NOIR - Ausgabe 30: Essen

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EDITORIAL JUGENDPRESSE BW Verband für junge Medienmacher.

30. Ausgabe

Mit Essen spielt man nicht!

Fotos: X X X

BIO-PARTY

FREIHEIT

FOOD-ART

Gärtnerparty oder Molekularküche?

Die Lage in der Türkei ist eskaliert.

Nahrung für den guten Geist. NOIR 3 0

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EDITORIAL

Seit nunmehr 30 Ausgaben unterhält, informiert und amüsiert NOIR. Sie ist gewachsen, hat sich weiterentwickelt mit Höhen und Tiefen. Sie hat ihr Erscheinungsbild erneuert, und mit NOIR Spezial ein Schwestermagazin für Schwerpunktthemen bekommen. Ein Jubiläum, das gefeiert werden muss. Statt mit nur einem Kuchen feiert es die NOIR-Redaktion gleich mit einem ganzen Heft zum Thema Lebensmittel. Auf, dass ihr, liebe Leserin und Leser, einen leckeren Happen findet, der euch mundet. Nicht alle Menschen auf dieser Erde haben den gleichen Überfluss wie die meisten Deutschen. Welternährungsprobleme scheinen hier weit entfernt. Lebensmittelspekulationen, Kritik an Lebensmittel-Siegeln und die Krankheit Magersucht sind u.a. Themen dieser Ausgabe. Aber auch die politische Entwicklung in der Türkei und die Bemühungen modern, laizistisch orientierter Türken für mehr Freiheiten.

IMPRESSUM NOIR ist das junge Magazin der Jugendpresse BadenWürttemberg e.V. Ausgabe 30 – Oktober 2013 Herausgeber Jugendpresse Baden-Württemberg e.V. Fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart Tel.: 0711 912570-50 Fax: 0711 912570-51

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Chefredaktion Annika Pfisterer annika.pfisterer@noirmag.de Sophie Reebmann sophie.reebmann@jpbw.de Lea Deuber lea.deuber@noirmag.de Jan Zaiser jan.zaiser@jpbw.de (V.i.S.d.P., Anschrift wie Herausgeber)

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Chef vom Dienst Alexander Schmitz alexander.schmitz@noirmag.de Redaktion Ronja Lutz (bs), Lea Deuber (ld), Ronja Lutz (rl), Lisa Zeller (lz), Markus Erdlenbruch (me), Sophie Rebmann (srm), Anika Pfisterer (ap) redaktion@noirmag.de Lektorat Irina Blesch Layout Jan Zaiser

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Anzeigen, Finanzen, Koordination Miriam Kumpf miriam.kumpf@noirmag.de Druck Flyeralarm Wagenburgstraße 74 70184 Stuttgart www.flyeralarm.de

Titelbilder Titel: Clipdealer.de Teaser-Fotos (v.l.n.r): privat, privat, „Shana Larissa Klappert“ / www.jugendfotos.de, CCLizenz(by-nc)

NOIR kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im Abonnement 1,70 Euro pro Ausgabe (8,50 Euro im Jahr, Vorauszahlung, Abo jederzeit kündbar). Bestellung unter der Telefonnummer 0711 91257050 oder per Mail an abo@noirmag.de. Für Mitglieder der Jugendpresse BW ist das Abonnement im Mitgliedsbeitrag enthalten.


INHALT SVER ZEICHNIS

INHALTSÜBERSICHT

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DAS BREZEL-EXPERIMENT

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FRUGANER, VEGANER, VEGETARIER?

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GÄRTNERPARTY ODER MOLEKULARKÜCHE?

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„DRIN IST, WAS DRAUF IS“

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„ES GING UM UNSERE FREIHEIT“

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DER PROFIT MIT DEM ESSEN

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GRAMM FÜR GRAMM

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FOOD ART

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LIFEST YLE

DAS BREZEL-EXPERIMENT

„Guten Appetit!“ – Wie oft haben wir uns den schon gewünscht, kurz bevor wir hungrig begannen, die Kartoffeln zu verdrücken? Zwei kleine Wörtchen, die verklingen, kaum haben wir den ersten Bissen getan. Dabei steckt in ihnen so viel mehr.

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er Wunsch, es möge dem Gegenüber gut schmecken gibt nämlich nicht nur den Startschuss zum Reinhauen, sondern zu einem sozialen Großereignis. Essen verbindet – das spürt jeder spätestens dann, wenn er zum ersten Mal mit dem Freund die vom Baum geklauten Kirschen verspeist. Paare kommen bei romantischen Diners zusammen, Familien an der Geburtstagstafel. Im Wort Mahlzeit steckt das Wort Zeit. Die Nahrungsaufnahme wird also zu einem fest vereinbarten Zeitpunkt des Zusammenkommens, einem Treffpunkt. Das Sauerkraut, das bei uns auf

den Teller kommt, verrät mehr über uns, als wir denken. Die Art der Nahrung oder ihr Fehlen sind Indikatoren für den Entwicklungstand, die Probleme oder schlicht die äußeren Faktoren einer Gesellschaft. In weit entwickelten, wohlhabenden Länder kommt mehr und Außergewöhnlicheres auf den Tisch, als in wirtschaftlich schwachen Ländern. Das Essen wird zum Spiegelbild einer Gesellschaft, deren Kultur und deren Werte. Und so definiert unsere eigene Esskultur auch ein Stück weit unsere eigene Identität und die anderer Kulturen. Bin ich für einen Engländer nur Sauerkraut und Schweinshaxe? Die

verschiedenen Esskulturen fallen Vorurteilen und Klischees zum Opfer – nicht immer zu Unrecht. Aber gibt es die „typisch deutsche“ Küche im Zeitalter weltweiter Kost von Döner bis Hamburger überhaupt noch? Und wie kommt sie im Ausland an? Saure Gurken als Abbild der Deutschen – können wir auf der Welt überhaupt beliebt sein? Die Italiener müssten da doch mit Pizza, Pasta und Amore einen klaren Vorteil haben … Ausgestattet mit Brezeln, Haribo Goldbären und sauren Gurken wollten wir in der Heidelberger Fußgängerzone wissen, wie es wirklich um unseren kulinarischen Ruf steht:

Zhang Lu und Gao Yihui, China Brezel und Haribos! Super! Wir hatten sowieso Hunger, da kommt das gerade recht. Wahrscheinlich haben wir uns das letzte halbe Jahr nur von Brezeln und Gummibärchen ernährt. Wir studieren hier nämlich ein Jahr an der Uni Heidelberg. Am Anfang unseres Auslandsjahres hatten wir den totalen (Ess-) Kulturschock: Eure Lebensmittel und vor Allem die Art, wie ihr sie 4

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zubereitet und esst, ist ganz anders als in China. Daheim zum Beispiel essen wir traditioneller Weise nur mit Stäbchen. Aber eure vielen Kartoffelgerichte mit Stäbchen essen? Das funktioniert nicht. Unser Reis ist eure Kartoffel: Es gibt sie immer und überall. Mittlerweile haben wir uns aber an die deutsche Küche gewöhnt. Unser Lieblingsgericht sind Schweinshaxen! Fotos: privat


EDITORIAL LIFEST YLE

Sagit Opal, Israel

Ajay, Dubai

Winny, USA

Eure Brezeln sind lecker. Ich glaube Brot, Sauerkraut und euer Schnitzel sind die einzigen deutschen Gerichte, die in Israel wirklich bekannt sind – anderes deutsches Essen habe ich auch hier in Deutschland noch nicht probiert. Die Gewürzgurken sind eine Premiere, die mir ein bisschen zu würzig ist. Aber meine Tochter liebt Haribo-Gummibärchen, die sind wirklich einmalig. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass sich die Deutschen im Allgemeinen gesünder ernähren, als die Menschen bei uns in Israel: Euer Essen ist grüner, da sind mehr Vitamine drin. Klar, wirklich vergleichen kann man das nicht, viele Israelis richten ihre Ernährung nämlich auch nach ihrem jüdischen Glauben aus und essen nur koschere Lebensmittel. Nach jüdischen Riten richtet sich dann auch die Nahrungsaufnahme selber. Verschiedene Gebete lassen das Essen sehr zeremoniell wirken. Ich selbst bin allerdings nicht so streng religiös, mein Lieblingsgericht ist deutsch: Schnitzel!

Meine Familie kommt ursprünglich aus Indien. Die indische Küche ist sehr würzig und scharf. Euer Essen kommt uns deshalb ziemlich fad vorDiese Gewürzgurken sind für mich nicht scharf. Außerdem ernähren wir uns als Hindis streng vegetarisch, weshalb die Gummibärchen leider für uns tabu sind. Aber dieses Brot, Brezel nennt ihr es, ist unglaublich gut. Meine Frau und die Kinder essen es den ganzen Tag, gestern haben wir gleich zehn Stück auf einmal gekauft. Ansonsten haben wir viele eigene Lebensmittel aus Dubai mitgebracht, euer Essen unterscheidet sich nämlich sehr von dem, was wir kennen. Und so wirklich daran gewöhnen, können wir uns nicht. Euch würde es aber umgekehrt wohl nicht anders gehen.

Ich verneige mich vor dem deutschen Backhandwerk: Euer „BrezelBrot“ ist das beste der Welt. Ich bin jetzt schon durch 30 Länder gereist, aber was die Brezeln angeht, seid ihr unschlagbar. Ich war sowieso ziemlich überrascht von der deutschen Küche. Man erwartet die kulinarischen Höhenflüge eher von den südlichen europäischen Ländern. Aber ich liebe Sauerkraut und auch diese Gewürzgurken sind lecker! Schweinshaxe hingegen finde ich echt ungenießbar. Eure Esskultur unterscheidet sich gar nicht so sehr von der amerikanischen. Das liegt vielleicht auch daran, dass ihr Weltmeister im Nachkochen internationaler Speisen seid. Eure Lebensmittel sind multikulturell. Übrigens: Haribo Goldbären haben wir auch, allerdings nur fünf statt sechs Geschmacksrichtungen. Allein deshalb hat es sich gelohnt, in den letzten Wochen acht Tüten verschlungen zu haben.

Fotos: privat

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FRUGANER, VEGANER, VEGETARIER, FREEGEMER? Welche verschiedenen Vegetarierformen gibt es eigentlich? Wir haben Menschen befragt, die alle unterschiedliche Essgewohnheiten haben - und unterschiedliche Begriffe dafür. Text: Daniel Schwöbel

TANJA (VEGANERIN, 37) AUS STUTTGART „Tiertransporte auf der Autobahn waren für mich damals der Auslöser meiner Ernährungsweise und nun lebe ich schon seit 20 Jahren vegetarisch und davon die letzten 5 Jahre vegan. Während ein Vegetarier auf Fleisch und Fisch verzichtet, nimmt ein vegan lebender Mensch keinerlei Produkte von Tieren zu sich, wie beispielsweise Eier oder ißt wegen der tierischen Gelatine keine Gummibärchen. Der Unterschied liegt darin, dass für einen Vegetarier kein Tier sterben soll, wohingegen ein Veganer damit argumentiert, dass ein Tier erst garnicht leiden soll. Mein Wunsch an die Gesellschaft ist, dass sie die Scheu vor dem Veganismus ablegt und sich einfach mal der Herausforderung stellt und selbst eine vegane Ernährung versucht, wenigstens ein paar Tage lang.“

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Foto: privat


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BENNY (VEGETARIER, 32) AUS STUTTGART Benjamin Schorn: „...esse nichts was ein zentrales Nervensystem besitzt.“

ANONYM (DUMPSTER-DIVERIN, 20) „Ich habe während der Oberstufe zwei Jahre lang mit einer Freundin „containert“. Dabei haben wir zahlreiche weggeworfene Lebensmittel der Supermärkte aus den Mülleimern gefischt, oft Milchprodukte und Obst. Einmal sogar 50 Schokoriegel, die wir anschließend im Tauschring bzw. Containerforum via Internet geteilt haben. Dies ist eine gängige Praxis unter den „Divern“ um wirklich nichts wegwerfen zu müssen. Ausschlaggebend war mein Interesse an der öffentlichen Diskussion zum Thema Lebensmittel- und Verpackungsmüll. Ich glaube, dass ich mit diesem Verhalten recht wenig dazu beitragen kann, bei dieser Problematik irgendetwas nachhaltig zu verändern, aber es ist ein adäquates Mittel, um aus diesem übermäßigen Konsumverhalten auszusteigen und sich diesem mainstream Meine Eltern fanden das „Containern“ zu Beginn nicht so gut, aber mittlerweile verstehen sie meine Motivation und akzeptieren es, unterstützen mich jedoch nicht. Im Freundeskreis finde ich mehr Zustimmung aber es traut sich trotzdem niemand mich zu begleiten. Um eine konsumbewusstere Gesellschaft zu schaffen, wünsche ich mir von meinen Mitmenschen, dass sie nicht abends um 20 Uhr noch das gesamte Lebensmittelangebot von höchster Qualität in einem Supermarkt erwarten, sondern sich auch einfach mal mit dem zufrieden geben, was noch im Sortiment ist. Denn dass würde andere Menschen satt machen und uns allen Geld sparen!“

Foto: privat

Antja Bommer kennt sich mit Gluten und Unverträglichkeiten aus.

ANTJE BOMMER (ERNÄHRUNGSWISSENSCHAFTLERIN - M.SC., 25) AUS STUTTGART „Gluten (auch Klebeeiweiß genannt) ist ein Protein, welches in Getreide vorkommt wie beispielsweise Weizen oder Roggen. als problematische an einer glutenfreien Ernährung ist also der Verzicht auf viele Backwaren, Getreideprodukte und Nudel. Die Lactoseintoleranz ist aus demselben Grund auch nur eine Unverträglichkeit, allerdings mit einem anderen Beschwerden, die dann auch nur akut und nicht chronisch sind. Bei einem gesunden Menschen wird Lactose im Darm vom Enzym Lactase gespalten und der Körper kann es aufnehmen. Bei Personen,

die unter Lactoseintoleranz leiden herrscht ein Enzymmangel. Das bedeutet Lactase ist zu wenig vorhanden und Lactose gelangt unverdaut in den Dickdarm. Dort zersetzen Darmbakterien die Lactose und dies ist der Auslöser für Beschwerden, denn bei dem Vorgang entstehen Gase, die der Person dann Probleme bereiten. Lactoseintoleranz führt also nur zu akuten Beschwerden, im Gegensatz zur Glutenunverträglichkeit, nicht zu Langzeitschäden. Viele Menschen glauben, sie haben eine Unverträglichkeit, nachweislich ist allerdings nur ein Bruchtteil davon wirklich betroffen.“

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REPORTAGE

GÄRTNERPARTY, MOLEKULARKÜCHE ODER LIEBER EINEN FONDUEABEND IM IGLURESTAURANT? Ob Kochkurse, -shows oder Mottopartys: Kochevents als Freizeitevent werden immer beliebter. Aber warum? Noir-Autorin Sophia Kümmerle hat eine „Gärtnerparty“ besucht und sich darüber Gedanken gemacht. Text: Sophie Schwäbele

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in tiefes, orangegelbes Licht breitet sich über der Terrasse des Restaurants aus, bedeckt Ziegenkäse und Feigen, gefüllte Champignons und Karottensalat. Während die Sonne über den Dächern Ulms, zwischen einem Kran und dem Stadthaus, immer weiter untergeht, fällt der Lichtschimmer auch auf Kartoffelsalat undGrillgemüse, - und auf zwei Mädchen, die beide rote Schürzen mit weißen Tupfen tragen. Mit farblich passenden Gießkannen geben sie mitten in der Stadt ein ungewöhnliches Bild ab–. Nur an diesem Abend fallen sie nicht auf, denn für die vegetarische Gärtnerparty im Restaurant BellaVista in Ulm haben sich viele besondere Outfits einfallen lassen. „Die Biene“, lobt Verena Handfest, eines der Gärtner-Mädles, „finde ich am Tollsten!“ Nicht nur bei den Gästen gibt es einiges zu bestaunen, auch das Restaurant hat sich für seine Mottoparty kreative Dekoration einfallen lassen: Dünger, Karotten, Rechen und Petersilie dienen als Tischdekoration, während die Vorspeisen des vegetarischen Buffets auf kleinen Schaufeln angerichtet sind. , „Das alles macht unsere Mottopartys aus“, erzählt BellaVista-Betriebsleiterin Regina Novak. Neben der Gärtnerparty gibt es im Restaurant mehrmals jährlich auch Pastapartys, für die die Räumlichkeiten ebenfalls entsprechend dekoriert werden. In beiden Fällen ein Konzept, das aufgeht - die Partys sind regelmäßig schon im voraus ausgebucht. Aber warum? Weder das Essen

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gehen noch die angebotenen Speisen sind, bis auf ein paar Ausnahmen, etwas Besonderes. Trotzdem boomen nicht nur Kochshows im Fernsehen in den vergangenen Jahren immer mehr, auch live werden diese Erlebnisse immer beliebter. Seien es Mottopartys, wie die vegetarische Gärtnerparty, Kochkurse oder ein besonderes Erlebnis in Form von „Dinner in the dark“ oder „Krimi und Dinner“: Bloßes Essen und Kochen reichen als Freizeitevent nicht mehr, es muss etwas Besonderes sein. Allein bei großen Eventplattformen wie Jochen Schweizer oder Mydays finden sich unter dem Begriff „Kochen&Genießen“ zahlreiche Ergebnisse. Kochkurse lehren die „Molekularküche“, das Mischen von Cocktails oder das Zubereiten von Sushi, während ein „Fondueabend im Iglurestaurant“ durch die außergewöhnliche Umgebung beeindruckt. Das Essen? Wird dabei fast zur Nebensache. Natürlich möchte niemand im Iglurestaurant von einem zähen Steak überrascht werden, aber das Restaurantmenü ist bei der Buchung sekundär. Es geht nicht mehr nur ums Ausgehen mit dem Partner oder den Freunden, es geht ums Erleben, um die Spannung vor der Umsetzung einer Mottoparty, um das Testen der Sinne bei einem „Dinner in the dark“, um das Erweitern des Wissens bei einem Kochkurs. Ist es die Interaktivität solcher Events, die wir aus dem Internet gewohnt sind und die begeistert? Die Aussicht auf Tipps von Experten, Dekorationsinspirationen, mit denen

wir zu Hause eigene Gäste überraschen können? Eines ist sicher: Es nicht mehr nur um die Nahrungsaufnahme. Eoder darum „endlich mal Zeit zu zweit“ verbringen zu können, sondern darum, den Horizont zu erweitern und etwas erzählen zu können.das man selbst erlebt und gesehe n hat anstatt davon in einem Buch oder auf einer Website gelesen zu haben. Es geht darum, gesehen zu haben, wie das Fleisch geschnitten wurde, wie es gerochen hat, wie das Gemüse auf dem Grill braun wurde und man den ersten Bissen endlich selbst probieren durfte. Die Ereignisse unterscheiden sich untereinander: Ein Kochkurs ist aktiver, als eine Mottoparty, während man bei beidem mehr vom Essen abbekommt, als beispielsweise bei einer LiveKochshow von Horst Lichter. Dennoch sind Gemeinsamkeiten auszumachen: Zwischen Drive-Ins und Lieferando-Bestellungen sind Kochevents Ereignisse, für die man sich Zeit nehmen muss. Ein Kochkurs geht über mehrere Stunden, ebenso eine Kochshow oder eine Mottoparty. Außer dem eEssen und einer Unterhaltung mit der Begleitung oder neuen Bekannten kann in dieser Zeit nichts anderes erledigt werden. Wer zu einem Kochevent geht, nimmt sich im Gegenteil Zeit: Für sich selbst. Für die Begleitung. Und nicht zuletzt für das Essen. Dieser Zeitaufwand, fällt meist viel länger aus, als der, der der Essenszubereitung im eigenen zu Hause oder am Esstisch zukommt. Er zwingt und, uns auf das ursprüngli-


REPORTAGE

che beim Essen zu konzentrieren: die Mühe, die für die Zubereitung der Speisen und die Dekoration auf sich genommen wurde - und die Gesellschaft. Ist es traurig, dass wir so etwas heutzutage zu „brauchen“ scheinen, um uns wieder Zeit zu nehmen? Ein bisschen vielleicht, aber eigentlich ist der Trend, die Freizeit gerne mit Kochevents zu verbringen, ein gutes Zeichen: Bewusst wird dadurch offline entschleunigt und entspannt. Und Abenteuerlust und Neugier werden gleichzeitig mit der Zeit verbunden, die man mit einem geliebten Menschen verbringt. So, wie Verena und Katharina, die zwei Freundinnen, die beide sehr gerne essen und zusammen auf die Gärtnerparty gegangen sind. Sie haben zusammen Outfits ausgesucht, gemeinsam die kreative Dekoration bewundert und das Essen probiert, etwas erlebt, was für beide neu war und wovon sie gemeinsam erzählen können. Sie haben sich füreinander Zeit genommen. Etwas, was wir auf jeden Fall öfters machen sollten! Ob es dazu jedes Mal ein Kochevent braucht? Sicher nicht, aber gemeinsam aus dem Alltag ausbrechen und etwas Neues erleben schweißt zusammen. Also, liegt dein Gärtneroutfit bereit? Foto: privat

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REPORTAGE

„DRIN IS, WAS DRAUF IS“ „Für Ben und Jerry war das Leben nicht immer fair“, wirbt die Eisherstellerkette „Ben&Jerry´s“ in ihrem Werbespot. Nachdem die Ungerechtigkeiten des Lebens angeprangert wurden, sagt eine vertrauenserweckende Stimme: „Deshalb ist unser Eis jetzt richtig fair“. Fair für den Kakaobauern, deren Dörfer und sogar die Milchkühe. Das hört sich doch gut an! Und tatsächlich wirken solche Werbeaktionen hervorragend, denn das Geschäft mit dem guten Gewissen europäischer Kunden hat Hochkonjunktur.

E

s hat den Anschein, als hätten plötzlich alle Großkonzerne wie Kraft Food, Starbucks oder McDonald´ihre ethische Verantwortung entdeckt. Die Bauern und Zulieferer liegen den Marken natürlich sehr am Herzen. Als Lohn für ihr Engagement dürfen sie mit dem „Fairtrade“-Siegel werben. Vergleicht man im Supermarkt allerdings die Preise der angebotenen Kaffeesorten, fällt einem auf, dass der angeblich fair gehandelte Kaffee kaum noch teurer ist, als der konventionelle, scheinbar ausbeutende Kaffee. Wer die Verpackung aber in Augenschein nimmt, liest: „Anteil an fair gehandeltem Produkt: 28%“. Tatsächlich drückt man diesem Produkt für nicht einmal ein Drittel fair gehandeltem Inhalt den FairtradeStempel auf. Dabei ist das Konzept des gerechteren Handels eigentlich gut erdacht: Der allgemeinnützige Verein Transfair vergibt an alle gerecht gehandelten Produkte das Siegel „Fairtrade“. Fair bedeutet für die Bauern ein Mindestlohn über Weltmarktsdurch-

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schnitt und ein fester Vertrag über einen längeren Zeitraum. Ich befrage ein paar Kunden vor dem Supermarkt, welchen Siegeln sie vertrauen und wie häufig Produkte mit diesen Siegeln überhaupt gekauft werden. Die häufigsten Antworten:BIO - aber nur aus Deutschland - und Fairtrade. Fast alle Befragten entscheiden sich bei Teilen ihres Einkaufes wie Obst, Kaffee oder Tee, für die teurere, vermeintlich ethisch korrekte Alternative. Die Verbraucher glauben den Versprechen der Ethik-Siegel, dass es durch ihren Einkaufl entweder der Umwelt oder den armen Bauern besser gehe. Was die Verbraucher allerdings oft nicht wissen, ist, dass die Bestimmungen für ein solches Siegel in vielen Fällen unzulänglich sind. Auf der Webseite des Fairtrade-Untenehmens erklärt der Dachverband der Fairtrade Siegelinitiativen, dass seit 2011 nur noch 20% der fair ausgeschriebenen Lebensmittel auch wirklich fair gehandelt werden müssen. Die restlichen 80% können weiterhin aus alten Strukturen stammen.

Bis 2011 lag dieser Mindestanteil noch bei 50%. Ich frage die Einkäufer, ob diese Tatsache für sie etwas ändert: „Für mich ist das kein Vertrauensbruch, auch wenn ich darüber tatsächlich nicht Bescheid wusste“. Selbst 20% fair sind für sie noch besser als gar nicht. „Wenn ich diese Branche weiterhin unterstütze, kann sich das Konzept vielleicht weiter ausbauen und irgendwann werden dann alle Produkte komplett fair hergestellt“, hofft Katrin (20). Dies ist auch die Argumentation von Transfair. Wenn man ein Produkt aus mehreren Rohstoffen kauft, kann es sein, dass bei einer Nussschokolade zwar die Schokolade fair gehandelt wurde, nicht aber die Nüsse. Dann steht im Kleingeschriebenen des Etiketts, welcher Rohstoff zu welchem Anteil fair gehandelt wurde. So ermögliche man mehr Produzenten, ihre Produkte als Fairtrade zertifizieren zu lassen, und erweitere so das Angebotsspektrum. Doch nicht nur bei Mischprodukten hinkt das Versprechen, sondern auch bei Rohstoffen wie Zucker oder Reis. Da-


REPORTAGE

durch fühlen sich viele Verbraucher getäuscht, das Fairtrade-Abzeichen wird unglaubwürdig. Daniel (31) glaubt, dass den Verbrauchern wichtige Informationen fehlen. „Wer das schillernde Siegel ‚Fairtrade‘ sieht, geht davon aus, dass das ganze Produkt gerecht gehandelt wurde. Wer liest schon das Kleingedruckte auf jedem einzelnen Lebensmittel?“ Viele Befragte klagten wie er über einen zu hohen Aufwand, um erkennen zu können, welches Produkt schlussendlich am fairsten ist. Daniel sieht die Politik in der Pflicht: Das Verbraucherschutzministerium solle eine Informationsinitiative gründen und wirklich fair hergestellte Lebensmittel subventionieren. Er selbst kauft nur Nahrungsmittel, bei denen er sich sicher sein kann, was drin ist. Am liebsten geht er zum lokalen Bauern, oder auf den Markt. Immer aber zu Betrieben, die er kennt. „Natürlich ist das ein Mehraufwand, sich immer über alles zu informieren und ein Kompromiss beispielsweise im Winter auf Erdbeeren verzichten zu müssen.

Aber es geht hier um Menschenrechte und die Beschaffung unserer Erde! Das ist ja wohl wichtiger als meine Bequemlichkeit.“ Viele Umfrageteilnehmer wie der Portugiese Fernando (43) sind inzwischen sehr frustriert. „Man weiß ja gar nicht mehr, was man überhaupt noch kaufen darf“, sagt er. Von den Lebensmittelherstellern fühlt er sich in gewisser Hinsicht „belogen“. Besonders nachdem GEPA, Europas größter Importeur für fair gehandelte Lebensmittel, das Fairtradesiegel von immer mehr seiner Produkte entfernt und ein eigenes „fair plus“-Siegel etabliert, also freiwillig höhere Standards einsetzt, fällt ein schlechtes Licht auf Transfair. Kritiker werfen Transfair vor, mit dem Siegel nur den eigenen Gewinn in die Höhe treiben zu wollen. Die Bauern würden sie aber trotzdem ausnutzen lassen. Eine Zertifizierung mit dem Fairtradesiegel koste 30.000€. Außerdem hält man Transfair vor, nur mit Partnern in den ohnehin schon weiterentwickelten Ländern Südamerikas zu verhandeln

Foto: „Johannes Leopold Ritz“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

und auch nie mit einzelnen Bauern, sondern nur mit Zusammenschlüssen von Bauern, was Freiraum für Korruption aufwirft. Und so lange die Bauern in „kolonialen“ Verhältnissen feststecken, also nur Produzenten sind und ihre Produkte nicht selbst verkaufen und vermarkten können, kann ihnen kaum geholfen werden. Jeder Zwischenhändler agiert für seinen eigenen Profit, nicht den der Bauern. Eine lange Kette verschiedener Händler steht zwischen der Herstellung und dem Verbraucher. Prinzipiell ist es ein gutes Zeichen, dass immer mehr Menschen bereit sind, einen fairen Preis für ihre Lebensmittel zu zahlen und sich so für eine Änderung der Wirtschaftsstrukturen einsetzen. Insbesondere in Ländern wie Deutschland, wo Nahrungsmittelpreise von den Discountern immer weiter gedumpt werden. Doch in Sachen Konzept, Partner und Zwischenhändler muss noch einiges verbessert werden, um die Welt und den Weltmarkt auch wirklich fair auszurichten. NOIR 3 0

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REPORTAGE

„ES GING UM UNSERE FREIHEIT“ Am 31. Mai eskalierte die Lage in Istanbul: zehntausend Demonstranten versammelten sich auf dem Taksimplatz. Es folgte eine beispiellose Schlacht zwischen Polizisten und Zivilisten. Was als Protest einiger Naturschützer begann, entwickelte sich zu einem Kampf um persönliche Freiheit und Toleranz. Auch Birkan und Bahadir Arcilic kämpften gegen die türkische Regierung.

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irkan ist ein cooler Typ. Tunnels im Ohr, Undercut, bunte Bändchen am Arm. Man kann sich den 22-Jährigen gut in einer hippen Szene-Kneipe in Berlin-Prenzlauerberg vorstellen, wie er hinter der Kasse des kleinen, vollgestopften Ladens in Istanbul steht. Käme Bob Marley zur Hintertür herein - es fiele wahrscheinlich kaum auf. Gelegentlich hilft Birkan

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dort aus, aber eigentlich studiert er Englisch. Gegenüber des Ladens hängt eine Ankündigung für ein Konzert einer bekannten Indieband, ein neonfarbenes Graffiti springt den Passanten entgegen: „Be yourself“. Der Stadtteil Beyoğlu, in dem auch der Taksim-Platz liegt, ist jung, alternativ und westlich. Wie Birkan. Und beide passen nicht in die Türkei, die Ministerpräsident Recep

Tayyip Erdoğan und seine konservative AKP-Partei gerade konstruieren wollen. Es soll eine wirtschaftlich starke Türkei, jedoch mit strengen islamischen Regeln sein. Tatsächlich hat das Land unter Erdoğan seine Schulden verdoppelt. Seit der 59-Jährige 2002 an der Macht ist, bröckelt die laizistische Festung des liberalen Staatsgründers Atatürk. Ein islamischer Wind fegt durch Fotos: privat


EDITORIAL

die Ritzen. Alkoholverbote und Einschränkungen der Pressefreiheit – eine neue Stimmung breitet sich im Land aus. Jemand wie Birkan wird in dieser Gesellschaft zum Fremdkörper. „Schwul zu sein und in der Türkei zu leben – das passt nicht mehr zusammen“, sagt er. „Ich bin nicht mehr akzeptiert, nur weil ich nicht den islamischen Vorstellungen entspreche.“ Birkan möchte lieber an die Liebe und das Gute im Menschen, statt an einen Gott glauben. Erst letztens habe er beobachtet wie ein türkischer Mann, ganz der Gentlemen, einer verschleierten Frau in der S-Bahn einen Platz anbot – obwohl sie einige Meter entfernt stand. Die unverschleierte Frau direkt neben ihm ließ er stehen. Als die Lage am 31. Mai in Istanbul eskalierte, zieht Bahadir Arcilic gerade von Heilbronn nach Crailsheim. Eigentlich ist er schon zu müde, dann fährt er den Computer doch noch hoch. Die Bilder, die er in den sozialen Netzwerken und auf Nachrichtenseiten sieht, machen ihn wütend. Er kann nicht fassen, was in seiner Heimatstadt geschehen sein soll. Der 49- Jährige wuchs im liberalen und freiheitlichen Istanbul der 70er-Jahre auf und auch wenn er schon seit längerer Zeit in Deutschland als Geiger und Bratschist lebt und arbeitet – die Liebe für sein Land ist geblieben. Jetzt, gebannt von den Bildern der Demonstrationen, sorgt er sich. Anstatt Möbel zu verrücken verbringt er den gesamten nächsten Tag am Computer. Er nimmt über soziale Netzwerke Kontakt mit seinen Freunden in der Türkei auf. Sie sind rund um die Uhr am Taksim-Platz. Es herrscht Revoluzzer-Stimmung. Er bemerkt, dass sich einige der Demonstranten nicht gegenseitig über das Internet erreichen können, die Polizei verfolgt und sperrt anscheinend die Verbindungen. Ein Kontaktmann außerhalb der Türkei ist von Nöten. Arcilic übernimmt die Aufgabe, verbringt die nächsten Tage nur am Computer. Er überbringt Nachrichten zwischen den

einzelnen Protestgruppen, Warnungen vor Polizeisperren, organisiert von Deutschland aus billige Gasmasken. Viele seiner Freunde gehören zum inneren Kreis der Proteste. Arcilics Einsatz von Deutschland aus ist nicht ganz ungefährlich. Zwei der Aktivisten werden in Istanbul verhaftet, landen im Gefängnis. Man fragt sie, von wem sie geleitet würden. Sie halten dicht. Arcilic ist sich sicher, dass die Behörden von ihm wissen müssen, irgendwie die Verbindung zwischen ihm und seinen Freunden ausgespäht haben. Eingeschüchtert wird er dadurch nicht. Im Gegenteil, auf Twitter schreibt er provokante Tweets an Erdoğan. Er kann ihn nicht verstehen: „Wie kann ein Mann, der eigentlich wohlwollend für sein Land gesinnt ist, nahezu bürgerkriegsähnliche Zustände anzetteln? Der Mann spielt mit falschen Karten, er lügt, wie gedruckt.“ Er zeigt ein Video auf Youtube: Darauf sind jeweils zwei Bildausschnitte zu sehen, die beide Erdoğan bei öffentlichen Auftritten zeigen. Auf der einen Seite spricht Tayyip Erdoğan, auf der anderen Recep Erdoğan. Recep dementiert immer genau das, was Tayyip gerade noch gesagt hat. Ein Mann mit zwei Gesichtern. Eine Taktik, die Verwirrung schafft, Gegner klein werden lässt. „Eine typisch erdoğanische Haltung“, witzelt Arcilic. Diese Taktik wird auch deutlich, als man nach erneuter Polizeigewalt verzweifelt nach einem Ort sucht, um die verletzten Demonstranten medizinisch zu versorgen. Die Dolmabahace- Moschee am Ufer des Bosporus wird spontan zu einem Schutzhafen im Sturm der Proteste. Verletzte werden ärztlich betreut, finden Zuflucht. Die Anhänger Erdoğans streuen Gerüchte über Gruppensex im Lager, der heilige Ort werde mit dem Dreck der Straße verunreinigt. Der fromme und rechtschaffene Erdoğan wittert Gotteslästerung. Als der Imam sich aus Gottesfürchtigkeit weigert, dies zu bezeugen, tut Erdoğan das, was er gerne tut: Er verbannt ihn ins tür-

kische Hinterland. Die Moschee hat mittlerweile einen neuen Imam, über den Vorfall sprechen will niemand, schon gar nicht mit einer nicht-muslimischen Frau. Das lässt das religiöse Gewissen nicht zu. Arcilic hat aus diesen Sommermonaten gelernt. „Ideologie ist der Tod der Toleranz. Wer seine Gedanken und Ideen zum Dogma erhebt, begräbt den Rest unter sich. Er kann Andersdenkende nicht akzeptieren.“ Knapp 2000 Kilometer von Arcilic entfernt gellt das Juchzen spielender Kinder durch den Gezi-Park. Zwei mit einer Burka verschleierte Frauen sitzen auf einer Bank. Eine Bank weiter ihre beiden Ehemänner. Türkische Großfamilien fläzen sich auf dem Rasen. Picknicken, Tee trinken. An die Ausnahmesituation im Juni erinnern nur noch die malträtierten, mit Zigarettenkippen übersäten Rasenflächen. Erdoğans Anhänger werden auch bei der nächsten Wahl gewinnen. Da sind sich Bahadir Arcilic und Birkan sicher, leider. Die Proteste waren trotzdem nicht ohne Wirkung. „Vielleicht haben wir die Leute ein bisschen wachgerüttelt, haben gezeigt, dass es auch anders geht. Wir waren alle eine Einheit, egal ob homo- oder hetero. Wir waren tolerant. Wir wollten nicht streiten, aber es ging um unsere Freiheit“, erklärt Birkan. Er will trotzdem nicht in der Türkei bleiben, hier könne er nicht so leben, wie er wolle. Nach dem Studium plant er auszuwandern. Wohin, weiß er noch nicht. Vielleicht in die USA. Auch Arcilic ist froh, nicht mehr in der Türkei zu leben. Er wird trotzdem von Deutschland aus weiterhin für Toleranz und Freiheit kämpfen. Im September. Dann soll es nämlich weitergehen. Ein Mädchen mit dunklen widerspenstigen Locken schlendert durch den Gezi-Park, setzt sich neben die beiden verschleierten Frauen auf die Bank. Sie lächeln sich an. Das Mädchen schlägt ein Buch auf. Sie liest George Orwell.

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KOMMENTAR

DER PROFIT MIT DEM ESSEN Brot ist eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel der Welt. Logisch wäre, dieses Grundnahrungsmittel auf einem niedrigen Preis zu halten, um den Hunger der Erdbewohner zu stillen. Doch genau das ist beispielsweise im Norden Kenias nicht der Fall. Ein Kommentar.

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eil Länder der ersten Welt zu viele Lebensmittel wegschmeißen? Weil die Erdbevölkerung wächst, nicht aber der Platz zum Anbau von Getreide und Co? Auch. Der Hauptgrund für die steigenden Preise des Getreides ist mittlerweile allerdings die Spekulation mit Rohstoffen an der Börse. Die Spekulanten haben eine sehr gewinnbringende „Marktlücke“ entdeckt, die sie nun bestmöglich ausschöpfen wollen. So machen Großunternehmen wie die Deutsche Bank, Goldman Sachs, die LBBW, die Commerzbank oder die Allianz enormen Profit, während Leute hungern, die das Meiste ihres Vermögens für Essen aufwenden. Dabei war die Warenterminbörse, also die Spekulation über Rohstoffmärkte, für einen guten Zweck gedacht: Man wollte Preisschwankungen ausgleichen, die sich auf dem Lebensmittelmarkt durch Umwelteinflüsse oder Naturkatastrophen schon immer ergaben, damit Landwirte ihre Produkte zu einem einigermaßen konstanten Preis verkaufen können - sehr hohe Verluste sollten ihnen so erspart bleiben. Doch lagen die Preisschwankungen früher noch bei etwa zehn Prozent, sind heute Verdoppelungen des Preises innerhalb kurzer Zeit nichts Ungewöhnliches mehr. Für die Bauern aber sei die Warenterminbörse notwendig, sagt der Bauer und Finanzmarktanalyst Johann Schmalhofer. Der als „Börsenbauer“ bekannt gewordene Dozent setzt sich dafür ein, dass die Leute die Märkte besser verstehen, da „meistens die Grossen gewinnen“, die für uns nicht erreichbar seien. Er erklärt, dass „die Warenterminbörse

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eigentlich kein Zockerinstrument ist“, sondern den Bauern helfe, ihre Lebensmittel zum richtigen Zeitpunkt zu verkaufen, „um ein gleichbleibendes Preisniveau halten zu können.“ Viele Bauern wagen nicht, sich auf diese Geschäfte einzulassen, da in Deutschland nicht wirklich über Abläufe und Strategien informiert wird. Ganz anders seien die Bauern in den Staaten über die Börse aufgeklärt und von ihr umworben. Der Vorteil: Ein Bauer stellt seine Ware zum Verkauf auf auf die Warenterminbörse. Mit einem Käufer einigt er sich auf eine feste Menge, Preis und Liefertermin. Beide Seiten verpflichten sich zu der Einhaltung dieses Vertrages. So kann jeder mit diesen Ein- oder Ausgaben kalkulieren und muss nicht um seinen Gewinn bangen. Wenn sich ein Bauer dazu entschieden hat, seinen Betrieb oder seine Industriewaren an der Börse zu vermarkten, kümmern sich meist Mittelmänner um die Aktien, wie zum Beispiel das Unternehmen BAYWA. Mit deren Know-How und Einfluss haben die Aktien bessere Chancen, sich auf dem Markt zu profilieren. Denn die Mittelmänner versuchen durch die richtige Inszenierung von Nachrichten, wie beispielsweise von kräftigen Regenschauern, die Preise nach oben zu drücken. Die Botschaft: Erträge und somit auch das Angebot könnten knapper werden, also steigen die Preise für die Rohstoffaktien. Diese sehr kurzfristigen und oberflächlichen Botschaften wirken: Die Spekulanten beißen an, wodurch sich die Nachfrage erhöht und die Preise innerhalb kürzester Zeit explodieren. Diese Preisschwankungen des

Getreides spüren dann auch die Bäcker, wie Gerhard Müller* aus Metzingen. „Natürlich können wir nicht jede Preisschwankung sofort weitergeben“, sagt er, „sonst führten wir ja Tankstellenpreise“. Kleinere Preisschwankungen machten sich nicht allzu stark bemerkbar, denn die könnten durch die anderen Zutaten der Backwaren ausgeglichen werden. Doch auch Bäcker Müller muss auf die Marktwerte reagieren und in immer kürzeren Abständen seine Preise erhöhen. Für den durchschnittlichen Mitteleuropäer ist das kein großes Problem - in Ländern wie Kenia führt es zu Hungersnöten. Es gäbe genug Nahrung für die Bevölkerung, aber die Preise für Reis und Getreide sind einfach zu hoch, als dass sie sich jeder leisten könnte. Im Jahr 2010 brachten Nahrungsspekulationen 40 Millionen Menschen zum Hungern, so die Weltbank. Johann Schmalhofer argumentiert, dass die Warenterminbörse eine gewisse Liquidität braucht, um zu funktionieren. Daher bedarf es auch Spekulanten, die „das Risiko übernehmen“. Andernfalls wäre die Warenterminbörse manipulierbar. Gibt es nicht genug Spekulanten, könnten Preise abgemacht werden, daraufhin extrem gedrückt oder gepusht werden und der Börsenmarkt dadurch nur einem und nicht allen nutzen. „Die internationale Politik schaut dem Treiben der Investmentbanken hilflos zu. Es gibt bislang keine effektive Regulierung der Spekulation mit Nahrungsmitteln“, schreibt die Nichtregierungsorganisation „foodwatch“ auf ihrer Website. Sie kritisiert die visuelle Hordung von


KOMMENTAR

Lebensmitteln und fordert die europäischen Regierungen auf, die Banken nicht ohne jegliche Kontrollen mit Lebensmitteln spekulieren zu lassen. Absurde Folgen zeigen sich zum Beispiel in der Tatsache, dass in den USA zwar mit 400 Millionen Tonnen Getreide an der Börse gehandelt und spekuliert wird, jedoch nur 40 Millionen Tonnen tatsächlich produziert werden. Solche Abstrusitäten will foodwatch vermeiden. Der Verein setzt sich für die Rechte der Verbraucher und die Qualität der Lebensmittel ein.

Foto: „Keynan Dietrich“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

„Bei Spekulationen gibt es immer Gewinner und Verlierer“, erklärt Johann Schmalhofer. Diagnosen aufzustellen, ob die Preissprünge nun mit oder ohne Warenterminbörse höher sind, ist sehr schwer. Am Menschlichsten ist es, wenn die Mehrheit gewinnt und nicht die Einzelperson oder das Einzelunternehmen. Kontrollen sind also wichtig. Inwieweit man in die Wirtschaft eingreifen darf, soll oder muss, bleibt aber eine schwierige Frage. Erst einmal muss der Börsenmarkt transparenter werden. *) Name von der Redaktion geändert

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REPORTAGE

GRAMM FÜR GRAMM Warum freiwillig Mahlzeiten auslassen, tagelang hungern oder mit jedem Bissen Schuldgefühle haben? Von außen scheint Magersucht unbegreiflich. Experten diskutieren viel über Gründe und Therapiemöglichkeiten. Wie aber geht es den Betroffenen? Laura Reißer hat mit einer jungen Frau gesprochen, die an Magersucht leidet. Text: Anika

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Fotos: „Roman Henn“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)


EDITORIAL

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enn ich jetzt aus dem Fenster schaue, sehe ich den gleichen Himmel wie vor drei Monaten. Da oben hat sich nichts verändert. Was ich heute nicht sehe, ist die Straße, auf der ich noch vor drei Monaten jeden Tag unterwegs war, ich sehe auch den Brunnen unserer Nachbarn nicht mehr, den Baum vor meinem Fenster, in dem jedes Jahr wieder drei oder vier Spatzenkinder groß werden. Bei mir hier unten hat sich viel verändert. Ich bin jetzt schon seit elf Wochen hier in diesem weißen Käfig mit Listen, Vorschriften, sogenannten „Deals“. Mit Menschen, die glauben, sie könnten mich verstehen. Ich werde gefragt, wie es mir geht, wie ich mich fühle, wie alles angefangen hat. Ich merke immer wieder, wie sich eine unscheinbare Sprechblase über den Köpfen bildet, in der „Warum?“ steht. Die anderen wissen nicht, warum. Was sie auch nicht wissen ist, dass ich es ebenfalls nicht weiß. Ich kann ihnen meine Geschichte nicht erzählen, kann das Wort „Magersucht“ nicht aussprechen. Es tut weh. Jeder Tag hier beginnt gleich. Jeden Tag stehe ich um sieben Uhr auf, werde gewogen, dusche mich. Ich stehe vor dem Schrank in „meinem“ Zimmer, das ich mit zwei anderen teile, und überlege, was ich anziehen soll. Hier gibt es keinen Spiegel. Es ist unwichtig, was ich anziehe, wie ich aussehe, es ist egal – ich finde mich immer hässlich. Um Acht gibt es Frühstück. Unter den Blicken von Betreuern, Therapeuten, Menschen, die mich und mein Problem, meine Beweggründe nicht kennen, quäle ich mich durch die Kalorien. Die „Deals“ verfolgen mich. Hier geht es nicht ums Aussehen, hier geht es um Listen, Richtwerte und Tabellen. Mein Gewicht vom Morgen wird in eine Tabelle eingetragen, auf der „Soll-Kurve“ wird geschaut, ob ich im grünen Bereich liege – heute nicht. Ich bin stolz, auf eigenartige Weise. Ich bin stolz, weil ich den Ärzten, den schlauen Leuten, diesen ganzen Theoretikern trotzen konnte. Ich habe nicht zugenommen, da habt ihr´s. Tief drinnen aber beschleicht

mich ein seltsames Gefühl, Angst? Vor den Konsequenzen? „Deals“ nennen sie das hier. Alle wissen, es sind keine. Es sind einseitige Vorschriften, alles dreht sich um diese „Wenn du das nicht tust, passiert etwas...“ - Sätze. Und auch heute bekomme ich den Druck in diesem Gefängnis zu spüren, der Besuch meiner besten Freundin wurde gestrichen. Plötzlich ist es keine Angst mehr, es wird Wut. Mit jeder Kalorie, jedem Bissen kämpfe ich. Muss der letzte Schluck Orangensaft wirklich sein? Mir ist übel. Der Schritt auf die Waage macht es nicht besser – mir fehlen immer noch hundert Gramm. Hundert Gramm waren früher eine Tafel Schokolade, ein paar volle Löffel aus dem Nutellaglas. Heute sind hundert Gramm für mich wie ein Schicksal. Sie rechnen auf meinen Snack und mein Mittagessen Kalorien drauf. Es bringt mich fast um. Ich habe die Macht über mich nicht mehr, die haben jetzt andere. Der Kampf um jedes Gramm sind nicht das Schlimmste. Das, was am meisten weh tut, ist nicht zu wissen, ob ich zu- oder abnehmen will. Ich bin 1,67 Meter groß. Ich wiege 43,7 Kilogramm. Als ich vor elf Wochen und einem Tag eingeliefert wurde, nach drei Tagen ohne Essen und irgendetwas zu trinken, wog ich 39 Kilogramm. Ich fand mich da hässlich, ich finde mich heute hässlich. Es ist vielleicht die Herausforderung gewesen, die ich gesucht habe. Es ist der Nervenkitzel, den man bekommt, wenn man auf die Waage schaut und weniger wiegt als am Tag zuvor. Wir haben früher so oft über Bulimie und Magersucht geredet und das Komische ist, wir dachten immer, uns würde es nicht betreffen. Ich habe keine Magersucht, ich bin nicht krank, nicht psychisch krank. Ich bin ein normales Mädchen in der zehnten Klasse, ich habe Freunde und ich war immer normal, ich brauche keine Magensonde und keine Listen. Das ist es, was ich mir jeden Tag einrede. Ich weiß innen drin, dass ich mich anlüge. Ich habe Angst vor der Wahrheit. Vor meinem Gewicht, vor meiner Krankheit, vor dem Zwiespalt in meinem

Kopf, wo ich meine Gefühle und mein Wissen nicht sortieren kann. Ich habe Angst vor mir selbst. Der Tag geht vorbei wie jeder andere. Ein paar Schulstunden, zuerst Mathe, Deutsch, dann Latein und Englisch. Ich zwinge den „Snack“ in mich rein, würge, es macht mich verrückt. Die Gemeinschaftsspiele mit den anderen kommen mir langweilig vor, ihre Stimmen sind weit weg. Mittagessen. Meine Eltern besuchen mich, aber es ist mir egal. Ich fühle mich einsam, in einer anderen Welt, in der ich nicht verstanden werde. Der traurige, verzweifelte Blick meiner Mutter verfolgt mich – den nächsten Snack esse ich für sie. Nein, das ist kein Einsehen, das sind Pflichtgefühle. Um acht Uhr gibt es Abendessen. Um halb neun sinke ich erschöpft vom vielen Nachdenken, von den Tränen und dem Hass auf diesen Käfig mit dem Stationstelefon auf mein Bett. Das sind die fünfundzwanzig Minuten am Tag, in denen ich durchatmen kann. Wir reden über alles, meine beste Freundin und ich, über die Schule, den neuen jungen Betreuer hier, über den Kinofilm mit Elyas M´Barek. Wie normale Teenager. Und irgendwann schweigen wir miteinander. Es gibt viel zu sagen. Aber wir schweigen noch. Vielleicht sind elf Wochen und ein Tag für sie zu wenig, um meine Geschichte zu begreifen, die irgendwie auch ihre Geschichte geworden ist. Ein bisschen. Vielleicht sind elf Wochen und ein Tag für mich zu wenig, um das alles in Worte zu fassen. In dieser Klinik, in meinem Käfig, aus dem ich nicht raus komme. Ich glaube, ich werde nie wirklich hier raus kommen. Ein Teil von mir wird bleiben, meine Erinnerungen werden mich zurückrufen. Wir können unsere Gedanken, die Stimmen in unseren Köpfen nicht ausschalten, wir können nicht davon rennen oder die Augen zu halten. Die Waage zeigt in roter Leuchtschrift 43,9 Kilogramm an. Ich fange an zu heulen. Vielleicht ist er ein kleines Stück weiter weg gerückt. Der Himmel, meine ich. Ein bisschen grauer geworden. Wer weiß.

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REPORTAGE

FOOD ART. KUNSTWERKE AUS ESSEN. ODER DIE NAHRUNG FÜR DEN GEIST. „Mit dem Essen spielt man nicht“, haben uns die Eltern in der Kindheit eingeschärft. Nur in der Kunst gilt dieser Spruch nicht – hier kreieren Künstler daraus Neues oder ahmen Essen nach - Food Art oder Eat Art entsteht. In dieser Kunstrichtung werdenNahrungsmittel für diverse Botschaften instrumentalisiert, die dem Publikum mitgeteilt werden. Aus Schokolade, Käse, Milch und sogar die Abfallprodukte ihrer Einnahme schaffen sie Bilder oder Skulpturen. Text: Elena Lasko

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as Essen in solchen Werken wird nicht zu seinem „eigentlichen“ Zweck verwendet, bleibt aber, was es ist. Es stellt sich so auch die Frage, was das Wesen dieses Materials an Kunstwerken ändert, welchen Sinn das Material dem Inhalt gibt, was die „prozeßhafte Schönheit der Verschimmelung, Verdauung, Verschmierung, Fäulnis“ am Kunstwerk ändert. Die Struktur des Materials gibt einige Ideen zur Inspiration.

„Fallenbilder“ - Skulpturen, die aus Tischplatten bestehen, auf denen übrig gebliebenes Essen aufgestellt ist. Diese Tischplatten werden an der Wand vertikal angebracht – erstarrte Momente entstehen. Man kann sagen, dass die Künstler dieser „Gruppe“ von Eat Art oder Food Art das Essen „so nehmen, wie es ist“, d.h. es selber etwas ausdrücken lassen und nicht etwa daraus etwas andersartiges basteln. Dazu gehören auch die exzentrischen Installationen von Louise Bourgeois.

Je nachdem, wie Nahrungsmittel in Kunstwerken verwendet werden ... kann diese Kunstrichtung nochmals in Untergruppe eingeteilt werden.

Eine andere Künstlergruppe bildetaus Materialien, die keine Nahrungsmittel sind, Gegenstände, die die Form von Essen besitzen Ein Beispiel hierfür sind die „Literaturwürste“ von Dieter Roth. Er mischte Bücher mit anderen Stoffen, unter anderem mit Fett, und formte sie zu Würsten Die Titel der verarbeiteten

Als einer der Väter von Food Art gilt der schweizer Künstler Daniel Spoerri. Um 1960 produzierte er 18

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Bücher wurden auf die Wursthülle geklebt. Der Umfang der Bücher war bestimmend für das Volumen der Würste. sie wurden in einem Regal aufgehängt, das eher an einen Ort für Bücher erinnert, als einen für Würste. Roth spielte damit an das symbolische Verdauen der Informationen und an die Nahrung für den Geist an. Eine dritte Gruppe stellen die Kunstwerke dar, die Essbares als bloßen Herstellungsmaterial verwenden. Nehmen wir als Beispiel die Schockoladenhasen, wieder Mal von Dieter Roth. „Mit symmetrischem Aufstellen der Süßigkeiten in Tierform, z.B., ist angenehm= Süßliches, Mitleid erweckendes, fast nicht zu vermeiden“ . Der Stoff, aus dem die Werke sind, hier wohl eine bestimmende Rolle. Dies bestätigt die Fettecke von Joseph Beuys. Der Künstler brachte


EDITORIAL

Ein pulsierendes Herz?

unterhalb der Decke in einem Raum der Kunstakademie Düsseldorf eine Ecke aus Butter an. Das ist ein anderer Typus der Food Art-Werke. Das Material wird als solches verwendet und nimmt nicht etwa Form von etwas an, sprich, Butter bleibt Butter, und wird nicht etwa zum Hasen. Das Essen ist als Teil der Kunstwerke flexibel- man kann es auf verschiedene Art inszenieren. Es gibt natürlich auch eine praktische Dimension des Ganzen. Nicht umsonst haben die Putzfrauen die Fettecke von Joseph Beuys weggeworfen. Damit soll nicht gemeint sein, dass dies gerechtfertigt wäre, sondern, banal wie es scheint, es ist nicht immer einfach zu zwischen Kunst und nicht- Kunst zu unterscheiden. Hier werden die Spezialisten nur so ihren Kopf schütteln. Aber ja, dazu muss man sagen, der praktische und der höhere Aspekt überschneiden sich hier.

Man hat die Lebensmittel als solche nicht nur zum Ausdrucksmittel gemacht, sondern auch als thematisiert. Ein Beispiel dafür ist etwa „Die Tötung des Madeleine Gebäcks“ von Dmitri Zacharov aus dem Jahr 1997. Dieses Werk soll eine Anspielung an Proust sein. In diesem Aspekt ist die Madeleine vor allem ein kulturelles Symbol. Durch Zerstörung einer Madeleine wird eine Kritik an Prousts Werk, in welchem sie figuriert, ausgeübt. Das Material, aus welchem die Kunstwerke bestehen, kann somit auf verschiedene Art und Weise die Rolle eines Informationsträgers spielen. Das Brot, aus dem das „Bildnis eines Sankt-Pöltener Häftlings“ von Egon Schiele besteht, ist mehr als nur ein Material. Dieses Brot war zur Aufnahme als Nahrung im Gefängnis gedacht.

Fotos: „Shana Larissa Klappert“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Der Surrealist Dali sagte einst: „Die Kiefer sind unsere besten Erkenntniswerkzeuge“. Hier weist er wohl darauf hin, dass die essbaren Materialien der Kunstwerke als solche auch wahrgenommen werden. „Der surreale Hummer“ von Dali sieht appetitlich aus. Noch appetitlicherund gleichzeitig abstoßend, wirkt das Brot auf der „Retrospektive Frauenbüste“ von 1830. Interessant ist auch sein Werk „Objet suréaliste à fonctionnement symbolique“ von 1931. Zucker sollte in die Milch getaucht werden. Es löst sich in ihr auf. Gleichzeitig verliert die Milch ihre Reinheit. Man sieht darin wohl oder über eine erotische Symbolik. Manchmal geht die Liebe doch fast durch den Magen. Lasst es euch also schmecken!

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REPORTAGE

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Fotos: X X X


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