NOIR - Ausgabe 32: Identität

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JUGENDPRESSE BW Verband f체r junge Medienmacher

Ausgabe 32 www.noirmag.de

Wer? Ich?

REPORTAGE

FEATURE

PORTRAIT

Wie Andere uns beeinflussen.

Meine Musik, mein Leben.

Eine Di채t, nur mit Schokolade?



EDITORIAL

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anchmal kennen einen die besten Freunde besser als man selbst. Da nehme ich mir vor, mehr zu lernen, weniger Süßigkeiten zu essen und vielleicht auch mal pünktlich zu sein - was natürlich alles in die Hose geht. Und alle meine Freunde wissen das schon davor - nur ich nicht. Dabei verbringt doch niemand so viel Zeit mit mir, wie ich selbst Doch das Bild, das ich von mir selbst habe, scheint anders zu sein als das meiner Freunde. Sie wissen ja meist gar nicht, was ich schon alles durchgemacht habe und was meine eigentlichen Beweggründe sind. Wie werden wir zu der Person, die wir sind? Sind es die Meinungen anderer, oder sind es unsere Taten? Ist es das, was wir machen, oder das, was wir tun wollen. Wie prägt und unsere Familie und unsere Umgebung (Seite 18) und der Leistungsdruck der Gesellschaft (Seite 5)? Können wir selbst festlegen, wer wir sind - zum Beispiel durch die Musik, die wir hören (Seite 21) oder durch die Partei, der wir angehören (Seite 6)? Da sich gerade viele durch das Abitur zwängen, haben wir uns auch gefragt, ob die ganzen Bücher, die in der Schule verschlungen werden, sich auf unsere Persönlichkeit auswirken (Seite 8). Vielleicht weißt du nach dieser NOIR besser, wer du bist. Oder wie viele. (Seite 11)

NOIR ist das junge Magazin der Jugendpresse BadenWürttemberg e.V.

Chef vom Dienst Alexander Schmitz alexander.schmitz@noirmag.de

Ausgabe 32 – April 2014 Herausgeber Jugendpresse Baden-Württemberg e.V. Fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart Tel.: 0711 912570-50 Fax: 0711 912570-51

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Chefredaktion Jan Zaiser jan.zaiser@jpbw.de (V.i.S.d.P., Anschrift wie Herausgeber)

Redaktion Elisabeth Brauch, Arno Bratz, Linda Dörr, Laurens Elm, Barbara Gonzalez, Evgenia Kozyreva, John Morel, Rebecca Notter, Janine Ponzer, Leonie Rothaker, Nadine Wittleben, Jan Zaiser redaktion@noirmag.de Lektorat Miriam Kumpf

Druck Flyeralarm Wagenburgstraße 74 70184 Stuttgart www.flyeralarm.de Titelbilder Titel: „Tobias Mittmann“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc) kleines Bild rechts:“Undine B.“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

miriam.kumpf@jpbw.de

Layout Felix Ogriseck felix.ogriseck@jpbw.de Robert Gänzle robert.gänzle@jpbw.de Jasmin Maniakowski jasmin.maniakowski@jpbw.de

NOIR kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im Abonnement 1,70 Euro pro Ausgabe (8,50 Euro im Jahr, Vorauszahlung, Abo jederzeit kündbar). Bestellung unter der Telefonnummer 0711 91257050 oder per Mail an abo@noirmag.de. Für Mitglieder der Jugendpresse BW ist das Abonnement im Mitgliedsbeitrag enthalten.

Anzeigen, Finanzen, Koordination Nadine Wittleben nadine.wittleben@jpbw.de

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Seite 21: Disko-Typen

INHALTSÜBERSICHT

Seite 6: Politische Identität

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UM JEDEN PREIS INDIVIDUELL

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POLITISCHE IDENTITÄT

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VON INZEST UND KACKENDEN HUNDEN

10 SPORTL-ICH 11 IDENTITÄTSTÖRUNGEN

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DU BIST WAS DU ISST

18 GRUPPENZWANG

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PARKOUR ZUR IDENTITÄTSFINDUNG

19 SCHOKOLADEN-DIÄT

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NATIONALE IDENTITÄT

20 DISCO-TYPEN

16 PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN

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17 GESICHTLESEN

23 SOTSCHI

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MAL ANDERS

Fotos: Nadine Wittleben (links, zweite von links); John Morel (beide rechts)


KOLUMNE

UND, WIE VIELE STÖSSE SCHAFFST DU? Ein Mensch ist nicht mehr als die Summe seiner Zahlen. Endlich ermöglichen es uns die technischen Möglichkeiten, alle unsere Aktivitäten zu messen, zu vergleichen und uns selbst zu optimieren. Das Smartphone wird zu einem interaktiven schlechten Gewissen für die Hosentasche. Sei kein Weichei und miss dich! Denn wenn du besser isst, schläfst, trinkst, trainierst und fickst, bist du ein besserer Mensch, oder? Text: Arno Bratz | Layout: Robert Gänzle

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iemlich fotogen, so ein panierter Fisch. Ich sitze in der Mensa. Die Studentin neben mir hat gerade ernsthaft ihr Essen fotografiert. Die Smartphone-App „Meal-Snap“ erzählt ihr jetzt, wie viele Kalorien der Seelachs und der Reis auf ihrem Teller haben. Sie gehört zu einer neuen Spezies, die ich seit einiger Zeit an der Uni beobachte. So genannte SelfTracker. Sie gehören zu den wenigen menschenartigen Wesen, die ihre Neujahrsvorsätze einhalten. Und sie werden stetig mehr. Ihr Antrieb: Erfolg durch Selbstoptimierung. Wer kennt das nicht? Nach dem krassen Silvesterabsturz hat geschätzt jeder Zweite den Vorsatz, weniger zu trinken, bereits am Neujahrstag wieder über Bord geworfen. Die andere Hälfte besteht aus Verweigerern, die sich nicht an unsere Leistungsgesellschaft anpassen wollen, Realisten, die eingesehen haben, dass sie ihre Vorsätze eh wieder brechen, und: Self-Trackern. Self-Tracking ist quasi wie Tagebuchführen, nur in cool. Man nehme ein Smartphone, lade sich ein paar Apps herunter und fange an, zu messen: Alkoholkonsum, Kalorienaufnahme, Arbeitspausen, täglich gelaufene Strecke, Zeit bei Facebook. Es gibt für alles eine App. Am Ende des Tages darf man dann überprüfen, wie wenig man geleistet hat, und das ganze auch noch auf Facebook teilen. Auf diese Weise bekommen alle Menschen ein schlechtes Gewissen, weil immer jemand noch mehr leistet als man selbst.

Foto: www.flickr.com „multipel_bleiben“

Ein interaktives schlechtes Gewissen für die Hosentasche. Total praktisch! Die Fisch-Fotografin formuliert das freilich ein klein wenig positiver: „Seit ich mich tracke, bin ich viel produktiver!“ Sie arbeite konsequenter, habe bessere Leistungen an der Uni, mehr Freizeit und mehr „Lebensqualität“. Ich finde das toll. So konsequent, so logisch! Vermiss dich einfach selbst und verändere dein Leben zum Besseren: Miss deinen Kalorienverbrauch! Deinen Blutdruck! Deinen panierten Seelachs! Deine Gehirnströme beim Schlafen - kein Scherz, gibt’s wirklich. Letztens habe ich im Internet sogar einen Masturbator für Männer gesehen, der die Anzahl von Stößen misst, die du brauchst, bis du kommst. Klingt wettbewerbsreif. Ich bin mir sicher, dass sich am Ende diesen Jahres irgendein Schlafzimmersportler vornehmen wird: „Nächstes Jahr halte ich tausend Stöße durch!“ Wenn es soweit ist, werde ich eine Facebook-App zum Leistungsvergleich entwickeln und ein Heidengeld daran verdienen, dass sich die User zum Masturbations-Duell herausfordern.

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REPORTAGE

ZWEI PARTEIEN, ZWEI POSITIONEN, ZWEI IDENTITÄTEN. Daniel und Tobias. Beide männlich. Beide jung. Beide politisch aktiv. Wenn es um Politik geht, haben sie allerdings recht unterschiedliche Ansichten. Text: Nadine Wittleben

ACHTUNG MITLÄUFER! GLÜCK IM UNGLÜCK! „Egal, ob Handwerker oder Maurer, jeder Mensch ist gleich viel wert.“ Oma hat recht! Soziale Ungerechtigkeiten kann ich nicht leiden. Ich stehe auf junge Impulse und unkonventionelle Ideen. Die erfahrenen Menschen übernehmen dabei das Mentoring und beraten. Je bunter, desto besser! Meinen Standpunkt vertrete ich nicht erst seit gestern. 2006 fing alles an und ich bin immer noch in die SPD verliebt. Meine Schulzeit auf der Hauptschule war ein wichtiger Baustein. Ich hole kurz aus: Ich bin kein Mensch, der mit Druck besonders gute Leistungen erzielt. Der Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule war vorhersehbar. Auf der Realschule glänzte die Schulakte. Nicht. Willkommen auf der Hauptschule! Die Hauptschule schockte anfangs. Ich war als Deutscher in der Minderheit und auf Grund meins Sprach- und Wissensvorteils schnell einer der Klassenbesten. Trotzdem hatte ich gute Leistungen mit dem Ziel, Zweiradmechaniker zu werden. Das ließ ich bleiben und folgte meiner Empfehlung auf die Werkrealschule. Glänzende Schulakte, guter Abschluss - Gymnasium: Meine Mathefähigkeiten reichen leider nicht aus. Was ich daraus lernte? Einige Dinge muss man so akzeptieren, wie sie sind und der Übergang von der Hauptschule auf ein Gymnasium ist verdammt hart. Die Hauptschule ist trotzdem die Wurzel meiner SPD-Mitgliedschaft. Der Sohn meiner Klassenlehrerin war im Jugendrat aktiv. Ich engagierte mich somit aus Lust und Laune heraus. Heute bin ich Vorsitzender und Bezirksberater bei den Users in Zuffenhausen. Alle zwei Wochen veranstalten wir eine Vollversammlung und diskutieren mit Referenten über verschiedenste Themen wie Grundeinkommen und Mindestlohn. Was mich gerade besonders beschäftigt, ist das öffentliche Verkehrsnetz. Schüler bezahlen fast genau so viel für ihre Tickets wie Rentner.

Wer aber immer nur meckert, kommt nicht weit. Ich bin in einer „Lobby“, mit der ich mich identifizieren kann, um Dinge zu verändern. Apropos Identifikation, wie lautet die Formel für die politische Identifikation? Schade, es gibt keine. Vielleicht zählt Glaube und Erfahrung. Die SPD glaubt an eine soziale Gerechtigkeit und möchte sie umsetzen. Sie glaubt an die Solidarität mit Schwächeren und sucht nach Lösungen. Ich kann mich gut mit ihr identifizieren. Im Beruf und Alltag fällt es mir leichter, meinen Standpunkt und meine Meinung zu vertreten. Ich zweifel nicht an mir, weil ich genau weiß, wofür ich stehe. Allgemein ist es in Deutschland sehr beliebt, eine Identität zu pflegen. Schon das Ehrenamt oder das Engagement im Sportverein und Musikverein identifiziert dich. Aus vielen Identitätsbestandteilen baue ich mir meine politische Identität zusammen. Trotzdem ist viel von der Erziehung und der Erfahrungen abhängig. Das zeigt euch mein Lebenslauf. Wer denkt, dass eine politische Meinung aufgesetzt ist, der hat sich geschnitten. Das nennt sich dann Mitläufer und die gibt es überall.

Der SPDer Tobias.

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Fotos: Nadine Wittleben


REPORTAGE

NICHT NUR REDEN, BEWEGEN! Freiheit bedeutet Verantwortung, weniger staatliche Vorgaben und Kontrolle! Die freie Entfaltung der Menschen steht bei mir ganz oben auf der Liste. Bitte nur dort eingreifen, wo es auch wirklich notwendig ist. Der Staat ist dort wichtig, wo die Wirtschaft nicht funktioniert. Freiheitsliebend, optimistisch und weltoffen. Seit meinem 16 Lebensjahr engagiere ich mich für die FDP. Wie alles anfing? Das Goldberggymnasium bereicherte mich. Indirekt. Der große Streber war ich nie. Unter Zeit und Leistungsdruck macht es erst Spaß! Dort kam ich auf meinen FDP-Trip. Von meinen damaligen besten Klassenkameraden war die Mutter bei der FDP. Der Leitgedanke überzeugte mich. Und schneller als gedacht war ich das neue Küken der jungen Liberalen (Julis). Heute der Hahn im Nest. Mein Hobby lautet: Kreisvorsitzender der jungen liberalen in Böblingen und Pressesprecher der FDP im Kreis. Diskutiert wird mindestens einmal im Monat. Hauptsächlich über Themen, die in Böblingen relevant sind. Datenschutz und Maßnahmen gegen die Staatsverschuldung sind willkommen.

Von dem gesetzlichen Mindestlohn habe ich mich gedanklich schon verabschiedet. Er kostet Arbeitsplätze und stellt die Tarifautonomie, also das Recht der Arbeitgeber und Gewerkschaften untereinander den Lohn zu verhandeln, in Frage. Was wir feststellen mussten? Vier gewinnt nicht. Bei der nächsten Bundestagswahl wird die 5%-Hürde geknackt. Nicht nur reden, auch bewegen! Sobald ich neu in eine Gruppe hineinstolpere, weiß fast jeder, wie ich ticke. Politik ist mein Hobby. Und Hobbys tausche ich nicht schnell mit anderen aus. Wenn Leute nicht meiner Meinung sind, ist es umso interessanter, offen für die andere Meinung zu sein. Doch aufgepasst! Die politische Identität sollte sehr individuell sein. Ich glaube, dass jeder Mensch eine Grundausrichtung hat, die sich durch die Persönlichkeit (Freunde, Umfeld) in eine bestimmte Richtung entwickelt. Trotzdem kann mich niemand zu 100% in die FDP-Schublade stecken. Jeder Mensch hat immer noch seine individuelle Meinung. Ich übernehme nicht eins zu eins die Meinung meiner Partei. In Diskussionen überprüfe ich jedes Mal aufs neue, ob ich mit meinem Standpunkt richtig liege. Die FDP streitet gerne, ist individuell und bunt. Also kein Grund zur Sorge. Gruppenzwang ist selten auffindbar. Meine Beobachtung: Beim Koalitionsvertrag der Bundesregierung (SPD und CDU) wurde die CDU wieder zum Rudel. Vorher Streit und nur 2 Enthaltungen danach. Also doch oft Gruppenzwang bei Abstimmungen? Mein Tipp: Überprüfe dich selbst und sei ehrlich. Aber wieso eigentlich einer Partei angehören? Man kann Dinge nicht nur verändern, indem man einer Partei beitritt. Es gibt zahlreiche andere Möglichkeiten: Die Mitarbeit in Vereinen, Initiativen oder der Kirche kann sehr wohl auch viel verändern. Das wird deutlich, wenn man den Einfluss der Kirchen oder Interessenverbänden wie dem ADAC betrachtet. Gerade wie viel Demonstrationen bewegen können, hat man bei Stuttgart 21 oder dem „Arabischen Frühling“ gesehen. Die Möglichkeiten der politischen Identifikation in Deutschland sind vielfältig.

Der FDPler Daniel. Fotos: Nadine Wittleben

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REPORTAGE

VON INZEST UND KACKENDEN HUNDEN Jugendliche lesen in der Schule Pflichtlektüren, die von Themen handeln, wie sie fragwürdiger kaum sein könnten. Diese Bücher sollen sie in ihrer Identitätsfindung unterstützen – ergibt das wirklich Sinn? Text: Leonie Rothacker

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ei J.K. Rowling geht es um die Kraft der Freundschaft, John Green schreibt über die eine große Liebe und Nicholas Sparks erzählt von einer Familie, die auseinander gerissen wurde und wieder zusammen fand. Hört sich nach der richtigen Literatur für die Jugend an! Da werden wichtige Werte vermittelt – aber in der Schule lesen wir ganz andere Geschichten. Deutschlehrerin Sandra Theurer liest mit ihren Abiturienten am Gymnasium Unterrieden Sindelfingen Max Frischs „Homo faber“ und Christian Krachts „Faserland“. Frischs Roman ist eine von drei Abiturlektüren in Baden-Württemberg, während die Lehrerin Krachts Text selbst ausgesucht hat. Die Hauptfiguren in den Büchern berichten über Sex mit der eigenen Tochter oder liefern Detailbeschreibungen eines Hundes, der gerade sein Geschäft verrichtet. Beide scheitern an Einsamkeit und ihrem verqueren Selbstbild und müssen zum Schluss sterben. Können diese Protagonisten gute Vorbilder für Jugendliche sein? Haben solche Bücher als Abiturlektüren nicht einen schlechten Einfluss – oder haben sie überhaupt einen? „Mir haben diese literarischen Texte in keiner Weise geholfen, mich selbst zu finden. Die Werte, die damals gegolten haben, sind doch heute nicht mehr aktuell, deswegen finde ich es nicht sehr hilfreich für meine Identitätsentwicklung, wenn ich Werke aus vergangenen Zeiten lese“, antwortet Nadine (17) im Ge-

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spräch mit ihrem Deutschkurs auf die Frage, was sie dazu denke. Der Bildungsplan dagegen behauptet, Schüler würden mithilfe von Literatur „Einsicht [gewinnen] in historische und kulturelle Bedingtheit von sprachlichen Äußerungen und Wertvorstellungen […] und ihre eigene kulturelle Identität ausbilden.“ Mit dieser Meinung steht die Abiturientin bei ihren Mitschülern nicht alleine da. Viele finden die Pflichtlektüren langweilig und sehen keinen Sinn darin, Bücher zu lesen, die mit ihrem Leben (scheinbar) nichts zu tun haben. Prof. Dr. Wertheimer, Theurers ehemaliger Professor für neue deutsche Literatur und Komparatistik an der Uni Tübingen, gibt ihnen ein Stück weit Recht: „Es gibt nichts furchtbareres als eine Pflichtlektüre, die absolviert wird. Das ist verletzend für die Literatur und verletzend für die, die’s tun müssen, und zum Schluss kommt nur Hass raus.“ Ein Minimum an Interesse sei notwendig, um einen literarischen Text auf sich übertragen zu können, so Wertheimer. Wer keinen emotionalen, sondern nur einen gedanklichen Zugang zu einem Text finde, der könne ihn auch nicht verstehen. Seine ehemalige Studentin sieht das auch so: „Ich muss als Leser beschließen, mich in irgendeiner Form zu dem Protagonisten zu stellen: Ich bewundere ihn beispielsweise, ich sehe, dass ich nicht so sein möchte wie er oder ich bin traurig über sein Scheitern.“ Als Deutschlehrerin habe sie laut

Wertheimer die Aufgabe, etwas in historischen Texten zu entdecken, das etwas mit dem zu tun habe, was wir heute erleben. Das müsse sie an die Schüler vermitteln und ihnen so einen Zugang zu den Lektüren eröffnen – keine leichte Aufgabe. Ihr Anspruch an sich selbst ist, „die Schüler dazu zu bringen, Stellung zu beziehen, kritisch zu reflektieren und manche Verhaltensweisen zu hinterfragen“. Denn um ein Buch als interessant, spannend oder sogar lehrreich zu empfinden, muss der Leser einen Anknüpfungspunkt daran finden, indem er versucht, eine fremde Erfahrung auf die eigene Situation zu übertragen. „Nicht jedes Buch bringt jedem gleich viel, das hängt vom persönlichen Bezug zur Thematik ab“, argumentiert Abiturientin Miriam (18). Auf den ersten Blick hat eine Geschichte, die in einer amerikanischen Highschool spielt, mit dem Leben von Schülern mehr zu tun als eine über die Einsamkeit eines 50-jährigen Ingenieurs. Trotzdem können aber auch Jugendliche aus Büchern wie Faserland oder Homo faber mehr ziehen, eben weil die Protagonisten darin an ihrer eigenen Identitätsfindung scheitern. „Der Typ aus Faserland scheitert, weil er ein totales Arschloch ist und nicht nachdenkt. Daraus kann ich lernen: Sei kein totales Arschloch und denk darüber nach, was du machst“, erklärt Johannes [18]. Solche Bücher im Unterricht zu behandeln gebe den Schülern die Möglichkeit, sich den


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Texten intensiver zu widmen, so Theurer. Das sei wichtig, um nicht an der Oberflächlichkeit einzelner Episoden hängen zu bleiben, in denen es um Hunde geht, die ihre Notdurft verrichten. Wir beschäftigen uns heute noch genauso wie vor 200 oder vor 20 Jahren damit, wer wir sind, zu wem wir gehören oder welches Bild unsere Mitmenschen von uns haben. Die Kunst im Umgang mit der Literatur ist, sich klarzumachen, dass es bei Kracht, Frisch und allen anderen Autoren des Literaturkanons nur zweitrangig um die äußeren Umstände geht. Viel wichtiger sind die Entwicklung der Figur innerhalb der Handlung und die Probleme, mit denen sie konfrontiert wird. Die können wir oft auch in eigenen Situationen wiederfinden: Der Streit mit dem ersten festen Freund einer 18-Jährigen kann die Folge von fehlgeschlagener Kommunikation sein. Die Frage nach der beruflichen Zukunft ist auch die Frage nach der persönlichen Identität. So können wir alle einen Anknüpfungspunkt an ein Buch finden, das auf den ersten Blick rein gar nichts mit uns zu tun hat. „Es muss eine Bereitschaft und ein Interesse da sein, sonst ist es, wie wenn man mir Mathematik beibringen will – das war auch zum Scheitern verurteilt“, fasst Wertheimer zusammen. Offenheit und emotionale Intelligenz sind gefragt, um eine Lektüre dazu nutzen zu können, sich Gedanken um die wichtigen Fragen darin zu machen und darum, wie man sie für sich beantworten kann. Diese Fragen stehen meistens zwischen den Zeilen und sind nicht so offensichtlich wie die Themen, um die es vordergründig geht. Aber genau das macht Literatur aus: Sie bietet Raum für eigene Schlüsse, indem sie keine Antworten gibt und sich nicht auf das beschränkt, wovon sie zu handeln vorgibt. Ging es in diesem Artikel wirklich um kackende Hunde?

Foto: privat

Nur schwere Kost oder eine Bereicherung für die Persönlichkeit? Was sagen die Schüler dazu?

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REPORTAGE

SPORTLICH – MEIN KÖRPER, MEINE IDENTITÄT Sie sitzen an der Bar und trinken Eiweißshakes. Im Fitnessstudio. Alkohol is´ nich – dafür pumpen, pumpen, pumpen. Fast jeden Tag. Stört ja keinen, außer sie selbst? Autor: Arno Bratz | Layout: Jasmin Maniakowski

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ascal (17) und Marcus (19) gehen in Mannheim zur Gesamtschule. Sie schmieren sich morgens einen gefühlten Eimer voller Brote, mischen Eiweißpulver in ihre Milchshakes und gehen manchmal sogar noch vor der Schule laufen. Ihr Lebensinhalt: Schlafen, Sport, Essen. Ein bisschen langweilig, oder? „Klar“, sagt Pascal, „ist schon manchmal ein Scheißgefühl, morgens um halb sechse aufzustehen. Aber es lohnt sich.“ Er sieht aus wie Mitte zwanzig. Dicke Arme, gut definierter Bauch, breite Brust. „Ich habe mit dem Heldenbrust-Workout angefangen“, sagt er. Im letzten Jahr gab es einen Trainingsplan im Magazin„Men’s Health“. Seit einem knappen Jahr geht er regelmäßig ins Fitnessstudio. Marcus ist seit November dabei. Sie sind nicht allein, die Zahl der Jugendlichen in Fitnessstudios steigt. Sie betreiben Bodybuilding, Bodystyling, 10-Wochen-Programme oder einfach nur pumpen. Das Prinzip ist das gleiche: Streben nach einem körperlichen Ideal. Mein Körper, meine Identität. „Irgendwann kommt dann halt die Entscheidung: Willst du ein bisschen Tennis auf der Wii spielen oder willst du wirklich Sport machen? Langfristig bringt es einfach nichts,

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sich selbst zu bescheißen“, sagt Marcus schulterzuckend. Er ist recht schlank. Schon muskulös, aber sieht nicht aus wie ein Bodybuilder. Die würden es ohnehin mit übertreiben. „Doping geht gar nicht.“ Die meisten ihrer männlichen Freunde pumpen auch. Nur Jungs? „Viele Mädels glauben, dass sie mit Krafttraining aussehen würden wie Hulk“, meint Marcus. „Das ist schade. Gutes Training macht ein Mädchen einfach nur gut definiert.“ Ob sie Nahrungsergänzungsmittel nehmen? Proteinshakes, manchmal Vitamintabletten oder Kapseln mit Omega-3-Fettsäuren. Vielleicht bald Kreatin, zum Ausprobieren. Das ist ein noch legaler Stoff, der Wasser in den Muskeln einlagert und sie dicker und definierter macht. Kann aber abhängig machen. Das wissen die beiden. Kreatin müsse man alle drei Wochen absetzen. Überhaupt ist es erstaunlich, wie viel sie über Fitness und Ernährung wissen. Sie studieren ja weder Ernährungswissenschaften noch machen sie Leistungssport. Aber vorm Laptop ziehen sie sich ungefähr die halbe Fitnesswelt von Youtube rein. Ernährungstipps von Karl Ess, Trainingsprogramm von Julian Zietlow. Ihr Idol sei „Hannibal“, sagt Marcus und lacht. „Der Kerl schafft Liegestütz mit den Beinen in der Luft, ein-

armige Klimmzüge mit In-den-Stützgehen und so. Total krass, der Typ.“ Neuer Tag. Es ist viel zu früh. Samstag um sieben Uhr morgens. Sie haben sich zum Laufen verabredet. Andere gehen jetzt wohl nach einer durchgezechten Nacht zu Bett. Das Tempo ist nicht übermäßig schnell. Zwischendurch legen sie ein paar Sprints ein. Sie haben eine Bombenmotivation. Wie machen die das? Marcus scherzt: „Mir reicht ein Anruf von Pascal, der ist ‘ne Maschine!“ Pascal antwortet: „Bei mir steht an der Decke ‚No Excuses!‘. Und ich hab‘ ein Plakat von Muhammad Ali an der Wand.“ Bei Pascal angekommen, gibt es erstmal Milchshakes mit Eiweißpulver. Schlafen, Sport, Essen. Unter einem Bild des legendären Boxers steht ein Zitat: „I hated every minute of training, but I said, ‚Don‘t quit! Suffer now and live the rest of your life as a champion.‘” Eine Hassliebe also? “Training kann schon echt hart sein“, sagt Marcus. „Aber wenn ich mich entscheiden muss zwischen gut aussehen und fett werden, gehe ich gern ins Fitnessstudio. Da heißt es dann einfach Zähne zusammenbeißen und es läuft.“ Ob die zwei sportsüchtig seien? Pascal lacht. „Wir rauchen nicht, wir trinken nicht, wir machen Sport. Kann man denn nach etwas Gutem süchtig sein?“


REPORTAGE

IDENTITÄTSSTÖRUNG VOM SCHREIBEN UND WERDEN Meine Erlebnisse, mein Körper, mein Denken, mein Verhalten, meine Interessen, meine Hobbys, meine Lieblingsfarbe und Lieblingsmusik. Das alles macht mich zu dem was ich bin, das ist meine Identität. Aber was passiert, wenn ich mich verändere und dabei selbst verliere? Autor: Linda Dörr | Layout: Jasmin Maniakowski

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o wie ich bin, war ich nicht schon immer. Da waren mal die rosa Barbie-Phase, die schwarze Emo-Phase, und die coole Hipster-Phase. Ich mochte mal grün, mal rot, mal blau. „Der Mensch ist dazu verdammt sich immer weiterentwickeln zu können“, erklärt Norbert Grulke, der ärztliche Leiter der Luisenklinik – dem Zentrum für Verhaltensmedizin. Um ehrlich zu sein, finde ich „verdammt“ ist das falsche Wort. Es klingt so gezwungen – zu negativ. Eigentlich ist es doch schön, wenn man nicht ewig auf der Stelle tritt. Und was passiert nun bei Veränderungen? Das Leben prägt und formt uns. Zu Beginn sind wir Menschen wie ein leeres Blatt. Um es zu füllen, müssen wir etwas erleben, das sich aufzuschreiben lohnt. Wie wäre es mit einer Reise durch den Urwald, Liebesgeschichten mit diversen Partnern oder eine steile Karriere bis in die Chefetage – mit 26? Schon in den ersten Lebensjahren wird das Grundkonzept unseres „Selbst“ verfasst: All die wichtigen Erfahrungen müssen gemacht und niedergeschrieben werden. Das „Ich“ entsteht nicht aus sich selbst heraus, sondern wird im Vergleich mit unserer Umgebung gefunden. Schließlich wird niemand mit einem vollständigen Interessenkatalog geboren. Durch Leben und Erleben findet der Mensch heraus, was zu ihm passt und was nicht. „Identitätsstiftung“ nennt Herr Grulke das. Man sucht sich ein Motiv an dem man sich orientieren und dadurch

Foto: Linda Dörr

ausdrücken kann. Das Motiv wird Teil einer selbst, frei nach dem Motto „Hallo ich bin Franz und ich bin Buddhist, CDU-Wähler oder Fußballspieler.“ Was passiert, wenn wir uns nicht an unserer Umwelt orientieren würden, zeigt ein interessantes Gedankenspiel von Herrn Grulke: „Setzen Sie sich mal 24 Stunden vor den Spiegel und versuchen sie sich über die eigene Identität klar zu werden. Wenn sie danach nicht depressiv sind, haben sie gewonnen.“ Allein die Form unserer Nase oder die Art wie wir denken, machen uns noch nicht zu dem, was wir sind. Der Mensch ist weitaus komplexer. Wahrscheinlich wird Franz auch nicht den Rest seines Lebens Fußball spielen, möglicherweise stellt er sich zehn Jahre später mit „Hallo, ich bin Franz und ich bin Schachweltmeister“ vor. Die Fragen, wer wir sind, wo wir herkommen und wo wir hinwollen, begleiten uns meist das ganze Leben und vermutlich werden wir sie nie vollständig beantworten können. Trotzdem werden wir deshalb nicht zu Patienten der Luisenklinik. Die meisten Menschen wissen immer: „Ich bin eben Ich und ich bin gut so“. Von einer Störung kann man erst dann sprechen wenn ein Leidensdruck zu übermächtig wird. Ein Beispiel: Hat ein Mensch sein ganzes Leben lang nie Liebe erfahren, wird er sich auch nie als liebenswert empfinden können. Dieser Mensch wird sehr wahrscheinlich niemals glücklich werden können, er wird sich immer als schlechter als alle an-

deren erleben. Das Blatt seiner Identität wird nur mit schlechten Erfahrungen beschrieben und schließlich wird er Hilfe brauchen. Ziel einer Therapie ist es, mit diesem Menschen eine positive Identität aufzubauen, ihm zu einem „Selbst“ zu helfen mit dem er sich gut fühlt. Herr Grulke beschreibt diesen Prozess mit der Metapher: „Ich kann den Weg nicht für sie gehen, aber ich kann sie auf Ihrem Weg dorthin begleiten.“

Prof. Dr. med. Dr. rer soc. Norbert Grulke studierte Medizin und Psychologie, promovierte gleich doppelt und unterrichtet Studenten der Uni Ulm. Seit 2007 ist er der ärztlicher Direktor der Luisenklinik in Bad Dürrheim bei Villingen-Schwenningen.

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LIFEST YLE

PARKOUR - DER WEG ZU SICH SELBST Im Sonnenaufgang rennen sie Wände hoch, springen von Dach zu Dach und balancieren neben dem Abgrund entlang. Sie bezeichnen sich selbst als „Traceure“, was so viel bedeutet wie „die, die den Weg ebnen“. Es geht ihnen um mehr als nur Sport und Action. Text: Barbara Gonzales & Laurens Elm

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s ist Samstag morgen, sieben Stunden nach Mitternacht, die Sonne geht gerade strahlend über der Landeshauptstadt auf. Auf den grauen Betondächern der Universität Stuttgart erwacht etwas zu neuem Leben. Es sind nicht die Studenten mit Kater und Restalkohol von der Elektroparty gestern Abend. Es handelt sich um eine andere Spezies: Um Traceure. Lautlos rennen sie über das Dach, balancieren auf einem Geländer am Abgrund entlang, springen auf ein tiefer gelegenes Dach und rollen sich geschickt ab. Ohne anzuhalten, rennen sie eine Wand hoch, hinter der sie dann verschwinden. Nach wenigen Sekunden ist alles vorbei. Niemand ist mehr zu sehen. Seit zehn Jahren erfreut sich Parkour immer größere Beliebtheit in Baden-Württemberg. Aber was steckt hinter dem, was wir sehen? Was verbirgt sich hinter der Philosophie und dem Weg der Traceure? Um was geht es eigentlich im Parkour?

VOM WALD IN DIE STADT Begründet wurde Parkour vor über 30 Jahren von dem Franzosen David Belle. In den Wäldern Nordfrankreichs erlernte er die „Méthode naturelle“ von seinem Vater, einem ehemaligen Vietnamsoldaten. Nach einem Umzug in einen Pariser Vorort, übertrug er das Gelernte auf die 12

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örtlichen Voraussetzungen - in die Landschaften aus Stahl und Beton in die Stadt.

UM WAS GEHT’S? Es geht beim Parkour nicht darum, andere zu beeindrucken. Im Gegensatz zum Freerunning wird hier auf spektakuläre Saltos, akrobatische Elemente und Wettbewerbe verzichtet. Die praktische Aufgabe im Parkour besteht darin, dass der Traceur so schnell, sicher und effizient wie möglich von A nach B gelangt. Dabei muss er alle selbst gewählten Hindernisse überwinden und darf sie nicht verändern. Beim Parkour müssen alle Hindernisse so verlassen werden, wie sie aufgefunden wurden. DIE PHILOSOPHIE Den schnellsten Weg zu nehmen ohne etwas zu verändern, reicht nicht. Respekt vor den Mitmenschen, der Umgebung und seinen eigenen Körper sind für den Traceur ebenso wichtig, wie seine eigenen Grenzen kennen zu lernen und diese langsam Schritt für Schritt zu erweitern. Dazu ist ein hartes und regelmäßiges Training mit Aufwärmen, Dehnen und Kraftübungen nötig. Parkour kann überall in der Stadt ausgeübt werden. Nachbars Vorgarten ist eigentlich für jeden tabu. Trotzdem führt der Weg mancher Traceure gelegentlich über fremde Terrassen, auf fremde Dächer und in fremde Gärten. Parkour ist eine Rückeroberung des städtischen Raumes in Zeiten seiner zunehmenden Besetzung für private und vor allem kommerzielle Zwecke. Sich selbst

den Weg auf fremden Terrain zu ebnen, wiederspricht teilweise der Philosophie des Parkour: Der Respekt vor den Mitmenschen mit ihrem Privatbesitzt stehen der eigenen Freiheit und dem schnellsten Wege im Weg.

MEHR ALS SPORT Ein gewisses Verletzungsrisiko, so wie bei normalen Sportarten besteht natürlich. Es gilt:„Parkour ist nur so gefährlich, wie man es sich selbst macht.“ „Der Traceur muss sich bewusst sein, was er macht und seine eigenen Grenzen kennen.“ Bei vielen Traceuren steht die rein sportliche Leistung im Hintergrund. Viel wichtiger ist ihnen die mentale Leistung. Sich selbst einzuschätzen, Grenzen zu setzten und diese zu überspringen - Dinge zu schaffen die vorher noch unmöglich schienen - sich selbst zu entdecken. Sich selbst zu entdecken ist, wie eine neue Welt in sich selbst zu finden. Die Methoden, die Menschen benutzen, unterscheiden sich von Person zu Person. Manche Leute kämpfen ihr ganzes Leben, um herauszufinden, wer sie wirklich sind und was sie wollen. Einige Traceure finden im Parkour einen Weg zu sich selbst. FAZIT Eine Sache ist sicher, Sport ändert nicht nur das körperliche Erscheinungsbild einer Person. Hinter manchen Sport- und Bewegungsformen steckt mehr. Hinter manchen Sport versteckt sich eine Philosophie, eine Lebenseinstellung, eine Kunst, ein Weg zu sich selbst. Traceure ebenen sich diesen Weg zu sich selbst.

Foto: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Martin_Coops_-_Professionel_parkour_ud%C3%B8ver.jpg


LIFEST YLE

DU BIST, WAS DU ISST? Egal ob auf Vereinsfesten, bei Klassenfahrten oder im Freundeskreis: Fast jeder freut sich auf die leckeren Spaghetti mit Bolognese-Sauce oder die Salami-Pizza. Und dann sagt eine Person diesen Satz: „Ich esse kein Fleisch.“ Ständig gibt es solche Sonderfälle: die Vegetarier. Was sollen wir nur mit ihnen machen? Text: Janine Ponzer | Layout: Robert Gänzle

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abei haben viele von ihnen bestimmte Gründe für den Verzicht auf Fleisch oder tierische Produkte: aus Protest gegen die Ermordung von Tieren, die schrecklichen Bedingungen bei Massentierhaltung oder den hohen CO2-Ausstoß bei der Verarbeitung von Fleischwaren. Menschen, die sich im Naturschutzverein engagieren und davon träumen, bei Greenpeace Wale zu retten – so lautet das gängige Klischee. Einige sind von dem unsichtbaren Schriftzug auf der Stirn jedoch nicht begeistert. Ein Beispiel dafür ist Kristin.

dich wirklich zu kennen.“ Ihr einziger Grund kein Fleisch zu essen ist, dass es ihr einfach nicht schmeckt: „Manche Leute mögen keinen Rosenkohl, andere keine Eier. Ich mag eben kein Fleisch.“ Ist Kristin etwa kein normaler Mensch, weil sie kein Fleisch isst? Viele denken sich, da sei doch nichts dabei. „Vegetarier“ sei eben der Name für Nicht-Fleischesser. Doch diese werden, zwar unbewusst, aber automatisch, als andersartig abgestempelt. Dabei hat jeder von uns etwas, das er nicht mag. Nur wenn es um Fleisch geht, genau dann werden

sie genauso schlimm, denn wieder wird sie eingeordnet. Wieder wird sie in eine Schublade gesteckt, gemeinsam mit anderen Personen, die sich nicht „normal“ ernähren. Abgestempelt zu werden, nur weil ihr ein Lebensmittel nicht schmeckt – das möchte sie verhindern. „Natürlich kann ich das beim gemeinschaftlichen Essen nicht verheimlichen. Aber jeder neuen Person erzählen, dass ich kein Fleisch esse – das tue ich nicht.“ Früher blieb den Menschen nichts anderes übrig, als das zu essen, was sie bekommen konnten.

Sie behauptet, keine Vegetarierin zu sein – obwohl sie kein Fleisch isst. Der 17-jährigen Schülerin geht es auf die Nerven, wegen ihrer Essgewohnheiten einer Gruppe zugeordnet zu werden. Sie passt nicht in das Klischee: „Weder habe ich Gewissensbisse beim Essen von toten Tieren noch demonstriere ich gegen Atomkraftwerke.“ Im Grunde habe das auch nichts damit zu tun, kein Fleisch zu essen. „Doch viele Leute stecken dich in eine Schublade und machen sich ein bestimmtes Bild von deiner Persönlichkeit, ohne

oftmals Vorurteile bedient. „Ich kann doch essen, was ich möchte“, argumentiert Kristin. Im engeren Sinn steht der Begriff „Vegetarier“ für Gemüse und Pflanzen. Also hauptsächlich pflanzliche Lebensmittel auf dem Teller. Da Fleisch für viele Menschen zu den Hauptnahrungsmitteln gehört, finden sie das ungewöhnlich. Im Gegensatz zu strengen Vegetariern, isst Kristin Fisch. Doch mittlerweile gibt es auch dafür einen Begriff: „Pescetarier“, was von dem italienischen Wort für Fisch abstammt. Aber das findet

Durch die heimische Landwirtschaft und den Import von exotischen Produkten haben wir heute eine große Vielfalt an Lebensmitteln. Auch, wenn einem nicht alles schmeckt: Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, sich gesund und vielseitig zu ernähren – ohne das Etikett „Vegetarier“ oder „Pescetarier“. Kristin merkt an, man könne sie mit ihren Freunden, ihrer Klasse oder ihrem Sportverein in Verbindung bringen. „Aber bitte nicht mit einer sonderbaren Gruppierung, die einen Namen erhält, weil sie kein Fleisch isst.“

Fotos: www.flickr.com - „kochtopf“

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REPORTAGE

NATIONALE IDENTITÄT: HEIMAT IST WOHLFÜHLEN UND HERKUNFT Sie sind verschlossen und unterkühlt. Sie sind direkt. Sie trinken viel Alkohol. Die Rede ist nicht von Klischees über Deutsche, liebe Schubladendenker. Es sind Klischees über Finnen. Eine finnische Studentin redet im Interview über Heimat, Heimweh und das, was wirklich zählt: Freunde und Licht. Text: Arno Bratz

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as Meer liegt praktisch direkt vor der Haustür. So weit das Auge reicht, erstrecken sich Wälder. Die Ortschaften sind weit voneinander entfernt, dazwischen liegt Ruhe. Maria Eskelinen kommt darüber gern ein bisschen ins Schwärmen. Die 20-Jährige kommt aus Finnland und wohnt in Deutschland. Sie wirkt offen, freundlich, lachend. Vielleicht sollte der Witz „Der extravertierte Finne guckt bei einer Unterhaltung auf die Schuhe des Gesprächspartners statt auf seine eigenen“ noch einmal überdacht werden. Maria guckt mir ins Gesicht – sie kann meine Schuhe aber auch nicht in der Webcam sehen. Sie nutzt die Semesterferien, um ihre Heimat zu besuchen. Ostsee statt Neckar, moderne Bauten statt Altstadt, Wälder statt Ortschaften. Wer hat noch nicht darüber nachgedacht, einfach wegzuziehen und neu zu starten? Anderes Land, andere Sprache, andere Kultur, andere Freunde. Ein neues Kapitel im Lebensbuch aufzuschlagen und munter drauflos zu schreiben? Aber so ist das nun mal mit dem Buchschreiben: Den Wunsch haben viele, die Willensstärke nicht. Maria schon: September 2012 setzte sie sich ins Flugzeug und zog von Helsinki nach Heidelberg, um hier ihren Bachelor in Economics zu machen. Aus Neugier an anderen Sprachen und Kulturen. NOIR: Wie war dein erster Eindruck von Deutschland? Maria: Anfangs war ich ziemlich schockiert. Ich bin gleichzeitig zum

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ersten Mal von zu Hause ausgezogen. Ich habe den ganzen Tag viel geweint, weil es einfach wehgetan hat, Finnland zu verlassen und weil ich natürlich auch ein bisschen Angst hatte. Es war nicht leicht, alleine ins Ausland zu ziehen. Zum Glück ist mein Vater mit mir geflogen und war noch die ersten Tage für mich da. Inzwischen habe ich mich aber gut eingelebt. Erkennst du unterschiede Unterschiede zwischen „den Finnen“ und „den Deutschen“? (lacht) Das Klischee der schweigsamen Finnen stimmt schon einigermaßen. Aber auch die Finnen sind sehr sozial, wenn man ihr Vertrauen gewonnen hat. In Heidelberg finde ich die Stimmung sehr offen und international, aber das liegt vielleicht auch einfach daran, dass es eine Stadt und voller Studenten ist. Die offenen Menschen haben es mir leichter gemacht, mich einzuleben. Ich wurde immer akzeptiert. Aber manchmal vermisse ich bei den Deutschen die Direktheit, mit der man alles in Finnland sagen kann. Kühl und direkt, das sind ja klassische Deutschland-Klischees! Fehlt nur noch das Bier! Ich weiß, dass sich die Deutschen eigentlich selbst ziemlich direkt und verschlossen finden, aber wenn man in Richtung Norden geht, werden diese Eigenschaften gefühlt noch ein Stück stärker. Alkoholklischees gibt es auch über meine Heimat. Da ist was dran, aber darum ist Alkohol bei uns auch sehr teuer. Was ist Heimat für dich? Schwierige Frage! (lacht) Ich den-

ke, Heimat ist einerseits die Region, in die man immer wieder zurückkehren und wo man sich wohlfühlen kann. Andererseits hat die Heimat mit Herkunft zu tun. Oft ist es ja die erste Region, an die man Erinnerungen hat! Man verbindet es mit Kindheitserinnerungen und entwickelt ein Gefühl von Zugehörigkeit. Darum wird es später schwieriger, so eine besondere Beziehung zu einer Region zu entwickeln. Ich glaube aber, dass es möglich ist. Ist Heidelberg für dich zu einer Heimat geworden? Heidelberg ist innerhalb von Deutschland meine Heimat Nummer zwei, aber Finnland wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben und das kann nie weggenommen werden. Klingt ein bisschen wehmütig. Hast du denn ab und zu Heimweh? Ja, natürlich. Ich habe bemerkt, dass es oft mit Stress verbunden Foto: privat


REPORTAGE

ist. In solchen Momenten denke ich häufiger an den Rückzugsort meiner Kindheit, der freier von Stress war. Was tust du dagegen? Wenn ich spüre, dass ich gestresster werde, versuche ich, mir ein paar Tage Pause zu nehmen, an denen ich in der Freizeit nichts für die Uni mache, sondern mich auf mich selbst konzentriere. Ich versuche mehr Zeit mit meinen Freunden hier zu verbringen und habe mehr Kontakt nach Finnland. Ganz oft hilft auch finnische Musik. Vielleicht geht es darum, sich auch im Stress daran zu erinnern, dass einerseits die alte Heimat immer noch da ist und andererseits die neue Heimat viele gute Seiten hat. Kannst du deine alten Freundschaften denn aufrechterhalten? Ja, Internet und Handy sei Dank. Freunde sind etwas wirklich Wichti-

ges. Aber es ist natürlich schon ein bisschen weniger geworden. Wie hast du hier Freunde gefunden? Eine Woche vor Semesterbeginn gab es eine Orientierungswoche für internationale Studenten. Am Anfang war es leichter, sich mit den anderen Ausländern zu befreunden. Allen geht es ungefähr gleich in einem neuen Land. Sie haben Heimweh, Schwierigkeiten mit der Sprache und so weiter. Später habe ich am Ersti-Wochenende teilgenommen und da viele deutsche Studenten kennengelernt, genauso wie in verschiedenen anderen Veranstaltungen von der Uni. Die meisten Internationalen Studenten waren zwar nur im Austausch hier und sind inzwischen wieder zurück in ihrer Heimat. Ich finde es aber gut, dass hier meine meisten Freunde deutsch sind, sonst wäre es ja keine echte „Deutschland-

Erfahrung“. (macht die Geste für Anführungszeichen und lacht) Eine echte Deutschland-Erfahrung also. Hast du denn vor, Deutschland länger zu erfahren? Mindestens bis zum Ende meines Bachelor-Studiums. Ich schließe es aber nicht aus, länger zu bleiben oder später zurückzukommen. Ich weiß noch nicht, wo ich später lebe, und das finde ich auch schön so. Ich finde es gut, dass ich schon im jungen Alter eine Auslandserfahrung gemacht habe, damit weiß ich auch, dass ich überall zurecht komme, wenn ich nur will. Das gibt mir ein starkes Selbstvertrauen. Eine letzte Frage: Was sagst du zum Winter in Deutschland? Winter? Braune Pampe! Es ist einfach nass und dunkel die ganze Zeit. In Finnland hat man wenigstens Schnee, mit dem alles heller wird. Licht ist wirklich ungeheuer wichtig!

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Fotos: X X X

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WISSEN

PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN Was ist eigentlich noch normal und ab wann bezeichnet einen die Medizin als krank? Ein Überblick über die häufigsten Störungen.

EIT SS TÖRUNG PARANOIDE PERSÖNLICHK zeigen, hinter dem VerMisstrauen zu

Text: Laurens Elm

Bedeutet, starkes muten stets Feindseligkeit zu ver halten anderer Menschen sein. zu n nge isu enüber Zurückwe und sehr empfindlich geg Per ihre en geg gen Verschwörun Paranoide glauben oft an halten Ver das ren etie rpr inte sich und son, beziehen alles auf itlustig feindselig. Sie sind oft stre als et ünd egr unb r ere and Standpunkt. und beharren auf ihrem

SCHIZOIDE PERSÖNLIC

HK EIT SS TÖRUNG Bedeutet, sich von nahezu allen sozialen Kontakten zurückzuziehen und nur ein seh r geringes Maß an Emotio nen und Freude zu zeigen. Schizo ide sind stark in sich gek ehrte Einzelgänger und verbringen ihre Zeit lieber in ihrer Fan tasie als mit anderen Menschen. Auf die Gefühle anderer kön nen sie nicht angemessen mit eig enen Gefühlsregungen rea gieren. Schizoide Menschen sin d in der Regel stark Intr overtiert. SCHIZOT YPE NG PERSÖNLICHK EIT SS TÖRU

e Bedeutet, eine mangelnd lichen sön per en eng zu Fähigkeit ensch Beziehungen bzw. im zwi en. hab zu menschlichen Bereich h risc ent exz r seh d Schizotype sin ten, hal Ver m ihre in ig rull und sch entwickGrübeln zwanghaft und (teils sie da len bizarre Ideen, r ihre in gen run starke) Verzer ken Den m ihre und ung ehm Wahrn zusie haben. Auf andere wirken ar. ahb unn und rückgezogen, kalt der in d sin hen nsc Schizotype Me Regel stark Introvertiert.

DISSOZIA LE PERSÖNLICHK EIT SS TÖRU NG Bedeutet, die Rechte von andere

n und die Regeln der Gesellscha ft gezielt zu missachten. Dissoziale bzw . psychopathischen Menschen fehlt das Schuldbewusstsein für unangebra chte Handlungen und das Einfühlungsv ermögen für die Gefühle Anderer. Soz iale Normen spielen für sie keine Rol le. Ihre Schwelle zu Frustration und Gewalta usübung ist sehr gering. Dissoziale Me nschen sind in der Regel unempfänglic h für negative Emotionen wie Angst ode r Unsicherheit und haben daher eine seh r niedrige Empfindlichkeit, sind em otional also sehr widerstandsfähig.

HIS TR IONISCHE NG PERSÖNLICHK EIT SS TÖRU

otionales und Bedeutet, übertrieben em zeigen, dass oft zu ten hal Ver s dramatisierte nische Menschen geschauspielert ist. Histrio Bedürfnis nach es haben einen extrem hoh ng, Lob und nnu rke Ane Aufmerksamkeit, übertrieben, end ech spr ent sich verhalten erlangen. Sie zu t um diese Aufmerksamkei ungen in ank hw ssc haben oft starke Gefühl rückund iv uls imp d kürzester Zeit, sin sind in hen nsc Me che nis trio His sichtslos. ert. der Regel stark extroverti

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Foto: „Daniel Eichenberg“ / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)


KULTUR

IDENTITÄT IN GESICHTERN LESEN Gesichter lesen – diese seit Jahrtausenden in einigen Kulturen praktizierte Technik hat viele Namen: Antlitzdiagnostik, Physiognomik, Mimiklehre oder auch Siang Mien. Aus zahlreichen Feinheiten, wie Schattierungen, Falten, Gesichtsformen und –zügen, lesen und deuten Kundige ihr Gegenüber. Text: Rebecca Notter

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abei geht es nicht nur um Gesundheit, um Mängel, Fehlernährung und Krankheiten, sondern auch um persönliche Eigenschaften, Stärken und Schwächen, den Charakter – und sogar ums Schicksal! Manch einer mag das für totalen Quatsch halten, manch anderer ist ein überzeugter Verfechter dieser Kunst. Fakt ist, dass alle Menschen einzigartig, aber in ihrer Einzigartigkeit doch irgendwie gleich sind. Denn jedes Gesicht ist eine individuelle Mischung aus festgelegten Formen und damit verbundenen Eigenschaften. Alleine die Zeit, wir selbst und unsere Umwelt beeinflussen unser Aussehen und unsere Persönlichkeit. Aber was hat das mit Identität zu tun? Im folgenden Gedankenfluss zu diesem Thema stecken einige Fragen, von denen ich so frech war, sie einem Experten zu stellen: Eric Standop ist praktizierender Gesichtleser und europaweit sowie in Asien bekannt. Er war so freundlich, mir Antworten zu geben. Mein Gesicht ist einzigartig - und dennoch sehe ich typisch deutsch aus. Sein Gesicht ist einzigartig und trotzdem stecken ihn alle in die Schublade „Gothic“ - wegen der schwarzen Haare, den dunkel geschminkten Augen, der blassen Haut. Unsere Gesichter geben uns eine Identität – ob wir wollen oder nicht. Oder sagen wir es genauer: wir selbst, aber auch die Menschen um uns herum geben uns anhand unseres Aussehens eine Identität. Identität, die in bestimmten GrupFoto: Eric Standop

pen münden kann: Sei es Nationalität, berufliche Orientierung, sozialer Status oder selbst die Vorahnung eines Charakters. Es fallen Sätze, wie: „Der da sieht schon aus wie ein Mörder. Vor dem würde ich mich in Acht nehmen.“ Bloßer Quatsch oder intuitives Wissen? Steckt in uns allen vielleicht irgendwo ein kleiner Gesichtsleser? Und bin ich denn wirklich so typisch deutsch überpünktlich und verstehe keinen Spaß, nur weil ich so aussehe? Lasse ich mich in diese Schublade stecken? Denn schließlich heben wir uns mit unseren Gesichtern auch von den Anderen ab. Sie werden plötzlich der Ausdruck unserer eigenen Identität. So schleicht sich durch manch eine Gewohnheit, etwas Individuelles in unsere Gesichter, auf unsere Stirn, in den Ausdruck in unseren Augen. Es entstehen Sorgenfalten, die selbst bei guter Laune nicht verschwinden. Oder ein Lächeln, das selbst noch im Traum um die Mundwinkel des Schlafenden pulsiert. Wir selbst graben Falten, setzen Mienen auf, werfen Blicke … und zeichnen somit unsere Persönlichkeit - das, was uns als Individuum ausmacht - auf unser Gesicht. Es braucht nur jemanden,

der diese verschlüsselten Botschaften zu lesen vermag. Neben diesen teils unbewussten Veränderungen können wir aber auch geplant unser Aussehen, unsere Identität bestimmen. Wir stylen und schminken uns wie es uns gefällt. Hier ein Piercing, da etwas Rouge, Haarschnitt und Haarfarbe so persönlich wie möglich. Aber durch Schminken, Umstylen bis hin zu Schönheitsoperationen für viel Geld - verstecken wir uns damit nicht auch ein bisschen hinter einer anderen Identität? Verbergen, wer wir tatsächlich sind? Die ungeschminkte Person, die morgens in natura in den Spiegel schaut.

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REPORTAGE

GEHÖRST DU DAZU? „Was sagt ein BWLer zu einem VWLer? „Einen Bigmac und eine Cola, bitte!“ Die BWL Studenten in der Mensa verschlucken sich fast an ihren Nudeln, dabei hat der Witz schon einen ordentlichen Bart. Wir reißen eben gerne Witze aber nur über „andere“. Text: Evgenia Kozyreva | Layout & Illustration: Felix Ogriseck

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ie beiden Ökonomen aus dem Witz werden je nach Situation durch einen Juristen und einen Germanisten, einen Informatiker und einen Theologen ersetzt, die Kombinationen sind zahllos. Der Punkt ist- Zahnärzte, Künstler, Griechen, Türken, Fitnesstrainer oder Apple-Nutzer sehen sich als eine Einheit und reißen gerne Witze über Außenstehende. Ich gehöre dazu, also bin ich. Es liegt in unserer Natur, uns Gemeinschaften anzuschließen. Auch diejenigen, die es nicht merken, identifizieren sich mit einer Fraktion. FC Bayern Fans, BMW-Fahrer, Veganer, Team Jacob, Schüler der 12 B sind nur einige Beispiele für die kleinen Welten, die wir uns erschaffen. Psychologen zählen soziale Anerkennung zu unseren Grundbedürfnissen, sie soll uns sogar wichtiger sein, als die persönliche Entwicklung. Tatsächlich fühlen sich die meisten unwohl, wenn sie von einer Gruppe ausgeschlossen werden.

Es liegt in unserer Natur, uns Gemeinschaften anzuschließen. Wir wollen, dass unsere Meinung gehört, unsere betonte Individualität gesehen wird. Und sobald wir eine passende Gesellschaft dafür gefunden haben, fangen wir an, sie zu mögen. Nur wenige Gemeinsamkeiten sind nötig, um uns abzugrenzen. Ein Klassiker: der Psychologe Henry Tajfel teilte durch Münzwurf eine Schulklasse in zwei Gruppen 18

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auf. Bei dem Experiment mussten die Kinder ein paar Cents an Andere verschenken. Die Teilnehmer gönnten dabei den Schülern aus ihrer eigenen Gruppe mehr Geld, aus reiner Solidarität- sie hatten ja selbst nichts davon. So schnell kann es gehen mit dem Mannschaftsgefühl.

Teilnehmer spielte die Gefangenen, die andere die Wächter. Schon bald fühlten sich die „Wächter“ in ihrer Rolle so real, dass sie begannen, die „Gefangenen“ zu misshandeln. Das Experiment musste unterbrochen werden, sein Ausgang erschütterte die ganze Welt.

Wir sehen schon- jeder, der nicht Robinson Crusoe heißt, landet in irgendeiner Gemeinde. Was soll daran schlimm sein, dass Menschen sich einer Gruppe zuschreiben und sich dadurch besser fühlen? Scheinbar nichts. Es ist schön, wenn jemand stolz auf seinen Dialekt ist. Es ist in Ordnung, wenn Stadionsbesucher sich in Tricots quetschen und den Sieg ihrer Lieblingsmannschaft feiern- Erfolgserlebnisse machen glücklich.

An dem Phänomen „Gruppendrang“ hat sich auch nach diesem berüchtigten Fall nichts geändert- der Mensch ist nun mal ein Herdentier. Es zeichnet sich allerdings in den Medien eine Tendenz ab, die Problematik hin und wieder anzusprechen. Zumindest vor solch radikalen Gruppierungen wie Scientology, NPD und die Zeugen Jehovas sind wir alle gewarnt. Studien wie das Stanford Prison Experiment darf man heute übrigens nicht mehr veranstalten. Wir werden weithin vorsichtiger. Witze über die VWLer, die Philosophiestudenten und die Bayern sind dafür populärer denn je.

Es ist schön, wenn jemand stolz auf seinen Dialekt ist. Problematisch wird es erst, wenn die Fußballfans mit zerbrochenen Flaschen aufeinander losgehen, oder wenn ein Schwabe die Bayern wegen ihrer Aussprache verschmäht- ganz zu schweigen von Ausländern. Das Gruppengefühl kann sich nämlich leicht in Arroganz und Hass gegenüber anderen Gruppen entwickeln. Das Gegeneinander entsteht genau so schnell und grundlos wie das Miteinander. Traurig berühmt ist der Stanford Prison Experiment, bei dem Gefängnisbedingungen nachgestellt wurden. Eine Hälfte der


INTERVIE W

SCHOKOWAHN Zu viel Schokolade macht dick, das weiß jedes Kind. Schade, denn sie schmeckt wirklich lecker! Warum kann man mit ihrer Hilfe nicht abnehmen? Dann könnte man so viel davon essen, wie man will. Meine Interviewpartnerin Steffi hat es ausprobiert. Sie testete die „Schokoladen-Diät“ und musste feststellen, dass sie sich durch Ernährung alleine mit Schokolade keineswegs wie im Traumland fühlt. Text: Janine Ponzer

W

ie kamst du auf die Idee, die „ Schokoladen-Diät“ auszuprobieren? Als ich von der Schokoladen-Diät hörte, fragte ich mich erst einmal, wie das überhaupt funktionieren soll. Es klang so unglaublich, dass ich beschloss, diese originelle Diät einfach selbst auszuprobieren. Durch Schokolade abnehmen – das wäre der Wahnsinn! Und der Gedanke, sich nur von Schokolade zu ernähren, erschien mir traumhaft.

Aber wie soll man abnehmen, wenn man ausschließlich Schokolade isst? Mit der Schokolade nimmt man zwar viel Energie auf, allerdings nur wenige Nährstoffe. Angeblich legt der Körper dabei quasi einen Schalter um und startet auf diese Weise die Verbrennung seiner Fettreserven. Bei dieser Diät durfte ich täglich bis zu 400 Gramm Schokolade essen. Mehr ging beim besten Willen eh nicht, da mir von dem vielen süßen Zeug schlecht wurde. Foto: AOK Heilbronn

Und was gilt dabei als Schokolade? Es gibt viele Sorten, auch mit Füllung, als Schokoladeneis und sogar Kuchen. Die Vorgabe lautet, nur reine Schokolade, das heißt Vollmilch oder Zartbitter, zu essen. Also alle Schokoladenprodu kte, die beim Erhitzen schmelzen. Füllungen wie Nüsse, Kekse und auch Kuchen schmelzen nicht. Eis, Pudding und Schokoladensoße sind jedoch erlaubt. Wichtig ist außerdem, dass man den Stoffwechsel anregt, indem man viel Wasser, Tee und schwarzen Kaffee trinkt.

Hast du durch die Schokoladen-Diät tatsächlich abgenommen? Und gab es weitere Auswirkungen auf deinen Körper oder gar auf deine Stimmung? Nach zwei Tagen wog ich ein halbes Kilo weniger. Heftige Auswirkungen auf meinen Körper gab es schon. Am ersten Tag ging es mir noch richtig gut – immerhin durfte ich mich an Schokolade satt essen und befand

mich durch den Zuckerschub dauerhaft in einer Hochstimmung. Doch bereits am zweiten Tag bekam ich Kopfschmerzen und mir war zeitweise schwindelig. Außerdem fühlte ich mich kraftlos und konnte keine Schokolade mehr sehen. Deswegen brach ich die SchokoladenDiät nach dem zweiten Tag ab.

Dazu sagt Iris Baumann, Diätassistentin und Ernährungsberaterin bei der AOK Heilbronn: Das Prinzip der Schokoladendiät „zur Ankurbelung der Fettverbrennung keine Nährstoffe aufnehmen“ kann nicht funktionieren, da man durch die Aufnahme von Zucker und Fett den Körper mit Energie ausreichend versorgt, aber mit den falschen Nährstoffen. Durch den Verzehr von 400 Gramm Schokolade nimmt man ungefähr 2.000 Kilokalorien zu sich, die den Tagesbedarf decken. Doch dem Organismus entgehen wichtige Mineralstoffe und Vitamine, die in Süßigkeiten nicht enthalten sind. Deshalb ist die sogenannte „Schokoladen-Diät“ unsinnig. Ganz generell sind Diäten nicht zu empfehlen. Möglicherweise erzielt man auf der Waage kurzfristig einen positiven Effekt. Bei Diäten geht es jedoch immer erst einmal um einen Verzicht, den der Körper früher oder später ausgleichen muss. Aus diesem Grund erzielen Diäten langfristig in den meisten Fällen die gegenteilige Wirkung, nämlich eine unerwünschte Gewichtszunahme. Möchte man aufgrund von Übergewicht abnehmen, ist nur die Umstellung auf eine gesunde Ernährung nach den Empfehlungen der Ernährungspyramide oder des Ernährungskreises sinnvoll und erfolgsversprechend.

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LIFEST YLE

DISKO - TYPEN... ... im Okay und Delta in Donaueschingen. Die einen hören Dicobeats, die andren Gitarrenriffs. Was denken sie über die „anderen“? Autor: Linda Dörr | Fotos: John Morel | Layout: Jasmin Maniakowski

OKAY

1.Frage: Würdest du ins Delta gehen? 2.Frage: Wie wichtig ist dir Musik? 3.Frage: Kleidest du dich nach wie es dir gefällt oder eher Musikorientierend? 4.Frage: Wie oft gehst du ins Okay? 5.Frage: Wie findest du Metal?

Firas, 31 Jahre, Bad Dürrheim 1. Ich geh ins Delta, wenn Stufenparty´s sind, weil dort auch Leute hingehen, die ich kenne. Sonst eigentlich nicht, weil ich nicht gerne Rock höre. 2. Musik ist mir sehr wichtig. Ich höre täglich Musik, hauptsächlich Hip Hop. 3. Ich kleide mich eigentlich nicht nach der Musik. Ich ziehe das an, was in meinem Schrank liegt. 4. Ich bin regelmäßig im OKAY, hauptsächlich donnerstags, weil ich dort immer mit ein paar Kollegen hingehe um vom BBQ zu essen und weil mir die Musik des Öfteren auch gut gefällt. 5. Ist nicht meine Musik.

Ferdinant, 21 Jahre, Bonndorf 1. Ja würde ich, abwechslungshalber. 2. Sehr wichtig, wenn die Musik stimmt läuft das Bier von alleine. 3. So wie ich Lust habe. 4. Im Durchschnitt, ca. 2 mal im Monat. Weil nichts anderes in der Nähe ist. 5. Metal find ich ganz gut.

Meike & Vivi, beide 19 Jahre, Donaueschingen 1. Ja, aber nur auf ABI-Party´s. Weil dort ein Haufen Leute sind die wir kennen. Und man hat super Möglichkeiten coole neue Leute kennenzulernen. 2. Sehr wichtig. Weil wir gerne Tanzen und weil feiern ohne Musik nur halb so gut wäre. 3. Wir kleiden uns so wie wir uns wohl fühlen also ganz unabhängig von der Musik. 4. Je nachdem ob es bei uns zeitlich passt aber mindestens 2 mal im Monat. 5. Vivi: Gelegentlich aber eigentlich nicht. Meike: Überhaupt nicht.

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LIFEST YLE

Jens, 25 Jahre, Donaueschingen 1. Nur wenn es was um sonst gibt, wie zum Beispiel BBQ. Weil die Leute im OKAY viel zu eingebildet sind. 2. Auf einer Skala von 1- 10? Eine Glatte 15.

3. Mein erstes Band Shirt mit 6 -> Queen. Ich denke das erklärt schon alles. 4. So oft wie nur möglich, es ist mein Wohnzimmer. „Karma muss man sich verdienen“

DELTA

1.Frage: Würdest du ins OKAY gehen? 2.Frage: Wie wichtig ist dir Musik? 3.Frage: Kleidest du dich nach wie es dir gefällt oder eher Musikorientierend? 4.Frage: Was machst du im Delta?

Dante, 17 Jahre, Donaueschingen 1. Nie im Leben. Ich war einmal das reicht mir. Die Leute starren mich nur komisch an und die Musik ist Kacke, weil ich keinen Rhythmus finde, und die Texte bestehen bloß aus zwei Sätzen. Wenn da überhaupt mal Text drin vorkommt. 2. Musik ist mir das wichtigste. 3. Ich mag selber keine Farben, aber das hat nichts mit der Musik zu tun. 4. Ich bin fast wöchentlich dort. Um Party zu machen, tanzen, Spaß haben, ein bisschen trinken und wegen der Musik. „Rock besser gibt’s nichts“

Mabble & Maxi, 17 Jahre und 19 Jahre , Hüfingen 1. Maxi: Niemals, mir passen Musik nicht und Großteil der Leute auch nicht 2. Maxi: Unglaublich wichtig! 3. Maxi: Zuerst hab ich mich so gekleidet dann kam erst die Musik dazu. Es gefällt mir einfach und ich fühle mich wohl darin. 4. Maxi: Wöchentlich. Es ist mein Real-Life, eine super Kontaktbörse und es gibt coole und auch nette Leute. Maxi: „ Bildung ist das wichtigste“ 1. Mabble: Nein! Nur Yolo- Bitches nicht meine Musik. Und im OKAY ist nicht so eine Familie wie im Delta. 2. Mabble: EXTREM wichtig! 3. Mabble: Ja ich kleide mich eindeutig und mir purer Absicht nach meiner Musikrichtung, weil ich zeigen möchte dass ich nicht zu den Yolo- Bitches gehöre. 4. Mabble: Alle 2- 3 Wochen, weil die Musik der Hammer ist und weil man Freunde trifft und jeder kennt jeden dort. Mabble: „ Die Hölle hat mich ausgespuckt“

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MAL ANDERS Jeder Mensch strebt danach anders zu sein. Der Mensch will als einzigartiger, besonderer Mensch wahrgenommen, respektiert und anerkannt werden. Was macht euch besonders? Text: Laurens Elm

E

s entsteht das Bedürfnis nach Individualität. Viele drücken ihre Individualität über äußerliche Merkmale wie z.B. ihren Kleidungsstil und ihre Haare aus. Doch um sich optisch individuell zu geben, reichen Jutebeutel, Dreitagebart und Hipster-Brille nicht mehr aus.

Um der allgegenwärtigen „Hipster-Individualität“ zu entkommen greifen viele Menschen zu Maßnahmen wie Tattoos, Tunnels und bunte Haare um ihre optische Einzigartigkeit klar zu stellen. Für einige reicht das nicht. Body-Modifications liegen groß im Trend. Sie reichen von

harmlosen Piercings und Silikonimplantaten bis zu Narbenmustern und Selbstverstümmelung. NOIR hat fünf Personen gefragt, was sie anders machen.

„Ich versuche generell glücklich zu werden. Jedes Mal, wenn ich mich umschaue sehe ich Leute, die es nicht sind.“ Orkun Özdemir, 19, StuttgartMitte

„Ich esse verkehrt. Also, das Messer in der linken Hand und die Gabel in der Rechten“ Hannah Schulze, 20, Stuttgart-Ost

„Ja, ich nehme Drogen… Nein, ich pierce mich, ich lass mir Tätowierungen stechen und ich höre gute Musik: Deathcore, Hardcore, Dubstep, Drum-Bass…“ Leo Acid Lion, 18, Baltmansweiler

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„Ich bin gepierct, wir haben Tunnels, weil wir cool sind, wir hören Metall, weil wir cool sind, wir stehen dazu wie wir sind und haben bunte Haare.“ Jana Schmalacker, 18, Waiblingen

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„Ich beobachte die anderen Menschen und versuche es besser zu machen wie sie, im Sozialen und allen Sachen.“ Timothy Vöge, 22, Stuttgart-West

Fotos: Tim Nikischin


MEINUNG

PRO/CONTRA: SOTSCHI Sotschi. Wie behalten wir es in Erinnerung? Für die einen war es ein absolutes Medienspektakel, das jeden Tag im Fernsehen verfolgt wurde. Für andere war es nur eine politische Inszenierung Russlands. Zwei Autorinnen, zwei Meinungen.

PLANET SOTSCHI Olympia in Sotschi ist ein viel diskutiertes Thema, die Proteststimmen sind laut, doch herumschreien kann jeder. Aber was ist denn gut an den Spielen in Russland? Die viel kritisierten Wettkampfstätten sind elf gigantische Monumente, die Milliardenbeträge verschlungen haben, aber sinnvoller geplant wurden als die aus Peking 2008 oder Athen 2004. Vier der Hallen sind ab- und wieder aufbaubar, das Olympiastadion wird Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft 2018 und das SkisprungZentrum nationales Trainingszentrum. Olympia in Russland lässt uns außerdem über den Tellerrand blicken, denn Hand auf‘s Herz, was wissen wir denn schon über den größten Staat der Welt? Von diesem Land weiß man im Westen noch viel zu wenig. Auch die russische Bevölkerung ist über das Anti-Homosexuellen-Gesetz empört und in manchen Teilen des Landes liberaler als in anderen. Nichts ist schwarz und weiß, nicht einmal in Russland. IOC-Präsident Thomas Bach sagte in einem Interview der Welt am Sonntag: “Wir sprechen über Umweltfragen in Sotschi, über die Rechte von Homosexuellen, über gesellschaftliche Umstände in Russland. Das wäre sonst nicht der Fall.“ Olympia fungiert als treibende Kraft und heizt den Dialog an, der dringend geführt werden muss. Selbstverständlich geschehen Dinge, die die westlichen Nationen nicht einfach tolerieren können, aber wie die Wirtschaftswoche schon treffend erkannt hat, lässt „plumpe Empörungsrhetorik Putin nicht zum Demokraten werden.“ Text: Elisabeth Brauch

EIN ABSURDES SPEKTAKEL Können Sie sich an die letzten olympischen Winterspiele erinnern? Oder an die vorletzten? Ich auch nicht. Skilanglauf & Co haben an sich wenig Sensationspotential. Doch die Spiele in Sotschi haben es geschafft, unglaublich viel Lärm auszulösen. In Russland gibt es genau eine warme Stadt: Sotschi. Sie liegt am schwarzen Meer, die Sonne scheint dort das ganze Jahr. Genau der richtige Ort für die Winterspiele. Dass dort kein Schnee fällt, hielt die Organisatoren nicht ab. Der Schnee wurde aus nördlichen Regionen gebracht und mit Chemikalien bestreut, damit er nicht sofort schmilzt. Die erbauten Anlagen wird nach der Olympiade natürlich niemand benutzen. So stellt sich die logische Frage: warum wurden sie dort erbaut? Ganz einfach: Sotschi ist eine malerische Kulisse. Zumindest war sie das vor den Bauarbeiten. Die einzigartige Natur dieser Region hat bei der Errichtung einen großen Schaden erlitten, bei einem so großen Bauprojekt war das nicht anders zu erwarten. Vor allem der Sotschier Nationalpark und die Imeretinskaya-Tiefebene sind davon betroffen. Anstatt das olympische Budget in die Entwicklung einer armen Region zu investieren, schütteln die Organisatoren einen Kurort mit Müll zu und streuen Schnee darüber. Sechzehn Tage lang ergibt das ein schönes Bild. Olympische Spiele haben die Tendenz, jedes Jahr prunkvoller zu werden. Die in Sotschi kosteten um die 40 Mrd. Euro und waren somit die teuersten in der Geschichte. Zynisch, wenn man bedenkt, dass viele Arbeiter von den Baufirmen ausgebeutet und um ihren Lohn betrogen wurden. Text: Evgenia Kozyreva

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