NOIR - Ausgabe 20: Märchenhaft

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Ausgabe 20 (Mai 2011) www.noir-online.de

Märchenhaft Lifestyle

Thema

Politik

Draußen spielen: Der Naturkindergarten boomt

Ohren spitzen: Zu Gast bei einem Erzähler

Fremd geangelt: Woher kommt unser Fisch?


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~ Editorial ~

Es war einmal … Drei gleiche Früchte nebeneinander – 100 Euro gewonnen. Eine Reportage aus einer Spielhalle auf Seite 12.

Inhalt – NOIR 20

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ine Königstocher, die ging hinaus in den Wald und setzte sich an einen kühlen Brunnen“, so beginnen die Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ mit „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“. Entstanden 1812, sind sie die bekannteste und bedeutendste deutschsprachige Märchensammlung. In den früher im Volk mündlich überlieferten Erzählungen greifen übernatürliche Kräfte und Gestalten in das Leben der Menschen ein. Märchen erinnern uns an unsere Kindheit; als unsere Großeltern oder Eltern die Märchen der Gebrüder Grimm oder die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht erzählten. „Erzähle mir nur keine Märchen!“, mag da der eine oder andere denken. Und so erzählen wir in dieser Ausgabe nicht nur ein peruanisches Märchen von den Seelen der Toten, sondern beschreiben Märchen im Wandel der Zeit. Eine unserer Autorinnen porträtierte den Märchenerzähler Frank Jentzsch. Wie sich die Beziehung zwischen Wolf und Mensch entwickelte, zeigt der Text „Der gute Wolf“. Wie ein Schauermärchen klingt die traditionelle Orangenschlacht in der norditalienischen Stadt Ivrea. Wohingegen die Behauptung, dass Schenken leicht wäre, ein Märchen ist. In „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich“ lernte die Königstocher, dass man seine Versprechen einhalten soll. Und so liegt vor euch eine neue Ausgabe voller interessanter Geschichten, die es nicht nur in alten Überlieferungen gibt – viel Freude mit einer märchenhaften NOIR!

Fotos: erdbeersüchtig / photocase.com (groß); Budin / photocase.com (o.re.)

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Interview. Versteckte Liebe

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Wissen. Wundermittel Plastik

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Thema. Märchen früher & heute

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Thema. Peruanisches Märchen

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Thema. Jorinde, Joringel und Co Kommentar. Brutale Märchen

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Thema. Märchenerzähler

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Umfrage. Märchenhaftes erlebt?

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Reportage. Einmal Müllmann

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Reportage. Frutinatorzocken

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Politik. Fisch aus Afrika Politik. Angst ums Öl

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Lifestyle. Waldkindergarten

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Thema. Der böse Wolf

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Intern. Shooting ohne Frosch

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Querbeet. Multikulti WG Querbeet. Kreativer schenken Querbeet. Orangenschlacht

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Editorial Impressum

NO I R N r . 20 ( M a i 2011)

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Wenn Liebe zum Versteckspiel wird Ayshe* verabscheut Spätzle, Manuel ist genervt von Bollywoodfilmen. Seit einigen Monaten sind die beiden ein Paar. Ayshe stammt aus einem anderen Kulturkreis, Manuel ist ein waschechter Schwabe. NOIR-Autorin Puja Matta hat mit den beiden 19-Jährigen darüber gesprochen, welche Schwierigkeiten eine Beziehung zwischen Kulturen sonst noch mit sich bringt.

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st es schwer für euch, mit jemandem aus einem anderen Kulturkreis zusammen zu sein? Manuel: Ja, ist es. Am Anfang habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Ich bin einfach meinem Gefühl gefolgt. Ayshe: Ja, wobei ich schon sagen muss, dass es für mich persönlich auch am Anfang nicht einfach war. Ich bin hier in Deutschland aufgewachsen, habe fast nur deutsche Freunde, aber einen deutschen Freund? Das habe ich immer versucht zu vermeiden. Nicht nur wegen der kulturellen Unterschiede, sondern vor allem wegen meiner Eltern. Also wissen eure Eltern nichts von der Beziehung? Manuel: Meine Eltern wissen von Ayshe, wie wichtig sie mir ist. Und sie freuen sich sehr für mich. Wir sind so oft bei mir Zuhause, da laufen wir ständig meiner Familie über den Weg. Das könnten wir gar nicht verbergen. Allerdings muss ich ehrlich sagen, dass meine Mutter am Anfang mich vor der Beziehung gewarnt hat, nach dem Motto: Man hört ja nicht selten von Ehrenmord und so. Ayshe: Bei mir ist das ganz anders. Weder meine Eltern noch meine Geschwister wissen etwas von der Beziehung. Das ist bedrückend und belastet mich sehr. Könnt ihr euch trotzdem oft genug sehen? Ayshe: Wir versuchen natürlich, das Beste aus unserer Beziehung zu machen. Sehen können wir uns trotzdem oft, unter der Woche und auch am Wochenende. * Beide Namen von der Redaktion geändert.

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Manuel: Aber es ist das reinste Versteckspiel! Dauernd müssen wir aufpassen, dass Heimliche Küsse: Ayshe verheimllicht ihren Freund vor ihren Eltern. uns keiner sieht, der von der Beziehung nichts wissen darf. die Nerven. Trotz Spätzleproblem kochen Ayshe: Nicht besonders einfach. Wir woh- wir beide gerne zusammen, auch mal ein nen in einem kleinen Ort in der Nähe von bisschen Indisch. Bietigheim-Bissingen, hier kennt fast jeder Ayshe: Aber das sind ja keinen wirklichen jeden. Manchmal habe ich regelrecht Ver- Probleme. folgungswahn. Ich drehe mich ständig um, Manuel: Genau. Ich kann nicht verstehen, wenn wir in der Stadt herumlaufen. warum ihre Eltern sie nicht einfach mal machen lassen können, was sie will. Ich Ayshe, wollt ihr es deiner Familie bald kann nicht nachvollziehen, warum sie gesagen? gen eine Beziehung zu einem Deutschen Ayshe: Die Beziehung zu meinen Eltern war sind. Ayshes Eltern leben doch immerhin nie besonders locker oder einfach. Ständig hier in Deutschland und grenzen sich muss ich lügen, ich würde eine Freundin doch so sehr ab. Das ist das eigentliche treffen, obwohl ich ja eigentlich zu Manuel Problem. fahre. Diese Lügerei geht auf Dauer nicht Ayshe: Ja, es ist für die Beiden sehr schwer, gut. Ich glaube, dass jede Wahrheit ihren sich nicht nur beruflich zu integrieren. Weg findet. Ich will nicht wie ein kleines Hier in Deutschland sind die Menschen Kind erwischt werden, das etwas Verbo- mit vielen Dingen viel freier, mit der Erzietenes tut. Ich will selbstbewusst meinen hung und mit der Sexualität. Eltern Manuel eines Tages vorstellen kön- Manuel: Beides aber kein Problem für uns, nen. da wir keine Kinder haben und Ayshe Manuel: Auf diesen Tag können wir si- nicht verklemmt ist wie ihre Eltern. cherlich noch ein wenig warten. Obwohl: Wenn es nach mir ginge, wüssten sie es Was sagen eure Freunde zu eurer Bezieschon längst. hung? Ayshe: Sie freuen sich sehr für mich. Welche kulturellen Probleme gibt es zwi- Manuel: Ich musste mir am Anfang schon schen euch? dumme Sprüche anhören wie: „Machst du Ayshe: Ich mag keine Spätzle! Dafür mag einen auf große Integration?“ Aber seit eiManuel die von mir heiß geliebten Bolly- ner Weile ist das vorbei. Es ist alles ganz woodfilme nicht. normal, als wäre ich mit einem deutschen Manuel: In den Filmen tanzen und singen Mädchen zusammen. sie die ganze Zeit. Das geht mir tierisch auf

Foto: Oreily / photocase.com


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» Wir können die Erde sechs Mal umwickeln « Vespertüten, Wasserflaschen, Filzstifte: Kunststoff steckt in fast allem drin. Das Wundermittel ist aber nicht so harmlos wie viele denken. In Plastik enthaltene Stoffe können gefährliche Auswirkungen auf Mensch und Tier haben.

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ie Plastikindustrie machte laut der Wirtschaftsvereinigung Kunststoff im letzten Jahr 95 Milliarden Umsatz. Rund 415 000 Deutsche verdienen mit Kunststoff ihr tägliches Brot. 60 Millionen Tonnen Plastik werden in Europa jedes Jahr produziert. Damit verbraucht der durchschnittliche Europäer jährlich mehr als 100 Kilogramm Plastik. Werner Boote, Macher des Filmes Plastic Planet, verdeutlicht: „Nach der Stein- und Bronzezeit haben wir heute die Plastikzeit.“ Die Folgen für Mensch und Umwelt sind enorm. Zwischen Kalifornien und Hawaii treibt ein Plastikstrudel, auf einer Oberfläche, die der Größe Zentraleuropas entspricht – der Great Pacific Ocean Garbage Patch. Andere Gewässer und Strände sind genauso betroffen. „In manchen Gebieten gibt es sechzig mal mehr Plastikteile als Plankton“, hat Charles Moore festgestellt, Entdecker des riesigen Müllkontinents. Der meiste Kunstoff gelangt durch Flüsse in die Meere, der Rest über Handelsund Kreuzfahrtschiffe oder Bohrinseln. Neben der Umweltverschmutzung selbst hat das Auswirkungen auf die Tierwelt. Fische, Schildkröten und Vögel verwechseln Plastik mit Plankton, Quallen oder anderen natürlichen Nahrungsmitteln. Da Kunststoff nicht verdaut werden kann, ist das für die Tiere tödlich. Den traurigen Rekord hält laut National Geographic ein Eissturmvogel aus Belgien mit 1 600 Plastikteilen im Bauch. Im Plastik enthaltene Weichmacher haben hormonelle Auswirkungen. Das kann zur Bildung zweigeschlechtlicher Merkmale führen wie dem Intersex-Fisch. Andere Meerstiere und Vögel verheddern sich in Kunststoffschnüren und ersticken. Auch der Mensch bleibt nicht unbetroffen. Kunststoff enthält potenzielle Schadstoffe wie Bisphenol A (BPA) und Weichmacher. BPA wird in Getränkeflaschen und Verpackungen, Weichmacher in fast jedem Plastik eingesetzt. Wird BPA durch

Foto: Millirat / jugendfotos.de

Hitze oder Abnutzung aus dem Kunststoff gelöst, gelangt es über Haut und Schleimhäute ins Blut. Dort stellt es den Hormonhaushalt auf den Kopf. Das kann Auswirkungen auf die Entwicklung, die Fortpf lanzungsfähigkeit und das Erbgut, bishin zu Zellsterben, haben. Die Universität von Michigan veröffentlichte 2010 eine Studie an 190 Männern mit Fruchtbarkeitsproblemen. Das Ergebnis: Fast alle Urinproben enthielten BPA. Männer mit einer hohen BPA-Konzentration wiesen eine um 23 Prozent geringere Spermienproduktion und etwa zehn Prozent mehr DNA-Schäden auf. Neuere Studien verbinden einen hohen BPA-Blutwert mit Diabetes, Herz-Kreislaufproblemen, Lustlosigkeit und Fettleibigkeit. Einen Skandal um die Gesundheitsgefahr von Plastik gab es schon vor etwa 50 Jahren. 170 Arbeiter der italienischen Firma „Montedison“ starben infolge ihrer Arbeit an Krebs. Die Firma stellte den Kunststoff PVC her, der in Fußbodenbelägen, Rohren und Schallplatten steckt. Weitere Arbeiter erkrankten schwer, etwa

am „Raynaud Syndrom“, das Hände und Füße taub werden lässt. Ein Grundproblem ist die schwere Kontrolle der in Plastik enthaltenen Stoffe. Die chemische Zusammensetzung von Kunststoffen ist bis heute aufgrund geheimer Zusatzstoffe in der Verarbeitung teils unbekannt. Aus Staaten mit geringen gesetzlichen Auflagen werden Plastikartikel importiert, die jene Zusatzstoffe und Gifte wie Quecksilber enthalten. Dazu zählt beispielsweise der südostasiatische Raum. „Die bisher produzierte Plastikmenge reicht aus, um die gesamte Erde sechs Mal mit Plastikfolie zu überziehen“, so Moore. Von der Industrie als achtes Weltwunder angepriesen, erweist sich Kunststoff trotz aller Vorteile als eines der größten Probleme des Menschen. Ein Problem, das immer größere Ausmaße annimmt, und – sollte die Produktionsund Lebensweise der Moderne nicht nach anderen Kriterien umgestaltet werden – böse zu verlaufen verspricht.

„Viele Gefahren für Tier und Mensch“

Gabriel Cioclea

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Von Rumpelstilzchens und Mauerblümchen Die Helden unserer Kindheit heißen Bibi Blocksberg oder Harry Potter. Brauchen wir da noch die alten Märchen? Was interessieren uns Froschkönige oder gestiefelte Kater?

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ärchen überdauern Jahrhunderte. Im französischen Original wird Rotkäppchen vom Wolf gefresDas Wort stammt vom Mittelhochsen. Den Gebrüdern Grimm war das zu brutal: Sie verstanden deutschen „maere“, das heißt Kunde, Beihre Märchen als pädagogische Ratgeber. richt oder Erzählung. Über zwei Jahrhunderte wurden in allen Kulturen mündlich Geschichten überliefert. So spukten mehrere Versionen eines Märchens durch die Lande. Die bekanntesten Märchensammler im deutschsprachigen Raum sind die Gebrüder Grimm. Allerdings sind sie nie Besonders prägend war ihr strenger hat. Die Prinzessin ermordet daraufhin auf Reisen gewesen, um die Geschichten Glaube: Zum Teil veränderten sie die ur- den Frosch, indem sie ihn brutal an die des Volkes aufzuschreiben; sie ließen jun- sprünglichen Märchen. Als Calvinisten Wand klatscht. Für diesen unmoralischen ge Leute aus dem Stadtbürgertum in ihr waren ihnen erotische oder politische An- Gewaltakt wird sie belohnt: mit dem MärArbeitszimmer zitieren. Nicht immer hat- spielungen ein Dorn im Auge. Die fran- chenprinzen! Und auch das Ideal der bürten die Geschichten ihren Ursprung in zösische Fassung von „Rotkäppchen“ von gerlichen Kleinfamilie wird oftmals mit Deutschland. „Dornröschen“ oder „Der Perrault endet damit, dass der Wolf das Patchwork-Familien gebrochen: Die böse gestiefelte Kater“ finden sich schon hun- Mädchen verschlingt. Die Brüder Grimm Stiefmutter hat im damaligen Idealbild eidert Jahre zuvor beim französischen Mär- spannen diese Geschichte bis zum Happy ner Familie eigentlich nichts verloren. chensammler Charles Perrault. End weiter. Sie verstanden ihre MärchenMärchen sprechen in Metaphern, SymJacob und Wilhelm Grimm waren sammlung als pädagogischen Ratgeber, bolen und Bildern, aber wenigstens eine zeitlebens unzertrennlich. Sie gelten als der zu Fleiß, Anstand, Treue und Gehor- Moral ist immer enthalten: Reichtum, Gründerväter der Germanistik und wich- sam erziehen soll. Doch diese bürgerlichen Schönheit und Macht führen nicht zum tigste Vertreter der Moralvorstellungen Glück. Anfangs waren Wissenschaftler die Romantik. In dieser sind nur scheinbar Zielgruppe der Brüder Grimm, später dann Epoche um 1800 in den Märchen ver- Erwachsene und erst im Laufe der Zeit wurde versucht, Gekörpert. Die eigent- wollten sie die Kinder erreichen. Aus diegensätze miteinander liche Moral ist laut sem Grund wurden Märchen erst ab dem auszugleichen; eine dem Literaturwissen- 19. Jahrhundert wegen ihrer Irrationalität märchenhafte Harschaftler Prof. Dr. und überbordender Fantasie der KinderliteDie Grimmschen Märchen monie zu erlangen. Rölleke gegensätz- ratur zugeordnet. Heute stehen die GrimmIm Jahre 1812 verlich: Im „Froschkö- schen „Kinder- und Hausmärchen“ weltweit öffentlichten die Brüder den ersten Band nig“ wird die Tochter vom König gezwun- in den Regalen der Kinderzimmer. In der ihrer gesammelten Geschichten unter dem gen, gegen ihren Willen mit dem Frosch zu Tat sind sie das meist gelesene, gekaufte und Namen „Kinder- und Hausmärchen“. schlafen, weil sie es ihm eben versprochen übersetzte deutschsprachige Buch.

Das meist gelesene deutsche Buch

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Foto: Jelena Weber / jugendfotos.de


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Hans Christian Andersen schrieb im Gegensatz zu den Brüdern Grimm Kunstmärchen. Seine Geschichten entsprangen seiner eigenen Fantasie. Andere Märchenautoren in der Romantik versteckten in ihren Geschichten politische Botschaften. Zwischen 1815 und 1848/49 war Deutschland in zahlreiche kleine Länder zerfallen, die jeweils ein eigener Herrscher regierte. Wilhelm Hauff drückte in „Zwerg Nase“ seine Sehnsucht nach einem national regierenden König aus. Diese damals radikalen Gedanken konnten nur in einem Märchen versteckt die Zensur passieren. Märchen sind weder an einem bestimmten Ort angesiedelt, noch in einer bestimmten Zeit. Wo genau das Märchenschloss im Zauberwald steht, ist unerheblich. Auch die Charaktere werden nur mit Kohlestift gezeichnet, sie bleiben schwarzweiß. Manche Eigenschaften der Märchengestalten werden bis ins Komikhafte übertrieben. Noch heute bezeichnet man eine pingelige und verzogene Madame als Prinzessin auf der Erbse, da diese über die Erbse unter zwanzig Matratzen und ebenso vielen Daunendecken sehr pikiert war. Die meisten Märchen sind ähnlich gestrickt: Der Gute zieht aus, um das Böse zu bekämpfen, er muss sich bewähren, triumphiert über den Bösewicht und am Ende wird geheiratet. Märchenforscher wie Dr. Barbara Gobrecht bestätigen dieses Schema: Es beginnt mit einer miserablen Situation; Hänsel und Gretel zum Beispiel müssen hungern. In den eigentlich für Erwachsene bestimmten Märchen sind die erwachsenen Märchengestalten mit Beziehungsproblemen konfrontiert: Der Vater heiratet nach dem Tod der ersten Frau wieder, eine Ehe bleibt kinderlos oder der Vater ahnt nichts von der Schwangerschaft Bei genauerem Hinsehen zeigt die heile Welt tiefe Risse auf: böse Stiefmütter, fressende Wölfe, grausame Hexen und Zauberer. Diese Märchengestalten bieten Kindern Metaphern für ihre eigenen Ängste und Gefühle. Eifersucht und Neid auf Geschwister werden in „Goldmarie und Pechmarie“ miterlebt, der böse Wolf steht für das Wilde und Unberechenbare. Kinder sind nicht so naiv, wie wir gerne glauben; sie ahnen, dass es dunkle Gefühle wie Ohnmacht, Trauer, Wut, Angst und Eifersucht gibt, doch können sie diese Gefühle nicht artikulieren. Böse Märchengestalten verkörpern diese Gefühle und machen sie somit bekämpfbar. Beim Vorlesen identifizieren sie sich mit mehreren

Foto: Sabrina Jenne / jugendfotos.de

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Märchengestalten gleichzeitig; mit dem verbreiten sie sich wie mit SiebenmeilenWüterich Rumpelstilzchen und dem Mau- Stiefeln. Die Rede ist von sogenannten erblümchen Aschenputtel. „Urban Legends“. Ein Klassiker ist die Kinder lassen sich von Märchen binnen vergessene Ehefrau an der AutobahnrastSekunden fesseln. Sie tauchen ein in eine stätte. Jedes Jahr taucht diese Geschichte Welt voller wundersamer Verwandlungen, zur Ferienzeit auf, in Deutschland genauso sprechender Tiere und Fabelwesen. Soll wie in Schweden oder den USA. man Kindern aber das schwarz-weiße Und immer ist es entfernten Bekannten Weltbild der Märchen vermitteln? Päda- von Freunden, dem Klavierlehrer des gogen zerstreuen die Bedenken mit einer Sohnes, der Patentante oder der Friseuse einfachen Erklärung: Kinder finden des- der Schwester der Nachbarin ganz gewiss halb einen so leichten Zugang zu Mär- genau so passiert. chen, weil sie selbst keine Schattierungen Glaubt man Märchenforschern, erfinin ihrem Weltbild kennen. Wenn sie sich den Menschen solche modernen Sagen, im Schoß ihrer Mutter geborgen fühlen, um Ängste zu verarbeiten. „Urban Legenschmeicheln sie ihr mit den Worten: „Du ds“ klingen ziemlich unglaublich, aber Gebist die beste, liebste und schönste Mama genbeweise lassen sich auch schwer finden. der Welt.“ Ein paar Minuten später – die beste Mama der Welt hat vielleicht Süßigkeiten verwehrt – verwandelt sich das Kind in Rumpelstilzchen h ö c h s t p e r s ön l i c h und stellt die Mutter als böse Hexe mit Warzen dar. Sollte man Kindern nun heutzutage mit dem überholten Rollenverständnis der Märchen und der gesellschaftlichen OrdKaum besser ergeht es dem französischen Froschkönig. Die temperanung eines anderen mentvolle Prinzessin klatscht ihn so stark an die Wand, dass er stirbt. Jahrhunderts konfrontieren? Ist es heute noch erstrebenswert, seinen Märchenprinzen zu heiraten Das deutsche Privatfernsehen brachoder gar König oder Königin zu werden? te vor ein paar Jahren die Märchen zur Doch auch das sind Gedanken eines Er- Primetime in unsere Wohnzimmer. In der wachsenen. Kinder verstehen die Formel- „Märchenstunde“ wurde das Original perhaftigkeit der Märchen ganz natürlich und sifliert. genießen den Ausflug in eine andere Welt. Doch diesem Klamauk fehlte trotz geDas Meinungsforschungsinstitut Allens- schickter Masken- und Kulissenbildner bach dokumentierte in einer Umfrage aus der Zauber. Dieselbe Leere hinterlassen dem Jahr 2003, dass sich 81 Prozent der modernisierte Märchen in AlltagsspraBefragten noch an mindestens drei Mär- che. Rotkäppchen auf dem gefährlichen chen aus ihrer Kindheit erinnerten. Doch Weg zur U-Bahn funktioniert einfach die mündliche Erzähltradition aus frühe- nicht. Harry Potter ersetzt Hänsel nicht, ren Zeiten ist verloren gegangen. Zur Un- die Hobbits nicht die Sieben Zwerge aus terhaltung wird heute der Fernseher vor- „Schneewittchen“. Streng genommen sind gezogen. Wer erzählt heute noch Märchen, diese modernen fantastischen Geschichaußer unseren Politikern im Wahlkampf? ten auch keine Märchen. Die mündliche Erzähltradition lag im Der wahre Zauber von Märchen liegt Dornröschenschlaf, doch seit den 80er Jah- wohl in der leicht angestaubten Sprache ren ist in Europa ein Trend zu beobachten: und dem Fantasie-Reichtum einer anderen Fantastische Geschichten werden wieder Welt, „zu der Zeit, als das Wünschen noch mündlich weitergegeben. An deren Wahr- geholfen hat“. heitsgehalt zweifelt jeder, nichtsdestotrotz Alessa Wochner

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Die Seelen der Toten Es klingt wie ein Märchen, doch es ist eine alte Legende: die Geschichte der Tunchi. Alice Watmann ist zurzeit in Peru. Sie hat sie gehört, die Seelen der Toten.

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ebelschwaden ziehen durch die Wipfel der Urwaldbäume. Es zirpt, als ob sich eine Schar von Heuschrecken zum Konzert zusammengeschlossen hätte. Von allen Seiten erklingt das Vogelgezwitscher. Das Geäst knackt, es raschelt. Und immer wieder rückt einem dieses Brummen auf die Pelle: der Schlachtgesang der Moskitos. Auf einmal: ein langer, durchdringender Pfiff, der durch Mark und Knochen geht. Der Tunchi! Eine uralte Legende. Mit weit aufgerissenen Augen steht ein Landarbeiter am Flussufer. Neben ihm tuscheln ein paar Menschen: „Das war bestimmt der Geschäftsmann, der gestern Abend erschossen wurde, nachdem er bei der Bank Geld abgehoben hatte“, vermutet einer; „Ich habe gehört, dass er zuvor mit seinem Geld angegeben und den Mörder schlecht behandelt habe“, ein anderer. „Es scheint ein reicher, mächtiger Mann gewesen zu sein.“ Sie schweigen. „Meine Nachbarin hat den Überfall gesehen. Sie sagt, zwei Männer seien dem Mann auf einem Motorrad gefolgt, einer davon sei mit einer Pistole bewaffnet gewesen und habe den Geschäftsmann während der Fahrt erschossen. Dann seien sie abgestiegen, hätten die Leiche auf Geld untersucht

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und wären schließlich geflohen.“ „Pucha, die Kriminalität nimmt immer weiter zu. Früher, da war alles friedlich.“ „Seit die aus dem Hochgebirge zu uns kommen, wird die Stadt immer unsicherer.“ Der Rio Mayo strömt in seiner braunen Masse

Die Seele eines Bauern reist nur kurz flussabwärts. Was ihm in den Weg kommt, reißt er mit. In ihm spiegelt sich die Macht und Unberechenbarkeit der Natur. Der Mensch ist klein. Der Tod unausweichlich. Und was bleibt? Tunchis, so heißen die verlorenen Seelen der Toten. Wenn Männer und Frauen sterben, verlässt sie ihr Geist. Der Tunchi geht auf Wanderung. Er wiederholt jeden der Schritte, die der Mensch während seines Lebens machte. Sehr lange dauert die Reise der Seele, wenn die Person durch die Welt gereist ist. Sehr viel kürzer ist der Tunchi eines Bauers unterwegs, der jeden Tag sein Land bestellt hat. Jeder Mensch

hat einen Charakter, hat Stärken und Schwächen. All diese Eigenschaften, die der Tote besaß, erkennt man anhand des Pfiffs des Tunchis. Er pfeift in der Nacht. Wenn der Ton schrill und lang ist, als müsse einem das Trommelfell platzen, so handelt es sich um den Geist eines Menschen, der während seines Lebens stolz, überheblich und mächtig war. Ist der Pfiff sanft, tief, fast musikalisch, war die Person ruhig, friedlich, hilfsbereit und gütig. „Malignos“ werden die Seelen der Toten genannt, die während ihres Lebens böse, grausam und herzlos waren. Ihr Pfeifton lässt einen erschaudern. Um den grässlichen Ton der Malignos zu verkraften, muss man sich die Ohren zuhalten und beten. Die Tunchis schweben 10 bis 15 Zentimeter über der Erde. Ganz leise, außer wenn sie pfeifen. Sie sind wie der Wind. Sichtbar oder unsichtbar. Sind sie sichtbar, so sind sie nur als schemenhafter Umfang wahrzunehmen. Manche sagen, dass die Tunchis ihr Gesicht nicht sehen lassen, weil sie sich schämen und anderen keinen Schaden zufügen wollen. Wer der Tunchi zu Lebzeiten war, ist ein Geheimnis, das sie für alle Ewigkeiten für sich bewahren.

Foto: Marco Oetterli / pixelio.de


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Reportage

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Mut zum Unbekannten Warum kennt jeder „Spieglein, Spieglein an der Wand“, aber niemand „Manntje, Manntje, Timpe Te“? Henrike W. Ledig plädiert für mehr Experimentierfreude bei der Märchenlektüre.

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eder kennt Märchen, mindestens eines. Märchen haben es an sich, dass man sie sich leicht merken kann. Das liegt daran, dass sie meistens mit ein oder zwei charakteristischen Versen ausgestattet sind, die sich für immer im Gedächtnis des Lesers verankern, „Spieglein, Spieglein an der Wand ...“ zum Beispiel. Das ist oft bei den Märchen von den Brüdern Grimm so. Jeder Autor träumt von so einer Erinnerungsgarantie in seinen Werken. Es gibt aber auch unter den Märchen ein paar Geschichten, die fast gänzlich aus dem allgemeinen Gedächtnis der Bevölkerung verschwunden scheinen. Das ist sogar mit einigen Erzählungen der Brüder Grimm geschehen – trotz

„Jorinde und Joringel“ der Grimms etwas anfangen, auf das der Film anspielte. Es ist schade, dass viele Märchen nur eine so geringe Aufmerksamkeit erfahren. Denn mit den bekannten mithalten können sie allemal. Der Grund dafür ist offensichtlich: Die meistverkauften Märchenbücher beinhalten nicht mehr die gesammelten Werke der Autoren, sondern nur die altbekannten Geschichten, versehen mit bunten Bildchen, um die Verkaufszahlen zu steigern. Da ist es nicht verwunderlich, dass kaum einer noch andere Märchen kennt. Andererseits kann der Märchenkenner davon profitieren. Mehr zu wissen als die anderen, lohnt sich immer. Mei-

Reim und einer Handlung, wie sie Mainstream-Werke à la „Rotkäppchen“ oder „Dornröschen“ aufweisen. Kaum einem sagt „Die Hochzeit der Frau Füchsin“, „Fundevogel“ oder „Das singende, springende Löweneckerchen“ etwas. Die Verfilmung des Buches „Wolfsfährte“, die im Herbst 2010 im Ersten ausgestrahlt wurde, floppte. Anscheinend konnten nur wenige mit „Such mich, such mich, finde mich bald. Ich bin der Fuchs und die Eule im Wald ...“ aus dem Märchen

ne Nachbarskinder konnten im Kindergarten punkten, weil sie wussten, mit welchem Ruf der Fischer den Butt gerufen hat: „Manntje, Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne Frau, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.“ Da freut sich der geneigte Kenner über sein angeeignetes Spezialwissen. So singt die Nachtigall eben auch nur für die Wissenden „Zücküth, zücküth, zücküth“.

Fotos: digitalnois / flickr.com, CC-Licence (groß); Privat (o.re.)

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Auf Kriegsfuß mit dem Bösen Über brutale Videospiele ärgern sich viele, über die Brutalität von Märchen spricht fast keiner. Henrike W. Ledig fragt sich, warum Super-Mamas kein Problem mit Metzelmärchen haben.

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edes Kind weiß: Märchen sind etwas schönes. Es gibt eine Liebesgeschichte und das Böse wird auf brutalste Weise niedergeknüppelt. Wobei, nicht nur das Böse: Auch die Guten werden verstümmelt, man denke nur an den Prinzen aus „Rapunzel“, der ob ihrer Abwesenheit den Turm heruntergestürzt wird und sich an den Dornenbüschen unter dem berühmten Fenster beide Augen aussticht. In Zeiten, in denen brutale Killerspiele als Ursache für Amokläufe gelten, eigentlich verwunderlich. Warum gibt es keine Initiativen, die Märchen zensieren oder ganz verbieten lassen, weil sie unsere Jugend verrohen und nicht zur moralisch richtigen Konfliktbewältigung anregen? Thema „Aggressive Verhandlungen“: Wer fragt denn die böse Hexe nach ihrer schweren Kindheit und ihren Motiven, bevor man sie in den Ofen stößt? Liegt es daran, dass es sich um die überlieferten Geschichten der Gebrüder Grimm und Co und damit um deutsches Kulturgut handelt? Prinzipiell stimmt das. Warum wurde dann aber vor sieben Jahren eine kindgerechte Version der Geschichten um den Struwwelpeter von Hoffmann auf den Markt gebracht, um die vermeintlich unschuldige Brut weiter zu schonen? Zugegeben, man muss nicht jedem Kleinkind, das am Daumen lutscht mit dem Abschneiden desselbigen drohen. Allerdings wurden hier prinzipiell schöne Kurzgeschichten, die noch fast jeder aus seiner Kindheit kennt, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Wie erklärt man also die überraschende Toleranz der hauptberuflichen Mütter mit den Metzel-Märchen von Andersen und den Gebrüdern? Vermutlich erinnert sich der Durchschnitts-Deutsche nicht mehr an die genauen Vorgänge aller gesammelten Märchen, sondern nur noch an die rosigen Stellen der Lieblingsgeschichten, nämlich, dass sich „die beiden am Ende kriegen“. Und das bedeutet ein Happy End. Also doch noch alles gut gegangen, kein Kind muss sich nach der Gutenacht-Geschichte Sorgen machen. Macht das die Brutalität weniger brutal, die Märchen weniger grausam? Nein, im Endeffekt ist es mit Märchen wie mit Videospielen. Sie müssen etwas brutal sein, denn jetzt mal ehrlich: Man verhandelt nicht mit Monstern!

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Der Märchen-Künstler Märchenstunde anstatt Kaffeekränzchen. Frank Jentzsch hat im Alter von 30 Jahren das Märchen für sich entdeckt. Jetzt bringt er es auch anderen nahe auf die wohl traditionellste Art: Er erzählt.

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Auf seiner Homepage www.maerchenfrank.de kündigt Frank Jentzsch neue Termine an und stellt eine große Sammlung an Märchendeutungen zur Verfügung.

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inen Raum seiner Wohnung hat Frank Jentzsch zum Märchenraum gemacht. Mit Steinen und Silbergeschirr hat er auf dem Tisch in der Mitte einen Kreis gelegt. Kerzen stehen darin und geben noch Licht, als es draußen längst dunkel ist. Die Zuhörerinnen und Zuhörer des Märchenerzählers sitzen auf gemütlichen Sofas und Stühlen im Kreis. „Ich erlebe, dass die Zuhörer zu 90 Prozent Frauen sind. Sie scheuen sich weniger als Männer, sich mit seelischgeistigen Sinnbildern zu beschäftigen“, so Jentzsch. Die meisten der Gäste sind Nachbarn oder kennen den Erzähler aus dem Märchenkreis. Frank Jentzsch hat im Alter von 30 Jahren begonnen, sich intensiv mit Märchen zu beschäftigen. Sie waren für ihn nur „Geschichten, mit denen man abends endlich die Kinder ruhig stellte“, bis er auf einem Seminar die Erzählerin Friedel Lenz erlebte. Sie ist Anhängerin der Antroposophie, einer spirituellen Weltanschauung, die von Rudolf Steiner begründet wurde. Lenz erzählte Aschenputtel und sprach über die Sinnbilder darin. Die Tiefe in den Märchen und die genaue Sprache der Brüder Grimm faszinierten Jentzsch so sehr, dass er 1996 schließlich Märchenerzähler wurde. Davor arbeitete er als Architekt und zeichnete Waldorfbauten. Dann stand er vor der Herausforderung, das technische Zeichnen am Computer zu lernen. Doch das konnte jede technische Zeichnerin und jeder Student besser, daher begann er zu erzählen. Ein Erzähler müsse sich für Sprache begeistern und Märchen lieben und das tut er. Ganz wichtig ist es, „dass ich jedes Wort ernst nehme. Ich spüre dann, ob das angekommen ist und ob da jeder mit geht.““, meint Jentzsch. Sein Wissen gibt er auch in Erzählseminaren für Erzieherinnen und Erzieher weiter. Dort spricht er mit den Teilnehmern über die Aussagen der Märchen und übt mit ihnen das freie Erzählen. „Man kann das verfeinern, indem man Sprachübungen macht.“ Auch Jentzsch bildet sich

fortwährend weiter. Wenn er Fahrten macht, hat er immer seine Sprechübungen dabei. Er übt zum Beispiel das rollende ‚R‘ mit dem Satz: „Rate mir mehrere Rätsel nur richtig“ oder das ‚S‘: „Sieh silberne Segel auf fließendem Wasser.“ Auf Seminaren ermutigt er die Teilnehmer, die Märchen in dem originalem Wortlaut zu erzählen. Oft glaube man, den Kindern könne die schwierige Sprache nicht zugemutet werden. Doch da ist Frank Jentzsch anderer Meinung: „Wenn ich selber Freude am Sprachklang habe, dann kann ich erzählen und die Kinder lauschen.“ Auch die Grausamkeiten in Märchen verurteilt er nicht. „Das sind alles nur Sinnbilder.“ Zum Beispiel im Märchen „Der Wolf und die sieben Geißlein“. Hier frisst der Wolf die kleinen Ziegen auf, nachdem er sich mit einer List in ihr Haus geschlichen hat. Sinnbildlich übersetzt bedeutet das nach Frank Jentzsch: Kinder bringen unbedingtes Vertrauen mit auf die Welt. Um sie herum wird aber gelogen und betrogen. Es wird dunkel um sie, da sie im Bauch des Wolfes sind. Das Märchen zeigt dann zum Trost, dass man durch Unterscheidungsvermögen, dargestellt durch die Schere, wieder Licht ins Dunkel bringen kann. Das christliche Märchen „Bruder Lustig“ von den Gebrüdern Grimm ist sein liebstes. Hier macht die Hauptfigur immer wieder Unsinn und bekommt trotzdem Hilfe von Petrus. „Wäre ich nicht religiös, könnte ich keine Märchen erzählen“, sagt Frank Jentzsch. Viele Sinnbilder gehen auf den christlichen Glauben zurück. „Aschenputtel ist das klösterliche Ideal des Arbeitens und Betens. Es wird nur nicht wie in der Kirche ausgedrückt, sondern bleibt in Bildern“, erklärt Jentzsch. Neue Märchenformate, wie die Kinderserie „Simsalagrimm“ gefallen ihm nicht. „Ursprünglich wurden Märchen erzählt und jeder konnte sich seine persönlichen Bilder dazu machen.“ Diese Tradition möchte er weiterführen. M e i k e K ra u ß

Fotos: Meike Krauß


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» Und was hast Du schon Märchenhaftes erlebt? « Aus dem armen Mädchen wird eine Prinzessin und aus einem Frosch ein Prinz. So schön könnte es sein, wären wir im Märchen. Marie Graef hat sich auf der Straße nach Märchen umgehört, die das Leben schreibt.

„Deutschland 2010 bei der Breakdance-Weltmeisterschaft vertreten zu dürfen, war für mich wie ein wahrgewordenes Märchen!“ Frank Huynh, 16 Jahre aus Sachsenheim

„Während meines Australienaufenthalts habe ich immer wieder von einer Kette mit einem schwarzen Stein geträumt, welche die Aufschrift „Save Travel“ hat. Eigentlich glaube ich nicht an solche Sachen. Aber als ich genau die Kette zufällig in einem kleinen Laden entdeckt habe, musste ich sie doch kaufen.“ Katharina Kopp, 17 Jahre aus Bietigheim-Bissingen

„Im Skiurlaub habe ich meinen Geldbeutel mit Ausweis und Geld beim Tiefschneefahren verloren; dass meine Freunde und ich den wiedergefunden haben, war echt ein Wunder.“ Anna-Lena Aßmus, 17 Jahre aus Ingersheim

„Ich habe vor ein paar Wochen von morgens bis abends Leuten geholfen. Als ich abends müde in mein Bett fiel, bemerkte ich einen Brief auf dem Schreibtisch. Ein Freund bedankte sich darin für einen Gefallen und noch dazu 50 Euro! Da sieht man, dass wie im Märchen alles Gute auch belohnt wird.“ Joshua Preis, 19 Jahre aus Vaihingen

„Als mir ein Zug direkt vor der Nase weggefahren ist und der Schaffner, als er meine Reaktion gesehen hat, noch mal angehalten hat, da hab ich mich wie im Märchen gefühlt. So was gibt’s doch normal nie.“ Raphael Gregotsch, 18 Jahre aus Sachsenheim

Fotos: Maria Graef

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24 Tonnen bis zur Verbrennungsanlage Wie geht es bei der Müllabfuhr zu? Was für Menschen arbeiten dort und wie ist deren Arbeit? Alice Watmann und Alexander Schmitz zogen sich orangene Warnwesten an, damit sie im dichten Stadtverkehr nicht überfahren werden, und begleiteten ein Fahrzeug der Abfallwirtschaft Stuttgart.

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tuttgart Nord, 06.45 Uhr. Dunkel, ruhig und leer sind die Straßen. Der nächtliche Regen hat die Luft reingewaschen; sie ist kühl. In der Türlenstraße auf dem Gelände der Abfallwirtschaft Stuttgart (AWS) herrscht geschäftiges Treiben. Im grellen Scheinwerferlicht der Müllfahrzeuge laufen Männer in orangenen Anzügen über den Hof. Drei davon, Fahrer Wolfgang Möhrle, Gio Donate Petra Gallo und Ingo Hofmann steigen in ihr noch leeres Müllfahrzeug ein. Wagen 93, ein Drehtrommelfahrzeug, bricht auf. 24 Tonnen kann es bis zur ersten Leerung laden – das sind etwa sechs Elefanten. Wolfgang Möhrle trägt eine blaue Latzhose und eine orangene Warnweste. Der geduldige und freundliche, leicht mollige, grauhaarige Mann arbeitete zuerst für die Spedition Rote Adler, dann als Müllwagenfahrer der Stadt Stuttgart. In wenigen Wochen geht er in Altersteilzeit. „Das Schöne ist, dass man mit dem Müllwagen in die hintersten Ecken kommt, wo man sonst nie wäre“, hebt Möhrle einen der Vorteile seiner Arbeit hervor. Auch von kollegialer Seite gefalle es ihm bei der AWS gut. Und während früher alles von Hand gemacht werden musste, habe sich die Arbeit dank moderner Technik um einiges verändert: Das Fahrerhaus ist nun vollklimatisiert und von Gestank, Staub und Dreck bekomme er als Fahrer fast nichts mehr mit. Dabei passiert hinter ihm einiges. Das Drehtrommelfahrzeug bewegt den eingeworfenen Abfall mit Schneckengängen in seinem Zylinder, verteilt und verdichtet ihn in Richtung der Rückwand des Fahrzeuges. Gio Donate Petro Gallo sitzt mit einer schwarzen Wollmütze und orangenem Arbeitsanzug neben ihm. Der gebürtige Italiener gestikuliert, während er redet. Schon früher arbeitete er in Deutschland bei der Müllabfuhr, versuchte dann nochmals sein Glück in Italien. 1987 kam er wegen Arbeitsmangel zurück nach Deutschland und arbeitet seitdem für die Abfallwirtschaft Stuttgart. Petra Gallo koordiniert als Vormann die Müllleerung von hinten. Bei einem neuen Fahrer muss er diesen einweisen, damit der Ablauf gleich bleibt. Der Dritte Mann im Bunde ist Ingo Hoffmann. Er ist erst seit drei Wochen dabei. Zuvor arbeitete er für einen privaten Müllentsorger, jetzt hat er über eine Teilzeitfirma den Job bei der AWS bekommen. Obwohl er noch etwas unsicher wirkt, packt er kräftig mit an.

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Der Müll stinkt bestialisch „Die schlimmste Erfindung ist für mich der Biomüll“, erzählt Gio Donate von seinen Arbeitserfahrungen. „Die Essensreste enthalten schon Schimmelpilze und der Müll gärt und stinkt bestialisch, besonders im Sommer. Wenn wir den abholen müssen ist das kein Vergnügen mehr.“ Generell hat sich die Situation aber verbessert. „Früher musste die Müllabfuhr Werbung machen, damit sie überhaupt an Fahrer kam. Da hieß es, bloß nicht zur Müllabfuhr. Heute ist das schon anders, da kommen sogar Studenten und Ferienjobber“, ergänzt Möhrle. Lachend fragt er: „Wie muss ein Müllmann sein? Dumm und stark. Hahahaha.“ Vor dem GENO-Haus gibt Wolfgang Möhrle einen Code ein. Die Schranke öffnet sich und der Müllwagen fährt auf den Hinterhof. Der Hausmeister, der schon auf die Müllmänner wartet, hat die Abfalltonnen zur Abholung bereitgestellt. Gio Donate Petra Gallo und Ingo Hofmann springen aus dem Wagen. Sie greifen sich die Mülltonnen und hängen sie an die Leervorrichtung. Jede Handbewegung sitzt, ist genauestens geplant und einstudiert. Wolfgang Möhrle beobachtet das Vorgehen der beiden Männer aufmerksam auf einem Bildschirm, der über dem Lenkrad angebracht ist. Weiter geht die Fahrt von einer Abfalltonne zur nächsten. Einen Plan oder eine Straßenkarte benötigt keiner der Männer, um sich zu orientieren, sie wissen genauestens, wie viele Tonnen wo abgeholt werden müssen. Es ist „ihre“ Route. Fehlt einer der Mülleimer oder wurde verbrannt, wie es zu Zeiten der Stuttgart 21

Fotos: Alexander Schmitz


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Proteste öfters mal vorkam, fällt es ihnen sofort auf. So auch vor dem nächsten Gebäude. Vor verschlossener Garagentüre wartet das Müllauto, während Petra Gallo und Hofmann an der Türe klingeln und warten, bis die Tonnen vor die Tore geschoben werden. „Eigentlich sollten wir bei solchen Fällen ein Schild mit der Aufschrift „Tonne stand nicht zur Abholung bereit“, an die Türe hängen“, schmunzelt Möhrle, „Aber wir sind halt sozial.“ Man muss richtig tragen können In der Räpplenstraße müssen Gio Donate und Ingo Hoffmann mehrere Tonnen Treppen herunter tragen. Die AWS bietet einen so genannten Vollservice, die Männer holen die Tonnen von ihrem Standort im Gebäude oder Hof ab und bringen sie nach der Leerung wieder zurück. „Die Menschen sind manchmal schon recht kleinlich. Sind die Tonnen danach um einige Zentimeter verrutscht, rufen einzelne sogar bei der Zentrale an, um sich zu beschweren“, erzählt Petra Gallo. „Beim Teilservice stellen die Bewohner ihre Mülltonnen selbst vor die Tür“, erklärt Herr Geisinger, Abteilungsleiter der Abfallwirtschaft Stuttgart. „Viele ältere Bewohner können die schweren Mülleimer aber nicht mehr selbst schleppen. Da Stuttgarts Bevölkerung immer mehr altert, ist unser Vollservice ein wichtiger Bestandteil unseres Angebots. Privatfirmen können das nicht anbieten.“ Das Drehtrommelfahrzeug 93 rollt über die Stuttgarter Königstraße. In Hinterhöfen und Seitenstraßen warten die versteckten Mülltonnen darauf geleert zu werden. „Bis um 8.00 Uhr müssen wir mit der Leerung in diesem Bezirk fertig sein“, erklärt Möhrle, „dann öffnen die ersten Läden und die Besucher kommen.“ 16,5 Tonnen hat der Müllwagen geladen, als er bei den Königsbaupassagen halt macht. In der Kronenstraße deutet Möhrle auf eine Reihe total überladener Mülltonnen, die vor einer Bäckerei stehen. „Offiziell dürften wir diese Mülltonnen gar nicht aufladen“, sagt er. „Eigentlich müssten wir den überquellenden Müll abladen. Das kostet aber Zeit und ist aufwändig. Deshalb laden wir trotzdem alles auf. Und hier gibt es sogar eine Belohnung!“ Er reibt sich erwartungsvoll die Hände. Und tatsächlich rennt eine Bäckereiverkäuferin freudestrahlend dem Müllwagen entgegen. Freundliche Worte werden ausgetauscht und jeder der Männer erhält ein Erfrischungsgetränk und Gebäck mit auf den Weg. Doch nicht alle Leute begrüßen die Müllmänner so freundlich. So kommt es ab und zu auch zu Beschimpfungen: „Du dicke fette Sau, warum nimmst du meinen Müll nicht mit?“ „Da muss man aber darüber stehen“, schmunzelt Wolfgang Möhrle.

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Möhrle wartet, bis er weiterfahren kann. Zur Mülltrennung sagt er: „Also ich muss sagen, dass ich seit ich bei der Müllabfuhr bin, nicht so arg getrennt habe. Ich dachte eher ‚Komm, fort damit.‘ Wenn ich jetzt in Altersteilzeit gehe, muss ich aber schon damit anfangen.“ Fast 24 Tonnen Müll hat Wagen 93 geladen, als es zur Abfallverbrennungsanlage im Heizkraftwerk Münster geht. Nach dem Abkippen des Abfalls in den Bunker warten weitere Mülleimer auf ihre Leerung. Gio Donate Petra Gallo erklärt: „Feierabend haben wir erst, wenn alle Mülltonnen auf unserer Tour gelehrt sind.“ Das Drehtrommelfahrzeug 93 fährt los, um weitere 24 Tonnen Müll aufzuladen.

Nach dem Abladen des Abfalls wird er sortiert. Mülltonnen werden beim Vollservice auch aus Hinterhöfen abgeholt.

Die Arbeit macht hungrig Im Laufe des Vormittags geht es zur Vesperpause zurück in die Türlenstraße. In der Kantine des AWS gibt es süße Stückchen und deftiges, wie Leberkäse mit Kartoffelsalat. Angeregt unterhalten sich die Müllwerker, auch zwei Müllfrauen befinden sich darunter. Nach der kurzen Pause geht es weiter Müllaufladen. Während Möhrle den Wagen gekonnt durch die engen und beparkten Straßen Stuttgarts manövriert, wird bewusst, was für eine Konzentration und Geduld benötigt wird, um diese Arbeit tagtäglich zu meistern. Während die Männer in einem Hof gegenüber des jüdischen Kindergartens Mülltonnen geleert haben, blockiert nun ein Lastwagen, der vor dem Ausgang parkt den Weg. Der Fahrer lädt gemütlich sein Obst und Gemüse aus, während

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Zwischen Melonen, Pflaumen und Bankrott Es beginnt harmlos: ein Abend in der Spielhalle, mit kleinen Geldbeträgen und bunten Spielen. Doch schnell entwickelt sich die Sucht. Dann geht es ums finanzielle Überleben.

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schon vorgekommen, dass er 200, 300 und sogar 500 Euro gewonnen habe, aber heute reiche ihm weniger. Länger als eine Stunde will er nicht bleiben. Erdal ist nicht der einzige Gast im „Vegas World“-Casino. Ein halbes Dutzend anderer Männer starren auf die funkelnden Bildschirme vor ihnen. Manche sitzen wie Zombies vor den flimmernden Fronten; bekommen nichts mit A von ihrer Umgebung. Ihre einzige Regung ist das mo6 notone Tippen A

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rdal fixiert den Bildschirm. Bunte Früchte und lachende Sonnen strahlen ihm entgegen. Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand tippen alle paar Sekunden auf einen blinkenden Knopf. Die Melonen, Pflaumen, Zitronen und Orangen rasen nach A oben. Erdal lächelt. „Fruitinator“ heißt das Spiel mit dem netten Obst. Gerade eben hat er mit einmal DrüA cken 20 Euro verloren. Kurz verzieht sich sein Lächeln, der 6 Blick löst sich für einen

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Lächeln kehrt zurück, genauso wie die Finger auf die blinkenden Tasten. Einmal die Woche gehe er ins Automatencasino, manchmal auch zweimal, sagt Erdal. Heute hat er 50 Euro eingeworfen; wenn er 100 hat, will er gehen. Es sei

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Moment von dem funkelnden Bildschirm und wandert an die Decke. Erdal lehnt sich zurück in den schwarzen Ledersessel. Seine rechte Hand lässt vom Knopf ab, verwuschelt die kurzen schwarzen Haare, dann setzt er sich wieder aufrecht hin. Das

ihrer Finger auf den Knöpfen. Andere überwachen drei Automaten gleichzeitig. Sie tigern umher, tragen noch ihre Jacken und Schals. Die meisten hier sind wie Erdal Ende zwanzig, Anfang dreißig, haben schwarze Haare und tragen Pulli und

Illustrationen: Simon Staib


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Jeans. Keiner unterhält sich. 10 „,Fruitinator‘ ist das beste Spiel“, sagt Erdal. Als erstes legt er seinen Einsatz fest; 6 je höher der Einsatz, umso höher auch der mögliche Gewinn. Erdal fängt mit zwei Euro an, denn da beA komme man schon bei zwei Kirschen nebeneinander vier Euro. „Kirschen bringen nicht so viel, die Siebener sind die Joker“, erklärt er. Gerade hatte Erdal vier Siebener in einer Reihe, aber es gab kein Geld, denn auf dem ersten Platz in der Reihe war eine Pflaume. Wäre sie nicht da gewesen, hätte Erdal 200 Euro gewonnen. Das sei gut, sagt Erdal, er sei ganz nah dran gewesen. Vielleicht werde es heute ja doch noch etwas – mit einem größeren Gewinn. Die Geräte sind so programmiert, dass Beinahe-Gewinne überdurchschnittlich oft auftreten. Das Spiel ist schnell. Bei seinem Einsatz ist Erdal in einer Minute acht Euro los. Manchmal gewinne man gar nichts, sagt Erdal. Er kennt Kollegen, die hätten hier schon an einem Abend ihren ganzen Lohn verspielt. Er selbst setze sich immer ein Limit. Meistens halte er sich daran, aber ab und zu auch nicht. Im Bahnhofsviertel gibt es etwa 50 Spielhallen wie das „Vegas World“. Circa Drei Viertel der Besucher sind regelmäßige Spieler, die bis zu zehn Stunden vor den Automaten verbringen. Ruhetage gibt es keine. Ein einzelnes Casino kann von vier bis sechs regelmäßigen Spielern leben. Obwohl es eine gesetzlich festgelegte Ausschüttungsrate gibt, machen die Casinos pro Nacht Gewinne von mehreren tausend Euro. Fast jeden Monat gibt es im Münchner Bahnhofsviertel eine Neuanmeldung eines Casinos. Erdals Konto ist in den letzten zehn Minuten von 90 auf 50 Euro gefallen. Das ist immer so, sagt Erdal: Es geht rasant hoch und wieder runter und wieder hoch und wieder runter. 48 Euro, 46 Euro, 44 Euro – klick, klick, klick. Ein kurzer prüfender Blick auf die Kombination, dann drückt Erdal weiter. Wieder drehen sich die Früchte. A

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„Die e r sten Erfahrungen mit dem Spielen finden bei den meisten Betroffenen zufällig statt. In der Freizeit geht man einfach einmal aus Spaß in eine Spielhalle“, sagt die Sozialpädagogin und Suchttherapeutin Christa Balint. Sie leitet eine Selbsthilfegruppe für Glücksspielsüchtige an der Beratungsstelle Blaues Kreuz München-Ost. Kleine Gewinne führen zu Glücksgefühlen und persönlichen Erfolgserlebnissen. Irgendwann setzen die Spieler mehr Geld. Sie gewöhnen sich an das stundenlange Zocken. Trotzdem glauben sie, noch die Kontrolle zu haben und jederzeit aufhören zu können. Auch Erdal sagt, er könne aufhören, wann er wolle. Wenn er 100 Euro hat, gehe er. Jetzt hat er Glück: drei Pflaumen nebeneinander und zwei Pflaumen diagonal. Erdal hat vier Euro gewonnen. Er drückt auf den Leiterknopf. „Da kannst du ganz schnell alles wieder reinholen“, sagt er. „Risiko“ heißt diese Variante: Der Cursor springt im Halbe-Sekundentakt zwischen acht Euro und null Euro. Trifft er acht Euro, hat Erdal seinen Gewinn verdoppelt, trifft er null Euro, ist er verloren. Klick – acht Euro, klick, – 12 Euro, klick – 20 Euro. Erdal bestätigt die 20 Euro, die gelben Zahlen in seinem Guthabenfeld erhöhen sich. Eine lachende Sonne blinkt auf und der Automat lässt

einen harmonischen Dreiklang ertönen. Eine Stunde wollte Erdal bleiben, die ist schon seit einer Weile vorbei. Gedimmtes Licht beleuchtet die pastellorange gestrichenen Wände, von irgendwoher kommt leise rhythmische Musik. Am Ende des länglichen Raumes hängt ein Plasmafernseher, auf dem lautlos ein Hockeyspiel läuft. Keiner schaut hin. „Für viele wird das Casino zum Rückzugsort vor Problemen“, sagt Christa Balint, die Therapeutin. Das leidenschaftliche Spielen führt zu immer größeren Verlusten. Viele sind überzeugt, diese durch neue Gewinne beim Spielen wieder rückgängig machen zu können. Die Sucht entwickelt ein Eigenleben, der Spieler hat keine Kontrolle mehr. Der zwanghafte Drang führt in extremen Fällen zum finanziellen Totalverlust. Erdal ist bei 106 Euro angelangt. Sein Ziel hat er damit erreicht. Lächelnd fixiert er den Bildschirm. Er spielt weiter. Die lachende Sonne funkelt ihm motivierend entgegen. 40 Euro sichert er auf den Geldspeicher, doch als sein Konto schrumpft, lässt er sie wieder ins Spiel einfließen. „Mit mehr Einsatz kannst du einfach viel mehr gewinnen“, sagt er. Die Finger klopfen auf den Knopf, die Früchte drehen sich weiter. Kathrin Wiewe

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Auf Beutezug für Fischstäbchen? Zu wenig Fisch für zu viele Europäer: Um den Hunger zu stillen, gehen jetzt auch vor Afrikas Küsten europäische Schiffe auf Fischfang. Das wird nach EU-Abkommen geregelt, doch diese sind nicht streng genug – zum Leid der Afrikaner.

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ast 16 Kilo Fisch isst der deutsche Verbraucher im Durchschnitt jedes Jahr. Doch Deutschland hat wenig Küste, die Meere rund um Europa sind beinahe leer gefischt. Um die Bevölkerung trotzdem ausreichend mit Fisch zu versorgen, hat die Europäische Union Fischereiabkommen mit verschiedenen Ländern geschlossen, unter anderem mit Guinea-Bissau. Das Völkerrecht sagt: Jeder Staat besitzt exklusive Fangrechte für die Meeresabschnitte vor seiner Küste. Um in fremden Gewässern auf Fischfang gehen zu können, sind deshalb Abkommen nötig. Im Mai 2007 wurde der Vertrag mit der EU unterzeichnet. Das Abkommen mit Guinea-Bissau wurde zunächst auf vier Jahre festgelegt, Im Juni würde es ablaufen; seit einem halben Jahr verhandeln die Staaten bereits über eine Verlängerung. Schiffe aus Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland und Portugal dürfen in den guinea-bissauischen Gewässern fischen. Fangen dürfen sie auch Garnelen, Tintenfisch und Thunfisch. Im Gegenzug dazu bekommt die guinea-bissauische Regierung sieben Millionen Euro jährlich von der EU zur Verfügung gestellt. Mehr als ein Drittel muss dabei in Projekte investiert werden, welche die Entwicklung der nachhaltigen Fischerei in Guinea-Bissau fördern. Außerdem werden jedes Jahr eine halbe Million Euro zur Verfügung gestellt, um die Hygienebedingungen zu verbessern. Volle Teller in Europa – Geld und Entwicklung für Guinea-Bissau, das klingt nach einem fairen Deal. Anders sehen das Umweltschutzorganisationen. „Die verantwortungslose Ausbeutung der afrikanischen Gewässer durch europäische Fischtrawler muss gestoppt werden“, fordert der World Wide Fund For Nature (WWF). Die Organisation kritisiert, dass nur die Zahl der EU-Schiffe festgelegt wird, nicht aber die Fangmenge. „Das ist eine unverantwortliche Lizenz zum Plündern“, sagt Karoline Schacht, Fischereiexpertin der Organisation. „Nachdem die EU-Flotte ihre eigenen Gewässer leer

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Fisch aus der Nordsee? Von wegen! Die Europäer bedienen sich immer öfter an afrikanischen Gewässern. Das hat verheerenden Folgen für Staaten wie Guinea-Bissau.

gefischt hat, geht sie nun zu einem Spottpreis in Afrika auf Beutezug.“ Die Folgen seien drastisch: Die regionale afrikanische Fischereiindustrie verliert Aufträge. Dadurch gehen Arbeitsplätze verloren, die Infrastruktur verfällt, Menschen verarmen. Die Auswirkungen schlagen auch auf den Magen: Die Bevölkerung leidet an Eiweißmangel, weil sie zu wenig Fisch isst. „Europa exportiert seine Fischereikrise nach Afrika“, sagt Schacht. Der WWF fordert nicht, dass die Fischereiabkommen mit Afrika abgeschafft werden. Sie müssten nur viel strenger sein; vor allem sollten konkrete Fangmengen festgelegt werden. Dass die Abkommen nachhaltiger werden sollen, darin sind sich alle deutschen Parteien im EU-Parlament einig. „Wir sind nicht generell gegen Fischereiabkommen mit Drittstaaten, doch werden wir weiter für wirkliche Nachhaltigkeit und eine gerechtere Kooperation kämpfen“, macht Grünen-Abgeordnete Helga Trüpel in einem Positionspapier deutlich. Auch sie fordert feste Fangquoten, stärkere Kontrollen und Sanktionen. Die SPD will vor

allem die Zahl der Schiffe reduzieren. Dass die Abkommen nicht nur wichtig sind, um den Fischhunger zu stillen, betont CDUAbgeordnete Brigitte Langenhagen: „Die Abkommen leisten einen bedeutenden wirtschaftlichen Beitrag für Europa.“ Arbeitsplätze im Fangsektor und in der verarbeitenden Industrie könnten so gesichert werden. Susan Djahangard

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Guinea-Bissau Das Nachbarland des Senegal liegt an der Westküste Afrikas. Auf einer Fläche, die so groß ist wie BadenWürttemberg, leben etwa 1,5 Millionen Menschen. Die Präsidialdemokratie gehört laut Transparency International zu den 18 korruptesten Staaten der Welt. Guinea-Bissau ist nach Einstufung der Vereinten Nationen eines der ärmsten Länder der Welt.

Foto: Emelina Michels / www.jugendfotos.de


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» Wie vor dem Zweiten Weltkrieg « Politische Repression, Steinigung, Nuklearprogramm – Der Iran macht laufend negative Schlagzeilen. Das versetzt auch die angrenzenden Staaten in Unruhe. Sie fürchten Konsequenzen für Öl- und Gaslieferungen in den Westen.

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pätestens seit der Präsidentschaftswahl 2009 und den Eskalationen danach genießt der Iran in den westlichen Medien eine große Aufmerksamkeit. In der Rolle des Unrechtsstaats wird er immer mehr in die politische Isolation gedrängt. Da wäre die Festnahme zweier SpringerJournalisten, die verhaftet wurden, weil sie mit Touristenvisa den Sohn der zum Tod durch Steinigung verurteilten Sakine Mohammadi Aschtiani interviewen wollten. Oder das militante Durchgreifen der Polizeikräfte infolge von Solidaritätskundgebungen für die Revolten in Nordafrika. Amnesty International zufolge wurden am 14. Februar im Zuge von Solidaritätskundgebungen für die Revolutionen in Tunesien und Ägypten allein in Teheran bis zu 1 500 Demonstranten festgenommen, zwei Männer wurden getötet. Die iranische Menschenrechtslage ist äußerst kritisch. Grundlegende Menschenrechte werden missachtet – was auf einer langen Tradition fußt: Nicht erst die islamische Revolution brachte Unterdrückung mit sich. Das vorherige, von Schah Mohammad Reza Pahlavi geführte Regime ging ähnlich autoritär mit den Regierten um. Einziger Unterschied: Damals war dies für die westliche Staatengemeinschaft nicht Grund genug, mit Sanktionen zu drohen. Vielmehr war der Schah

Foto: KONG / photocase.com

willkommener politischer Freund jener Staaten, die sich damals wie heute Demokratie und Menschenrechte auf die Fahnen schreiben. Kritik an den damaligen Zuständen gab es im Westen nicht etwa von der politischen Führung, sondern von jungen, aufgebrachten Menschen. Warum wird der Iran heute aus aller Welt mit Drohungen, Rügen und Sanktionen bombardiert? Wie kommt es, dass die Empörung über die dortige Lage auch in westlichen Parlamenten laut wird? Mit der Revolution 1979 wechselte der Iran den politischen Kurs. Als früherer Vasalle und Öllieferant des Westens wollte er unabhängig sein. Irans Nuklearprogramm ist nicht nur westlichen, sondern auch den angrenzenden Golfstaaten ein Dorn im Auge. Sie fürchten einen Angriff Israels auf Iran und einen folgenden Rachefeldzug, der auch ihre Stabilität gefährden würde. Mohammed bin Zayed, Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, verglich die derzeitige Lage mit „Europa kurz vor dem zweiten Weltkrieg“. Laut von Wikileaks veröffentlichten US-Depeschen finde er einen „konventionellen Krieg besser als die langfristigen Konsequenzen eines nuklearen Iran.“ Es scheint, als stünden machtpolitische und wirtschaftliche Interessen im Vordergrund, denn die zwischen

Iran und Oman liegende Straße von Hormuz ist das wichtigste Nadelöhr für den Ölexport in die westliche Welt. Täglich werden durch sie mehr als 14 Millionen Barrel Erdöl transportiert. Zusammen mit den USA erarbeiten die Emirate selbigen Depeschen zufolge Pläne, wie die Straße im Falle eines Konflikts gesichert werden könnte. Auch Katar, einer der wichtigsten Erdgaslieferanten Amerikas, ist besorgt. Sollte die dortige Infrastruktur zerstört werden, „hätte dies einen sofortigen schädlichen Effekt auf die Vereinigten Staaten“, so der US-Botschafter in Doha, Katars Hauptstadt. Ein Erfolg der alliierten Staatengemeinschaft war es, Russland daran zu hindern, dem Iran Abwehrraketen zu verkaufen, die dessen Nuklearanlagen schützen sollten. Dadurch wird ein potenzieller Luftangriff Israels auf diese erheblich erleichtert. Das iranische Atomprogramm hat zum Ziel, das Land mit Kernenergie zu versorgen. Das Programm gibt es schon seit dem Jahr 1959, wurde aber durch die islamische Revolution und den ersten Golfkrieg unterbrochen. Bis heute ist kein Atomkraftwerk an das iranische Stromnetz angebunden. Das Land steht im Verdacht, eine militärische Nutzung des Atomprogramms anzustreben, etwa durch Atombomben. Gabriel Cioclea

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Glückspulver und Kuschelbäume Naturkindergärten sind beliebt wie nie, immer mehr Eltern entscheiden sich dafür. Doch welchen Reiz bietet das Spielen in freier Natur? Ein Tag im Wald mit dem Kindergarten Haidhausen.

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or dem Wald liegen die Schienen der Straßenbahn. Elf Kinder stehen am Steig, Hand in Hand wie eine Zwergenfamilie. Für sie muss ich wie ein Riese wirken, doch mutig nehmen sie mich auf in ihre Reihe. „Kommt was von links?“, die Zwerge recken die Köpfe, schauen auf die Schienen. „Nein!“, rufen sie. „Kommt was von rechts?“, ein Blick zur anderen Seite. „Nein!“, brüllen sie. Es klingt wie ein Schlachtruf. Sie marschieren über die Schienen, keiner schaut zurück, wo Grünwald, der Münchner Vorort, im Morgenlicht strahlt; Anwesen, Rechtskanzleien und Büros der Wirtschaftsprüfer. Hecken gestutzt, Reihenpflaster unvermoost, die Gartenzäune aus lackiertem Holz. Auf der anderen Seite der Schienen beginnt der Perlacher Forst. Die Zwerge treffen sich am Waldesrand, dem Eingang zu ihrem Kindergarten. „Naturkindergarten“, heißt das Konzept. Es sagt: Kinder brauchen die Natur, um ihren natürlichen

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Drang auszuleben, zum Forschen, Experimentieren, Beobachten. Hierfür seien Parks, Wälder und Auen besser geeignet als geschlossene Räume. Kati Mayer-Arnold, die Erzieherin, erklärt die heutige Mission: „Wir wollen den Winter austreiben mit Masken und mit Lärm.“ Und dann singen sie: „Winter, ade! Scheiden tut weh. Aber dein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht.“ „Und los geht‘s!“, ruft Mayer-Arnold, „unser erstes Ziel ist der umgefallene Baum.“ Die Zwerge wuseln, stolpern, purzeln den Waldweg entlang. Sie sind glücklich und voller Tatendrang. Und ihre Eltern sind das wahrscheinlich auch. Für sie ist es ein Privileg, ihren Kindern einen Naturkindergarten bieten zu können. In München gibt es zwölf solcher Kindergärten, in Deutschland schätzungsweise über tausend. Doch überall ist die Nachfrage größer als das Angebot. In einer Welt der medialen Reizüberflutung,

wo Smartphones zu Kinderspielzeugen werden und es für jedes Stresssymptom das passende Medikament gibt, in einer Welt, in der Technik dem Menschen fast alles bieten kann, entscheiden sich doch immer mehr Eltern für den Entzug: für ein Aufwachsen ihrer Kinder in der Natur. Das Spielen im Freien sei gut für die Motorik, den Orientierungssinn und die Konzentration, sagen die Befürworter. „Unser nächster Halt ist der Kuschelbaum“, ruft Mayer-Arnold. Und die Zwerge wuseln weiter. Manche spielen Verstecken und ich, der Riese, stehe da mit geschlossenen Augen und zähle. „Zehn, neun, acht“, ich höre die Vögel singen, Kinderfüße rennen, Äste knacken, „drei, zwei, eins, ich komme!“ Die Zwerge ducken sich hinter Baumstämmen, verkriechen sich in Gräben und zwischen Ästen. Es ist ein endloses Spiel, immer wieder beginnt die Suche von neuem, die Verstecke sind unendlich.

FFoto: Fot Foto Fo ooto ot ttoo : XXX XXX XX


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Stetig führt der Pfad hinein in den tiefen Wald. Die Baumkronen bündeln zaghafte Sonnenstrahlen, ein frostiger Ostwind lässt die Silhouetten tanzen. Der Morgen riecht nach frischem Moos, nach Holz und Morgentau. An einem unscheinbaren Baum bleiben die Zwerge aufgeregt stehen. „Das ist der Kuschelbaum, der ist nämlich so klein, mit dem kann man kuscheln“, ruft einer und fasst um den dünnen Stamm. Es sieht aus, als umarme er seine Mutter.

Löcher, bemalen sich mit Kreide und sammeln Stöcke. Dann geht es los zum Indianerplatz. Mitten durchs Dickicht stapfen sie, bis Kati Mayer-Arnold eine erschreckende Entdeckung macht. Die weißen Leinentücher erinnern an die Gewänder des Ku-Klux-Klans. „Zieht doch bitte die Mütze über das Gespensterkostüm!“ Bei einem kleinem Zelt aus Ästen bleiben die Kinder stehen, dann kommt das Kommando: „Jetzt vertreiben wir den Winter!“ Die Kinder brüllen und trom-

schenk dir was.“ In ihrer Hand hält sie einen Holzsplitter, behutsam legt sie ihn in meine Hand. „Das ist Glückspulver. Wenn du sagst, ‚bring mir Glück!‘, bringt es dir kein Glück“. Der Riese schaut verwundert. „Aber wenn du sagst, ‚bitte bring mir Glück‘, dann wird es dir Glück bringen.“ Als die ersten Schatten des Nachmittags über den Hausbaumplatz huschen, packen die Zwerge ihre Ränzchen. Jetzt heißt es lebewohl! Wir marschieren zurück, vorbei am Kuschelbaum, an dem umgefallenen

Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Hausbaumplatz, einer Waldlichtung, halb so groß wie ein Fußballfeld. Das ist das Revier der Zwerge, in der Mitte steht ein Zelt aus Baumstämmen und morschen Ästen. Die Kinder legen ihre Rucksäcke ab, die ersten rennen los zu dem Zelt. Doch Kati Mayer-Arnold ist besorgt und bremst sie. Vorsichtig rüttelt sie an den Ästen, um zu prüfen, ob alles stabil ist. Sie gibt Entwarnung. Jetzt heißt es Freispiel für die Kinder. Das Baumzelt wird zum Theater, zum Gefängnis oder zur Burg, und ich werde zum Essen eingeladen. Coralie hat gebacken: Eine Torte aus Tannenzapfen, Rinde und Holzstöckchen. Nicht fehlen dürften die Vitamine, sagt sie, und garniert das Häufchen in meiner Hand mit feuchter Erde. Ich schmatze und nicke anerkennend. Plötzlich fegt ein eisiger Wind über den Hausbaumplatz, wie eine Mahnung an die Mission der Zwerge: Den Winter austreiben! In Leinentücher schneiden sie runde

meln mit ihren Stöcken. Danach stimmt Mayer-Arnold ein Lied an: „Immer wieder kommt ein neuer Frühling, immer wieder kommt ein neuer März. Immer wieder bringt er neue Blumen, immer wieder Licht in unser Herz.“ Auf dem Rückweg bleibt der kleine Vincent zurück. Er ist einer der jüngsten Zwerge, gerade drei Jahre alt. Ihm ist kalt und er sei müde. Er setzt sich auf einen Baumstumpf. Doch Mayer-Arnold hat eine andere Vermutung. Schwere Windeln machen auch müde. Sie geht mit ihm hinter einen Baum; Wickelzeit im Wald. Der Ostwind bläst nun stärker, die Finger schmerzen. Doch irgendwann nimmt mich Sara an die Hand. Ihre hellblauen Augen strahlen mich an, unter ihrer Mütze lugen goldene Strähnchen hervor. Sara ist fünf und zerrt mich hinter sich her. „Du bist ja ganz kalt“, sagt sie, zieht meine Hand an ihren Mund und pustet warme Luft auf meine eisigen Finger. Wir gehen ein paar Schritte, dann sagt sie: „Ich

Baumstamm, bis zum Rand des Waldes. Die einfahrende Straßenbahn rattert und die Gleise summen. Die Kinder stürmen in den Wagen, ziehen ihre Mützen und Mäntel aus, die Haare liegen kraus, die Wangen glühen. Vom Perlacher Forst bis nach Haidhausen sind es nur zwanzig Minuten, solange dauert die Fahrt von der Märchenwelt zurück in die Realität. An der Endhaltestelle warten die Eltern. Die Türen gehen auf und die Kinder springen ihnen in die Arme. Morgen werden sie ihre Kinder wieder hierher bringen, und dann beginnt die Fahrt von neuem. Saras Mutter hat den Verein „Naturkindergarten Haidhausen“ mitgegründet. „Ich bin immer ein richtiges Stadtkind gewesen, aber für meine Kinder habe ich gespürt, dass sie die Natur brauchen“, erzählt sie. Ihre Sara klettert auf einen Stromkasten neben der Bushaltestelle. Und ich fasse in die Hosentasche. Erleichtert spüre ich: Es ist noch da, das Glückspulver. Danke, kleine Fee!

Fotos: Andreas Spengler

Andreas Spengler

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Der gute Wolf Der Wolf galt lange Zeit als ausgestorben. Beinahe ist er zu einer mythologischen Figur verkommen. Doch dann kehrte er zurück.

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ensch und Wolf waren früher Freunde und hatten Vieles gemeinsam: Sie waren beide Jäger und kannten in der Natur keine Feinde. Die Menschen lernten von den Wölfen Tricks, um besser zu jagen. Vor 15 000 - 30 000 Jahren hielt der Mensch den Wolf als Haustier. Aus diesem Stubenwolf entwickelte sich der Hund, der beste Freund des Menschen. Doch für die Wölfe war damit die Zeit der Freundschaft zu Ende, man hatte sie ihrer Freiheit beraubt. Und weitere Konflikte waren vorprogrammiert: Die Menschen begannen, Vieh aufzuziehen. Sie züchteten Schafe, um sich zu ernähren oder um sie zu verkaufen. Sie wollten das Essen am Leben halten für spätere Zeiten. Für den Wolf blieben die Schafe aber weiterhin eine leichte und wehrlose Beute; Eine Art Sonderangebot. Doch diese instinktive Schnäppchenjagd brachte den Menschen um sein Essen und um sein Geld: Der gebeutelte Bauer rächte sich für den Schaden, indem er den Wolf tötete und Gerüchte verbreitete, das Tier sei blutrünstig. Der Wolf war das Säugetier, das am häufigsten auf der nördlichen Halbkugel vertreten war. Aber an vielen Orten Europas ist er inzwischen ausgestorben. Lange Zeit gab es auch in Deutschland keine Wölfe mehr, der letzte Wolf wurde

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1904 erschossen. In den neunziger Jahren kehrten die Tiere aber zurück. Nach kurzen Ausflügen aus ihrer polnischen Heimat gründeten einige Wölfe ihre Rudel in Gebieten in Hessen, Sachsen und Brandenburg; teilweise auch auf Truppenübungsplätzen der Bundeswehr. Waldschutzprogramme haben dafür gesorgt, dass sich die deutschen Wälder günstig für die Wölfe entwickeln. Ein gutes Revier zeichnet sich nämlich durch viel Wild, gute Rückzugsmöglichkeiten und wenig Menscheneinfluss aus. Jetzt müssen Wolf und Mensch sich wieder aneinander gewöhnen. Aus der Wolfsperspektive ist das sehr einfach: Er hat Angst vor dem Menschen und flüchtet mit 60 km/h, wenn er einen in der Nähe wittert. Dank seiner feinen Nase und Ohren kann er einen Menschen erkennen, lange bevor dieser ihn sieht. Die ersten Wölfe waren jedoch in besonderer Gefahr, denn sie wurden von Jägern erschossen, die sie für verwilderte Hunde hielten. Für den Menschen ist der Umgang problematischer. Was soll er tun, wenn der Wolf zurückkehrt? Die Beschäftigung mit dieser Frage nennen Experten „Wolfsmanagement“. Dabei geht es um die Ängste, Sorgen und Unsicherheiten der Menschen im Zusammenhang mit den neuen Nachbarn.

Schäfer und Bauern müssen nun auch ihre Herden wieder schützen. Wölfe sind lernfähig. Das nutzt man aus. So sollen die Wölfe lernen, dass Schafe auch große Schmerzen bedeuten können und nicht nur Essen. Das geht zum Beispiel durch Elektrozäune. Wolfzäune sind mit kleinen Stoffresten ausgestattet, die im Wind herumfliegen und für extra Verwirrung sorgen. Zusätzlich werden besondere Hunde ausgebildet, die die Herde schützen sollen. Sie haben einen großen Beschützerinstinkt im Gegensatz zu Schäferhunden, die die Schafe aus einem Jagdtrieb heraus zusammentreiben. Wolfsexperten beschäftigen sich vornehmlich mit Angriffen von Wölfen auf Menschen. Wie gefährlich sind Wölfe wirklich? Es hat zwar vereinzelte Angriffe von Wölfen gegeben, das waren aber oft tollwütige Wölfe. Füchse, die Hauptträger dieser Krankheit, wurden deshalb immunisiert. Tollwut gibt es seit 2008 nicht mehr in Deutschland. Ein anderer Auslöser für Angriffe von Wölfen sind Hunde, die mit ihrem Herrchen im Wald spazieren gehen: Der Wolf sieht in ihm einen Rivale, der sich unerlaubt ins eigene Revier vorwagt. Da ist es für den Wolf Ehrensache, den Eindringling zu stellen. Silke Brüggemann

Foto: Jasy / pixelio.de


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nsleben Meldungen aus dem Redaktio

Ihr täuscht euch nicht, es liegt etwas in der Luft und zwischen den Zeilen dieses Hefts! NOIR erreicht ein märchenhaftes Alter: Die 20. Ausgabe. Sie ist jetzt erwachsener, ausgeklügelter, in Ansätzen weise und trotzdem kein bisschen dem Dornröschenschlaf nahe. Zu ihrem Geburtstag darf sie aus einem goldenen Tellerchen essen, sobald euer Kuchen im Büro ankommt. Wir lassen uns von diesem sakralen Moment anstecken und schenken ihr für jedes Lebensjahr eine besonders liebevolle Seite mit 1, 2, 3 … 20 Kerzen zum Auspusten!

Froschmangel

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Impressum NOIR ist das junge Magazin der Jugendpresse BadenWürttemberg e.V. Ausgabe 20 – Mai 2011

Herausgeber Jugendpresse Baden-Württemberg e.V. Fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart Tel.: 0711 912570-50 Fax: 0711 912570-51

www.jpbw.de buero@jpbw.de

Chefredaktion Susan Djahangard susan.djahangard@noirmag.de (V.i.S.d.P., Anschrift wie Herausgeber) Miriam Kumpf miriam.kumpf@noirmag.de Andreas Spengler andreas.spengler@noirmag.de Anika Pfisterer anika.pfisterer@noirmag.de

Chef vom Dienst Alexander Schmitz alexander.schmitz@noirmag.de

Lektorat

D NOIR-Cover-Version vom Die Froschkönig F ist wunschlos glücklich: Sie kommt ohne Schloss aus, ohne Prinzen und um ein Haar auch ganz ohne Frosch. An ihrem Anfang steht ein gut gepflegtes Kostüm aus den Kinderfaschingstagen unserer

Dominik Einsele

dominik.einsele@noirmag.de

Redaktion Silke Brüggemann (sbr), Gabriel Cioclea (gc), Susan Djahangard (sd), Bianca Göpfert (bg), Marie Graef (mg), Meike Krauß (mkr), Lisa Kreuzmann (lkr), Henrike W. Ledig (hl), Puja Matta (pm), Alexander Schmitz (als), Andreas Spengler (as), Fabian Vögtle (fv), Alice Watmann (aw), Kathrin Wiewe (kw), Alessa Wochner (awn) redaktion@noirmag.de

Anzeigen, Finanzen, Koordination Sebastian Nikoloff sebastian.nikoloff@noirmag.de

Layout & Art Director Tobias Fischer

Redaktion und am Ende eine Prinzessin, die sich nicht scheut, ihre Füße in den Matsch zu stellen und schwere Goldkugeln zu werfen. Ja, diese Kugel … wäre sie nicht gewesen, wir hätten Aschenputtel inszeniert! Obwohl Titel-Fotograf Felix Krummlauf die Geschichte nur in Fragmenten kennt und das „hässliche Fröschlein“ sowieso nicht leiden mag, haben er und Kurzzeitprinzessin Jana Willet keine Mühen gescheut. NOIR sagt Danke!

Illustration: Simon Staib; Fotos: Felix Krummlauf (unten), katl78 / photocase.com (oben)

tobias.fischer@noirmag.de

Layout-Team Tobias Fischer, Pascal Götz, Luca Leicht, Carolina Schmetzer, Simon Staib layout@noirmag.de

Titelbilder Felix Krummlauf (Titel); Leonie Damm / jugendfotos.de (links); froodmat / photocase.com (mitte); deinvadder / photocase.com (rechts); Gabriel Rausch (Happy Birthday Banner)

Druck Horn Druck & Verlag GmbH & Co. KG, Bruchsal www.horn-druck.de NOIR kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im Abonnement 1,70 Euro pro Ausgabe (8,50 Euro im Jahr, Vorauszahlung, Abo jederzeit kündbar). Bestellung unter der Telefonnummer 0711 912570-50 oder per Mail an abo@noirmag.de. Für Mitglieder der Jugendpresse BW ist das Abonnement im Mitgliedsbeitrag enthalten.

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Was um alles in der Welt ... … passiert wohl, wenn sich einmal alle nur erdenklichen Nationalitäten begegnen? Und das auf kleinstem Raum: dem Studentenwohnheim „Voie Domitienne“ in Montpellier.

D Geschenk-Courage Mit dem Bekanntenkreis wächst auch die Häufigkeit der Geburtstagseinladungen. Und das ist nicht nur im zarten Alter eine nette Angelegenheit. Was gibt es Schöneres, als ohne finanzielle Ausgaben bei üppiger Cocktailkarte den Bekanntenkreis erneut zu vergrößern oder trotz versäumten Einkaufs en Masse Häppchen zu testen? Wenn da nur nicht die Sache mit den Geschenken wäre ... Was schenken, wie viel schenken, mit wem schenken? Jedes Mal dasselbe. Ganz vorne mit dabei: der Gutschein. Er birgt nur zwei Risiken, entweder gilt man als unkreativ, oder aber steht als Geizhals dar. Beides schlecht. Wählt man dagegen die sich an wachsender Beliebtheit erfreuende Gruppenvariante, kann man sich bei Missfallen darin wähnen, nicht verantwortlich gewesen zu sein. Wo bleibt unser Rückgrat beim Schenken? Vielleicht ist es tatsächlich nicht so wichtig, was geschenkt wird, sondern vielmehr, wie geschenkt wird. Mit einer Prise Herz, Witz und Überraschungseffekt könnten schließlich auch alte Tennissocken lk zum Geschenkehit werden.

ie meisten Studenten profitieren in vollen Zügen von dem internationalen Klima ihrer neuen Bleibe. Man muss nur ein paar Kniffe beherrschen. Prima kann man sich zum Beispiel in der Gemeinschaftsküche verköstigen, wenn man anbietet, gemeinsam zu kochen, schließlich heldenhaft auf die Partizipation mangels Schneidebretter verzichtet und anschließend beim Essen unschuldig die kulinarische Horizonterweiterung lobpreist. Denn ein Ratatouille mit türkischem Fladenbrot, einem Tiramisu zum Nachtisch und einem Gläschen französischem Wein geht definitiv als multikulturelle Erfahrung im Lebenslauf durch. Wenn alle gemütlich beisammen sitzen, kommen nicht nur Speisen, sondern endlich auch die richtig wichtigen Fragen auf den Tisch: „Stimmt es, dass die Deutschen zum Frühstück Bier trinken?“, „Tragen die Studenten aus Salvador in ihrer Heimat Lendenschürze?“ und wo wir schon beim Thema sind, „Wo liegt Salvador eigentlich?“ Dieser kulturelle Austausch ist ein wahres Bildungsfeuerwerk! Der ein oder andere kommt zu erstaunlichen Erkenntnissen, wie Tom Croymans

aus Belgien: „The French guys tell the same jokes than we do about the Dutchman – but they always say the Belgians.” Virgina Lopez Lopez aus Spanien lernt, dass man im Französischen das „V“ auf keinen Fall wie ein „B“ aussprechen sollte, da das Wort „Vite!“ (schnell) dann zu „Bite!“ (vulgär für Penis) wird und fragende Gesichter hinterlässt. Zu Missverständnissen führt allerdings nicht nur die falsche Aussprache, sondern auch das Wort-für-Wort-Übersetzen. Die Franzosen erfahren, dass ihre englische Übersetzung „all right“ als Richtungsangabe äußerst ver(w)irrend wirkt, wenn es eigentlich „toute droite“, also geradeaus gehen sollte. Man fragt sich allerdings, wieso überhaupt auf Englisch gesprochen wird, wenn die Studenten doch zum Französisch Lernen in Frankreich sind. Aber natürlich lernen sie auch das: „Mostly when I am with the French people they learn us dirty French words. I don’t know why but it happens.“ Aber egal in welcher Sprache; Unsinn Reden verbindet. So kommt es, dass sich alle schätzen und lieben, solange bis das nächste Missverständnis dazwischenBianca Göpfert funkt.

Orangenschlacht Am Morgen duftet die Stadt nach frischen Orangen. Abends stinkt es nach Pferdemist und zermatschten Früchten. Willkommen beim Karneval auf piemontesische Art! In Ivrea, einem süßen, norditalienischen Städtchen, findet jedes Jahr die traditionelle Orangenschlacht statt. Die Battaglia delle Arance ist der absolute Höhepunkt der Narrenzeit. Seit dem 19. Jahrhundert bewerfen sich einheimische Gruppen mit Tonnen von angekarrten Orangen. Drei Tage in Folge stehen verkleidete Teilnehmer auf den Plätzen der Stadt – bereit zur Schlacht. Auf einem Wagen, der von Pferden gezogen wird, erstürmen maskierte „Orangenkrieger“ den Platz und eröffnen das Chaos. Das wertvolle

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Obst fliegt in alle Richtungen. Euphorische Anhänger, faszinierte Schaulustige und verstörte Touristen stehen hinter kaum schützenden Netzen und verfolgen das Spektakel. Wer eine rote Mütze auf dem Kopf hat, darf nicht abgeworfen werden. Alle anderen tragen schnell saftige Spuren im Gesicht und an der Kleidung. Die sonst so idyllische Piazza gleicht einem wüsten Schlachtfeld. Doch der Storico Carnevale di Ivrea ist das Volkfest des Jahres und für die Menschen im Piemont eine hochemotionale Angelegenheit. Sie feiern nicht nur ihre geschmückten Stadtviertel, sondern auch die Freiheit, Unabhängigkeit und Geschichte der Stadt und ihrer Bürger. Fa b i a n V ö g t l e

Fotos: complize / photocase.com (oben); Fabian Vögtle (unten)



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