulturen in der Vergangenheit miteinander verknüpft waren. Für die

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Ausstellung Allahs Automaten – Artefakte der arabisch-islamischen Renaissance (800–1200) 5 rekonstruierten wir unter anderem einen der komplexen audiovisuellen Automaten, die der Ingenieur al-Jazari im nördlichen Mesopotamien um das Jahr 1200 entworfen hatte und in einem Kompendium von 12066 exakt beschrieb. Die sogenannte Elefantenuhr, welche die Stunden maß, schrieb und laut verkündete, präsentierte in verdichteter Form das gesamte Weltwissen, das in die Konstruktion des Automaten eingegangen war. Im Design des hydraulisch-pneumatisch angetrie-

Philipp Tögel, Adaptation der Llull'schen Denkmaschinen als Software Nikolaus von Kues, Raimundus Lullus, Opera, Manuskript 1428, St. Nikolaus Hospital / Cusanusstift, Bernkastel-Kues


benen Automaten sind die Wissenskulturen Indiens, Ägyptens, Griechenlands, Persiens und natürlich der arabischen Länder explizit adressiert. – Ein Rückfall in beispielsweise eurozentristische oder gar nationalistische Konstrukte für die Kontextualisierung der in Museen aufgehobenen und gezeigten Gegenstände wird in der Zukunft nicht mehr möglich beziehungsweise höchst peinlich sein. Die wichtigste Veränderung in Museen der Zukunft wird darin bestehen, dass sie sich selbst als Institution ständig infrage stellen und neue Aufgaben entwickeln. Wenn an die Stelle der feinen Aneinanderreihung von (Arte)Fakten, der diskreten Nacherzählung von Künstlerbiografien und historischen Kontexten eine ständige Begegnung mit radikaler Gegenwärtigkeit und ihren Herausforderungen treten soll, dann wird die Ausbildung neuer Fähigkeiten nötig, von denen wir einige bereits erahnen können. NEUE FAKULTÄTEN So gut manches davon auch in digitalen Netzwerken funktioniert – Denken, Entwerfen, ästhetisches Handeln dürfen keinesfalls häuslich und folgerichtig der Hauswirtschaft unterworfen werden. Im Museum sollte alles öffentlich und damit potenziell von allen und mit allen verhandelbar bleiben. Der ständige Versuch eines Umzugs vom Geschlossenen ins Offene, einer Reise ins Unbekannte, erlaubte uns, wie ein Ethnologe im Eigenen das Fremde zu sehen und die „Kontinuität zwischen Materie und Einbildungskraft“ sich entfalten zu lassen. „Stoffe und Träume schlagen Wege ein, die nicht die gleichen sind, sich aber entsprechen.“7 – Als Materi­ ologe gehe ich mit dem arabischen Universalgelehrten und Philosophen Avicenna (980–1037) davon aus, dass die Form die feurige Wahrheit des Stoffes ist. Was auch als materiale Sensation möglich ist, ist mit dem bisher wirklich Gewordenen noch längst nicht erschöpft. Daraus ergibt sich die Möglichkeit und nährt sich die Freiheit, weiterhin nach vorn träumen zu können.8 Die Vorausschau kann aber nicht nur auf die Technologie und ihre Weiterentwicklung gerichtet sein. Sie beinhaltet auch, dass sowohl die künftigen Museen als auch ihre Besucher*innen und Nutzer*innen Fähigkeiten entwickeln müssen, die den gegenwärtigen und kommenden Herausforderungen gerecht werden. Damit meine ich Fähigkeiten, die nicht wie Fächer in der Schule oder Disziplinen an Universitäten gelehrt und gelernt werden können, sondern Fakultäten im direkten Sinn des Wortes: Energie-, Motivations- und Irritationsfelder in der unauflöslichen Einheit von poiesis und Anschauung, von Machen und Denken. Sie haben den Charakter von temporären transversalen Schnitten,9 von Diagonal­ praktiken, die zwischen den Künsten und Wissenschaften zu vermitteln in der Lage sind. Würde ist die wichtigste Fakultät, deren kompromisslose Entfaltung wir erneut lernen müssen zu praktizieren, sowohl als Betreiber*innen als auch als Besucher*innen oder Kurator*innen eines Museums. Bei dieser Fakultät geht es um die Pflege und Weiterentwicklung umfassender Achtung als Lebensprinzip. Sie übte – im Denken wie im Gestalten und Machen – in die unbedingte Wertschätzung des Anderen ein. Dieses Andere beinhaltet sowohl

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Transversales Handeln: Verschiedene Wiener Museen verlagerten 2001 Teile ihrer Bestände in den profanen Raum von Laden­g eschäften, hier eine Aktion von Christoph Steinbrener in der Haidgasse 4. Sammlung des Technischen Museums Wien

die andere Kultur, die andere Herkunft, anders Denkende, das andere Geschlecht, im Zeitalter des Anthropozäns und Novozäns10 auch das Andere der Natur und der Technik. Museumsarbeit der Zukunft wäre dann Einübung in respektvolle und sensible Haltungen und Handlungen. Ihre Gegenstände wären nicht vertikal, sondern horizontal organisiert. Die Künste und ihre verschiedenen Herkünfte zwischen Asien und Europa, den Afrikas und den Ameri­ kas, der Antarktis und Australiens bildeten einen offenen Horizont, der nicht durch Hierarchien und Hegemonien verstellt ist. Intellektuelle wie künstlerische Tätigkeit, die sich der Wechsel­ wirkungen zwischen den verschiedenen menschlichen Agenturen und den Agenten der Natur und der Technik bewusst ist, erfordert die Herausbildung einer neuen Fakultät für das Atmosphärische, dessen Bestandteil wir sind, in dem wir auf dem Planeten Erde leben. Die Atmosphäre ist unser host, unser Gastgeber. Wir benöti­ gen die Atmosphäre zum (Über)Leben, sie hingegen braucht uns nicht existenziell. Sie kommt auch ohne uns aus. Für die Atmosphäre haben wir nicht nur potenziell viralen Charakter bekommen. Das radikalisiert unsere Verpflichtung ihr gegenüber. Unübersichtliche und unerwartete Ereignisse erfordern die Bildung von außerordentlichen Kompetenzen für ungewöhnliche Maßnahmen. Aktivist*innengruppen, die auf diesen Bedarf reagieren, hat es immer wieder gegeben im 20. Jahrhundert – von den Streunenden Hunden im Vorkriegs-St.-Petersburg über die Situationisten in Frankreich und SPUR, das Berliner Büro Kurt Jotters oder das umstrittene Zentrum für Politische Schönheit (ZPS). Sie werden

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immer wieder benötigt, um in allzu saturierte Verhältnisse einzugreifen und bequeme Harmonien zu irritieren. Ihr wichtigstes Handlungsfeld werden auch in Zukunft urbane Kommunikationen sein, besonders unter den Bedingungen der sich durchsetzenden telematischen Verhältnisse physischer Distanzierung. Unter den Bedingungen fortgeschrittener technischer Vernetzungen der Kommunikationsverhältnisse und der zunehmenden Technifizierung unserer Lebensweisen können sich solche ungewöhnlichen Maßnahmen in einer Fakultät artikulieren, die wir mit internationalen Aktivisten wie Julian Oliver, Daniil Vasiliev und Gordan Savičić Critical Engineering nennen können. Darunter verstehen wir eine gleichermaßen konstruktive wie kritische, theoretische wie praktische Tätigkeit, die aus eingreifendem Denken folgt und die den elaborierten vernetzten Maschinen angemessen ist. Sie ist dazu in der Lage, Artefakte und die technischen Sachsysteme, in die sie eingebunden sind, umzuinterpretieren oder auf fremdartige Weise zu besetzen. Sie wäre eine konsequente Weiter­ führung einer Fakultät für ’Pataphysik, die Museen der Zukunft besonders gut anstehen würde. Eine solche Fakultät hängt eng zusammen mit der technound poeto-logischen Arbeit an nicht, oder besser: schwer zensurier­ baren Systemen. Hierbei ginge es um die permanente Auseinandersetzung mit jenen Informations- und Kommunikationstechnologien, welche die Arbeit der Museen einerseits wesentlich mitbestimmen, die andererseits aber durch die Herrschaftsmechanismen im fortgeschrittenen Kapitalismus als Datenpolitik und -kontrolle realisiert werden. Nur durch eine kritische Anwendung dieser Technologien gegen ihre eigenen Überwachungs- und Kontrollmechanismen können diese wirkungsvoll offengelegt werden. Aus etwas, womit alle einverstanden sind, weil sie die umfassenden Netzwerke zum Zwecke ihres Funktionierens brauchen, würde ein Gegenstand der Kontroverse und des kritischen Diskurses. Wenn es so ist, dass im Zeichen erweiterter Möglichkeiten des Eingriffs an der Schnittstelle von MedienMenschen und MedienMaschinen Kreativität zur grundlegenden Sozialkompetenz wird und das tradierte Modell des Künstlers zwar in der Kunst selber ausläuft, darüber hinaus aber zu einem allgemeinen Leitmodell sozialen Handelns avanciert, dann ist es ratsam, zumindest an ergänzenden Identitäten zu arbeiten. Die Kompetenzen, die Künstler*innen und Intellektuelle künftig verstärkt benötigen, lassen sich (gerade nach der Pandemie 2020) als taktische Figuren greifen, die sich nicht in Strategien umsetzen lassen: Chaos-Piloten und KairosPoeten, solche, die dazu in der Lage sind, mit Unübersichtlichkeiten nicht nur umzugehen, sondern sie auch zu organisieren, ohne sie primär zu administrieren, und solche, die den günstigen Augenblick (im Kino, in den Netzen, auf der Bühne, in der Galerie, im Hörsaal, im Museum) erhaschen und energetisch aufladen können. Ohne eine Haltung zur Komplexität und ohne eine Haltung zur Zeit – beide sind untrennbar verbunden – sind fortgeschrittenes D ­ enken und fortgeschrittene ästhetische Praxis nicht mehr vorstellbar. Genauso wie wir Künstler- und Gestalter*innen benötigen, die in der Lage dazu sind, auch in jene Zeitstrukturen einzugreifen, die unsere Wahrnehmung im Kleinsten unterlaufen (wie im high-

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frequency trading) benötigen wir Denker*innen und Poet*innen, die Raumzeit-Wahrnehmungen im Größten (wie in der Astro­physik) überlaufen können. Diese Fakultät nenne ich Paläofuturismus. Sie wäre hervorragend geeignet, um die Möglichkeitsräume vergangener und künftiger Gegenwarten erkunden und entwickeln zu können und daraus in den Beziehungen zwischen MedienMenschen und MedienMaschinen jene Überraschungen zu generieren, die überlebenswichtig werden. Auf keinen Fall sollten wir damit aufhören, alternative Welten zu projizieren und an der Realisierung einer grenzenlosen Gast­ freundschaft zu arbeiten – als essenziellem Bestandteil einer im Derrida’schen Sinn unbedingten Universität –, in unserem Fall im Sinne eines be-dingungslosen Dialogs im WIR als musealem Möglichkeitsraum. Es ist gut möglich, dass Museen in Zukunft selbst zu Gasthäusern werden für solche, die woanders nicht unterkommen oder keine intellektuelle und ästhetische Herberge finden können.

Der Text ist eine vom Autor gekürzte Fassung eines Vortrags vom November 2020 für das Nam June Paik Art Centre in Seoul/Korea.

1 Dies ist ein Begriff, den der Biochemiker Mahlon Hoagland 1990 zur Charakterisierung des epistemischen Werts von Experimenten gewählt hat. Ich danke Hans-Jörg Rheinberger für den Hinweis. 2 Das ist ein verbaler Stolperstein. So lange intelligentes Vermögen in Maschinen und Systeme außerhalb unseres Körpers implementiert wird und diese uns als künstliche Realität gegenüberstehen, ist es für mich hilfreich, von Extelligenzen zu sprechen. 3 Die Ausstellung habe ich zusammen mit Amador Vega und Peter Weibel kuratiert. Das Katalogbuch, zugleich ein ambitionierter Beitrag zur Llull-Forschung und zur Genealogie logischer Maschinen, erschien 2019 bei Minnesota University Press. 4 DENKRAUM war der Titel eines Projekts, das der Künstler Tom Fecht 1989 für die Deutsche Aids-Stiftung „Positiv leben“ entwickelt hat. Das Projekt war in der Meinekestraße in Charlottenburg angesiedelt. 5 Die Ausstellung wurde neun Monate lang, zwischen 2015 und 2016, im ZKM Karlsruhe gezeigt. Bei Hatje Cantz erschien der von mir und Peter Weibel herausgegebene Katalog mit demselben Titel. 6 Vgl. Ibn al-Razzāz al-Jazarī, al-Jāmiʿ bayn al-ʿilm wa-’lʿamal an-nāfiʿ fī ṣināʿat al-ḥiyal [A Compendium on the Theory and Practice of the Mechanical Arts], Manuskript, 1206, Topkapı Sarayı Library, Istanbul, MS Ahmet III 3472. 7 Ich zitiere und folge hier Roger Caillois, Der Krake. Versuch über die Logik des Imaginativen, München, Wien 1986, S. 140. Im französischen Original (La Pieuvre) erschien das Buch bereits 1973. 8 Das Vorwärtsträumen ist eine rhetorische Figur aus der Philosophie Ernst Blochs, auf dessen Re-Lektüre von Avicenna ich mich oben beziehe: Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, Berlin 1952. 9 Vgl. Roger Caillois, Méduse et Cie, Paris 1960, deutsch Méduse & Cie: Die Gottesanbeterin – Mimese und legendäre Psychasthenie, Berlin 2007, S. 50. Caillois ent­ wickelt hier die Forderung, „diagonalen Wissenschaften eine Chance zu geben“ (S. 52). 10 Vgl. James Lovelock, Novacene – The Coming Age of Hyperintelligence, London 2018.

SIEGFRIED ZIELINSKI, Medientheoretiker, Kurator und Autor, ist seit 2000 Mitglied der Akademie der Künste, zuerst Sektion Film- und Medienkunst, seit 2019 Sektion Bildende Kunst.


ARBEIT AM GEDÄCHTNIS TRANSFORMING ARCHIVES Lina Brion

EINE EINFÜHRUNG Was eine Zivilisation aufbewahrt und was sie wegwirft, ist für die Archäologie gleichermaßen aufschlussreich. Alle Spuren, die wir heute hinterlassen, erlauben die zukünftige Rekonstruierbarkeit unserer Lebensweisen und Wertesysteme. Gleiches gilt für das kulturelle Gedächtnis: Es ist genauso davon geprägt, was eine Gesellschaft erinnert, wie davon, was sie vergisst oder verdrängt. Beides speist sich in das Gedächtnis kommender Generationen ein. Es gibt eine neue Präsenz der Archive in der Gegenwartskunst, eine neue Dringlichkeit der Fragen danach, wie Geschichte verfügbar gemacht wird, wie kollektive Erinnerung eingeübt und organisiert ist. Zum einen ergibt sich die Aktualität aus dem Wandel der Speichermedien: Ausgelagert ins digitale Archiv verliert das kulturelle Gedächtnis an Stofflichkeit, Körperbezug und historischer Spezifik im endlosen Nebeneinander der Zeitalter. Zum anderen geht es um das politische Gewicht der Gedächtnisspeicher: Gesellschaftliche Veränderungen von heute haben auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie das Vergangene repräsentiert und verstanden wird. Die künstlerische Auseinandersetzung positioniert sich gegenüber aktuellen Beispielen einer verheerenden Geschichtsvergessenheit und des Geschichtsrevisionismus’ nicht nur von­ seiten wachsender rechter Bewegungen. Gleichzeitig setzt sie sich

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Die Erinnerung [ist] endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte. Annie Ernaux

Das Heute geht gespeist durch das Gestern in das Morgen. Bertolt Brecht

Geschichte ist nicht die Vergangenheit. Sie ist die Gegenwart. James Baldwin

Robert Wilson, Suzushi Hanayagi: dancing in my mind

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für längst überfällige Strategien zur Dekolonisierung und Diversifi­ zierung der Erfahrungs- und Wissensbestände ein. In dieser „Arbeit am Gedächtnis“ erproben die Künste ihr transformatives Potenzial. Mit dem Neu-Lesen von Beständen und Sammeln von GegenErzählungen stellen sie am Vergangenen das Neue heraus. Nun sind die Akademie der Künste und ihr umfangreiches Archiv selbst ein Ort der künstlerischen Gedächtnisarbeit. In d ­ iesem Jahr feiert die Akademie ihr 325-jähriges Bestehen. Sie begegnet diesem „Denkmal in der Zeit“ (so Aleida Assmann in Ausgabe 12 dieses Journals) nicht nur als Anlass zur Reaktivierung der eigenen Erinnerungsspeicher, sondern auch zur Diskussion über Gedächtniskultur selbst. Mit Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives öffnet sich ab Mai dieses Jahres eine programmatische Klammer, die bis ins nächste Jahr hinein offen bleibt – ein Gemeinschaftsprojekt, an dem alle Bereiche der Akademie beteiligt sind. Neben einem Festival über die Migration von Erinnerung in Musik und Klang (S. 57), Dialogen zum Gedächtnis der Stadt und den Implikationen für die Denkmalpflege (S. 48), einer performativen Konferenz zur Dekolonisierung von Wissen und Gedächtnis (S. 55) und weiteren Veranstaltungen liegt der Schwerpunkt auf einer großen Ausstellung am Pariser Platz, die am 3. Juni 2021 eröffnet. Im Zentrum stehen die Fragen der Kunst ans Archiv und die Zeugnisse künstlerischer Erinnerungsarbeit im Archiv. Neben der Archivpräsentation „Ausgraben und Erinnern“ (S. 52) zeigt die Ausstellung 13 Positionen zeitgenössischer Künstler*innen, die meisten davon Mitglieder oder ehemalige Stipendiat*innen der Akademie. Die Arbeiten sind in diesen Wochen im Entstehen, in Berlin und Buenos Aires, in München und Greiz, zwischen London und der irischen Provinz, zwischen Valencia und Warschau (und vor allem in einer Menge Videokonferenzen). Jede für sich eröffnet einen eigenen Erzählraum: Thomas Heise recherchiert mit seinem Team zu den internationalen „korrespondierenden Mitgliedern“ der Akademie der Künste (Ost) zwischen 1950 und 1993 und damit zu einem Stück verschütteter Geschichte in den Archiven der Akademie. Der US-amerikanische Schauspieler, Sänger und Bürgerrechtsaktivist Paul Robeson war eines dieser korrespondierenden Mitglieder. Matana Roberts erarbeitet eine Soundinstallation in Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sammlung, die die Akademie der Künste in Ost-Berlin über ihn und seine Frau, die Anthropologin Eslanda Robeson, ab den 1960ern anlegte und in der sich die Verflechtungen zwischen dem Civil Rights Movement, dem Kalten Krieg und den postkolonialen Bewegungen wider­ spiegeln. Candice Breitz erinnert in einer Videothek aus 1.001 ­versiegelten VHS-Kassetten an die Bewegtbildspeicher einer vergangenen Ära und ihren Einfluss auf das kulturelle Bildergedächtnis. Mirosław Bałka liest Fragmente aus einem Deutsch-Lehrbuch, das seine Mutter 1943 in Warschau, also nicht sehr weit entfernt von den Vernichtungslagern, gekauft hat, um Deutsch zu lernen. In einem Essay begibt sich Cécile Wajsbrot anhand von Imre ­Kertész’ Nachlassdokumenten in einen Dialog mit dem Schriftsteller über die „exilierte Sprache“. Cemile Sahin produziert in diesen Tagen einen Film, der ausgehend von den „Schwertern von Kadesia“, einem von Saddam Hussein initiierten Monument in Bagdad, die Verläss-

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Eduardo Molinari/Archivo Caminante, Monument des General Julio Argentino Roca

lichkeit von medialen Erzählverfahren in der Politik des Erinnerns infrage stellt. Eduardo Molinari widmet ein eigenes künstlerisches Archiv den jahrhundertealten Wissenskulturen und dem Gerechtigkeitskampf der Mapuche, einer indigenen Gemeinschaft in Patagonien. Jennifer Walshe zeigt eine Auswahl ihres Archivs einer fiktiven irischen Avantgarde, ein materielles Gedankenexperiment, mit dem sie eine alternative Kunstgeschichte imaginiert und die Fiktionalität und Willkürlichkeit der Kunstkanons entlarvt. Gleichzeitig ergeben sich zwischen den Arbeiten auffallende Querverbindungen in ihrer Art und Weise, sich die Archive anzueignen und die wechselseitige Formbarkeit von Geschichte und Gegenwart zu reflektieren. In ihnen geht es um das Sichtbarmachen von Auswahlprozessen und die Macht der Erzählung, um die Präsenz des Abwesenden, um das Verdrängte in den Archiven und neue Archive des Verdrängten. Nicht nur Thomas Heise zeigt die Arbeit am Gedächtnis als eine Archäologie der Gegenwart. Dieser Ansatz findet Resonanz in Susann Maria Hempels poetischem Experimentalfilm zu einer Archäologie des Abfalls und der Vernichtung unseres alltagskulturellen Erbes durch das Recycling. Die Immaterialität künftiger Vermächtnisse beschäftigt auch Cécile Wajsbrot angesichts der Eigenschaft digitaler Speichermedien, zu löschen anstatt durchzustreichen. „Wie der Detektiv“ sitzt sie vor den Nachlass-Archivalien. „Alles ist noch wirklich, alles hinterlässt Spuren, was mithilfe von Durchstreichungen gelöscht wird, lässt sich unter den Strichen, unter den Kreuzen noch lesen.“ Ebenfalls auf Spuren­ suche ist Ulrike Draesner, die den „Einfaltungen“ des Kolonialismus im Akademie-Archiv nachgeht. Sie findet sedimentierte Zufalls­einträge und tastet die Konturen der Auslassungen ab, aber „die Schwarze Stimme“ selbst findet sie nicht. Archive und andere Gedächtnisinstitutionen sind Ordnungsstrukturen, sie sind Ausdruck von Ein- und Ausschlussmechanismen. Diese Selektivität zu entlarven ist nicht nur Motiv für Draesners kritische Befragung und


Jennifer Walshes Archivfiktion, sondern auch für Arnold Dreyblatt: Angelehnt an John Cages Dekonstruktionen des Ausstellungsbetriebs entwickelt er eine Choreografie von dutzenden, in akri­bischer Recherche ausgewählten Archivalien, die durch eine zufallsgelenkte Partitur im Ausstellungsraum erscheinen oder im Depot verschwinden. Draesners literarische Studie wirft außerdem nicht nur Fragen über das Archiv als Machtstruktur auf, sondern auch über das Ausstellen archivierter Zeugnisse von Gewalt: Wie konfron­ tieren wir uns mit den kolonialrassistischen Eintragungen im kulturellen Gedächtnis, ohne diese Eintragung weiter zu verfestigen? Ohne die kolonialrassistische Handlung zu wiederholen? Der Umgang mit vergangener Gewalt, die bis in die Gegenwart hineinreicht, ist ein wiederkehrendes Thema in den Ausstellungsposi­ tionen. Es wird explizit, wenn Molinari sein künstlerisches Archiv als forensisches Verfahren einsetzt, um die Kontinuitäten von Kolonialverbrechen, Landnahme und Klimawandel herauszustellen, findet sich wieder in Matana Roberts’ musikalischer Erforschung der afroamerikanischen Geschichte, und es klingt auch nach, wenn Bałka Wörter wie „Hand“ und „Kopf“ aus dem Deutschbuch liest. Gedächtnisarbeit ist daher auch Trauer- und Traumaarbeit, in der das Erinnern und das Vergessen als spontane Zeitelemente miteinander korrespondieren. Sie ist, so sagt uns Alexander Kluge mit seiner Rauminstallation, daher auch ein trügerisches Unterfangen, denn es sei ja umgekehrt: „Das Gedächtnis arbeitet an uns.“ So findet sich kulturelles Vermächtnis auch eher in Ausnahmefällen aufbereitet in Archiven, viel häufiger hat es sich eingeschrieben in eingeübte Praxen, in die Künste selbst und in den Körper, wie Robert Wilsons Neuinterpretation seiner Videoinstallation Dancing in my Mind vor Augen führt, einer Hommage an die Choreografin und Tänzerin Suzushi Hanayagi und an das Körpergedächtnis. In den verschiedenen Arbeiten geht es um die vielfältigen Speicherorte des Gedächtnisses und um die rettende Kraft der erzählten Erinnerung, die nicht nur in Candice Breitz’ Werk aufgerufen wird, wenn sie auf die große Geschichtenerzählerin Scheherazade aus 1001 Nacht verweist und die Videohüllen durch die Re-Kombination und Suggestivkraft der freigelegten Verben im Video­titel wieder sprechend macht (vgl. die Carte blanche auf den folgenden Seiten). Auch Künstler*innen­archive, wie die von Molinari und Walshe, bringen das Archiv nicht nur als Ressource, sondern auch als Methode in Stellung: Dabei steht die Praxis des Archivierens nicht nur für das Erzählen als Überlebensstrategie. Sie ist auch Ausdruck einer reproduktiven Arbeit, einer Praxis der Fürsorge, die das, was sie bewahrt und pflegt, zum Leben erwecken will.

ARBEIT AM GEDÄCHTNIS TRANSFORMING ARCHIVES DAS SCHWERPUNKT-PROGRAMM DER AKADEMIE DER KÜNSTE 2021

AUSGEWÄHLTE PROJEKTE

ARBEIT AM GEDÄCHTNIS TRANSFORMING ARCHIVES AUSSTELLUNG 4.6.–15.8.2021  Eröffnung: 3.6.  →   S. 37

MEMORIES IN MUSIC EIN FESTIVAL ZEITGENÖSSISCHER MUSIK 6.–9.5 + 6./7.8.2021  →   S. 57

METAMORPHOSEN – STADT ZWISCHEN GESCHICHTE UND GEWISSEN SYMPOSIUM 28./29.5.2021  →   S. 48

UNEXPECTED LESSONS – DECOLONIZING KNOWLEDGE AND MEMORY PERFORMATIVE KONFERENZ 11./12.6.2021  →   S. 55

WERNER DÜTTMANN BERLIN.BAU.WERK AUSSTELLUNG (BRÜCKE MUSEUM UND AKADEMIE DER KÜNSTE) 6.3.–11.7.2021  →   S. 64 Vollständiges Programm unter: www.adk.de/gedaechtnis

LINA BRION ist Referentin des Programmbeauftragten der Akademie der Künste.

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CARTE BLANCHE

NEVER ENDING STORIES CANDICE BREITZ IM GESPRÄCH MIT NORA V. SCOURI

NORA V. SCOURI  Digest wird erstmals in vollem Umfang im Rahmen der Ausstellung Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives der Akademie der Künste zu sehen sein. Ist die Arbeit unter dem Eindruck der Pandemie entstanden? CANDICE BREITZ  Wir hatten bereits über ein Jahr an Digest gearbeitet, als das Virus Berlin erreichte. Ein Team von 15 Personen war an der Produktion beteiligt. Das möchte ich vorab erwähnen, da die Installation Ergebnis einer wirklich kollektiven Leistung ist. Ende Dezember 2018 haben wir mit der Produktion ange­fangen und das Projekt schließlich im Dezember 2020 fertig­ gestellt. Ich erinnere mich an diese Zeitpunkte sehr genau, weil ich mich zu Beginn und zum Ende des Arbeitsprozesses einem chirurgischen Eingriff unterziehen musste. Diese beiden Operationen steigerten mein Bewusstsein der (eigenen) Sterblichkeit! Es wäre nicht ganz richtig zu sagen, dass die Arbeit als Reaktion auf Covid-19 entstand, aber die Lebensbedingungen während der Pandemie wirkten sich notgedrungen auf den Entwicklungsprozess von Digest aus. Durch die Pan­ demie fand die Arbeit ihre endgültige Form.

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NVS  Sie bestehen darauf, Digest als eine „1.001-KanalVideoinstallation“ zu bezeichnen. Viele Betrachter*innen werden überrascht sein, dass Malerei in dieser Arbeit so präsent ist: Die meisten würden Sie als Video­künstlerin bezeichnen. CB   Nach meiner ersten Operation wurde mir klar, dass es eine Weile dauern würde, bis ich meinen Körper wieder zur Videoproduktion zurückschleppen könnte. Lange Drehtage und viele Stunden im Schnitt kamen nicht infrage. Trotzdem wusste ich, dass ich durchdrehen würde, wenn ich meine Arbeit im Studio vollkommen würde ruhen lassen. Für die Dauer von Digest ein Maler­ atelier einzurichten, half mir den vorübergehenden Mobilitätsverlust zu überbrücken. In einer Zeit, in der ich mit starken Schmerzen zu kämpfen hatte, bot mir die Arbeit die Möglichkeit, als Künstlerin aktiv zu bleiben. Eventuell ist der leicht morbide Charakter von Digest diesem Umstand geschuldet! Die Frustration, körperlich nicht in der Lage zu sein, das zu tun, was ich als Künstlerin gerne mache, ließ mich darüber nachdenken, was es bedeutet, unter widrigen Umständen beziehungsweise trotz bestimmter Einschränkungen an kreativen Aktivi-

täten festzuhalten. Wir wissen, dass Menschen dazu in der Lage sind, unter erheblichem Druck kreativ zu bleiben, selbst mit den reduziertesten Werkzeugen und Materialien: Das ist eine Form des Widerstands. Als ich an Digest zu arbeiten begann, hatte ich natürlich keine Ahnung, dass unsere kollektive Fähigkeit, kreative Arbeit zu leisten, vom Coronavirus so dramatisch infrage gestellt werden würde. Die Pandemie hat unsere körperliche, wirtschaftliche, emotionale und kreative Belastbarkeit auf eine harte Probe gestellt. Auch wer bisher aufgrund sozialer Privilegien in geringerem Maße mit Krankheit und Tod konfrontiert war, wurde sich der eigenen physischen Gebrechlichkeit, der Verbundenheit mit (und Abhängigkeit von) anderen Körpern stärker bewusst. Wir wurden brutal daran erinnert, dass Kreativität und Kultur in den Augen der meisten Regierungen nicht als wesentlich – noch nicht einmal als notwendig – angesehen werden. Zum Zeitpunkt dieses Interviews sind öffentliche Kulturinstitutionen wie Museen und Theater in vielen Ländern seit Monaten geschlossen. Unsere Regierungen haben sehr wenig getan, um diejenigen zu unterstützen, die ihren Lebensunterhalt im kreativen


Bereich verdienen. Ich erwähnte bereits, dass ich schon vor dem Ausbruch der Pandemie mit der Verletzlichkeit des physischen Körpers beschäftigt war. Fragen zur Sterblichkeit, die Covid-19 massiv verstärkt hatte, begannen die Arbeit an Digest zu infiltrieren. NVS  Auch auf formaler Ebene lässt sich Digest als eine Erforschung dessen beschreiben, welche Möglichkeitsräume verbleiben, wenn kreative Optionen plötzlich dramatisch eingeschränkt oder beschnitten werden. Trotz ihres räumlichen Umfangs als Installation wirkt die Arbeit sehr streng und reduziert – zumindest auf den ersten Blick. Alle 1.001 abstrakten Malereien in der Installation haben die gleiche moderate Größe. Jede wurde mit den gleichen grundlegenden Ingredienzien hergestellt: weiße und schwarze Acrylfarbe. Angesichts dieser formalen Begrenzung lässt die erstaunliche Vielfalt der 1.001 Gemälde auf eine fast verbissene Zähigkeit schließen. Einerseits ist es – in Bezug auf Ihr gesamtes Œuvre und angesichts der Proportionen dieser Arbeit – möglich, die einzelnen Teile von Digest als kleine Bildschirme oder Monitore zu interpretieren. Sie verwenden häufig ein Raster in Form von vertikal hängenden Monitoren für Ihre Videoinstallationen. Andererseits ist es – passend zu dem leicht noiristischen Ton der Arbeit – verlockend, die Gemälde als Gedenktafeln oder Grabsteine zu lesen oder sogar das Raster von Massengräbern zu assoziieren, die zu einem allgegenwärtigen visuellen Symbol der ­Pan­demie geworden sind. Dieser Eindruck entsteht nicht zuletzt, weil Sie die versteckten Inhalte, die sich in jedem Bild verbergen, gerne als „kleine Körper“ bezeichnen. Wer die Arbeit nicht im physischen Raum erlebt, erkennt möglicherweise nicht gleich, dass es sich hierbei nicht um zweidimensionale Bilder handelt. Können Sie ihre Objekthaftigkeit beschreiben? CB  Digest setzt sich aus 1.001 Elementen zusammen. Jedes dieser Elemente besteht aus einer Videokassette, die in eine Videohülle aus Polypropylen eingeschweißt wurde. Sobald jede VHS-Kassette dauerhaft in ihrer Plastikummantelung bestattet ist, wird die Vorderseite der Hülle mit einem einzigen Verb verziert, dem mit weißer Acrylfarbe Leben eingehaucht wird. Wenn die Verben aufgebracht sind, werden die Hüllen auf allen

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Seiten sorgfältig mit schwarzen Abstraktionen überzogen. Jedes Bild ist eine Art kleiner Sarg, denn jedes wird in diesem Sinne zur letzten Ruhestätte für das darin begrabene analoge Videoband. Die kastenartigen Gemälde werden letztendlich auf flachen Holzregalen ausgestellt – eine Reminiszenz an die Ästhetik von Videotheken. Sobald die Arbeit installiert ist, füge ich Digest ein paar Kentia-Palmen hinzu – diese Pflanzen erinnern mich an die Videotheken meiner Jugend. Der Inhalt der Videokassetten – das muss gesagt werden – wird für immer im Verborgenen bleiben. NVS  Dieser formale Akt der Bestattung erinnert an andere künstlerische Arbeiten. Man denke nur an Piero Manzonis Merda d’artista (1961) oder Marcel Brood­ thaers’ Pense-Bête (1964) – Broodthaers mochte natürlich auch Kentia-Palmen! Wie diese Werke verweigert Digest dem Publikum den Zugang zu dem, was sich im Inneren der einzelnen Elemente befindet. Man müsste die Gemälde buchstäblich zerstören, um die unzähligen Stunden an Videomaterial zu bergen, das in die Arbeit eingebettet ist. Wir können nur noch spekulieren, was

Ihrer Karriere für andere Arbeiten produziert haben? Dienen die Bänder als Aufbewahrungsort für neues Material, das Sie speziell für Digest aufgenommen haben, oder – eher im Einklang mit Manzonis ironischer Geste – könnte es sein, dass die Videobänder leer sind? CB  Ich bin zur Geheimhaltung verpflichtet, daher muss ich diese Frage unbeantwortet lassen! Ich kann aber sagen, dass Manzoni und Broodthaers beide als Referenzen für mein Denken in Bezug auf die Arbeit gedient haben. Auch andere Vorfahren aus dem Bereich der Kunst spielten für meinen Ansatz eine Rolle. Ich dachte beispielsweise viel über On Kawaras Date Paintings (ab 1966) und Allan McCollums Surrogate Paintings (seit 1978, fortlaufend) nach. Beide Werke verweigern sich narrativen Inhalten und bewegen sich zwischen mechanischer ­Wiederholung und gestalterischer Geste. Gleichzeitig war ich schon immer fasziniert von Kunstwerken, die ver­ suchen, das größere Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin retrospektiv zu erfassen oder zu destillieren, wie Marcel Duchamps Boîte-en-Valise (1935–41) oder ­Warhols späte Bilder (ich denke dabei an die „Reversal Series“ und die „Retrospective Series“, beide auf 1979 datiert). Als ich herausfinden wollte, was genau Digest sein könnte – ein Archiv, ein Depot, ein Massengrab, eine Zeitkapsel, ein Katalog, ein Kompendium, eine Daten­ erhebung, eine Bibliothek, ein Denkmal –, dachte ich über all diese P ­ räzedenzfälle nach. Schließlich und vielleicht am offensichtlichsten verkörpert Digest meine lange ­Faszination für Richard Serras Verb List (1967–68). NVS  Für eine Künstlerin, die bekanntlich von einer intensiv feministischen Position aus agiert, ist es überraschend zu hören, dass Sie die Namen all dieser Big Boys als Ihre künstlerischen Gesprächspartner auflisten.

Prinzessin Latifa erklärt, dass sie in einer Villa in Dubai gefangen gehalten wird. BBC, gesendet am 16.2.2021

Marcel Broodthaers, Pense-Bête, 1964

genau in diesem umfangreichen Archiv aufbewahrt wird. Könnten das die Filme sein, auf die sich die 1.001 V ­ erben beziehen, die von der Installation präsentiert werden? Oder verwenden Sie Digest als Depot für die H ­ underte von Stunden an Footage, die Sie in den letzten 25 Jahren

CB  Dann ist das wahrscheinlich der richtige Moment, um hier einzuhaken: Obwohl ich mich während des Entstehungsprozesses von Digest in einem geistigen Dialog mit all diesen Kunstwerken befand, ist die spezifische Serialität, die in der Installation eine wichtige Rolle spielt, tatsächlich nicht aus einem kunsthistorischen Kanon abgeleitet, sondern auf eine literarische Quelle zurückzuführen. Als ich Digest konzipierte, wusste ich, dass der erste Ausflug der Arbeit (lange vor ihrer Vollendung) im März 2019 zur Sharjah Biennale führen würde. Im Vorfeld meines Recherchetrips in die Vereinigten Arabischen Emirate begann ich, die Nachrichten aus der Region aufmerksamer zu verfolgen. Insbesondere die missliche Lage, in der sich Latifa bint Muhammad Al Maktum (besser bekannt als ‚Prinzessin Latifa‘) befand, zog mich mehr und mehr in ihren Bann. Latifa ist die Tochter des

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Digest, 2020. 1.001-Kanal-Videoinstallation: 200 Holzregale, 1.001 Videobänder in Polypropylen-Hüllen, Papier, Acrylfarbe; einmalige Installation Ausstellungsansicht: Sharjah Biennial 14, März 2019. Produziert mit Unterstützung der Sharjah Art Foundation und der Akademie der Künste, Berlin.

Vizepräsidenten und Premierministers der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Muhammad bin Raschid Al Maktum. Anfang 2018 hatte sie zum zweiten Mal versucht, aus Dubai zu fliehen, um im Ausland politisches Asyl zu ersuchen. Sie befand sich auf einer kleinen Jacht in Richtung Indien, als sie von einem bewaffneten Kommando überwältigt, betäubt und unter der Gerichtsbarkeit ihres Vaters in Einzelhaft verbracht wurde, wo sie sich mutmaßlich bis zum heutigen Tage befindet – unter Verschluss. Latifa ist die zweite Tochter des Scheichs, die versucht, dem Leben in einem goldenen Käfig zu entfliehen. Diese Nachrichten über progressive Prinzessinnen, die darum kämpfen, den Grenzen einer absoluten Monarchie zu entkommen, lenkten meine Gedanken auf die Legende von Scheherazade, der berühmten Geschichtenerzählerin, die – laut Tausendundeiner Nacht – die 1.001. Frau des mächtigen Sultans Schahriyar war. Scheherazades Geschichte war eine Hauptinspirationsquelle für Digest, insbesondere ihre Fähigkeit, Erzählungen als Waffe einzusetzen, um in einer von patriarchaler Gewalt regierten Gesellschaft zu überleben. Nachdem Schahriyar von seiner ersten Frau betrogen worden war, beschloss er – in einem Anfall misogyner Abscheu –, jeden Tag eine andere Jungfrau zur Frau zu nehmen. Systematisch enthauptete er mit jeder Morgendämmerung

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die Frau vom Vortag, um ihr die Möglichkeit eines Ehebruchs zu nehmen. Bevor Schahriyar Scheherazade zur Frau nahm, hatte er bedenkenlos eintausend Frauen enthauptet. Scheherazade entgeht dem Schicksal ihrer Vorgängerinnen, indem sie ihr außergewöhnliches Talent als Geschichtenerzählerin nutzt. In ihrer ersten Nacht mit Schahriyar begeistert sie den Sultan mit einer spannenden Geschichte, die viel zu lang ist, um im Morgengrauen abgeschlossen zu werden. Schahriyar brennt darauf, das Ende der Geschichte zu hören, und lässt seine Frau eine weitere Nacht leben. In den folgenden eintausend Nächten entspinnt Scheherazade Cliffhanger um Cliffhanger. Ihre Fähigkeit, narrative Spannung zu erzeugen, wird buchstäblich zu ihrer Überlebensstrategie. Nach 1.001 Nächten beschließt Schahriyar schließlich, Scheherazades Leben zu schonen und sie zu seiner Königin zu krönen. NVS  Als ich in Vorbereitung auf dieses Interview Texte über Scheherazade las, fand ich heraus, dass es Frauen und Kindern traditionell verboten war, Tausendundeine Nacht zu lesen: Die Geschichten waren ursprünglich einer männlichen Leserschaft vorbehalten. Aus heutiger Sicht lässt sich Scheherazade durchaus als eine Proto­ feministin verstehen: eine Frau, die dank ihres einzigartigen Sprachgeschicks eine missbräuchliche (und poten-

ziell tödliche) Beziehung überlebt. Ihr Schicksal verweist auf zahlreiche Geschichten, in denen Frauen mit Hausarrest und Missbrauch durch männliche ‚Erziehungsberechtigte‘ zu kämpfen haben, einschließlich natürlich der Geschichten von Latifa und ihrer Schwester. Ich nehme an, man kann Scheherazades Flucht vor dem Tod als feministischen Triumph lesen, der durch den Einsatz von Intellekt und Witz gegen rohe Macht erzielt wird. Man muss sich allerdings fragen, ob es für Scheherazade wirklich ein Happy End ist. Sie schafft es, ihren Kopf auf ihren Schultern zu behalten (sowohl wörtlich als auch metaphorisch gesehen), nur um im Anschluss ihr Leben an der Seite ihres ehemaligen Peinigers verbringen zu müssen. Es hat etwas Finsteres, sogar Gewalttätiges, wenn sie die allumfassende Macht eines Königs überlebt, um postwendend in die Unterdrückungsmechanismen der Monarchie integriert zu werden; das ist mitnichten eine perfekte Flucht. Wie Scheherazade selbst verfügen die in Digest eingeschlossenen Videokassetten über das Potenzial, Narrative zu transportieren und zu teilen, aber letztendlich sind diese Bänder (und ihr Inhalt) dazu verdammt, in Einzelhaft und Dunkelheit verborgen zu bleiben. Jedes Band wird in einem beengten Raum gefangen gehalten, ganz so wie Scheherazade. An dieser Stelle wird klar, warum Sie 1.001 Gemälde in


die Installation aufgenommen haben, aber vielleicht könnten Sie etwas darüber erzählen, wie Sie das Verb für das 1.001. Gemälde ausgewählt haben. In der Instal­ la­tion steht dieses Verb für sich; es ist physisch vom übrigen Archiv getrennt. CB  Ich habe sehr lange gebraucht, um eine Lösung für den Bezug des 1.001. Verbs zur Arbeit als Ganzes zu finden. Lustigerweise, deutet das, was Sie eben gesagt haben, auf die Lösung hin, für die ich mich schließlich entschieden habe. Ich hatte mich über ein Jahr lang mit diesem seltsamen letzten Verb herumgeärgert, als Covid-19 das normale Leben plötzlich zum Erliegen brachte. Mit einem Schlag wurde uns der öffentliche Raum weitgehend entzogen. Obwohl der Lockdown, der in Berlin von einem auf den anderen Tag über uns hereinbrach, weniger hart ausfiel als anderswo, wurden alle, die sich diesen Luxus leisten konnten, gebeten, ihren Körper aus dem Verkehr zu ziehen. Viele suchten ihren Rückzugsort in Erzählungen: In Ermangelung von Scheherazades Geschichten tauchten wir in die Tiefen von Netflix & Co ab. Wie Scheherazade waren wir plötzlich abgenabelt von der Welt und suchten nach Bewältigungsstrategien der sozialen Isolation. In den Tagen vor dem ersten Lockdown spielte Carlos – einer der Maler, die an Digest arbeiteten –, mit ‚Corona‘, dem spanischen Wort für ‚Krone‘. Das brachte mich zum Nachdenken. Am Tag, nachdem wir das Atelier aufgrund der pandemischen Lage zum ersten Mal schlossen, wachte ich mit der Gewissheit auf, dass das letzte Verb to crown sein musste. In einer früheren Arbeit mit dem Titel Him ­(1968–2008) hatte ich mit Found-Footage-Fragmenten aus Martin Scorseses Film The Departed gearbeitet. An einem Punkt in der Handlung des Films, an dem ihm die Situation aus den Fingern gleitet, reflektiert die von Jack Nicholson dargestellte Figur (ein irischer Mafiaboss namens Frank Costello) über die Last der Macht: „Heavy lies the crown“, sagt er. Ich erfuhr später, dass diese Zeile zuerst von Shakespeares Heinrich IV. ausgesprochen wurde: „Uneasy lies the head that wears a crown.“ [„Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt.“]. Sie haben bereits auf Scheherazades ambivalentes Verhältnis zur Macht hingewiesen, ihre Unterwerfung unter die Krone. Als ich versuchte, das letzte Verb zu bestimmen, kam mir der Gedanke, dass auch wir gemeinsam der Tyrannei einer ‚Krone‘ ausgesetzt sind, genauer gesagt des Coronavirus. Als sich die Pandemie verschlimmerte, identifizierte ich mich mehr und mehr mit den in Digest eingeschlossenen Videokassetten. Ich fing an, den seltsamen Schwebezustand, in dem sich diese kleinen Plastikkörper befanden – ihr ungenutztes Potenzial –, mit unserer eigenen Lage gleichzusetzen. Das sozial distanzierte Verhältnis der letzten Kassette zum gesamten Werk ergab plötzlich einen Sinn. NVS  Vielleicht ist jetzt ein guter Moment, um zu fragen, wie Sie die Verben für die Bilder überhaupt ausgewählt haben. Grundverben sind in Digest reichlich vorhanden (to be, to do, to have, to say), aber dann gibt es Verben, die noch in ihren Kinderschuhen stecken oder die kürzlich eine neue Bedeutung erhielten (to troll, to like, to gas­light, to friend, to trigger, to scroll), profane Verben (to fuck, to shit, to piss, to suck), dunkle Verben (to slaughter, to hit, to strangle, to bruise), politische Verben (to riot, to protest, to survive, to matter), Pandemie­verben (to mask, to quarantine, to cocoon, to spread), Verben der Trauer (to bury, to cry), Verben des Erinnerns (to recall, to remember, to redeem), Freizeitverben (to boogie, to

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smoke, to flirt, to surf), Transaktionsverben (to buy, to sell, to traffic), manipulative Verben (to brainwash, to bedazzle, to daze), Verben des Missbrauchs (to violate, to force, to batter, to rape), religiöse Verben (to sin, to bless, to confess), leidenschaftliche Verben (to long, to lust, to tempt) und sogar Reproduktionsverben (to brood, to bring up, to protect, to shelter). Abgesehen von der erstaunlichen Vielfalt an Verben im Digest-Inventar haben Ihr Team und Sie einen großen Aufwand bei der minutiösen Ausarbeitung jedes einzelnen betrieben.

Tausendundeine Nacht, Szene aus der 367. Tübinger 1001 Nacht-Handschrift (Ägypten um 1640)

CB  Die Aufgabe eines Verbs ist es, eine Handlung oder einen Seinszustand zu vermitteln. In diesem Sinne sind Verben sowohl an unseren Körper als auch an unseren Geist gebunden – sie drücken unsere Subjektivität aus. Jedes der in Digest vorkommenden Verben stammt aus dem Titel eines Films, der in der goldenen Ära des Heimvideos im Umlauf war. Das Verb to crown beispielsweise stammt aus dem VHS-Cover von The Thomas Crown Affair (1968). Das Digest-Verb übernimmt die auf dem VHS-Cover verwendete Schriftart originalgetreu und reproduziert sie. Auch die Positionierung bestimmt sich aus dem ursprünglichen Cover. Der älteste Film, auf den in Digest Bezug genommen wird, ist The Cheat (1915), ein Stummfilm von Cecil B. DeMille. Der jüngste ist ein trashiger Horrorfilm, der in den letzten Tagen der VHSKassetten gedreht wurde (Drag Me To Hell, 2009). Diese beiden Filme lieferten mir die Verben to cheat und to drag, genau wie Boogie Nights die Quelle für to boogie war und David Cronenbergs kultiger Body-Horror-Film The Brood die Quelle für to brood. Einige Verben sind von echten Klassikern abgeleitet, wie Spike Lees She‘s Gotta Have It (1986) oder Do the Right Thing (1989) – to have, to do. Andere sind aus weniger denkwürdigen Filmen entlehnt. Eine beträchtliche Anzahl der Verben stammt aus Filmen, die ich in der Vergangenheit für andere Werke auseinandergenommen oder auf die eine oder andere Weise erwähnt habe. Meine Arbeit Treatment (2011) zum Beispiel basiert zu großen Teilen auf The Brood. Aus The Deer Hunter (1978), von dem das Verb to hunt kommt, stammen viele Fragmente, die ich in meiner Mehrkanal­installation Her (1978–2008) benutze. Mich

verbinden lange Beziehungsgeschichten mit vielen Filmen, die sich Digest einverleibt. Während meiner Arbeit daran legte ich parallel ein Werkverzeichnis an, das die letzten zehn Jahre meiner künstlerischen Praxis dokumentiert. Ich war in einer retrospektiven Stimmung, also ist es vielleicht kein Zufall, dass Digest das Medium, mit dem ich meine künstlerische Laufbahn begonnen habe, selbstreflexiv betrachtet. NVS  Es ist nicht ungewöhnlich, dass Künstler*innen an eigentlich veralteten oder überholten Formaten fest­ halten oder damit arbeiten. Man denke an Tacita Deans Beziehung zu 16-mm-Filmen oder an James Colemans Verwendung von Diaprojektoren. Trotzdem ist es ziemlich ungewöhnlich, dass Künstler*innen vom analogen Video schwärmen. Das Format gilt als ziemlich herunter­ gekommen – eine kurzlebige Fehlbildung in der Geschichte des Bewegtbildes. Es ist schwer vorstellbar, dass VHS-Kassetten jemals ein nostalgisches Revival zuteilwird, wie es Vinylplatten oder Polaroidfilme er­leben durften. CB  Lange bevor ich Südafrika verließ, fand ich meinen Weg in die Welt des Bewegtbildes durch VHS-Kassetten. In einem Land, das einem harten kulturellen Boykott ausgesetzt war, waren gut sortierte Videotheken in den 1980er und 1990er Jahren eine Art Oase. Das könnte meine Liebesbeziehung zu dem Format erklären. Zu Beginn meiner Karriere arbeitete ich häufig mit Found Footage – dabei waren VHS-Kassetten meine Quelle –, und in den resultierenden Installationen verwendete ich Videoplayer. Analoges Video ist inzwischen veraltet und man vergisst leicht das Demokratisierungspotenzial, das mit dem Format verbunden war, als es für Verbraucher­ *innen erschwinglich und leicht zugänglich wurde (was übrigens in Südafrika viel später passierte als anderswo). Die Tatsache, dass ein Film beim Betrachten leicht zurückgespult, vorgespult oder angehalten werden konnte, fühlte sich neu und aufregend an und ermöglichte eine weniger passive Beziehung zum bewegten Bild. Zum ersten Mal war es möglich, in das Filmerleben

aktiv einzugreifen – und vor allem Filmmaterial zu manipulieren, ohne professionelle und kostspielige Gerätschaften zu benötigen. Für alle, die am Bewegtbild interessiert waren, aber nicht über die Ressourcen verfügten, in den erhabenen Gefilden des Films zu arbeiten, revolutionierte analoges Video das Feld. Dabei sollte aber nicht unterschlagen werden, dass die Geburt des Videobandes bereits auf die bevorstehende und unvermeid­ liche Erosion des kollektiven Seherlebnisses verwies, das fürs Kino so charakteristisch ist, und den allmählichen Rückzug des Körpers aus dem öffentlichen Raum unter dem Druck der Digitalisierung vorwegnahm. Das

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Bewegtbild bahnte sich seinen Weg in eine virtuelle Zukunft. Auf diese Weise sagte das Video die tiefgreifende Entkörperlichung voraus, die das digitale Zeit­alter der Gesellschaft bringen würde. Kollektive Erfahrungen würden keine Priorität mehr haben, ihre Notwendigkeit würde abhanden kommen. So gesehen lässt sich Digest durchaus als ein Akt der Konservierung definieren – aber nicht als Versuch, das analoge Video wiederzubeleben. Vielmehr geht es um die Frage, welche Auswirkungen das Format auf unsere Beziehung zueinander und zum Bewegtbild hatte. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dies das letzte Mal sein wird, dass ich als Künstlerin mit Videobändern arbeite. Ich musste wohl das Video offi­ ziell beerdigen, um darüber nachdenken zu können, was wir verloren haben, als es verstarb.

NVS  Das bringt uns zurück zum Körper – dem Körper der Betrachter*innen, aber auch dem Körper des Bewegtbildes. Trotz all der radikalen Veränderungen, die das Video versprach, blieb das Medium hartnäckig in einer klobigen analogen Objektivität gefangen, die physische Aktivitäten erforderte. Ein Band musste aus der Videothek abgeholt und wieder zurückgebracht werden. Häufig war es genau dann verliehen, wenn man es unbedingt sehen wollte. Manchmal versteckte es sich schüchtern hinter einem Vorhang in dem Bereich, zu dem Minderjährige keinen Zutritt hatten. Um seine Gesellschaft genießen zu können, zahlte man eine Gebühr, und wenn man es danach zu spät nach Hause brachte, war eine Strafe fällig. Das Band surrte und klapperte, wenn man es in den Videorekorder schob. Es neigte dazu, mit verknittertem oder nicht korrekt aufgespultem Gedärm ans Licht zurückzukehren, wenn man auf ‚Auswerfen‘ drückte. Seine anatomischen Schwachstellen waren zahlreich: Ein Videoband konnte stecken bleiben. Es konnte sich weigern, sich zurückspulen zu lassen. Sein Plastikkörper knackte laut, wenn er fallen gelassen wurde. Er setzte aus Protest giftige Dämpfe frei, wenn man ihn auf dem Rücksitz eines Autos in der Sonne vergaß. Mit anderen Worten: Die Videokassette markiert den letzten Moment, in dem das Bewegtbild noch Substanz, Materialität, einen physischen Körper hatte, den Moment, bevor es in digitalisierter Reinkarnation auf DVD migrierte. CB  Es freut mich, dass Sie das Gedärm der Videokassetten erwähnt haben, ihre Innereien. Der Titel Digest basiert auf genau dieser Körper-Metapher. Durch die Auswahl an Verben verschlingt die Installation die Filme eines ganzen Jahrhunderts. Ein Archiv wie Digest hat etwas von einem Verdauungsapparat. Es gelingt ihm Kilometer um Kilometer von Videoband zu vertilgen. Und ich gestehe gerne eine gewisse Nostalgie in Bezug auf analoges Video ein: Ich habe immer noch Hunderte von Videobändern, die ich nicht übers Herz bringe zu entsor-

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gen! Was ich jedoch weit mehr vermisse als die physische Erfahrung des Betrachtens und Arbeitens mit Videobändern, ist die Art der im Körper verankerten Subjektivität, an der wir in der analogen Ära vor der Digitali­ sierung und Hypertechnologisierung unseres Lebens Anteil hatten. Die digitale Technologie hat uns von unseren Körpern entfremdet und die Wahrscheinlichkeit verringert, mit anderen Menschen in der nichtvirtuellen Öffentlichkeit zu interagieren. NVS  In diesem Sinne kann die Installation als eine Art Trauerrede verstanden werden. Digest erschafft einen Raum, der es gestattet, den Verlust gemeinsamer sozialer Erfahrungen zu betrauern, einen Ort, der das Dahinsiechen des kollektiven Körpers beklagt. Ihr Kommentar zur Erosion des öffentlichen Raums führt uns zu dem Punkt zurück, an dem wir darüber sprachen, inwiefern die Pandemie unser Abgleiten in die digitale Welt beschleunigt hat. Die zahlreichen Bewegungseinschränkungen, die als Reaktion auf Covid-19 weltweit verhängt wurden, verdeutlichen mit brutaler Härte die Fragilität des sozialen Körpers. Das Virus ist ein erbarmungsloser Sensenmann. CB  Die aktuelle Pandemie ist die Folge zynischen menschlichen Verhaltens. Wenn wir uns der ökologischen Zerstörung, die wir – im Streben nach einer endlosen Ausbreitung des städtischen Raums – anrichten, nicht bewusst sind, müssen wir mit anhaltendem Chaos in der Natur rechnen, sei es in Form von Überschwemmungen, Dürren oder Seuchen wie Covid-19. Angesichts der schädlichen Rolle, die Einwegkunststoffe in der anhaltenden ökologischen Krise spielen (gerade dieser Aspekt ist in der Pandemie so unübersehbar wie unerträglich), sollte ich vielleicht erwähnen, dass Digest vollständig aus Kunststoff besteht. Vom Mylar-Band, das sich in jeder Videokassette befindet, bis zu den Acryl-Videobändern selbst, von den Polypropylenhüllen, in denen sie vergraben sind, bis zur Acrylfarbe, mit denen sie einbalsamiert wurden. Die fragilen analogen Körper, die Digest unter Quarantäne gestellt hat – jeder isoliert auf engstem Raum, jeder trägt stolz ein Verb auf der Brust, das körperliche Freiheiten feiert, die nicht mehr als selbst-

verständlich angesehen werden können –, könnten als Hinweise auf die existenzielle Bedrohung gelesen werden, die uns bevorsteht, solange der extraktive Kapitalismus die natürliche Umgebung, in denen Körper zuvor wachsen und gedeihen konnten, gnadenlos ausbeutet und zerstört. Im Wissen darum, was wir als Spezies brauchen, müssen wir uns auf dem schnellsten Weg von Einwegkunststoffen verabschieden. Vielleicht wird Digest in der Zukunft als eine Arbeit betrachtet, die an ein veraltetes Format in einem veralteten Medium erinnert. NVS  Können wir über die Oberflächenqualität der B ­ ilder sprechen, speziell über die schwarzen Hüllen? Obwohl man nicht unbedingt sagen kann, dass die Gemälde von etwas oder über etwas erzählen, erinnern die schwarzen Oberflächen an etwas Lebendiges. Teilweise wirken die Hüllen in ihren filigranen Ausarbeitungen fast obszön organisch. Einige erinnern an biologische oder anatomische Details, die unter einem Mikroskop sichtbar w ­ erden. Andere sehen aus, als wären sie mit Körperöffnungen verziert. Die Oberflächentextur ruft Assoziationen von faltiger Haut, schmuddeligem Fell oder verfaultem Fleisch hervor. Bei einigen Bändern denkt man an Krankheit oder körperliche Ausscheidungen. All diesen Anrufungen der natürlichen Welt haftet aber durch die Plasti­ zität der schwarzen Hüllen etwas Unheimliches an. Obwohl die Abstraktion, die sich über jede Kassette erstreckt, das Produkt einer menschlichen Hand ist (man erkennt sofort, dass jedes einzelne Video ein Unikat ist), untergräbt die glänzende Künstlichkeit der schwarzen Acrylfarbe die Gestik der Bilder, sodass die Werke letztendlich einen fremdartigen Eindruck vermitteln – gewissermaßen eine sich selbst entfremdete Natur. CB  Ein Freund, der mich zu Beginn der Arbeit an Digest im Atelier besuchte, meinte, die Bänder würden wie Requisiten aus einem Low-Budget-Science-Fiction-Film aussehen. Diese Beschreibung blieb mir im Gedächtnis haften, weil sie die Spannung zwischen der glatten Serialität der Bilder und ihrer handgemachten Qualität gut zum Ausdruck bringt. Einzeln betrachtet sehen einige der intensiver bearbeiteten Bänder so aus, als kämen sie direkt aus einem 3D-Drucker. Gleichzeitig verdeutlicht


I know you think I’m crazy, but I’m not, I’m not!, 1938–2019; einmalige Installation Eine von zehn eigenständigen Arbeiten, die neben dem Digest-Archiv entstanden sind


die schiere Vielfalt der abstrakten Hüllen mit ihren komplexen Details ihre handwerkliche Produktion. Im Laufe der Arbeit entwickelte das Team ein immer ausgefeilteres visuelles Vokabular, wie ich es mir nie hätte träumen lassen. So gesehen zelebriert Digest die Eigentümlichkeit der menschlichen Geste in einem Moment, in dem sowohl diese Einzigartigkeit als auch die menschliche Geste vom digitalen Tod bedroht sind. NVS  Wie stark waren Sie an der kreativen Entscheidungsfindung beteiligt, als es um das Auftragen der schwarzen Abstraktionen ging? CB  Jedes Band wurde in seinem Entstehungsprozess von mehreren Teammitgliedern bearbeitet. Wir hatten Maler*innen, die besonders gut darin waren, klassische und grafische Schriften wiederzugeben, und andere, die genau wussten, wie man eine gewundene organische Schrift gestaltet. Wir hatten Verbexpert*innen und Schwarze-Hüllen-Spezialist*innen und einige, die beides

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gleich gut in den Griff bekamen. Jede Digest-Kassette muss während der Produktion ein gutes Dutzend Mal durch meine Hände gegangen sein. Diese Installation ist ebenso ein Produkt intensiver Gespräche wie menschlicher Arbeitsleistung. Zuerst war ich direkt in den Malprozess involviert, aber bald wurde mir klar, dass es eher meine Aufgabe war, alles zusammenzuhalten. Digest stellte sich als äußerst komplexes Projekt heraus. Die Übersicht zu wahren, fühlte sich so an, wie einen Filmdreh zu leiten. Wenn Sie als Regisseurin eine Crew an einem Set zusammenbringen, steuern Sie ein Team auf ein gewünschtes Ergebnis zu. In den vielen Jahren meiner Regiearbeit habe ich gelernt, wie wichtig es ist, die kreativen Vorschläge und Impulse der Crew zu berücksichtigen und ihre Erfahrungen, ihre Fähigkeiten zu respektieren. Das führt grundsätzlich zu einem dichteren und überzeugenderen Ergebnis. Unser Arbeitsmodell basierte also auf der relativen Autonomie aller Teammitglieder. Als wir wussten, wer

worin gut ist, gewöhnten wir uns einen bienenstock­artigen Rhythmus an, ein gegenseitiges Vertrauen, das es allen ermöglichte, zum kreativen Prozess beizutragen, ohne dass eine strenge Kontrolle notwendig war oder Terrains abgesteckt werden mussten. So arbeite ich im Allgemeinen gerne. Jedes kreative Unterfangen muss sich mit Einschränkungen auseinandersetzen – mich interessiert aber genau dieser Prozess, der abläuft, wenn eine Gruppe von Menschen zusammenkommt, um auf eine Reihe gegebener Bedingungen zu reagieren – und sich gemeinsam dagegenzustemmen. NVS  Es hätten natürlich auch illustrative oder figurative Malereien werden können. Warum haben Sie sich für die Abstraktion entschieden? CB  Dafür mache ich zumindest bis zu einem gewissen Grad Scheherazade verantwortlich. Durch ihre Fähigkeit, narrative Spannung zu erzeugen, entkam sie dem Tod. Die Digest-Gemälde befinden sich in einem gesteigerten Zustand narrativer Spannung. Zum einen verschwinden die Videos unwiederbringlich in ihren Hüllen, wodurch ihr erzählerisches Inneres unerreichbar wird. Zum anderen wird jede Hülle mit einem Verb versehen, einem angeeigneten Sprachfragment, das von den Abbildungen abgekoppelt wurde, die auf dem Original-VHSCover zusehen waren. Diese doppelte Negation der Erzählung befreit die Malereien aus dem Reich der Illustration, sodass jede einzelne als bescheidener Raum für Projektionen dienen kann; zunächst für die Teammitglieder, die im Studio daran arbeiten, und schließlich für die Betrachter*innen der Installation. Manchmal müssen wir uns den altbekannten Geschichten entziehen, um neue Geschichten zu entdecken und innovative Arten zu finden, sie zu erzählen. Das ist vielleicht die wichtigste Lektion, die wir von Scheherazade lernen können. NVS  Meine letzte Frage ist, wie die Bilder installiert werden. Haben sie in der Ausstellung eine feste Beziehung zueinander? Ist ihre Reihenfolge alphabetisch oder chronologisch? Oder sind sie nach Genres geordnet, wie es in einer Videothek der Fall wäre? CB  Ich möchte vermeiden, die Reihenfolge der Kassetten in der Installation festzulegen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, wie die Verben über das Raster angeordnet werden können. Wenn das Verb to labour neben dem Verb to sweat steht, suggeriert es eine bestimmte Richtung. Wenn to labour stattdessen in direkter Nähe zu to mother und to raise gestellt wird, treten andere Assoziationen in den Vordergrund. Ich möchte diese Offenheit bewahren. Ich möchte, dass der Aufbau der Ausstellung nicht zuletzt eine schriftstellerische Erfahrung ist, damit jede neue Installation das Potenzial hat, sich neuen Lesarten zu öffnen. Auf diese Weise wird sie zu einem echten Reader‘s Digest. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

CANDICE BREITZ, bildende Künstlerin, ist seit 2019 Mitglied der Akademie der Künste. Digest wurde mit der Unterstützung von Alex Fahl und Sven Weigel produziert. Die Arbeit wäre nicht möglich gewesen ohne die großartigen Beiträge von Hasan Aksaygin, Caroline Bayer, Carlos Enfedaque, Heyon Han, Dimitar Hristov, Cecilia Lo, Valère Mougeot, Philippine de Salaberry, Susanne Schmitt und Nikola Werner, sowie Winnie Fee Kurzke, Bambi Heggeman und Emily Hochman.



ARBEIT AM GEDÄCHTNIS – TRANSFORMING ARCHIVES

METAMORPHOSEN – STADT ZWISCHEN GESCHICHTE UND GEWISSEN Matthias Sauerbruch

ehringplatz, Berlin. Städtebauliches M Konzept: Hans Scharoun (1962), Bebauung ab 1968 Werner Düttmann/ Hans Scharoun Belle-Alliance-Platz (heute Mehringplatz), Berlin 1935

Die Sektion Baukunst wird zur Arbeit am Gedächtnis, dem Diskurs, den die Akademie ihren Mitgliedern in ihrem Jubiläumsjahr 2021 vorgeschlagen hat, in Form eines Symposiums über die gebaute Umwelt und ihr Verhältnis zu Vergangenheit und Geschichte beitragen. Jede Baukonstruktion ist ein Produkt und eine Manifestation ihrer Entstehungszeit. Sie wurde und wird nach den „Regeln der Technik“ und aus den in der jeweiligen Gegenwart am Markt erhältlichen Materialien zusammengefügt. Ähnlich verhält es sich mit den Konzepten, nach denen gebaut wird; auch sie entspringen der Kultur und dem Wissen ihrer Zeit. Ein Bauwerk mag in der Absicht errichtet werden, die „Zeiten“ zu überdauern, aber es ist niemals zeitlos; der Tag seiner Vollendung ist auch der erste Tag seiner unaufhaltsamen Alterung. Die gebaute Umwelt ist also ein langsam erodierendes Repositorium von Konstruktionen im buchstäblichen wie im metaphorischen Sinne, die zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit für eine Zukunft gemacht wurden, in der auch unser Heute zu finden ist. Diese Produkte der Vergangenheit betrachten wir (mal mehr, mal weniger) als eine Manifestation der Geschichte. Denn während Vergangenheit unwiederbringlich verloren bleibt, wird Geschichte

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kontinuierlich neu produziert – indem die Vergangenheit retrospektiv interpretiert wird. Insofern ist es vielleicht auch probat, sich der Metapher des Gedächtnisses zu bedienen, wenn man die kulturelle Dimension der gebauten Umwelt beschreiben möchte; denn auch dieses ist individuellen und temporalen Schwankungen unterworfen. Wie ein kollektives Gedächtnis nur eine relativ vereinfachte Quersumme aus einer Vielzahl verschiedener einzelner Erinnerungen sein kann, ist auch das Gedächtnis der Stadt ein vielfältiges Territorium mit unscharfer Bedeutung, dessen Geschichte in der Interpretation der jeweiligen Zeitgenossen entsteht. Das Thema des Symposiums entstand auch aufgrund eines zweiten Anlasses: Die Akademie der Künste feiert im März 2021 den 100. Geburtstag ihres langjährigen Mitglieds, Sektionsdirektors und Präsidenten Werner Düttmann, des Architekten der Akademie­ gebäude am Hanseatenweg. Als Freier Architekt, Senatsbaudirektor und Hochschulprofessor hat er den Wiederaufbau des Westteils der schwer zerstörten Stadt Berlin wesentlich mitverantwortet. Mit dieser Aufgabe konfrontiert, ließ seine Generation keinen Zweifel an ihrer Absicht, neue Traditionen in die Stadt einzuschreiben. Dies geschah – trotz relativer Mäßigung im Vergleich zu ihren unmittelbaren Vorgängern – ohne große Rücksichtnahme auf Vorgefundenes. Für diese Generation war die Berliner Mietskasernenstadt mit Unfreiheit und sozialem Elend verbunden; ihre leidenschaftliche Aufbruchsbegeisterung und ihr Erneuerungswille entsprangen auch einem aufrichtigen Wunsch nach Reform. Darüber hinaus waren, zumindest in Deutschland, die Städte in vielen Fällen nicht nur physisch, sondern auch psychisch zerstört. Die Rekonstruktion von Städten war den Kriegsgenerationen aus politisch-kulturellen und persönlichen Gründen verdächtig und schwierig. Spurenlose Kontinuität signalisierte vielen die Kontinuität einer Vergangenheit, zu der man nicht mehr stehen wollte. In dieser programmatischen Aufladung wurde die neue Stadt weniger zum Ort der Erinnerung als zur Manifestation eines kollektiven Gewissens. Sie wurde als eine Art Zukunftsmaschine betrachtet, die die Vergangenheit in vielen Aspekten übertreffen oder gar vergessen machen sollte. Diese Haltung traf jedoch bald auf Widerstand: Während die autogerechte Infrastruktur im Namen des Fortschritts teilweise gnadenlos durch die zerstörten (und auch die nicht zerstörten) Innenstädte Europas getrieben wurde, formierte sich zunehmend auch eine Gegenbewegung. Jane Jacobs’ The Death and Life of Great American Cities, Wolf Jobst Siedlers Die gemordete Stadt oder Aldo Rossis Streitschrift von der Architettura della Città seien als Beispiele für eine Haltung genannt, die die historische Stadt als soziales und kulturelles Destillat sieht, das in ihre Architektur eingeschrieben ist und mit deren Zerstörung unwiederbringlich verloren gehen würde. Die Ideen von Erhalt und Anpassung bestehender Strukturen und vom Schutz vorhandener baukultureller Zeugnisse fanden in der Folge Stück für Stück Eingang in die Politik, und heute ist die Auseinandersetzung mit den Denkmalschutzbehörden in Deutschland und Europa essenzieller Bestandteil jedes Baugenehmigungsverfahrens. Was mit dem Schutz einzelner herausragender Bau-

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denkmale begann, wurde im Lauf des verbleibenden Jahrhunderts auf Gebäudeensemble und ganze Stadtquartiere und schließlich sogar die dazugehörigen Milieus ausgeweitet, sodass um die Jahrtausendwende nicht mehr nur der Schutz bestehender Substanz zum Mainstream wurde, sondern auch die (mehr oder weniger genaue) Rekonstruktion historischer Strukturen vielfach als favorisiertes Konzept für Neubauten auf der Tagesordnung erschien. Aus heutiger Perspektive ist diese konservative Haltung aus zwei Gründen zu hinterfragen: Zum einen hat der in der Nachkriegszeit unübersehbar wachsende Tourismus die Bedeutung historischer Stadtkerne massiv verändert, denn die Kommunen stehen nun miteinander in Konkurrenz, Einzigartiges zu bieten, das vom anspruchsvollen Touristen „entdeckt“ werden soll. Die „Zeugen der Vergangenheit“ spielen dabei eine wichtige Rolle, denn der unique selling point eines Ortes definiert sich in der Regel über seine Geschichte. Wenn sich der Gast nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch noch in eine andere Zeit versetzt fühlen kann, wird das Reisen zum besonderen, das Leben bereichernden „Erlebnis“. „Unberührte“ historische Innenstädte, vom Verkehr befreit und um Gastronomie und Shopping ergänzt, verbinden das angeblich „Authentische“ mit dem Angenehmen, das Museale mit dem Kommerziellen – in einer den Massen angemessenen Effizienz. Die Geschichte wird in einer leicht durchschaubar banalen Erzählung zur Verfügung gestellt, die Stadt gerät zur Mise en Scène ihrer eigenen Kommodifizierung, bei der alle Beteiligten angesichts der allgemeinen Win-Win-­Situation gerne mitspielen. Zum Zweiten hat das wiedergewonnene Wohlwollen gegenüber dem Historischen nicht nur mit dessen wirtschaftlicher Verwertbarkeit zu tun. Seinen eigentlichen Ursprung hat es in einer Verschiebung der kulturellen und gesellschaftlichen Schwergewichte in den letzten Dekaden. Der Aufbruchswunsch der Moderne ist einer deutlich spürbaren Ablehnung oder zumindest starken Skepsis gegenüber jeglichem Fortschrittsgedanken und einer gleichzeitigen Idealisierung vergangener Zustände gewichen. Die Umkehrung begann mit den politischen und den technischen Krisen der 1970er Jahre und wurde beschleunigt von der zunehmenden Dynamisierung, Fragmentierung und Globalisierung unserer Gesellschaften. Die Zukunft wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht mehr als Verheißung, ­sondern eher als Zumutung begriffen, als eine Zeit, in der die eigene Existenz aus vielerlei Gründen auf dem Spiel steht. Eine sichere und angstfreie Heimat, der Sehnsuchtsort in schwierigen Zeiten, wird zunehmend mit Bildern der Geschichte identifiziert, während die ­allfälligen Alltagsprobleme unserer Existenz eher der Gegenwart und Zukunft zugeschrieben werden. Als Beispiel für solche „Retrotopien“ ließe sich eine Reihe von aktuellen politischen Phänomenen nennen, der Brexit ist nur eines davon. Ironischerweise erscheint dieser Hang zur Nostalgie an einem Wendepunkt, an dem gleichzeitig massive und fundamentale gesellschaftliche Veränderungen stattfinden. Die Industrie entwickelt sich unaufhaltsam in Richtung autonomer digitaler Netzwerke, die sowohl alle Stufen der Bedarfs- und der Produktentwicklung sowie der ­Fertigung als auch der Nutzung sowie Entsorgung beziehungsweise Wiederverarbeitung von Dingen steuern werden. Die Medizin ent-

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alast der Republik Berlin 1976 P (Foto: 1986), Heinz Graffunder Humboldtforum, Berlin 2020, Franco Stella, gmp Architekten von Gerkan, Marg & Partner, Hilmer & Sattler und Albrecht

ziffert mit Hilfe der Biotechnologie die Funktionsweise einer Vielzahl der physischen und psychischen Phänomene unserer Leben, macht sie transparent und damit veränder- und beeinflussbar. Wir befinden uns an einem Ende und gleichzeitig an einem Anfang, der in seiner Dramatik und Drastik dem Übergang von der Mechanisierung zur Industrialisierung zu Beginn und der Einführung von Computern in der Mitte des 20. Jahrhunderts in nichts nachsteht. Gleichzeitig scheinen nach dem Ende von Faschismus und Kommunismus nun die liberale Demokratie und vor allem das auf ständigem Wachstum basierende liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem ihr „natürliches“ Ende zu erreichen. Ungelöste Probleme scheinen sich zu häufen. Der Klimawandel steht dabei für die größte Herausforderung, die unser Denken und unsere Verhaltensweisen in Frage stellt. Selbst um das Minimalziel einzuhalten, auf das sich die Weltgemeinschaft in Paris 2015 eingeschworen hat, bedarf es fundamentaler Veränderungen. Ein mutiger Aufbruch wäre also dringend notwendig, der die Umstände der Gegenwart anerkennt und sich den anstehenden Aufgaben widmet. Deshalb kann die Stadt als das am weitesten verbreitete System kollektiven Zusammenlebens, in dem eine in vieler Hinsicht verträglichere Umwelt entwickelt und gelebt werden muss, nicht nur Zufluchtsort nostalgischer Sehnsüchte, ängstlicher Befindlichkeit und politischer wie kommerzieller Opportunität sein. Im Gegenteil, sie muss auch zum Vehikel der Veränderung werden – wie gerade in großer Vielfalt in der Ausstellung urbainable – stadthaltig von Mitgliedern der Sektion Baukunst dargelegt wurde. Die Stadt muss wieder zum kollektiven Gewissen werden, zum Ursprung und Schauplatz der Reform. Dass sie dabei auch Gedächtnis bleibt, ist selbstverständlich – nicht nur, weil dieses Mal die Städte nicht

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in Trümmern liegen und wiederaufgebaut werden müssen, sondern auch weil aus Gründen der Ressourcenschonung und der dringend notwendigen Verringerung von CO2-Emissionen zukünftige Bedarfe über die Fortschreibung und den weitgehenden Erhalt des gebauten Bestands gedeckt werden müssen. Wenn also neue Konzepte umgesetzt werden, müssen sie weitgehend auf die Versatzstücke der Vergangenheit zurückgreifen. Diese Situation mag widersprüchlich sein, aber sie birgt auch das Potenzial, die Akkumulation von Vergangenem für alle nachvollziehbar und damit die Produk­tion von Geschichte selbst zum Thema und Teil des kollektiven Gewissens zu machen. Das Symposium wird uns Gelegenheit geben, den seit dem Krieg entstandenen Narrativen nachzugehen und die anstehende Wende, die zwangsläufig eine digital-ökologische sein muss, zu antizipieren. Es wird einen willkommenen Anlass bieten, darüber zu reflektieren, wie sich die Strategien und Verhaltensweisen der Nachkriegsgenerationen bewährt haben und wie mit ihrem Teil des


„Gedächtnisses“ unter den Vorzeichen der ubiquitären Verehrung der Gründerjahre des 19. Jahrhunderts heute verfahren wird. In den öffentlichen Medien wurde in der letzten Zeit der Umgang mit diesem unbequemen Erbe vermehrt diskutiert. So blieb eine Initiative zum Erhalt des sogenannten Mäusebunkers, der zentralen Tierversuchsanstalt an der FU Berlin von Gerd und Magdalena Hänska (1971), ohne Erfolg, während die Restaurierung und Ertüchtigung des Studentendorfs Schlachtensee von Hermann Fehling, Daniel Gogel und Peter Pfankuch (1957–59) gerade mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wird und die Pfarrkirche St. Agnes von Werner Düttmann (1967) nur durch einen architektonischen Eingriff, nämlich den Umbau zur Kunstgalerie, am Leben gehalten werden konnte. Es wird auch Gelegenheit geben, über die Phase der sogenannten kritischen Rekonstruktion nachzudenken, die in Berlin überall so drastische Spuren hinterlässt und nun – mit der Fertigstellung des Humboldtforums – hoffentlich einen gewissen Höhepunkt erreicht hat.

Zuletzt soll über ein neues „Neues Bauen“ nachgedacht werden, das von der Fortschreibung des Vorgefundenen ausgeht. Will man weitere Emissionen in die Atmosphäre reduzieren, kann man nicht länger mit dem Abraum des Vorhandenen beginnen. Stattdessen muss man bereit sein, die vorgefundene Stadtlandschaft immer wieder zu reevaluieren, zu ergänzen, zu ertüchtigen und umzu­ interpretieren. Zukünftige Beiträge zur Stadt müssen sowohl den veränderten Anforderungen der Gegenwart gerecht werden als auch die kategorische Wende spürbar zum Ausdruck bringen, denn hier wird die Arbeit am Gedächtnis greifbar. Ob die baulichen Interventionen dabei als Katalysatoren und Vorboten fungieren oder lediglich Entwicklungen abbilden, die allgemeingesellschaftlich schon im Gange sind, gleicht der Frage nach Huhn oder Ei. Ob die Stadt nun Gedächtnis oder Gewissen der Gesellschaft ist, wird sich möglicherweise nicht klären lassen, doch wünschte man sich, sie wäre beides zugleich. MATTHIAS SAUERBRUCH, Architekt, ist seit 2006 Mitglied der Akademie der Künste, Sektion Baukunst, und seit 2018 deren Direktor.

Leipziger Straße, Berlin Urbainable Vision

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ARBEIT AM GEDÄCHTNIS – TRANSFORMING ARCHIVES

AUSGRABEN UND ERINNERN KÜNSTLERISCHE ARBEIT AM GEDÄCHTNIS Anneka Metzger

Wie sieht künstlerische Erinnerungsarbeit aus? Ist sie assoziativ oder hat sie System? Was wird erinnert? Wie manifestiert sich Erinnerung? In einem Objekt oder einer Tagebuchzeile? Hinterlässt Erinnerung Spuren? Kann sie rekonstruiert werden und welche Methoden sind dafür geeignet? Bedarf sie einer ordnenden Hand? Welche Speichermedien bieten sich an? Kann man ­Erinnerungen sammeln? Gehen sie mit Vergessen einher? Wo, wenn nicht im Archiv könnten diese Fragen erkundet werden. Nicht nur, weil Archive qua Definition Gedächtnisinstitutionen sind und zu ihren zentralen Aufgaben das Sammeln und Bewahren gehört. Archive geben dem Erinnern Struktur und ein Gehäuse. Damit ermöglichen sie etwas, was Alexander Kluge in ein anschauliches Bild fasst: Er geht von Konstellationen, von gravitativen Verhältnissen zwischen den Archiven, den Denkrichtungen und Kunstformen aus, wenn er sich vorstellt: „womöglich singen und tuscheln die Archive nachts untereinander“.1 Kommen verstreute Tagebücher, Manuskripte, Briefe, Skizzen – diese „Stimmen“ des Archivs und Zeugnisse des Moments, Gedächtnisstützen, Resultate von schöpferischen Denk- und Schreibprozessen – unter einem Dach zusammen, wo sie geordnet, verstaut, katalogisiert und verschlagwortet werden, so entsteht mehr als die Summe ihrer Teile. Sie stehen in Beziehung. Die Künstler*innenarchive der Akademie der Künste for-

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mieren und überliefern das kulturelle Gedächtnis einer bestimmten Zeit, eines Kulturkreises und darüber hinaus. Sie bilden künstlerische Strömungen, Denkbewegungen, Kulturleistungen, den Zeitgeist ab. Mehr noch: Sie ­weisen ins Offene, laden dazu ein zu graben, freizulegen, wie sich künstlerische Erinnerungsarbeit gestaltet, sie mit heutigem Blick zu befragen, in einen aktuellen Kontext zu setzen und zu transformieren. Eine Annäherung an das Thema Erinnerung im Archiv kann heißen, denen über die Schulter zu schauen, die es nicht losgelassen hat: durch ihre Versuche, Erlebtes zu begreifen, f­ estzuhalten und dauerhaft hinüberzuretten, durch ihre Ausdauer, Spuren zu suchen, Erinnerungen zu ordnen und einzuordnen, durch ihre Erfindung von Strukturen und Methoden, durch ihre schöpferische Konfrontation mit dem Unsagbaren, durch ihre Inspirationsquellen, durch ihre Sammelleidenschaft, durch ihr Scheitern. „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.“2 In diesem Satz von Christa Wolf aus ihrem Text Nachdenken über Christa T. schwingt eine poetologische Absicht mit: es dennoch zu versuchen. Nicht aufhören, die Erinnerung an das Erlebte in Worte zu fassen, erzählbar zu machen – im Wissen, dass das nicht oder nur unzureichend gelingen kann. Das Vergangene ist zu komplex, um es einfangen zu können. Es gilt, die Lücke zwischen dem Erzählten und dem Erlebten auszuhalten. Die Erin-

nerung ist unzuverlässig oder übermächtig; die eigenen blinden Flecke in den Blick zu nehmen, ist ein para­doxes Unterfangen. Und doch ist die Erinnerung eine zentrale Triebfeder für künstlerisches Schaffen, für Reflexion und Auseinandersetzung, mit der eigenen Zeit, mit der Vergan­genheit, mit utopischen Entwürfen – gegen das Vergessen. Es geht auch darum, etwas weitertragen und verändern zu wollen, für die Gegenwart und die Zukunft. Erinnerung muss über subjektives Erinnern hinausgehen, es ist ein kollektiver Prozess, für den die Schriftstellerin sich verantwortlich fühlt. „Sich-Erinnern“, schreibt Christa Wolf in ihrem Essay Lesen und Schreiben, „ist gegen den Strom schwimmen, wie schreiben – gegen den scheinbar natürlichen Strom des Vergessens“.3 Walter Benjamin beschreibt in seinem programmatischen Text Ausgraben und Erinnern die Arbeit am Gedächtnis als archäologisches Verfahren: „Wer sich der eignen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt. Vor allem darf er sich nicht scheuen, immer wieder auf einen und denselben Sachverhalt zurückzukommen […]. Denn ‚Sachverhalte‘ sind nicht mehr als Schichten, die erst der sorgsamsten Durchforschung das ausliefern, um dessentwillen sich die Grabung lohnt.“4 In der Ausstellung Arbeit am Gedächtnis wird anhand exemplarischer Positionen aus den Archiven der Aka­


demie nach diesen „Ausgrabungen“, nach den Formen künstlerischen Erinnerns gefragt. „Erinnern ist Arbeit“, schreibt Einar Schleef in sein Tagebuch.5 Erinnern ist also ein aktiver Prozess, etwas, das von jeder Generation wieder neu unternommen werden muss. Und Erinnerungsarbeit heißt auch, der Macht der Erinnerung und dem Sog des Vergessens zu begegnen, durch Erschütterungen, Umbrüche, Verdrängung und Traumata hindurchzugehen, womöglich immer und immer wieder. So tauchen auch in den künstlerischen Archiven die großen europäischen Erinnerungsthemen des 20. Jahrhunderts auf: Krieg, Holocaust, Exil, Teilung. Die Künstler*innenArchive fungieren in besonderem Maße als Gedächtnisspeicher einer Gesellschaft. In den Nachlässen der Künstlerinnen und Künstler kann das ständige Ringen mit der Erinnerung aufgedeckt werden, die Suche nach der für den jeweiligen Schaffensanlass adäquaten künstlerischen Form und Haltung. Anhand von Tagebüchern, Zettelkästen, Wortlisten, Materialsammlungen und persönlichen Erinnerungsgegenständen werden die mühsamen und lustvollen Prozesse bei der Transformation von persönlichem Erleben in Kunstwerke oder von Zeitgeschehen in Zeit-Diagnose sichtbar. Wie sieht also künstlerische Erinnerungsarbeit aus? „Arbeit im Archiv. Die herrlichsten Entdeckungen. Das Gedächtnis reicht nicht aus, die guten Sachen ständig gegenwärtig zu haben. Man muß immer wieder hinabsteigen“, heißt es bei Walter Kempowski in seinen Notizen zum Echolot.6 Und Walter Benjamin nennt es „nützlich, bei Grabungen nach Plänen vorzugehen“.7 Das verweist auf die Notwendigkeit einer Struktur, einer Ordnung, die, im Fall von Kempowski, archivische Dimensionen annimmt. Strukturen werden zu Inspirationsquellen. In Kempowskis Archiv findet sich die Reproduktion eines Kupferstichs der Trajanssäule. Die Anordnung der Bilderzählung auf der antiken Säule wurde zu einem der Vorbilder für das Echolot. Diese künstlerische Methode, Lebenszeugnisse ganz unterschiedlicher Menschen zu einem vielstimmigen Chor, zu einem kollektiven Tage-

↖ Einar Schleef, Erinnern ist Arbeit, Ausstellungsprojekt, 1992 im Marstall Berlin ↗ Walter Kempowski, Modell für das Echolot. Ein kollektives Tagebuch, München 1993–2005

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buch zu montieren, fand inzwischen in der Geschichtswissenschaft Anerkennung und Nachahmung. Bei Käthe Kollwitz sind es „Arbeitskurven“, mittels derer sie sich ihrer Schaffensprozesse in einem Jahresrück- und -überblick Rechenschaft ablegt und diese in den Kontext politischer Umwälzungen und persönlicher Ereignisse und Zäsuren setzt. Andere Künstler*innen legen Werktagebücher, Skizzenhefte und Wortlisten an oder visualisieren Erinnerung mittels Zeichnungen, Fotografien, Notationen. Es geht um das Festhalten von flüchtigen Momenten, aber auch um die Annäherung über Sprache oder Bilder. Die künstlerische Auseinandersetzung mit Tabuthemen, mit Verschüttetem oder Verdrängtem kann zum therapeutischen Prozess werden, wie die autobiografische Erzählung Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm zeigt. In seiner literarischen Annäherung an den toten Bruder, der sich freiwillig der SSTotenkopfdivision angeschlossen hatte und von dem die Mutter Erinnerungsgegenstände in einer Schachtel aufbewahrte, wird die Scheu, sich ein Bild zu machen, reflektiert. „Er selbst, sein Leben, spricht nur aus den wenigen erhaltenen Briefen und aus dem Tagebuch. Das ist die festgeschriebene Erinnerung.“8 Die eigene Revision des Erinnerten ist Teil der künstlerischen Auseinandersetzung; Um-Formungen und Um-Schreibungen zeugen davon, dass die Kunst der Erinnerung ein fortwährender und nicht abschließbarer Prozess ist. Selbstzeugnisse und autobiografische Texte riskieren Selbst-Stilisierungen und die Idyllisierung der eigenen Erinnerung. Ein Dokument von Mary Wigman von 1963 macht diese selbstbezogene Fokussierung auf das eigene Schaffen sichtbar. Ihre Choreografien sieht sie von der Zeit des Nationalsozialismus, „einer Zeit der äußeren, der politischen Beunruhigung“ unbeeinflusst, wenn sie über ihre „Herbstlichen Tänze“ von 1937 sinniert. Sie frage sich heute noch, weshalb sie „von all den äußeren Bedrängnissen völlig unberührt blieben und in Erlebnis und Gestaltung ihre Reinheit bewahren konnten“.9

An den Beispielen wird sichtbar, dass künstlerische Gedächtnisspeicher keine tote Materie sind. Sie sind für das Heute relevant, die Auseinandersetzung mit ihnen kann etwas bewirken. Daher müssen sie immer wieder heraufgeholt und befragt werden, wie es in Benjamins Text heißt: „Und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde macht und nicht im heutigen Boden Ort und Stelle bezeichnen kann, an denen er das Alte aufbewahrt.“10 Künstlerische Erinnerungsarbeit steht mit ihren Verfahren und Formen der literarischen, (bild-)künstlerischen, filmischen, darstellerischen und musikalischen Verarbeitung auf diesem „heutigen Boden“. Dass die Positionen vorläufig und tastend sind, die Orte nicht gesichert und der eigene Stand gefährdet, macht diese Arbeit am Gedächtnis zu einem glaubhaften Argument für die Notwendigkeit, lebendig zu erinnern, wenn es um die Zukunft geht. 1 Alexander Kluge in einem Arbeitsgespräch in Vorbereitung der Ausstellung am 13.8.2020 in Berlin. 2 Christa Wolf, Nachdenken über Christa T., Halle (Saale) 1968, S. 82. 3 Christa Wolf, Lesen und Schreiben. Aufsätze und Betrachtungen, Berlin, Weimar 1972, S. 197. 4 Walter Benjamin, Ausgraben und Erinnern, in: Gesammelte Schriften IV, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 400, fortan Tiedemann 1991. 5 Einar Schleef, Tagebuch 1981–1998, hg. von Winfried Mennighaus, Sandra Janßen und Johannes Windrich, Frankfurt a. M. 2009, S. 227. 6 Walter Kempowski, Culpa. Notizen zum „Echolot“, München 2005, S. 94, Tagebucheintrag vom 30.12.1986. 7 Benjamin, in: Tiedemann 1991, vgl. Anm. 4. 8 Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, S. 35. 9 Akademie der Künste, Mary-Wigman-Archiv, Nr. 556. 10 Benjamin, in: Tiedemann 1991, vgl. Anm. 4. ANNEKA METZGER ist Referentin der Archiv­d irektion der Akademie der Künste.

Das Archiv der Akademie ist mit einem Raum zur künstlerischen Erinnerungsarbeit an der Ausstellung Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives (4.6.-15.8.2021) beteiligt. Wie die künstlerische Auseinandersetzung mit Gedächtnis ersichtlich, begreif- oder hörbar werden kann, steht im Mittelpunkt der ca. 15 Positionen umfassenden Präsentation. Im begleitenden Ausstellungsmagazin werden die Positionen abgebildet und vorgestellt: Geschichten zur Werkgenese erzählt, archivische Methoden aufgedeckt, biografische Spuren erläutert und Erinnerungs­ medien aufgezeigt.

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ARBEIT AM GEDÄCHTNIS – TRANSFORMING ARCHIVES Emeka Ogboh, Vermisst in Benin, Plakataktion in Dresden, 2020

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WENN DEN KOLONIALMÄCHTEN DIE KRAFT AUSGEHT, WERDEN DIE OBJEKTE ZURÜCKKEHREN Ein Gespräch zwischen Njoki Ngumi und Jim Chuchu

The Nest Collective, 2012 in Kenia gegründet als multidisziplinäres Künstler*innen­ kollektiv, arbeitet mit den Methoden angewandter Forschung im Bereich Film, Mode, Literatur und anderer Medien. Das Kollektiv gehört zu den Gründern des International Inventories Programme (IIP), eines internationalen Forschungs- und Ausstellungsprojekts, das sich mit der Tatsache – und deren Implikationen – befasst, dass sich Objekte afrikanischen, insbesondere kenianischen, Ursprungs in den Museen des Globalen Nordens befinden. Es geht dabei vor allem um Gegenstände unge­ klärter Herkunft, um mangelhafte Daten und das fehlende Wissen über ihre historischen Hintergründe.

The Nest Collective ko-kuratiert Unexpected Lessons, ein Projekt mit digitalen und analogen Diskussionsrunden, Vorträgen und künstlerischer Vermittlung zum Thema Dekolonisation von Wissen und Erinnerung, das im Juni 2021 zeitgleich in Berlin und Nairobi stattfindet. Das Thema der Restitution beschäftigt schon seit einer Weile die Öffentlichkeit. Regierungen und Institutionen wird vorgeworfen, den Rückgabeprozess durch politische und bürokratische Hürden unnötig zu verzögern. Diese Diskussion spiegelt sich auch im zunehmenden Widerstand einer europäischen Öffentlichkeit, die sich nicht länger mit der staatlichen Rechtfertigung öffentlicher Museen zufriedengeben will, die in ihren Sammlungen über Gegenstände geraubter Kunst verfügen. Ein Beispiel dafür ist das Humboldt Forum in Berlin, bei dem kurz vor der Eröffnung Kritik an der Ausstellung zahlreicher geraubter Objekte laut wurde. 1 Histor­ iker*innen und Antirassismus-Aktivist*innen in Deutschland verlangen von dem Museum eine Erklärung, wie Tausende von Statuen aus Bronze und Messing und Elfenbeinschnitzereien, die 1897 von britischen Soldaten aus dem Königspalast von Benin (dem heutigen Edo in Südnigeria) geraubt wurden, nach Europa gelangten.2 Obwohl die nigerianische Regierung die Rückkehr der sogenannten Benin-Bronzen gefordert hat, verbleiben sie weiterhin in Privatsammlungen und europäischen Museen wie dem British Museum in London, das für seine Weigerung, die rund 950 Benin-Bronzen zurückzu­geben, besonders scharf kritisiert wird.3 Im November 2020 haben französische Parla­men­ tarier*innen dafür votiert, 27 Objekte aus den Museen des Landes im Laufe des Jahres 2021 an Benin und Senegal zurückzugeben. Diese Entscheidung haben Njoki Ngumi und Jim Chuchu von The Nest Collective zum Anlass genommen, über den verstörenden Status quo der ungleichen Machtverteilung zwischen den Staaten zu sprechen – und die Möglichkeiten, ihn zu untergraben.

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NJOKI NGUMI  Ich bleibe immer wieder an der Formulierung des französischen Kulturministers hängen, die Rückgabe von 27 Objekten an Benin und Senegal, sei „kein Akt der Reue, sondern ein Akt der Freundschaft und des Vertrauens“.4 Nicht im Ernst, oder? JIM CHUCHU  Eine in der Tat irritierende Aussage. Wer kann für sich die Deutungshoheit über eine solche Geste beanspruchen? Hat die Empfängerseite überhaupt die Möglichkeit zu sagen: „Tut uns leid, aber wir sehen das anders?“ NN  Der globale Norden gibt die Terminologie vor, und alle anderen haben sich danach zu richten. Und wenn  sie das nicht tun, heißt es, sie würden einen Streit wegen bloßer Formulierungen vom Zaun brechen. Das entspricht genau der Sandkastenkönigsmentalität, die überhaupt erst dazu geführt hat, dass die Vorfahren dieser Leute anderen die Objekte weggenommen haben. JC Es macht mich wütend, dass die Regierungen von Benin und Senegal sich nicht gegen diese Aussage verwahrt haben, im Sinne von: „Sorry, damit kommt ihr nicht durch.“ Haben Afrikaner*innen vielleicht deshalb nicht das Recht offen zu reden, weil wir von neoliberalen Marktmechanismen abhängig sind? NN  Die Diskussion über Objekte verdeutlicht das offensichtliche Missverhältnis bei der Verteilung von Macht. Vor den Vereinten Nationen mögen wir uns als Gleichberechtigte fühlen, aber da immer noch der Globale Norden mit seinem Geld das Impfen unserer Kinder bezahlt und seine Finanzmittel in die afrikanische Landwirtschaft, Wasserversorgung, Gesundheit und Infrastruktur investiert, riskieren unsere Regierungen keine diplomatischen Dissonanzen wegen geraubter Gegenstände, weil sie sonst das ganze Haus, das die Herren Kolonialisten sich gezimmert haben, zum Einsturz brächten.5

JC Das enorme Interesse, das der Globale Norden an der Semantik dieser Austauschprozesse hat, ist geradezu obszön. Warum ist es ihm so wichtig, auch noch den Kampf um die Deutungshoheit zu gewinnen, wo die Machtverhältnisse zwischen ihm und uns ohnehin schon zu seinen Gunsten entschieden sind? Man könnte das entweder als kleinlich und rachsüchtig abtun oder als klares Zeichen dafür sehen, dass man sich der Macht bewusst ist, die in dieser Deutungshoheit steckt. Was hat das Wort „Freundschaft“ überhaupt in einem Austausch auf Basis einer Geschichte der Gewalt zu suchen? NN  Es ist geradezu absurd. Das erinnert mich an Familienfotos, auf denen die Leute lächeln sollen, obwohl sie stinksauer sind – nur damit man hinterher sagen kann, was für eine schöne Zeit man doch miteinander hatte. Fröhliche Gesichter, um alte Konflikte zu vertuschen. Wie das eben bei Familien und anderen Gemeinschaftsverhältnissen üblich ist, oder? JC In den vergangenen Monaten habe ich dir immer wieder gesagt, dass ich mir in der Frage der Restitution keinerlei Hoffnungen auf eine sinnstiftende Lösung mache. Wir arbeiten seit zwei Jahren an diesem IIP-­ Projekt und haben dabei vor allem etwas über die unzähligen technischen Fragen der Machbarkeit, über Erklärungen, Regeln und Gesetze gelernt, die der Rückgabe der Objekte entgegenstehen. Als Macron mit Aplomb eine Restitution verkündet hat,6 war ich sehr enttäuscht darüber, dass eine der ersten Reaktionen aus Afrika – von der französischen Presse genüsslich zitiert – die von Simon Njami war, dem Herausgeber des in Paris erscheinenden Kunstmagazins Revue Noire, der die Entscheidung als „albernes Versprechen, das nie über bloße Rhetorik hinausgehen würde“,7 bezeichnet hat. Bei allem Respekt für Simon – dieser Spruch war dermaßen zynisch und ließ keinerlei Spielraum für anderslautende Reak­ tionen auf Macrons Aussage. Es lief letztlich auf die Beibehaltung des Status quo hinaus. Wie soll es uns je gelingen, repressive Strukturen zu zerschlagen, wenn  wir unseren Pessimismus so überschwänglich in die Welt hinaustragen? Ist Zynismus die einzige Botschaft, die ältere Afrikaner*innen der jüngeren Generation mit auf den Weg geben können? NN  Wenn  wir uns lange genug mit sämtlichen fragwürdigen Strukturen beschäftigen – das haben uns diese beiden Jahre im IIP-Projekt gelehrt –, stoßen wir immer wieder auf dieselben Fehlfunktionen. Simons Zynismus würde komplexer daherkommen, denke ich, wenn  er seine Gedanken in einem breiteren Kontext erläutern würde, als es ein kurzes Zitat in der Presse hergibt, eben wegen der zahlreichen Unwägbarkeiten, von denen du sprichst. Das System war ja von vornherein als Einbahnstraße für diese Objekte konzipiert. Wenn es das ist, was er sagen wollte, hat Simon durchaus recht. Wir haben es hier mit vielen möglichen Wahrheiten zu tun, und seine, so qualvoll sie auch ist, ist eine davon. JC Du hast schon immer diese Position einer Pluralität koexistierender Wahrheiten vertreten – eine Idee, mit der ich Probleme habe. Am ehesten kann mich damit anfreunden, wenn  ich mir vorstelle, dass Wahrheiten nicht an den Rändern des Spektrums zu finden sind, sondern in der Gesamtheit dessen, was zwischen den Polen liegt. Im Fall der Restitution, um ein Beispiel zu nennen, geht es vielleicht weniger darum, ob die Objekte zurückkehren oder nicht, sondern um das dystopische Gemenge

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dazwischen – um diese Mischung aus Kompromiss und Feigheit der Institutionen, um die Auslöschung von Erinnerung und Geschichtsrevision. Zusammengenommen bildet all das die Wahrheit des Themas Objektrückgabe. Diese Gemengelage wird, fürchte ich, so bald keine sinnreiche Art der Objektrückgabe zulassen. Damit meine ich eine Form der Restitution, die mehr bedeutet als das Bewegen von Stücken aus altem Holz und Stein und Haut, die vielmehr die hinterlassenen Leerstellen und den durch den illegitimen Raub verursachten Schmerz eingesteht. In unserer Generation ist die Frage nach Resti­tution abstrakt, weil wir mit diesem Mangel aufgewachsen sind, während frühere Generationen, die Zeuge des Raubs ihrer Kultur wurden, das Problem nicht lösen konnten und es der nächsten und übernächsten Generation überlassen mussten. NN  Über binäre Gegensätze lassen sich komplexe Dinge vereinfacht darstellen. Und dieses Vorgehen bietet sich besonders für politische oder PR-Zwecke an. Aber das wahre Leben ist ein komplex gewobenes Netz, für das Simplifizierungen zu kurz greifen – mögen sie auch noch so verlockend sein. Ich glaube durchaus, dass eine sinnstiftende Art der Restitution möglich ist. Das wahrscheinlichere Resultat eines Engagements in dieser Sache wird allerdings nicht die vollständige Rückgabe der geraubten Gegenstände sein, sondern eher verschiedene Formen der Restitution einzelner Objekte durch unterschiedliche Leute. Das ist meine Hoffnung. Auf demselben dystopischen Büffet, auf dem dieses Gemenge aus Kompromiss und Feigheit serviert wird, steht noch eine weitere dystopische kulinarische Mischung: die optische Wahr­nehmung, der Erfolg der „Black Lives Matter“Bewegung, unterstützt von Menschen weißer Hautfarbe mit fragwürdigen Vorfahren und dem Wunsch nach Erlösung ihrer Seele. JC Ich danke dir für den Hinweis auf den Begriff der optischen Wahrnehmung zur Beschreibung dieser Situation. Eben hatten wir über semantische Verdrehungen gesprochen, wobei Semantik und Optik zur gleichen Familie gehören. Ich stehe mit der Befürchtung nicht allein da, dass wir in einer Welt leben, in der das Einzige, was bei Aktivismus herauskommt, unter die Begriffe Semantik und Optik fällt, und dass die wenigsten Bewegungen tatsächlich ihre Ziele auch nur ansatzweise erreichen.8 Stattdessen eignen sich die jeweiligen Unterdrücker*innen die Sprache, die Semantik und die Optik an, die es ihnen gestattet, mit einem Minimum an tatsächlicher Anpassung weiterzumachen wie bisher. Wir leben im Zeitalter der Optik. Wenn  – wie im obigen Beispiel – die unterdrückten Parteien (Minderheiten, Afrikaner*innen, People of Colour) diese Zuschreibung nicht ganz klar von sich weisen, wäre das dann nicht so, als würde man mit einem Buttermesser in eine Schlacht ziehen? NN  Diese Analogie gefällt mir. Wer sich diese Maßanzüge aus „Freundschaft und Vertrauen“ anzieht, sagt nichts anderes als: „Früher kamen wir mit Waffen, aber die haben wir jetzt zu Hause gelassen“. Sobald wir mit irgendetwas Schärferem als einem Buttermesser in den Diskurs gehen, sieht es so aus, als wären wir diejenigen, die einen Kampf anzetteln wollen. JC Erzähl mir ein bisschen mehr über dieses optimistische Gemenge. Welche Gesten kannst du in diesem Brei ausmachen? Denn  alles, was ich für die nächsten zehn, zwanzig Jahre voraussehen kann, sind weitere solcher

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„Freundschaftsgesten“ durch hochgradig unfreundliche Staaten. Ich erahne die Rückgabe eines winzigen Teils von Objekten im Rahmen von unhaltbaren Kreditabkommen, die den Staaten und ihren Institutionen erlauben, ein Schuldeingeständnis zu vermeiden. Diese semantischen Spielchen häufen sich dann über Jahre des Leugnens und des Revisionismus hinweg, in denen sie alternative Tat­sachen schaffen und die Geschichte neu schreiben.

8 Vgl. Nicole Rovine, Engage In Non-Optical Allyship For Black Lives Matter, in: The Cornell Daily Sun (7.6.2020), https://cornellsun.com/2020/06/07/engage-in-nonoptical-allyship-for-black-lives-matter.

JIM CHUCHU, Geschäftsführer des The Nest Collective, ist Filmemacher, Musiker und bildender Künstler. Seine

NN  Du hast recht – auch wenn  es nicht hundertprozentig sicher ist, dass es dazu kommt. Wir sollten noch Raum für eine Wahrheit lassen, die wir noch nicht genau ausloten können. Die Vorstellung, dass afrikanische Staaten jemals unabhängig werden konnten, schien so lange absurd, bis die Kolonialist*innen auf ihren Schiffen und Flugzeugen den Heimweg antraten – für damalige Zyniker*innen ein unfassbarer Vorgang. Außerdem haben wir noch nicht die Möglichkeit berücksichtigt, dass die einstigen Kolonialmächte des Globalen Nordens irgendwann des immensen Gewichts ihrer selbstauferlegten Pflichten als Hüter eines „universellen Wissens“ müde werden – selbst wenn  sie derzeit der Rea­lität einer vielfältigen Welt, in der diverses Wissen sich gleichberechtigt und unhierarchisch miteinander verbindet, nichts abgewinnen können, sofern sie sie überhaupt wahrnehmen. JC Die Kolonialmächte? Müde? Von wegen! NN  Griechenland ist untergegangen. Rom ist unter­ gegangen. Sie wurden zu groß, zu schwerfällig und unbe­rechenbar. JC Gut, lassen wir das als Hoffnung am Horizont stehen. Die Vorstellung, dass die Objekte zurückkehren, wenn den Kolonialmächten die Kraft ausgeht.

Fotografien und künstlerischen Arbeiten wurden auf der ganzen Welt ausgestellt. Seine serielle Videoarbeit Invocations ist Teil der Sammlung des Smithsonian National Museum of African Art in Washington. Nach der Gründung von The Nest Collective war er in den Jahren 2012 bis 2019 für die Inszenierung der Film- sowie die Produktion der Musikprojekte des Kollektivs verant­w ortlich. Er leitet die strategische Planung und Programmgestaltung. NJOKI NGUMI, Künstlerin, Schriftstellerin und femi­n i­s tische Theoretikerin, war im privaten und öffentlichen Gesundheitswesen Kenias tätig. Als Gründungsmitglied von The Nest Collective war sie Co-Autorin, Drehbuchautorin und Drehbuch-Supervisorin für mehrere Filmprojekte, derzeit ist sie Co-Regisseurin von The Feminine and The Foreign. Sie begleitet und begutachtet die Postproduktion sowie den strategischen und wissenschaftlichen Output von The Nest Collective, koordiniert externe Kooperationsprojekte und leitet inhaltlich wie strategisch die Programmplanung des Schwester­ unternehmens HEVA.

NN  Vielleicht. Und manche werden den Anfang machen, möglicherweise noch in dieser Generation. Aus dem Englischen von Karin Betz

1 Vgl. Kat Brown, The Humboldt Forum in Berlin. Finally (Almost) Ready for the Public, Wears Germany’s History Like a Crown of Thorns, in: Artnet News (11.12. 2020), https://news.artnet.com/opinion/humboldt-forumwalkthrough-193072. 2 Vgl. Hakim Bishara, Artists and Cultural Workers Oppose Humboldt Forum Opening, Citing Colonial Ties, in: Hyperallergic (16.12.2020), https://hyperallergic. com/609318/humboldt-forum. 3 Vgl. Funmi Adebayo, Nigeria’s Benin Bronzes. It’s not the place of the British to decide their fate, in: The Africa Report (24.9.2020), https://www.theafricareport. com/42855/nigerias-benin-bronzes-its-not-the-placeof-the-british-to-decide-their-fate. 4 Claire Selvin, France Will Return Objects to Senegal and Benin Within a Year, in: ArtNews (5.11.2020), https:// www.artnews.com/art-news/news/france-benin-senegal-restitution-1234575902. 5 Vgl. EU to provide 20 billion euros for Africa and Latin America to fight coronavirus, Reuters (8.4.2020), https://www.reuters.com/article/us-healthcoronavirus­- eu-aid-idUSKCN21Q2JI. 6 Vgl. Vincent Noce, „Give Africa its art back“, Macron’s report says, in: The Art Newspaper (20.11.2018), https:// www.theartnewspaper.com/news/give-africa-its-artback-macron-s-report-says. 7 Lynsey Chutel, France will have to change its laws to return its looted African art, in: Quartz Africa (22.11.2018), https://qz.com/africa/1473023/france-should-returnlooted-african-artifacts-says-report.

UNEXPECTED LESSONS – DECOLONIZING MEMORY AND KNOWLEDGE 11. /12. Juni 2021 Die performative Konferenz befasst sich künstlerisch und wissenschaftlich mit der Dekolonisierung von Erinnerung und Wissen, mit Afrikanischer Philosophie und dekolonialen Sammlungs- und Vermittlungsstrategien in Museen. Die Talks, Vorträge, Filme und künstlerischen Interventionen finden parallel in der Akademie der Künste, Berlin, in Nairobi und digital statt. Teilnehmende sind Memory Biwa, Nathalie Angeuzomo Mba Bikoro, Syowia Kyambi, El Hadji Malick Ndiaye, Felwine Sarr, Bénédicte Savoy u. a. Kuratorinnen Berlin: Mahret Ifeoma Kupka und Isabel Raabe; Kurator*innen Nairobi: The Nest (Jim Chuchu und Njoki Ngumi), Chao Tayiana Eine Veranstaltung im Rahmen des TALKING OBJECTS LAB, www.talkingobjectslab.org.


ARBEIT AM GEDÄCHTNIS – TRANSFORMING ARCHIVES

6.–9. MAI + 6./7. AUGUST 2021 KONZERTE, INSTALLATIONEN, AUDIO WALKS, SYMPOSIUM (DIGITAL & OUTDOOR & INDOOR) Matti Aikio/Katarina Barruk/Maja S. K. Ratkje, Panos Aprahamian, Carola Bauckholt, Dániel Péter Biró, Annesley Black, Tony Buck, Tony Elieh, Ensemble Adapter, ensemble mosaik, Carlos Gutierrez/ECOEIN, Leopold Hurt, Thomas Kessler, Aya Metwalli, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Silvia Ocougne, Samir Odeh-Tamimi, Petros Ovsepyan, Kirsten Reese, Youmna Saba, Marco Scarassatti, Annette Schmucki, Walter Smetak, Livio Tragtenberg, Guilherme Vaz, Erkki Veltheim, Sabine Vogel, Ute Wassermann, Daniel Wilfred, Raed Yassin, Cynthia Zaven, Walter Zimmermann, u. a. Ein Festival der Sektion Musik der Akademie der Künste Künstlerische Leitung: Julia Gerlach, in Zusammenarbeit mit Samir Odeh-Tamimi und Walter Zimmermann

MEMORIES IN MUSIC EINE BEFRAGUNG EUROPÄISCHER GRENZEN UND SEHNSÜCHTE Musik und Klang speichern und vermitteln Erinnerungen von Erfahrungen, Wirklichkeiten, Geschichte, Kultur. Sie migrieren mit Menschen und bilden mit anderen Musiken Verflechtungsgeschichten aus. In Sammlungen, Archiven oder eben Kompositionen werden sie neu verortet, entflochten, gewichtet, festgehalten oder politisiert. In diesem Sinne wirken Komponist*innen und Musiker*innen über ihre musikalischen Arbeiten an Geschichtsschreibung, Erinnerungskultur und gesellschaftlicher Transformation mit, über­ winden ästhetische Grenzen und schlagen neue Deutungen vor. Der libanesische Komponist, Musiker und Künstler Raed Yassin reflektiert in seiner Vortrags-Performance Time Tuning ausgehend von einer legendären Aufführung der Komposition Stimmung von Karlheinz Stockhausen 1969 in der Jeita-Grotte im Libanon über Erinnerung, Echo, Kosmos und Zeitreisen (aufgeführt im November 2019 zum 40-jährigen Jubiläum des Stockhausen-Jeita-­ Konzertes in der Akademie der Künste). Für das Festival Memories in Music der Sektion Musik der Akademie der Künste entwickelte er nun ein weiteres Werk, in dessen Zentrum ein Erin­nerungsstück steht: hier die seltene Aufnahme einer weiblichen Koran-Rezitatorin aus den 1970er Jahren, die er auf einem Flohmarkt im syrischen Aleppo als Schallplatte gefunden hatte. A Short Biography of a

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Snake für die sechs nicht-arabischsprechenden Stimmen der Neuen Vocalsolisten Stuttgart und ihn selbst als Elektroniker ist der Rezitatorin Sheikha Fatima Mhanna gewidmet – und der zerstörten Stadt. Das Stück ist Teil der mehrjährigen europäischen Koproduktion Voice Affairs, in der sieben Kompositionen die Stimme und den Kulturraum Libanon als Dialog arabischer und europäischer Musik in den Blick nehmen. Neben Raed Yassin sind in dieses Projekt involviert: Panos Aprahamian (Film), Dániel Péter Biró, Manolis Manousakis, Aya Metwalli, Samir Odeh-Tamimi, Youmna Saba und Cynthia Zaven (Komposition). Das Konzert ist für den 6. August 2021 geplant. Komponist und Akademiemitglied Walter Zimmermann ist mit vier Werken an dem Festival Memories in Music der Sektion Musik der Akademie der Künste, Berlin, beteiligt. Das ensemble mosaik spielt am 7. August 2021 Parasit/Paraklet (1995/2009), Ga’s (1976), Das Gras der Kindheit (2010) und Dit (1999). Außerdem zeigen wir in der als begehbares Programmbuch konzipierten Ausstellung Skizzen und Autografe von Zimmermann aus dem Archiv der Akademie der Künste und zeichnen mit der Auswahl Zimmermanns Erinnerungsarbeit nach.

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ARBEIT AM GEDÄCHTNIS – TRANSFORMING ARCHIVES Karlheinz Stockhausen, Stimmung, Jeita-Grotte, Libanon, 1969

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TIME TUNING / ZEIT-STIMMUNG EINE VORTRAGS-PERFORMANCE VON RAED YASSIN Wir schreiben den Sommer 1969. Ein Mann ist auf dem Mond gelandet. Es heißt, als der Astronaut Neil Armstrong den Fuß auf dessen Oberfläche setzte, soll er ein Echo von irgendwo aus dem Weltraum gehört haben. Ein Echo ist eine Schallreflexion, die das Ohr des Hörers mit Verspätung erreicht. Seine Eigenschaften hängen stark vom Zusammenspiel des Raums und der Oberflächen ab, die den Schall zurückwerfen. Wo also entstand dieser Klang, der im Weltraum zu hören war? Und wie konnte er in genau diesem Augenblick an Armstrongs Ohr dringen? Einige islamische Gelehrte haben die Theorie aufgestellt, dass er den Adhān gehört habe, den muslimischen Gebetsruf, der von fernher widerhallte. Als Armstrong viele Jahre nach seinem Mondflug Ägypten besuchte, erzählte er einem Freund, er habe das gleiche im All gehört, worauf der Freund ihm erklärte, dies sei der tägliche Ruf zum Gebet. Es geht das Gerücht, dass Arm­ strong daraufhin zum Islam konvertierte, aber das ist niemals von unabhängiger Seite verifiziert worden. In jenem Jahr, 1969, fand ein weiteres kosmisches Ereignis statt – im Libanon. Ein Mann der Musik, der von sich behauptete, nicht von der Erde, sondern vom fernen Stern Sirius zu stammen, reiste zum Berg Libanon, zur Tropfsteinhöhle von Jeita, wo er einen anderen pla-

netarischen Klang erzeugte. „Wenn möglich, würde ich gern alles über das Universum wissen“, verkündete er einmal. „Es gibt keinen Unterschied zwischen musikalischer Komposition und dem Nachdenken über die Sterne und das Wirken des Universums.“ Dieser Mann hieß Karlheinz Stockhausen, ein deutscher Komponist, einer der einflussreichsten und kontroversesten des vergangenen Jahrhunderts. Er war als kosmischer Mystiker bekannt, wird für seine bahnbrechenden Werke der elektronischen Musik verehrt, für den Einsatz des kontrollierten Zufalls in der seriellen Komposition, für die Verräumlichung der Musik. Tatsächlich spielte der Raum eine große Rolle in seinem Werk, in dem er mithilfe eigens angefertigter mechanischer Instrumente den Klang auf immer spektakulärere Weise im Raum verteilte. Die Grotte von Jeita jedoch bot ihm eine bessere Alternative als alle Maschinen. Das natürliche Echo, das dort entstand, erzeugte ein magisches akustisches Erlebnis, vielleicht sogar ein jenseitiges. „An diese Zeit in den Höhlen im Libanon hat er sich immer sehr gern erinnert“, verriet mir seine Mitstreiterin Kathinka Pasveer einmal. Die Stalaktiten, die in Jeita von der Höhlendecke herabhängen, haben sich über Millionen von Jahren gebildet und sind die größten ihrer Art auf dem Planeten Erde. Sie bilden ein transzendentes Klanggehege, einen göttlichen Hallapparat, einen wundersamen Geräuschre­ flektor, eine erhabene Echokammer. Sicherlich war es dieses Echo, das Stockhausens Augen und Ohren fesselte. Konnte Musik zur Vision ihrer selbst werden? Er bekam es nicht zu fassen. Sein Hirn verstand, wie Musik wissenschaftlich und logisch funktionierte, doch in der Grotte von Jeita wurde sie zu etwas anderem. Durch Klang zum Schwingen gebracht, verwandelte die Höhle sich in ein göttliches Wesen, einen heiligen Raum – anbetungswürdig. Dem kosmischen Geist Stockhausens erschien sie wie ein Fragment des Weltraums im Bauch der Erde. Ähnelte dies dem Echo, das Armstrong auf dem Mond hörte? Sprang es von Ort zu Ort, durch Zeit und Raum, um mit längerer Verzögerung in Stockhausens Gehörgang zu landen? Woher kam diese wehende, kaleidoskopisch widerhallende Stimme? Konnte die Höhle von Jeita diesen Klang einen kurzen Moment lang einfangen und Stockhausen einen Splitter des Göttlichen offenbaren? Einiges deutet auf die besondere Beziehung von Höhlen zum Erhabenen hin. Auch der Prophet Mohammed erhielt seine göttliche Offenbarung durch den Erzengel Gabriel in einer Höhle, in der ġār al-ḥirāʾ in Ta’if im Süden der arabischen Halbinsel. Die Stimme des Engels diktierte Mohammed die Prophezeiung mithilfe von Klang. Dieser


2. v. l. Dagmar Apel, 4. v. l. Gaby Rodens (Mitglieder des Collegium Vocale Köln)


Klang muss als Echo von den Höhlenwänden zurück­ geworfen worden sein, wodurch die Botschaft die allerhöchste Pracht und Schönheit erhielt, die der Menschheit je zuteilwurde. Denn das Wort des Islam soll eigentlich nicht auf Papier niedergeschrieben werden, sondern laut rezitiert, gesungen werden, im Raum, es soll unendlich in die Umgebung schallen. Das Gebet (be)trifft in erster Linie die Ohren und manifestiert sich dann als audiovisuelle Erfahrung im Geist der Gläubigen. Es muss ein spirituelles akustisches Echo erzeugt haben. Und vielleicht ist dieses spirituelle Echo aus der Höhle im 7. Jahrhundert hinaus in die Lüfte gestiegen, in den Weltraum, wurde irgendwann von einem Schwarzen Loch verschluckt, in Dunkle Materie verwandelt und erwarb so die Fähigkeit, immer wieder durch die Zeit zu hallen. Unter den richtigen Bedingungen ließ es sich wieder­ holen, wieder rezitieren, wieder hören. Das Echo war die Manifestation eines Risses im Raum­­-Zeit­-Kontinuum. Dies war einer der Gründe, warum Stockhausen beschloss, dass er in der Höhle ein Vokalwerk aufführen würde. Vielleicht offenbarte ihm das Echo auf seiner Reise durch die Zeit diese Wahl durch das Wirken des Schicksals. Wie bei Armstrong kündete das Echo der Prophezeiung in diesem konkreten Augenblick von seiner Gegenwart. Er und seine Mitstreiter nannten das Stück ­STIMMUNG, ein Vokalstück für sechs Stimmen, das Stockhausen als zeitgenössisches Gebet in der Höhle betrachtete. Das Wort Stimmung hat im Deutschen verschiedene Bedeutungen – es kann die Relation der Töne eines Instrumentes bezeichnen oder eine Gemütsverfassung. Es ist die Nominalform des Verbs stimmen, was wiederum „richtig, korrekt sein“ bedeuten kann oder „ein Instrument auf die richtige Tonhöhe einstellen“; beides ist verwandt mit dem Wort Stimme. Der Titel bezieht sich also nicht nur auf die Töne und Harmonien von Instrumenten oder Gesang, sondern auch auf die innere Verfassung der Seele. Vielleicht wollte Stockhausen damit hier im Libanon auch eine Zeitstimmung bezeichnen, eine Harmonisierung des Raums (und der Räume), des göttlichen Echos, das er in der Höhle vernommen hatte. Das Echo aus dem Weltraum. Wie bei einer religiösen Litanei, mit dem das Publikum zum Ritual willkommen geheißen werden soll, beginnen die Vokalisten mit einem einstimmig gesummten B, dem grundlegenden Kern des Stücks, um den herum ein ganzes Kaleidoskop an Obertönen glitzert. In jedem der insgesamt 51 Teile wird eine neue Oberton­ melodie, ein sogenanntes „Modell“ vorgestellt und mehr­ fach wiederholt. Jede weibliche Stimme führt acht Mal einen neuen Abschnitt ein, jede männliche Stimme neun Mal. Manche der anderen Sänger und Sängerinnen m ­ üssen ihr eigenes Material so weit transformieren, bis sie „Identität“ mit der Leitstimme erreicht haben, also das gleiche Tempo, den gleichen Rhythmus, die gleiche Dynamik. Wenn die Leitstimme meint, diese „Identität“ sei erreicht, teilt er oder sie es einer anderen Stimme durch eine Geste mit, und diese beginnt dann den nächsten Abschnitt. Jedes Modell ist eine Reihe rhythmisch-phonetischer Muster, die oft auf tatsächlichen Worten basieren. Das Wichtigste jedoch: In 29 dieser Abschnitte w ­ erden „magische Namen“ aufgerufen. Es sind die Namen von Göttern und Göttinnen oder Gebete und Anrufungen. Eines davon war zur großen Überraschung des einheimischen Publikums as-salāmu ʿalaikum, der islamische Gruß „Friede sei mit euch“.

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Die Aufführung war Teil eines viertägigen Musikfestivals, das Sami Karkabi in Jeita in Libanon organisiert hatte – im Jahr der Mondlandung, 1969. Bezahlt vom libanesischen Fremdenverkehrsbüro in Frankfurt und dem office de tourisme in Paris flog Stockhausen mit seinem Kölner Vokalensemble nach Beirut. Prominente Musiker und Komponisten wie Vinko Globokar, Péter Eötvös und Michael Vetter begleiteten ihn ebenfalls. Auch ein franzö­ sisches Dokumentarfilmteam war dabei, dazu die surrealistischen Künstler Max Ernst und André Masson sowie viele andere Kulturschaffende. Alle kamen in den Libanon, um das Zusammenwirken dieses akustischen Spektakels mit der natürlichen Umgebung zu erleben. Genau fünfzig Jahre später spüre ich noch ständig den Nachhall dieses monumentalen Ereignisses. Wie vom Schicksal gelenkt recherchierte ich vor fünf Jahren zu Stockhausens Werken, die im Zusammenhang mit Jeita standen, bekam dafür Zugang zu seinem Archiv in Kürten in der Eifel und traf seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Stockhausen-Stiftung ist normalerweise sehr zurückhaltend, wenn es um Informationen für Außenstehende geht, doch als man hörte, dass ich zu den Aufführungen in der libanesischen Höhle forschte, wurde man sehr viel offener. Die Videoaufnahmen, Fotos, Tonaufnahmen, Dokumente und Interviews, die man mir zur Verfügung stellte, brachten mir das Ereignis höchst lebendig nahe. Es war fast, als wäre ich dabei gewesen. Ich konnte es fühlen, es sehen und vor allem hören. Das göttliche Echo flüsterte in meine Ohren. Es rief nach mir. Vielleicht hatte ich Halluzinationen oder akustische Visionen, doch ich spürte den tiefen Drang, mit diesem Echo zu kommunizieren. Zu mir kommt es jedoch nicht in Form von Worten oder Melodien, eher als eine abstrakte Sammlung von Stimmen und Klängen, wie eine Offenbar­ung von anderswo, von einem sehr fernen Ort, der nicht hier ist. Aber der Dialog, den ich mit ihm führe, ist letztlich innerlich, isoliert, wie das Innere einer Höhle. Abgeschieden von weltlichen Ablenkungen klingt jene ewige „Stimmung“ rein und allumfassend durch meine Seele, und ich kann noch keine angemessenen Worte finden, sie zu beschreiben. Neulich habe ich mir eine deutsche Fernsehserie mit dem Titel Dark angeschaut, in welcher die Protagonisten immer wieder eine Höhle betreten, in der sich ein Portal für Zeitreisen verbirgt. Das funktioniert so, dass bestimmte Zeitschleifen (eine Spanne von 33 Jahren) Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verbinden. Die Figuren reisen zurück in die Jahre 1986, 1953, 1920 und wieder zurück in die Gegenwart des Jahres 2019. Sie bleiben in der Vergangenheit stecken, sterben, erwachen wieder zum Leben. Sie treffen sich selbst als alte oder junge Menschen, Traumata werden verstärkt oder kompliziert, der schicksalhafte Riss in der Zeit führt zu Verheerungen. Genauer gesagt: der Riss in der Höhle. In dieser Höhle verbirgt sich eine Kraft, die sich jeglicher Kontrolle entzieht, die Folge eines Atomunfalls, ein abstraktes „Wesen“, das brodelt und oszilliert, beinahe wie eine visuelle Darstellung des Klangs an sich, und allen, die die Höhle betreten, ergeht es so: Sie können ihrem Schicksal nicht entrinnen. Doch wenn dies nun gar keine Fiktion ist? Wenn diese 50-jährige Zeitschleife ein akustisches Echo erzeugt, das ich von Stockhausen empfange, so wie er es von Arm­strong im Weltraum hörte? Was, wenn wir alle irgendwie verbunden sind, um ein bestimmtes Schicksal zu erfüllen? Das Schicksal, dieses göttliche Echo noch einmal zu erzeugen?

Neil Armstrong war vierzig Jahre alt, als er auf dem Mond landete, Stockhausen war vierzig Jahre alt, als er nach Jeita kam. Ich zog mit vierzig Jahren nach Deutschland. Gottes Botschaft offenbarte sich dem Propheten Mohammed, als er vierzig Jahre alt war. Es gibt ein Echo, das wir alle gehört haben. Ein heiliger Widerhall aus einer anderen Welt, aus dem Weltall, aus dem Göttlichen. Ich kann nicht sagen, ob es eine göttliche Botschaft ist oder ein Stück Dunkle Materie aus einem Schwarzen Loch, das hierher kam, ehe Menschen existierten, oder das grollende Brodeln der Sonne, das man überall auf der Welt bei Funkübertragungen hörte und das Wissenschaftler jahrzehntelang vor Rätsel gestellt hat. Doch ich glaube, dass es ein heiliges Mantra des Abstrakten ist, das die ganze Aufmerksamkeit unserer Ohren verlangt und, was noch wichtiger ist, die Aufmerksamkeit unserer Seelen. Dieses Echo werde ich heute für Sie reproduzieren, so wie ich es in Erinnerung habe, so wie es mir im Gedächtnis geblieben ist. Vielleicht können wir, wenn wir diesen Klang reproduzieren, die Kräfte des Universums anrufen und dazu bringen, ein neues Zeitportal zu öffnen und den Hall des Göttlichen an unser Ohr dringen zu lassen. Wir können annehmen, heute sei so etwas wie Lailat al-Qadr – die Nacht der Bestimmung, die Nacht der Allmacht, die Nacht des Wertes, die Nacht des Schicksals oder die Nacht des Maßes. Es ist die Nacht, in welcher der Prophet Gottes Offenbarung in der Höhle empfängt. Niemand weiß genau, welche Nacht es ist: die 19., die 21., die 23. oder die 27. Nacht. Doch es könnte die Nacht gewesen sein, in der das spirituelle Echo zu ihm sprach, und zu dem Astronauten im All, und zu dem Musiker vom Sirius, der in die Grotte trat. Vielleicht versetzt dieser Klang uns in die Lage, eine andere Zeitebene zu erreichen. Übersetzung aus dem Englischen von Ingo Herzke

RAED YASSIN (*1979 in Beirut) lebt und arbeitet in Beirut und Berlin. Als Künstler und Musiker setzt er in seinen Werken häufig bei einer Inspektion seiner persönlichen Geschichte(n) und ihrer Position innerhalb einer kollektiven Historie – in Zeiten von Konsumkultur und Massen­ produktion – an. Er hat vielfach in Museen ausgestellt und ist bei diversen Festivals aufgetreten, u. a. in den letzten Jahren beim Borderline Festival (2019), bei Maerzmusik (2018) und am Solomon R. Guggenheim Museum (2016). Zudem hat er verschiedene Alben veröffentlicht und 2009 die Produktions­f irma Annihaya gegründet.


ARBEIT AM GEDÄCHTNIS – TRANSFORMING ARCHIVES

ZUSAMMENBAUEN, ZERLEGEN, UNTERSUCHEN, TRANSFORMIEREN,

WALTER ZIMMERMANNS FORSCHENDE WELTWAHRNEHMUNG Julia Gerlach

Detailansichten aus: Walter Zimmermann, Lokale Musik, Beginner Press, Köln 1981

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Der Komponist Walter Zimmermann steht exemplarisch für die thematische Ausrichtung von Memories in Music. Sein Denken, seine Schriften und eben vor allem seine Kompositionen sind durchdrungen von einer forschenden Weltwahrnehmung und -analyse, sei diese gerichtet auf philosophische oder soziologische Theorien, Landschaften oder Dörfer, lokale Musiken oder Avantgardepraktiken. Die durchwanderten Welten schimmern nach einem intensiven, lustvollen und skizzenreichen Arbeitsprozess – wie er ihn bereits für seine frühe Komposition Akkord-Arbeit (1972) mit den Worten „zusammenbauen, zerlegen, untersuchen, transformieren“ 1 beschrieben hat – als zweite Natur in der neu komponierten Musik durch. „Vielmehr dringt die Naturdarstellung in sehr tiefe Schichten des Kompositionsprozesses ein. Sie zeigt auch nicht ihre Oberfläche, sondern ihre mehr verborgene Beschaffenheit.“2 Zimmermann nimmt eine Mittlerfunktion ein, unterzieht das ausgewählte beobachtete (Natur-)Material, das zeitgeschichtliche Dokument oder die charakteristische musikalische Praxis einem Prozess der Neu-Kontextualisierung. Die entstehende Komposition wird zum Speicher für diese

Materialien und die mit ihnen geführte Geschichte und Welterfahrung, der Prozess ist Arbeit am Gedächtnis. Bekannt geworden ist Zimmermann mit seiner Werk­ reihe Lokale Musik (1977–1981), die ihn zunächst zurückführte in seine Herkunftsregion in Franken, wo er sich mit der spezifischen Volksmusik, aber ebenso auch mit der sich verändernden Landschaft und der geologischen Topografie der Region befasste, daraus Strukturen extra­ hierte und in Musik transformierte. Die Tanzrhythmen der Ländler, die aus den Kompositionen hervorscheinen, stießen zunächst in den ersten Jahren auf KollegenHäme, da sie vorurteilsvoll als ungebrochener Ausdruck von Nationalismen aufgefasst wurden – das Rhythmusund Harmonieverbot saß tief. Zimmermann kommentiert rückblickend: „In ‚Lokale Musik‘ geht es genau um die Auflösung dieser dämonischen Züge, die Volksmusik als nationales Manifest haben kann, genau das habe ich aufgebrochen. Sie haben das synthetisch gehört, sie haben dieses Raue der Oberfläche oder das Zerbrechliche, das in das Ätherische Entweichende dieser sonst so bärbeißigen Melodien nicht akzeptiert.“3

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Das Lokale interessierte Zimmermann nicht nur in der eigenen Heimat, er erforschte in Projekten wie Insel Musik (1976) oder der Werkreihe Randonnée (1995–1999) auch andere lokale Kulturpraktiken und suchte bereits seit den 1970er Jahren nach Begegnungen mit Wissensund Musikformen indigener Gesellschaften. Auf seinen umfänglichen Reisen protokollierte er seine Gedanken in Sprachaufnahmen beim Autofahren,4 nahm Musiken oder Gespräche mit deren Urheberinnen und Urhebern auf, wie den Hirtengesang in der ägyptischen Oase Siwa, der in die oszillierende Komposition Ga’s (1976) für Tonband und Oboe Eingang fand, eigentlich eine phonologische Transkription, in der der Musiker die Tonband­melodie haarscharf „mitspielt“. Zimmermann interviewte auch zahlreiche US-amerikanische Avantgarde-­Komponisten5 und den Native American Pat Kennedy. Oder er ließ sich in Guatemala indigene Instrumente und den die Kolonisatoren verballhornenden Tanz „Baile de la Conquista“ erklären und schrieb beides in die gleichnamige Komposition (1996) ein, wie auch das komplexe Muster im Fries des präkolumbianischen Palastbaus Mitla, die Gebirgslinie der Anden und die Massaker an Indigenen – um sich

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am Ende der Partitur zu fragen, ob die Mitnahme von Instrumenten nicht selbst ein kolonialistischer Akt ist. Die Rolle des Europäers und das Universale im Lokalen ­werden in den Werken mitreflektiert, auch dadurch, dass Zimmermann als subjektiver Beobachter, als Protokollant der eigenen Erfahrung immer kenntlich und authentisch bleibt. Zur Werkreihe Randonnée, die Zimmermann Orten des Unrechts widmete, gehören neben Baile de la Conquista (1996) auch die Kompositionen Parasit/Paraklet (1995), die Bezug nimmt auf die Kriege im ehemaligen Jugo­sla­ wien, und Nordwest-Passage (1995), die sich mit gescheiterten Expeditionen in der Arktisregion beschäftigt. Bei den zwei letzteren bildeten wiederum Karten der Regionen und darauf eingezeichnete Orte historischer Ereignisse die Folie für die Kompositionen. 2019 griff Zimmermann seine Arbeit mit Karten nochmals auf. Die von Patrizia Bach online gestellte Zeichnung einer ParisKarte,6 in die sie die im Passagen-Werk von Walter Benjamin erstellten Symbole „ennui“ etc. bei den jeweiligen Fundstellen auf der Karte eingetragen hatte, wurden zum Ausgangspunkt für die musikalische Ausarbeitung

­ eg­weiser (2019) im Stil der Valse Musette. Entstanden W ist hier eine dreistufige Erinnerungsarbeit, von Walter Benjamin über Patrizia Bach zu Walter Zimmermann, die den transformativen Charakter und gleichzeitig die Poetik des Erinnerns ausdrückt.

1 Gedächtnisschwund und Kritikfähigkeit. Walter Zimmermann im Gespräch über die Achtundsechziger mit Werner Klüppelholz, in: Musiktexte 165 (2020), S. 55, fortan Zimmermann 2020. 2 Albert Beier, Walter Zimmermann. Nomade in den Zeiten, Hofheim 2014, S. 97. 3 Zimmermann 2020, S. 59. 4 Walter Zimmermann, Continental Divide, in: ders., Insel Musik, Köln 1981, S. 156–165 (http://beginnerpress.de/schriften-writings/continental-divide). 5 Erschienen in: Walter Zimmermann, Desert Plants, Vancouver 1976, Neuauflage Köln 2020. 6 Patrizia Bach, Walter Benjamin Paris-Stadtplan, 2012–2017.

JULIA GERLACH ist Sekretär der Sektion Musik der Akademie der Künste.


←   Walter Zimmermann, Baile de la Conquista, Skizze zum 1. Satz „Mitla“, 1996 →  Walter Zimmermann, Wegweiser, 2019 ↓ Walter Zimmermann, Wegweiser, 2019 unter Verwendung von Patrizia Bachs Arbeit Walter Benjamin Paris-Stadtplan, Blei- und Farbstift, Fineliner auf Papier, 2012–2017, ca. 100 × 150 cm, einzusehen unter https://patriziabach. de/Projekte/Walter-Benjamin-Passagen/Paris/.


NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCK BERLIN 1977 – EINE „BILDERGESCHICHTE“ VON WERNER DÜTTMANN Sibylle Hoiman

Im Nachlass des Architekten Werner Düttmann (1921– 1983) befindet sich eine ungewöhnliche Zeichnung, deren Entstehungsgeschichte bisher unbekannt war. Das A3-Blatt enthält zwölf nummerierte Felder, die kleine Skizzen zeigen. Gestrichelte Linien trennen die zwölf Bilder in vier Spalten und weisen konträr zur Nummerierung auf eine vertikale Leserichtung hin. Feld 1 zeigt ein männliches Porträt, die eine Hand nachdenklich zum Kopf führt; nachfolgend sind Grundrisse, Außenansichten und Innenräume zu sehen. Lediglich das fünfte Feld bleibt frei – eine rätselhafte Lücke in dem vor uns liegenden Storyboard. Aber welche Geschichte wird hier erzählt, für wen ist sie gedacht und in welchem Zusammenhang ist sie entstanden? Der Zeichenstil Düttmanns, seine rasche, aber kraftvolle Linienführung, ist unverkennbar. Zunächst gibt er sein eigenes Konterfei im Feld 1 wieder, wir kennen die dickrandige Brille von Fotografien, gefolgt von einer ­Auswahl seiner Bauten: Die Nr. 2 stellt das BrückeMuseum (1966) inmitten hoher Kiefern dar, 2a dessen eindeutig zu erkennenden Grundriss, 3 eine dortige Innenansicht. Nr. 4 zeigt den Blick in eine Kirche, auch hier gibt der Grundriss preis, dass es sich um St. Agnes in Kreuzberg (1966) handelt. In Nr. 6 und 7 ist das Akademiegebäude am Hanseatenweg (1960) abgebildet und in Nr. 8 ein orthogonaler Einblick in den großen Speisesaal der Mensa der TU Berlin (1966). Es folgen das Ku’damm-Eck (1972) mit der Nr. 9, der Kreuzberger Mehringplatz (1977) als Nr. 10 und 11 mit 11a sowie schließlich Nr. 12: St. Martin im Märkischen Viertel (1973). Die Grundrisse werden außer beim Mehringplatz immer mitgeliefert, hier sehen wir dafür eine Vogelschau nach Norden Richtung Friedrichstraße und damit einen Überblick über die städtische Szenerie. Eine chronologische Anordnung der hier vorgestellten, im Zeitraum von 17 Jahren realisierten Architekturen wurde offenbar nicht angestrebt, eine typologische Reihung ist zunächst ebenso wenig erkennbar wie eine

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topografische. Zwar handelt es sich ausschließlich um Berliner Bauten des Architekten, jedoch baute Werner Düttmann ohnehin überwiegend in seiner Heimatstadt. Folgen die Bauten also frei und ungeordnet aufeinander? Düttmann selbst hat einmal Peter Pfankuchs Akademie-Katalog zu den Bauten von Hans Scharoun lobend hervorgehoben, denn er habe diese in „eine Ordnung gebracht, die nicht einfach der Chronologie folgt oder, ein anderes ebenso beliebtes wie stupides Ordnungsmittel, die Werke nach der Bauaufgabe sortiert vorzeigt. Er hat die Sinn-Zusammenhänge hergestellt.“ Der Sinnzusammenhang ergibt sich auch hier erst aus dem Kontext, in dem unser fragliches Blatt entstanden ist: Es wurde von Düttmann als Layoutvorlage für eine Broschüre angefertigt, die sich an anderer Stelle in seinem Nachlass erhalten hat. Ohne Impressum oder sonstige verlegerische Angaben, gesetzt in der Helvetica, trägt das schmale Heft lediglich seinen Titel, Ort und Datum: W. DÜTTMANN G. HEINRICHS P. J. KLEIHUES H. CH. MÜLLER J. J. SAWADE O. M. UNGERS BERLIN 1977. Unvermittelt startet es mit Düttmanns Beitrag als Abfolge von Schwarz-Weiß-Fotografien in der aus der Zeichnung bereits bekannten Reihenfolge seines Porträts und seiner Bauten – nun ohne Nummerierung. Das in der Vorlage rätselhafte, leer gebliebene Feld beinhaltet einen kurzen Lebenslauf des Architekten. Dieser wie auch die unter den Fotos befindlichen knappen Informationen zu den Bauten sind auf Englisch verfasst; die Beiträge der Kollegen schließen nahtlos an. Die sechs Protagonisten der Broschüre hatten schon in dem von Liselotte Ungers ebenfalls 1977 edierten deutsch-englischen Katalog 1776–1976. Zweihundert Jahre Berlin. Beispiele der Berliner Baugeschichte die Auswahl der Bauten nach 1900 in Form einer vergleichbaren, allerdings kommentierten Bildergeschichte vorgenommen. Dieser Katalog war ein Beitrag zum „Berlin Now“-Programm des New Yorker Goethe-Hauses im Frühjahr 1977, an dem auch die Akademie der Künste, Berlin, beteiligt war, von der New York Times mit „A Starburst of Culture from Berlin“ betitelt. Im Rahmen der Veranstaltung wurde auch das Thema „Urbanismus“ behandelt, und sowohl Düttmann als auch seine Kollegen hielten Vorträge am Cooper Hewitt Museum unter dem Titel „Berlin – Profil einer Metropole“. Zugleich präsentierten sie ihre wichtigsten Bauten und Projekte in Berlin in einer kleinen Ausstellung, zu deren Anlass die Broschüre erschien. Die Bauten Düttmanns und seiner Architekten-Freunde sind frühe Beispiele für eine Kanonisierung der Nachkriegsmoderne in Berlin – was die Verunstaltung oder gar den Abriss von nicht wenigen dieser Bauten jedoch nicht zu verhindern vermochte. Die vorliegende Layoutvorlage mit den Zeichnungen fertigte Düttmann nicht etwa aus dem Kopf an, sondern

er machte sich einen Spaß daraus, bereits bestehende, von ihm für diesen Zweck ausgewählte Abbildungen – Fotografien und Grundrisse – nachzuzeichnen und so eine ungewohnte mediale Folge, einen Zirkel zum Entwerfenden zurück, herzustellen: Der Architekt zeichnet die bevorzugten Fotos seiner favorisierten Bauten nach – und sich selbst gleich mit. Die Anordnung der Bauten Düttmanns auf dem Blatt folgt der Logik der Broschüre im A4/2-Format, die in japanischer Bindung hergestellt wurde – jeder Architekt hatte somit zwei A4-Blätter zur Verfügung, die einseitig bedruckt und eingefaltet wurden: Man liest die Felder in der ersten vertikalen Reihe von oben nach unten, in den mittleren beiden vertikalen Reihen, die in der Broschüre die Doppelseite bilden, jedoch paarweise über den Falz nach unten, die letzte wieder einfach nach unten. Ihre Ordnung gibt sich erst jetzt als typologisch motiviert zu erkennen: In der letzten Reihe gruppiert Düttmann seine „Saalbauten“ zueinander, Kirchenraum und Mensa waren für ihn ganz offensichtlich verwandte Bauaufgaben – menschliche Individuen gemeinsamen Interesses befinden sich zusammen in einem Raum. Das Ku’damm-Eck auf der ersten Seite wird Düttmann vielleicht deshalb ausgewählt haben, weil es sein „amerikanischster“ Bau gewesen ist, eine Shoppingmall mit hochmoderner Medienwand. Und auch die nachdenkliche Geste klärt sich im Abgleich mit der fotografischen Vorlage: Die Hand am Kopf hält in Wahrheit eine Zigarette.

SIBYLLE HOIMAN ist Leiterin des Baukunstarchivs der Akademie der Künste.

Am 6.3.2021 hätte der Berliner Architekt und Stadtplaner sowie langjährige Akademie-Präsident Werner Düttmann (1921–1983) seinen 100. Geburtstag gefeiert. Die Akademie nimmt das Jubiläum zum Anlass, um Person und Werk zu würdigen. In dem von Düttmann erbauten Akademiegebäude am Hanseatenweg wird eine Station der Ausstellung Werner Düttmann Berlin.Bau. Werk gezeigt, die im Brücke-Museum vom 6.3. bis zum 11.7.2021 stattfinden soll und in Koopera­ tion mit der Akademie der Künste entsteht. Neben dem Katalog zur Ausstellung erscheint eine Veröffentlichung, die erstmals Düttmanns Schriften über Architektur und Stadtplanung zusammenfasst und vom Baukunstarchiv herausgegeben wird (Werner Düttmann. Nachdenken über Architektur, hg. von Sibylle Hoiman im Auftrag der Akademie der Künste, Berlin).


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NEUES AUS DEM ARCHIV

BUDAPEST – BERLIN GRENZENLOSE VERBINDUNGEN

Katalin Madácsi-Laube

In den 1970er Jahren entwickelte Berlin eine Sogwirkung auf ungarische Intellektuelle, die bis heute anhält. Die „Frontstadt“ zwischen Ost und West zog Schriftsteller und Regimekritiker wie Imre Kertész, György Konrád, Péter Esterházy und Péter Nádas geradezu magisch an. „Die Situation Berlins war vierzig Jahre lang vom Kalten Krieg bestimmt“, schrieb Kertész in der Rückschau. „Wenn einen westeuropäischen Touristen die Neugier packte, was das denn eigentlich bedeutete, dann kam er nach Berlin und sah sich die Mauer an. Das tat auch ich, nur eben von der anderen Seite, aus Osteuropa kommend. Als der Gedanke eines vereinten Deutschland – ja eines vereinten Europas – noch nichts weiter war als ein schöner Traum, schien Berlin in den Augen vieler die europäischste Stadt Europas zu sein, und das gerade durch die bedrohte Lage.“1 Die Autoren suchten den Weg in eine erst durch jahrzehntelange Teilung, dann durch die Wiedervereinigung geprägte Großstadt, die als Wahlheimat oder Exil osteuropäischer Schriftsteller zunehmend wichtiger wurde und deren Werke einem deutschsprachigen Publikum näherbrachte. Grenzüberschreitende Erfahrungen und Kontakte boten die Einladungen West-Berliner Kultureinrichtungen. Alle vier Autoren waren – wenn auch zu unterschiedlicher Zeit – Gäste des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Nach dem Mauerfall folgten für sie Fellowships im Wissenschaftskolleg, die längere Arbeitsaufenthalte in Berlin ermöglichten.2 Die Aufnahme in die Akademie der Künste war ein Zeichen der Anerkennung für das schriftstellerische Werk wie für den grenzüberschreitenden Dialog der europäischen Literaturen.3

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Imre Kertész und Péter Nádas, Budapest 1998, Foto: Isolde Ohlbaum

György Konrád und Péter Esterházy in der Akademie der Künste anlässlich des Frühjahrsplenums im Mai 1999, Foto: Marianne Fleitmann


Richtete sich die Westorientierung ungarischer Literaten um 1900 an der Großstadt Paris aus, und strebten die Künstler zunächst danach, das Flair dieser Stadt persönlich zu erleben, so rückte nach dem Zweiten Weltkrieg Berlin – erst geteilt und dann wiedervereint – immer mehr an die Stelle von Paris. Das gilt, obwohl die französische Literatur in der Nachkriegszeit einen enormen Einfluss in Ungarn entfaltete. Die Prosa Camus’ und die Werke des Nouveau Roman waren für Konrád, Kertész und Nádas gleichermaßen wegweisend. Berlin wurde für Neuankömmlinge zu einem Ort unterschiedlichster Erfahrungen und präsentierte ihnen Geschichte in ihren widersprüchlichsten Kristallisationen. Zu Recht lässt sich mit Blick auf das Künstlerprogramm von einem „Gewinn“ auf beiden Seiten sprechen, wie das Ilma Rakusa im Nachwort eines Bandes schreibt, der die literarischen Früchte aus der Begegnung der ungarischen Besucher mit Berlin sammelt. Denn „was die Stadt offerierte, blieb nicht unerwidert. Verwandelt in Literatur, ist es zur Auseinandersetzung, ja zur Hommage geworden.“4 Als erster der vier Schriftsteller betrat Imre Kertész 1964 Berliner Boden. Angetrieben von gestalterischen Schwierigkeiten bei seinem „Deportationsroman“ reiste er voller Erwartungen in die DDR und begab sich auf die Spuren der Erinnerungen an seine Häftlingszeit. Aus diesen Eindrücken entstand dann die Idee für seine Erzählung Der Spurensucher. 1980 besuchte er Ostdeutschland ein zweites Mal, ehe er 1983 als Übersetzer deutscher Literatur auf Einladung des Goethe-Instituts erstmals drei Wochen in Westdeutschland verbringen konnte. Parallel zu seinem Berliner Stipendium im Jahr 1993 stellten sich für den bereits 64-jährigen Autor deutschlandweit die ersten großen Erfolge ein, die ihn zu der Feststellung veranlassten: „Im Grunde bin ich in Deutschland zum Schriftsteller geworden.“5 Durch das wechselseitige Interesse wird Berlin für ihn zur „Wahlheimat“. Mehr als ein ganzes Jahrzehnt verbrachte er in der Stadt, in der man, mit seinen Worten, „die Gegenwart und den Weg, der zu ihr geführt hat, so intensiv wahrnehmen kann“ wie nirgend sonst in Europa.6 Péter Nádas fing Mitte der 1970er Jahre Ost-Berlins „Grau“ auf zweifache Weise ein: mit eigenen Augen und mit der Linse seines Fotoapparats. Seit 1972 reiste er mehrmals in die DDR und verfolgte dreißig Jahre alte Spuren, im vergleichbaren Alter und mit einem ähnlichen Dilemma wie Kertész. In einem Essay reflektiert er die für sich selbst „inszenierte Ergriffenheit“.7 Sein Buch der Erinnerung schildert die „trostlos grauen“ Straßenzüge und die „hinfällig“ gewordene Pracht der im Krieg zerstörten Stadt mit einer Genauigkeit, dass der „zweifellos begabte Autor“ in einem Ostberliner Lektoratsgutachten als „subtiler Berlinkenner“ bezeichnet wird, der die „alten Stadtbezirke […] mit ihren Straßen und intimen Winkeln, ihrer Geschichte und alten Namen kennt“. Nádas beschreibe die „Atmosphäre dieser Stadt (oder Teilstadt) als Ganzes, ihrer Häuser, Treppenabsätze, Wohnungen, aber auch die Befindlichkeit ihrer Bewohner“ so treffend und „unbeschönigt“ ohne „Tabus“, dass es dem „hiesigen Leser sehr nahegehen“ dürfte, „weil der Autor ausspricht, was in Berlin fast jeder weiß oder fühlt, jedoch aus seinem Bewußtsein in jedem Fall mehr oder weniger verdrängt hat“. Dem Roman werden vom Gutachter zwar „Faszina­

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tion“ und „Reiz“ bescheinigt, doch eine Veröffentlichung in der DDR wird als kaum „durchführbar“ angesehen.8 Die Berlinauf­enthalte – auch als Gast des DAAD 1981/82 und des Wissenschaftskollegs 2002/03, wo er an seinen monumentalen Parallelgeschichten arbeitete – nutzte Nádas für weitreichende Recherchen. Er las alles für ihn Auffindbare über die NS-Zeit, die Konzentrations-­ lager und die Schoa. In seinem Arbeitsbericht schreibt er 2003: „Für sechs lange Wochen bin ich darüber physisch und psychisch regelrecht zusammengebrochen.“ Für György Konrád begannen seine Begegnungen mit Deutschland mit einem West-Berliner Stipendium im Jahr 1977. Während er in Ungarn Publikationsverbot hatte, waren seine im Westen bei Suhrkamp veröffentlichten Bücher umso bekannter. Fünf Jahre später verbrachte er als Fellow des Wissenschaftskollegs erneut ein ganzes Jahr in Berlin. Der Dissident erschloss sich West-­Berlin mit der ihm eigenen Lebensfreude und registrierte die historischen und politischen Eigentümlichkeiten einer Stadt, in der die Luft „ozonhaltiger, der Tod flüchtiger und der Friedhof ordentlicher“ ist als in seiner ungarischen Heimat. Er versäumte nicht, den WestBerlinern seine Anerkennung dafür zu zollen, dass „sie der Dekadenz der Entropie, der Vernachlässigung, der Resignation keinen Platz einräumen“. Auch wenn er für die „Rendezvous-Stadt“, in der er zahlreiche Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle treffen konnte, große Sympathie empfand, registrierte er doch auch das „Provisorische“ an dieser „Bruchlinie, wo sich die Epoche und Zivilisationen aneinander reiben“.9 Konrád mischte sich als politischer Essayist stets selbstbewusst in die weltpolitischen Fragen ein, mahnte zur Suche nach einem friedlichen Ausweg aus dem Kalten Krieg und entfaltete seine Vision eines demokratischen Mittel­ europas. Auch dafür wurde er nach dem Fall der Mauer von der Akademie der Künste zu ihrem Präsidenten gewählt. Péter Esterházy kam 1980, drei Jahre nach Konrád, erstmals nach West-Berlin. Der erst Dreißigjährige, dem in Ungarn mit seinem Produktionsroman gerade der Durchbruch gelang, bewegte sich nach eigenem Bekunden mit spielerischer Leichtigkeit in der Stadt. Des Öfteren ertappte er sich in der Rolle des „blöden Wessi[s]“, von dem allerdings alle glaubten, dass er, nach seiner Aussprache zu urteilen, „ein Türke sei“.10 Das Fellowjahr 1996/97 am Wissenschaftskolleg wurde für ihn inmitten seiner Arbeit an Harmonia Cælestis ein wichtiges Jahr.11 Auch in der folgenden Zeit kehrte er gerne in die Stadt zurück, um den Puls der europäischen Entwicklung zu spüren: „Wer über Berlin spricht, spricht über Europa. Berlin war auch schon bisher ein Emblem, ein Emblem des Skandals, die Stadt der Mauer und das peinliche Aushängeschild für das zweigeteilte Europa. Jetzt hingegen ist sie ein Emblem für das Neue, von dem wir nicht wissen, was es ist. Das neue Berlin ist die Stadt dieses Nichtwissens. Die Frage ist nun (und als ob das unser aller Frage wäre), was Berlin mit seiner Vergangenheit anfängt (sagen wir so: von Schinkel bis Speer, von Teutonia bis Germania), und was es mit sich selbst, mit seiner Inzweiteilegefallenheit anfängt.“12 Nach dem Fall der Mauer weitete sich für die Zeitgenossen der Blick auf die jeweils andere Hälfte des geteilten Deutschlands,

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aber auch die Länder des ehemaligen Ostblocks tauchten ­plötzlich auf der europäischen Landkarte wieder auf. Ihre Literaturen traten aus dem „Einheitsgrau“, in das sie die politische Teilung Europas gehüllt hatte. In dieser besonderen historischen Situation wurde 1990 Rowohlt Berlin im „Schnittpunkt zwischen Ost und West“ aus der Taufe gehoben, ein Verlag, der mit seinem Programm „direkt auf den Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa antwortete“. Als der „entscheidende Coup“ des Verlages erwies sich gleich zu Beginn, Péter Nádas und Imre Kertész mit Gesamtverträgen an sich zu binden.13 Nádas’ Buch der Erinnerung (1991) und Kertész’ Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (1992) wurden zu großen Erfolgen und Türöffnern für weitere Werke und Autoren. Zeitgleich öffneten sich auch andere Verlage für die Literatur Ungarns und Osteuropas. Deutschland übernahm wieder seine einstige Rolle als „Übersetzungsland seit dem 18. Jahrhundert“, so der Literatur­ kritiker Lothar Müller, und wurde wie am Anfang des Jahrhunderts zum Katalysator bei der „Vernetzung der ‚großen‘ und ‚kleinen‘ Literaturen Europas“.14 Das Interesse an der neuen osteuropäischen Literatur ging in den 1990er Jahren sogar so weit, dass – so ­Müller – die bis dahin starke Aufmerksamkeit auf sich ziehende, „große“ französische Literatur an Gewicht verlor und ihr „ganze Literaturen“, vor allem das Ungarische – mit Nádas, Kertész, E ­ sterházy und 15 ­Konrád – „Konkurrenz“ machten. Mit Blick auf diese Entwicklung in den ungarisch-deutschen Literaturbeziehungen kann man feststellen: Nicht nur Berlin ist für zahlreiche ungarische Schrift­steller zum „neuen Paris“, sondern auch die Ungarn sind mit ihrer Literatur für die Deutschen so etwas wie ihre „neuen Franzosen“ geworden. Nach der welthistorischen Wende von 1989 wurden bislang unbekannte Geschichten, Räume und Landschaften Gegenstand eines gesteigerten Interesses. Sie luden dank der nunmehr durchlässigen Grenzen zu Entdeckungsreisen ein. Als sich Ungarn 1999 auf der Frankfurter Buchmesse als Gastland präsentierte, begegneten die vier Autoren ihren Lesern und Kritikern bereits wie auf heimischem Parkett. Dank der künstlerischen Förderprogramme, engagierten Verleger, Lektoren und hervorragenden Übersetzer erwiesen sich die seit Langem gepflegten Beziehungen als Erfolgsgeschichte. Woran aber lässt sich die Faszination der Werke von Konrád, Esterházy, Nádas und Kertész für das deutschsprachige Lese­ publikum festmachen? Zwar bezeugen sie eine markante Vielfalt, sodass ein Vergleich ins Leere laufen könnte. Doch jeder von ihnen ist ein Verfechter der Freiheit des Individuums, der für die moderne Prosa angesichts des „Zeitalters der Extreme“ eine eigene ästhetische Lösung suchte. Alle vier Autoren richteten ihre Kunst hautnah an den eigenen Erfahrungen und Erlebnissen aus. Dabei ist es ihnen gelungen, das zutiefst Eigene ins universal Gültige zu verwandeln. Ihre Themen trafen zur richtigen Zeit auf eine interessierte Öffentlichkeit und öffneten neue Horizonte in den lebhaften Erinnerungsdebatten. Was diese Autoren erzählen, ist nicht nur ihre, sondern „unsere eigene Geschichte“, so die Lektorin Katharina Raabe aus deutschsprachiger Verlagssicht, „eine Geschichte, die wir noch nicht kannten“.16

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1

Imre Kertész, Warum gerade Berlin?, in: Mónika Dózsai u. a. (Hg.), „Berlin, meine Liebe. Schließen Sie bitte die Augen“. Ungarische Autoren schreiben über Berlin, Berlin 2006, S. 7–13, hier S. 9, fortan Dózsai 2006.

2 György Konrád war bereits vor dem Mauerfall, und zwar in den Jahren 1982/83, Gast des Wissenschaftskollegs zu Berlin. 3

György Konrád wurde 1991 Mitglied der Akademie der Künste im Westteil Berlins, in die 1993 vereinigte Akademie wurden 1998 Péter Esterházy, 2003 Imre Kertész und 2006 Péter Nádas gewählt.

4

Dózsai 2006, vgl. Anm. 1, S. 235.

5

Imre Kertész, Warum gerade Berlin?, in: Dózsai 2006, vgl. Anm. 1, S. 7.

6

Ebd., S. 11.

7 Péter Nádas, Berliner Grau (1973), in: Dózsai 2006, vgl. Anm. 1, S. 211–217, hier S. 213. Péter Nádas verfolgte dreißig Jahre alte Spuren seines Freundes und Mentors, des ungarischen Schriftstellers Miklós Mészöly, der 1944 unter deutschem Kommando bei Stargard gegen die Rote Armee kämpfte, sowie die Spuren einer Freundin, Grácia ­Kerényi – Tochter des Religionswissenschaftlers Karl Kerényi –, die unter anderem im KZ Ravensbrück inhaftiert war.

8

Verlagsarchiv Volk und Welt, Akademie der Künste, Berlin, VuW, Nr. 3925: Gutachten zum „Buch der Gedenkschriften“ (Emlékiratok könyve) von Péter Nádas, 27.5.1987.

9

György Konrád, Erinnerung an West-Berlin, in: Dózsai 2006, vgl. Anm. 1, S. 79–101.

10

Péter Esterházy, Der Ostwestdieb, in: Dózsai 2006, vgl. Anm. 1, S. 187–190, hier S. 189.

11

Das Péter-Esterházy-Archiv enthält umfassendes Recherchematerial aus diesem Jahr, so z. B. zur deutschsprachigen „Väterliteratur“ in einem weiteren Sinne, die für seine Harmonia Cælestis eine zentrale Rolle spielte.

12

Péter Esterházy, Berlin, mon amour (1998), in: ders., A szabadság nehéz mámora, Budapest 2003, S. 141–144, hier S. 142f. (Übersetzung Katalin Madácsi-Laube).

13

Katharina Raabe, Der erlesene Raum. Literatur im östlichen Mitteleuropa seit 1989, in: Osteuropa 2–3 (2009), S. 205–227, hier S. 206f., fortan Raabe 2009.

14

Lothar Müller, Ein Raum wird weit, in: Süddeutsche Zeitung, 6.11.2019.

15 Ebd. 16

Raabe 2009, vgl. Anm. 13, S. 212.

KATALIN MADÁCSI-LAUBE betreut die vier Schriftsteller­ archive. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Literaturarchiv der Akademie der Künste und ungarische Muttersprachlerin.

Mit den Archiven von Péter Esterházy (1950– 2016) und Péter Nádas (*1942) hat die Akademie der Künste 2020 das schriftliche Werk zweier herausragender europäischer Schriftsteller übernommen. Die Bestände erweitern den Schwerpunkt mittelosteuropäischer Literatur, der durch die Nachlässe des ungarischen Nobelpreis­ trägers Imre Kertész (1929–2016) und des Schriftstellers und ehemaligen Präsidenten der Künstlersozietät György Konrád (1933–2019) begründet wurde. Die enthaltenen Dokumente spiegeln beispielhaft die literarische Ausein­ andersetzung mit den Verwerfungen des 20. Jahr­ hunderts: der Erfahrung des Holocausts, der Verhinderung von Meinungsfreiheit und geistiger Autonomie in den sozialistischen Staaten sowie des politisch-gesellschaftlichen Wandels in Ungarn und Mittelosteuropa seit den 1990er Jahren. Allen Autoren gemeinsam war das Bemühen, den grenzübergreifenden Dialog mit anderen europäischen Intellektuellen zu suchen. Ihr Werk strahlte nach Deutschland aus und wurde hier stark rezipiert. Die transnationalen Briefwechsel veranschaulichen das intellektuelle Netzwerk der miteinander befreundeten Schriftsteller und Akademiemitglieder. Es wird künftig die Aufgabe des Archivs sein, Stipendien und Forschungsvorhaben anzuregen, um eine internationale Nutzung zu ermöglichen.


KALENDERBLÄTTER 1696–2021: 325 Jahre Tradition? Die Geschichte der Akademie der Künste ist keine geradlinige, eher eine spannungsreiche und wechselvolle. Sie ist geprägt vom Wandel einer Ausbildungsstätte zur internationalen Künstlergemeinschaft, von Aufbruch und Beharrung, von staatlicher Indienstnahme und dem Anspruch auf Selbstverwaltung sowie von den Diskursen über die Künste. Die Akademie nimmt das Jubiläum zum Anlass, um sich zu erinnern und die gegenwärtige Situation zu befragen.

In Kalenderblättern werden Ereignisse beleuchtet, die als Zäsuren das Leben der Künstlergemeinschaft geprägt haben oder Momentaufnahmen ihrer Geschichte bieten. Dazu gehören herausragende Ereignisse wie die Gründung, die Gleichschaltung im Nationalsozialismus, die Vereinigung der Akademien in Ost und West und die Rückkehr an den Pariser Platz. Aber auch auf den ersten Blick unspektakuläre Geschehnisse werden aus heutiger Sicht betrachtet. Mitglieder und Mitarbeitende

nehmen einzelne Daten zum Anlass, um einen Blick zurück zu werfen. So entstehen persönliche Miniaturen und Positionen, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder eine Gesamtschau erheben. Die Kalenderblätter werden am jeweiligen Datum online auf der Website der Akademie der Künste (www.adk.de/kalenderblaetter) und ihren Social-Media-Kanälen veröffentlicht. Werner Heegewaldt

325 JAHRE AKADEMIE DER KÜNSTE – EIN BILDERRÄTSEL

1. An wen erinnert diese Büste im Plenarsaal am Pariser Platz 4?

2. Wer war Jeanette Nohren?

3. Was macht der Triumphbogen des Septimius Severus aus Rom in der Akademie der Künste?

4. Was haben diese Pappkartons mit dem Archiv der Akademie der Künste zu tun?

5. Was zeigt das Foto?

6. Wer ist dieser rauchumwölkte Mann und welche Funktion hatte er in der Akademie?

7. Was geschah am 20.9.1993?

8. Was wird hier gefeiert?

9. Was verbirgt sich hinter dieser Abbildung einer italienischen Villa?

Auflösung im hinteren Innenumschlag.

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NEUES AUS DEM ARCHIV

DENKER, DICHTER, DEMOKRAT Gabriele Radecke

Im März 2021 feiert die Akademie der Künste, Berlin, den 150. Geburtstag des Schriftstellers Heinrich Mann (1871–1950) mit dem Start des internationalen Projekts „­ Heinrich Mann DIGITAL“.

Erich Büttner: Heinrich Mann. Heringsdorf 13. August 1928 Zeichnung, Akademie der Künste, Berlin

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Heinrich Manns Dichternachlass ist weltweit zerstreut. Seine Manuskripte, Notizbücher und Briefe sind auf mehrere Archive und Bibli­o­ ­theken in Berlin, Lübeck und Marbach, in Genf und Zürich sowie in Prag und Los Angeles verteilt.1 Der größte Teil des Nachlasses wird in der Akademie der Künste, Berlin, aufbewahrt. Er gehört zum Gründungsbestand des Literaturarchivs, das 1950 von Alfred Kantorowicz in der Ost-Berliner Akademie aufgebaut wurde. Diese Zersplitterung ist kein Zufall, sondern vor allem dem Lebensweg Heinrich Manns geschuldet, der von den Zäsuren des 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Nach dem Ausschluss aus der Preußischen Akademie der Künste zu Berlin, deren Mitglied er seit 1926 gewesen war,2 floh Heinrich Mann am 21. Februar 1933 vor den Nationalsozialisten aus Deutschland. Drei Monate später wurden in München und Berlin seine Bücher verbrannt, die heute zu den bedeutenden Werken der deutschen Literatur zählen. Bis zu seinem Tode lebte Mann im Exil, unter anderem in Nizza, Los Angeles und Santa Monica. 1949 wurde er zum Präsidenten der in Ost-Berlin neu gegründeten Deutschen Akademie der Künste zu Berlin gewählt, starb aber vor der Rückkehr nach Deutschland am 11. März 1950 in Kalifornien. Der Akade­mie gelang es, vier große Nachlassteile zusammenzuführen und weitere Handschriften, Briefe und Familien­ ­papiere aus anderen Provenienzen sukzessive zu erwerben.3 Die globale Zerstreuung seines Nachlasses konnte jedoch nicht verhindert werden. In Berlin, Marbach und Prag liegen Entwurf, Fassung und Typoskript des Dramas Schauspielerin (1911). In Lübeck und Berlin befinden sich Notizen, eine Fassung und ein korrigierter Privatdruck des Romans Der Untertan (1918), der den Schriftsteller über Nacht berühmt gemacht hatte. In Los Angeles, München und Berlin werden Notizen, Entwürfe und eine Fassung des Napoleon-Schauspiels Der Weg zur Macht (1919) aufbewahrt und in Los Angeles und


Berlin Notizen sowie eine Fassung des Romans Die Jugend des Königs Henri Quatre (1935). Noch deutlicher zeigt sich die Zerstückelung seiner Hinterlassenschaft in der Korrespondenz: Brieffragmente sind auf verschiedene Archive verteilt. So gelangte ein Teil des Briefes, den Heinrich Mann am 23. Juni 1905 aus Riva an seine Verlobte Inés Schmied geschrieben hatte, ins Lübecker Buddenbrookhaus, die Schlusszeilen hingegen kamen in die Berliner Akademie (vgl. Abb.).4 Die transnationale Verteilung der Werkmanuskripte und Briefe sowie das Fehlen eines Verzeichnisses sämtlicher Handschriften und Typoskripte Heinrich Manns erschweren bis heute die Suche nach Materialien zu einem Werk oder nach Briefen. Ein internationales Kooperationsprojekt will Abhilfe schaffen und die Teile des umfangreichen Heinrich-Mann-Nachlasses erstmals in einem Portal zusammenführen. In einer ersten Phase werden bis Ende 2021 etwa 30.000 Scans des Bestandes in der Akademie der Künste angefertigt. Dazu gehören Werkhandschriften, Notizbücher, biografische Dokumente, Fotos, familiengeschichtliche Unterlagen und bildkünstlerische Arbeiten. Sämtliche Digitalisate werden anschließend im digitalen Schaufenster der Akademie unter der freien Lizenz CC0 1.0 publiziert (https://digital.adk.de). Die Veröffentlichung ist möglich, weil Heinrich Mann vor siebzig Jahren starb und sein Werk somit gemeinfrei geworden ist. Inhaltsverzeichnisse

Heinrich Mann: Brief an Inés Schmied, Riva, 23. Juni 1905 Seite 1 und 4: Heinrich-­u nd-Thomas-Mann-Zentrum, Buddenbrookhaus Lübeck. Seite 5 und 7: Akademie der Künste, Berlin

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und aus der Archivdatenbank generierte und mit Normdaten angereicherte Metadaten, die über inhaltliche, materialbasierte und archivische Details der einzelnen Objekte informieren, ermöglichen eine schnelle Orientierung. Zudem wird die Einbindung von Transkriptionen nicht nur eine Volltextsuche erlauben, sondern auch die Lektüre der durchweg handschriftlichen Texte erleichtern. In einer zweiten Phase entsteht ein Portal, auf dem der Berliner Bestand mit den Teilnachlässen der anderen Institutionen virtuell vereinigt wird. Der Einstieg wird variabel gestaltet und berücksichtigt die unterschiedlichen Interessen der Nutzer*innen: die Suche nach einem Werk und seiner Überlieferung sowie nach Stichworten, Orten, Personen und Standorten. Auf diese Weise lassen sich sämtliche zerstreuten Bestände erstmals ortsunabhängig, archivübergreifend und systematisch einsehen. Das Archiv­portal wird als Baukastensystem entwickelt, sodass Erweiterungen möglich sind: etwa für die Zusammenführung der Briefe von und an Heinrich Mann oder die Verknüpfung der 4.710 Bände seiner Bibliothek. Mit der Einrichtung des Portals „Heinrich Mann ­D IGITAL“ schafft die Akademie eine wichtige Grundlage für die HeinrichMann-­Forschung des 21. Jahrhunderts. Es werden darüber hinaus Impulse gegeben für die Exil-­Forschung sowie für die Provenienzund Schreibprozessforschung, aber auch für die Rekonstruktion der weitverzweigten und komplizierten Überlieferungswege. Nicht zuletzt ist die virtuelle Vereinigung des Heinrich-Mann-Nachlasses eine wichtige Voraussetzung für eine zukunftsweisende Edition seiner Werke, die aufgrund der digitalen Aufbereitung – im Unterschied zu den gedruckten Ausgaben – sämtliche Entwürfe, Fassungen und ­Drucke berücksichtigt. Somit wird erstmals eine umfassende produktionsorientierte Forschung ermöglicht, die an Heinrich Manns dynamischer Arbeitsweise orientiert ist, einen Teil seiner Texte nach der Erstveröffentlichung umzuarbeiten.

Die Digitalisierung des Heinrich-Mann-Bestandes im Archiv der Akademie der Künste wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft für zwölf Monate gefördert und vom Literaturarchiv sowie den Abteilungen Medienservice, IT/Langzeitarchivierung und Bestandserhaltung realisiert. Das virtuelle Portal „Heinrich Mann DIGITAL“ entsteht in Kooperation mit der Heinrich-Mann-Gesellschaft Lübeck, der Feuchtwanger Memorial Library (Uni­versity of Southern California; FML), dem Deutschen Literaturarchiv Marbach, der ETH Zürich, dem Heinrich­-und-Thomas-Mann-­Zentrum Lübeck (Buddenbrookhaus; BBH), dem Literaturarchiv des Museums der Tschechischen Literatur Prag, der Fondation Martin Bodmer in Genf und der Monacensia in München, ebenso in Abstimmung mit den laufenden Editionsprojekten sowie den Verlagen S. Fischer und Aisthesis. 1 Vgl. Peter Stein, Heinrich Mann, Stuttgart, Weimar 2002, S. 163f. 2 Vgl. Ariane Martin, Heinrich Mann und die Akademie, in: Journal der Künste 6 (2018), S. 46–49. 3 Vgl. Christina Möller, „Nun liegen sie im Regen, meine Manuskripte.“ Zur Bestandsgeschichte des HeinrichMann-Archivs, in: Heinrich Mann Jahrbuch 20 (2002), S. 167–195. 4 Diesen Hinweis verdanke ich Ariane Martin.

GABRIELE RADECKE ist Literatur- und Editions­ wissenschaftlerin und seit Oktober 2020 Leiterin des Literaturarchivs der Akademie der Künste.

Das Heinrich-Mann-Gedenkjahr wird am 25. März 2021 vom Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in einer Videobotschaft feierlich eröffnet. Unter dem Titel Denker, Dichter, Demokrat. Heinrich Mann zum 150. Geburtstag lesen Matthias Brandt und Jenny Schily in einem Livestream aus Briefen und zum Teil unveröffen­t­ lichten Texten. Der Pianist Matan Porat spielt Werke von Debussy. Ausgehend von den wichtigsten Wirkungsorten Heinrich Manns erzählt die virtuelle Ausstellung des Literaturarchivs Heinrich Mann DIGITAL. Leben, Werk, Nachlass – Eine transnationale Rekonstruktion die Geschichte des Nachlasses und stellt das internationale Kooperationsprojekt „Heinrich Mann DIGITAL“ vor. Die Präsentation (www.heinrich-mann-digital.net/HMD) wird am 25. März online gestellt. Der Höhepunkt der Geburtstagsfeierlichkeiten ist die Verleihung des Heinrich-Mann-Preises am 27. März durch die Präsidentin der Akademie der Künste, Jeanine Meerapfel. In diesem Jahr wird der Preis doppelt verliehen: an Eva Horn (2020) und an Kathrin Passig (2021). Marta Feuchtwanger, Heinrich Mann, N.N., Lion Feuchtwanger anlässlich der Feier zum 60. Geburtstag von Heinrich Mann. Berlin, 12. April 1931

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Livestreams unter https://www.youtube.com/ user/akademiederkuenste


THEATER IN DER PANDEMIE WAS BEDEUTET COVID-19 FÜR DIE ZUKUNFT DER DARSTELLENDEN KÜNSTE? Sara Örtel

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Das Archiv Darstellende Kunst sammelt Dokumente und Spuren der Theaterarbeit während der Pandemie und legt damit den Grundstein für eine Forschung zur Theater­praxis in dieser Ausnahme­situation. Wie werden wir in 20 Jahren ins Theater gehen? Werden wir noch ins Theater, in die Oper, ins Konzert gehen? Oder bestellen wir uns die Vorstellung stattdessen direkt nach Hause auf die VR-Brille mit Dolby-Surround-Sound? Können wir dann entscheiden, ob wir die Hamburger oder die Münchner Hamlet-Inszenierung oder sogar eine internationale Produktion sehen? Schauen wir uns diese Vorstellungen aus dem virtuellen Parkett an oder können wir in Zukunft aus verschiedenen Blickwinkeln wählen und das Geschehen multiperspektivisch aus der Sicht der verschiedenen Schauspielerinnen und Schauspieler verfolgen? Wird das Theater aufgrund der aktuell geltenden Hygienemaßnahmen und der damit einhergehenden Einschränkungen und Aussetzungen des Spielbetriebs nicht nur mit neuen Technologien experimentieren, sondern dauerhaft neue Wege etablieren, um das Pub-

likum zu erreichen? Oder sitzen wir auch in 20 oder 30 Jahren noch, wie schon vor 100 Jahren, im Parkett oder in den Rängen, direkt neben uns andere Zuschauerinnen und Zuschauer, die nicht aus demselben Haushalt stammen und trotzdem mit uns atmen, lachen, sich räuspern, husten oder das Gesehene kommentieren? Wahrscheinlich ist, dass der Spielbetrieb, wie wir ihn kennen, nicht komplett verschwinden wird. Allerdings ist zu befürchten, dass die Kulturinstitutionen und besonders die Darstellenden Künste die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie merklich zu spüren bekommen. Die großen, gut subventionierten Häuser werden die Krise vermutlich überstehen und weiter gefördert und nachgefragt werden. Doch viele Bühnen werden die Pan­demie nicht überleben oder zumindest einen harten Sparkurs fahren müssen. Was das für die Vielfalt des kulturellen

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Angebots sowie für künstlerische, ästhetische und auch wirtschaftliche Entscheidungen bedeutet, ist aktuell ebenso wenig absehbar wie die Antwort auf die Frage, was sich von den aktuellen Versuchen, digitale Technologien zu nutzen, dauerhaft durchsetzen wird. Vielleicht wird beides in Zukunft nebeneinander existieren. Vielleicht entsteht aus dem aktuell entwickelten digitalen Programm sogar eine neue Sparte – Sprech-, Musik-, Tanz- und digitales Theater. Das Staats­theater Augsburg leistet hier bereits Pionierarbeit und ent­wickelt unter dem Stichwort „Digitalsparte“ nicht erst seit dem coronabedingten Shutdown eigens für die virtuelle Realität geschaffene Inszenierungen in 360-Grad-­ Perspektive für ein digitales Repertoire. Ob hier die Zukunft des Theaters liegt oder zumindest ein Bereich, der in Zukunft zusätzlich bespielt wird, ist im Moment noch Spekulation. Denkbar wäre, dass die Pandemie hier, wie auch in anderen Bereichen der Gesellschaft, als Beschleuniger von sich bereits vollziehenden Veränderungen wirkt und damit auch das Selbstverständnis und die Praxis der Darstellenden Künste beeinflusst. Beantworten lassen wird sich diese Frage erst im Rückblick, wenn das Theater zu einer Normalität nach der Corona-Pandemie gelangt ist. Um Dokumente und Spuren dieser Ausnahmezeit zentral zusammenzuführen und für eine künftige Forschung zu bewahren, hat das Archiv Darstellende Kunst Ende 2020 beschlossen, eine Sammlung „Theater in der Pandemie“ anzulegen, die durch eine Vielfalt unterschiedlicher Dokumente die aktuelle Krisensituation und deren Auswirkungen auf die deutsche Theaterlandschaft exemplarisch dokumentieren soll. Denn der Schein, dass das aktuell im Netz zu findende digitale Programm überall und unbegrenzt verfügbar sein wird, trügt. Vieles davon – gestreamte Vorstellungen, digitales Rahmenprogramm und Diskussionsreihen – wird, wie beim Rundfunk, live gesendet oder nur zeitlich begrenzt bereitgestellt und ist nicht on demand abrufbar. Dieses Material gilt es zu sichern und langfristig zu archivieren. Zusätzlich sollen Dokumente gesammelt werden, die beschreiben, wie die aktuellen Schutzmaßnahmen gegen die Pandemie die Arbeitsbedingungen an den deutschen Bühnen verändern; des Weiteren Material zu den programmatischen Reaktionen der Theater sowie Informationen zu Förderprogrammen und kulturpolitischen Entscheidungen. Dass ein solches Sammlungsvorhaben an Grenzen stößt, ist unumgänglich: Eine Grenze ist der Vielfalt der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft geschuldet, die laut Deutschem Bühnenverein rund 140 von der öffentlichen Hand getragene Theater, rund 200 Privattheater, etwa 130 Opern-, Sinfonie- und Kammer­ orchester, rund 80 Festspiele, etwa 600 Gastspiel­häuser ohne festes Ensemble sowie über 400 Tourneetheaterund Gastspielproduzenten ohne festes Haus umfasst. Eine lückenlose und flächendeckende Sammlungstätigkeit ist schon allein aufgrund dieses Umfangs praktisch nicht zu bewerkstelligen, weshalb exemplarisch und möglichst repräsentativ gesammelt werden soll. Das Sammlungsprofil wird diese Diversität jedoch strukturell spiegeln, indem Beispiele aus Sprech-, Musik- und Tanztheater in die Sammlung aufgenommen werden, die alle oben genannten Bereiche umfassen und Spielorte aus dem ganzen bundesdeutschen Raum – nicht nur in Großstädten, sondern auch jenseits der Metropol­ regionen – beinhalten.

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Dieses breite Spektrum ist für eine repräsentative Auswahl deshalb wichtig, weil sich bereits während der ersten Unterbrechung des Spielbetriebs im Frühjahr 2020 gezeigt hat, dass die Bühnen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Ausrichtungen auch unterschiedlich auf die Situation reagiert haben. Manche, so etwa die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, haben mit den Aufzeichnungen historischer Inszenierungen – wie Klaus Michael Grübers Antiken-Projekt auf dem Messegelände am Funkturm von 1974 – die großen Klassiker des Regietheaters aus dem Archiv geholt und damit ebenso internationale Nachfrage generiert wie die Münchner Kammerspiele, die zum Ende der Intendanz von Matthias Lilienthal ein vielfältiges Programm aus aktuellen Produktionen gestreamt haben. Das Theater Oberhausen oder das Zimmertheater Tübingen haben mit Elfriede Jelineks Prinzessinnendramen in der Regie von Paulina Neukampf und mit Hannah Zufalls Freund Hein, eingerichtet von der Autorin selbst, Stücke, die für die Bühne geplant waren, als Audio-Walk inszeniert. Das Deutsche Theater Göttingen hat auch während des Veranstaltungsverbots unter strengster Einhaltung der Hygienemaßnahmen weiter vor Ort für sein Publikum gespielt: Antje Thoms schuf dafür mit Die Methode nach Juli Zehs Corpus Delicti ein Drive-Through-Theater in der Parkgarage des Theaters; Einlass nur im eigenen PKW. Seit Beginn der Spielzeit 2020/21 haben die meisten Häuser nicht nur verlässliche Hygienekonzepte für einen Spielbetrieb vor Publikum entwickelt, sondern auch digitale Formate in den Spielplan integriert. Sie haben sich darauf vorbereitet, dass während der Pandemie nicht zu einem normalen Spielbetrieb zurückgekehrt werden kann. Wohin dieser erzwungene Digitalisierungsschub – der zum Teil durch millionenschwere Förderprogramme staatlich unterstützt wird – das Theater und sein Publikum führen wird, ist noch unklar. In ein paar Jahren werden wir wissen, ob die Corona-Pandemie eine Demarkationslinie im Bereich der Darstellenden Künste darstellt und sich mit dem gerade immer häufiger verwendeten Begriff eines „postpandemischen Theaters“ auch eine Praxis desselben etablieren wird, die sich klar vom Theater vor der Pandemie unterscheidet. Oder bleibt es eine Episode, ein abgegrenzter historischer Ausnahmezustand? Das Archiv Darstellende Kunst versucht, den Weg dorthin mit dem Aufbau der Sammlung Theater in der Pandemie zu begleiten und die Dokumente dieser Umbruchszeit zu bewahren.

SARA ÖRTEL ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Archivs Darstellende Kunst, Arbeitsbereich Inszenierungs­ dokumentation, der Akademie der Künste. Kontakt zur Sammlung: Theater-in-der-Pandemie@adk.de

S. 73  Roman Majewski in Antje Thoms Drive-Through-­ Theater-­I nszenierung Die ­Methode nach dem Stück Corpus Delicti von Juli Zeh in der Tiefgarage des Deutschen Theaters Göttingen im Mai 2020.


AUFLÖSUNG DES RÄTSELS VON S. 69 1. An Friedrich III., Kurfürst von Branden­b urg (1657–1713), seit 1701 als Friedrich I. König in Preußen. Er gründete 1696 in Berlin die „Academie der Mahl-, Bildund Baukunst“. Das Fragment ist Teil einer von Johann Christoph Döbel geschaffenen Skulptur aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts, die sich seit 1792 in der Akademie befand und im Krieg bis auf den Kopf zerstört wurde. – Foto Kerstin Marth, 2021. Akademie der Künste, Berlin, KS-Plastik, Inv.-Nr. PL 127 2. Die Pastellmalerin und Kunststickerin Jeanette Nohren, verheiratete von ­S ydow (1756–1792), wurde 1784 als erste Frau in die Akademie der Künste aufgenommen. Sie war Schülerin Daniel Chodowieckis und trat als Porträtistin hervor. Das Bild stammt aus der M ­ atrikel. – Akademie der Künste, Berlin, PrAdK, Nr. 1433_10 3. Das von Antonio Chichi (1743–1816) gestaltete Korkmodell entstand um 1786 und diente als Studienobjekt für bildende Künstler und Architekten. Es gehört zu den ältesten Exponaten der Akademie. – Akademie der Künste, Berlin, Architek­ turzeichnungen und -modelle der Preu­ß­i schen Akademie der Künste, Nr. 1 4. Mit der Gründung des Heinrich-Mann-­ Archivs 1950 begann das Sammeln persönlicher künstlerischer Archive an der Akademie der Künste. Der „AmerikaNachlass“ des Schriftstellers und designierten Akademiepräsidenten Heinrich Mann traf 1956 in diesen Kartons in Prag ein und wurde von dort 1958 für die Akademie der Künste (Ost) übernommen. – Akademie der Künste, Berlin, FotoAdK-O, Nr. 4204_002 5. Das Foto zeigt den Blick auf die Akademie der Künste (Ost) am Pariser Platz 4 aus Richtung Westen, um 1970. Während das Vorderhaus durch einen Luftangriff am 18. März 1945 ausbrannte, blieben die Hintergebäude erhalten und wurden später Sitz der Meisterschülerateliers, des Archivs und einiger Büros. Direkt vor dem Gebäude verlief die Vormauer der Berliner Mauer. – Foto Petra Matzat, Akademie der Künste, Berlin, Foto-AdK-O, Nr. 4271 6. Das Bild zeigt den Architekten Hans Scharoun (1893–1972), der als erster Präsident die in West-Berlin neu gegründete Akademie der Künste (West) von 1958 bis 1968 leitete. Das von Bernhard Boes gemalte Porträt stammt aus dem Jahr 1970 und befindet sich im Lesesaal der Akademie am Pariser Platz. – Foto Kerstin Marth, 2021. Akademie der Künste, Berlin, KS-Gemälde, Inv.-Nr. 183

7. An diesem Tag wurde die Ratifizierungsurkunde zum Staatsvertrag über die vereinigte Akademie der Künste Berlin-Brandenburg ausgefertigt. Das Foto zeigt den Kultursenator von Berlin, Ulrich Roloff-Momin, und den Minister für Kultur und Wissenschaften des Landes Brandenburg, Hinrich Enderlein, beim Austausch der Urkunden. Die Vereinigung war Ergebnis heftiger Auseinandersetzungen innerhalb und außerhalb der Künstlergemeinschaft, die zeitweise als Ersatzdebatte zur deutschen Wiedervereinigung dienten. – Foto Marianne Fleitmann, Akademie der Künste, Berlin, Foto-AdK-W, Nr. 4707_001 8. Am 26. April 2002 wurde das Richtfest für den Neubau des Akademie-Gebäudes am Pariser Platz 4 gefeiert. Mit der Einweihung im Jahre 2005 zog die Akademie wieder an ihren historischen Standort in die Mitte Berlins. – Foto Manfred Mayer 9. Die Villa Serpentara in Olevano südlich von Rom. Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch den Bildhauer Heinrich Gerhardt errichtet und von ihm 1914 testamentarisch der Akademie der Künste zur Künstlerausbildung hinterlassen. – Akademie der Künste, Berlin, Foto-PrAdK, Nr. 930

BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 3–13 Fotos Maurice Weiss/OSTKREUZ | S. 16–24 Fotos Sebastian Wells/OSTKREUZ | S. 28 unten Foto Nataša von Kopp, Mitte und oben Fotos Kinder der KUNSTWELTEN-Workshops | S. 32 Foto Stedelijik Museum Amsterdam (Quelle: Nam June Paik. Werke aus der Sammlung des ZKM Ausst.-Kat., Karlsruhe 2009); S. 33 Idee: Siegfried ­Z ielinski, Grafik: Clemens Jahn (Berlin); S. 34 Abbildungen aus Peter Weibel, Siegfried Zielinski, Amador Vega (Hg.), Dia-Logos: Ramon Llull’s Method of Thought and Artistic Practice, Minnea­ polis: Minnesota University Press, 2018; S. 35 Foto Jorit Aust, Abbildung aus Christoph Stein­b rener (Hg.), Unternehmen Capricorn, Wien: Triton, 2001 | S. 37 Foto Suzushi Hanayagi © Byrd Hoffman Watermill Foundation; S. 38 © Eduardo Molinari/Archivo Caminante | S. 40–47 © Candice Breitz, S. 41 Mitte unten Collection S.M.A.K., Gent, https://smak. be/en/exhibitions/pense-bete © VG Bild-Kunst, Bonn 2021; rechts BBC; S. 42 Foto Tomas Rydin; S. 43 Mitte Universitätsbibliothek Tübingen, Signatur: Ma VI 32 (fol. 96v), Abdruck mit freundlicher Genehmigung; S. 45 Foto Saverio Cantoni | S. 48 oben ­A kademie der Künste, B ­ erlin, WernerDüttmann-Archiv, Nr. 455 Pl. 34/14; unten © bpk; S. 50 oben Foto Heinz Junge, Bundes­a rchiv Bild 183-19860424-304; unten Foto wikimedia, Ernstol, CC BY-SA 4.0; S. 51 © Sauerbruch Hutton | S. 52 © VG Bild-Kunst, Bonn 2021, © Foto Ute Schendel, S. 53 © Kempowski S ­ tiftung, Foto R ­ oman März | S. 54 © Emeka O ­ gboh | S. 58+59 Courtesy Stockhausen Foundation | S. 61, 62, 63 oben © Walter Z ­ immermann; S. 63 unten © Walter Z ­ immermann, Patrizia Bach | S. 65 Akademie der Künste, Berlin, Werner­- DüttmannArchiv, Nr. 385 | S. 66 oben Foto Isolde Ohlbaum, unten Marianne Fleitmann | S. 70 Erich Büttner, A ­ kademie der Künste, Berlin, KS-Zeichnungen, Inv.-Nr. HZ 2594; S. 71 von oben: Blatt 1+2 Heinrich-und-Thomas-Mann-­Z entrum, Buddenbrookhaus Lübeck, a257.4, Blatt 3+4 Akademie der Künste, Berlin, Heinrich-Mann-­A rchiv, Nr. 731; S. 72 Foto Erich Salomon, Akademie der Künste, Berlin, Heinrich-Mann-Archiv, Nr. 3713 | S. 73 Foto Thomas M. Jauk

Journal der Künste, Heft 15, deutsche Ausgabe Berlin, März 2021 Auflage: 3.000

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