NOIR - Ausgabe 26: Bilderbuchfamilie

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Ausgabe 26 (Juni 2012) www.noirmag.de

Bilderbuchfamilie » Solange du deine Füße ... «

Thema

Interview

Kolumne

Erziehungsstile: von Autoritär bis Liberal

Adoptiert. Von Indien ins Schwabenland

Die Trennung vom Fahrradschloss


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Druck & Verlag Stegwiesenstraße 6–10 76646 Bruchsal


Editorial

Kind und Kaninchen

Ich möchte eine Familie, sagt eine Freundin zu mir. Mit Kindern und vielleicht ein paar Kaninchen. Die sind so niedlich, besonders, wenn sie noch ganz klein sind. Die Kinder, meint sie, nicht die Kaninchen. Und ein Mann dazu wäre auch nicht schlecht. Der muss irgendwie sein, für die Kinder und so. Aber dann sagt sie, ihr wäre das alles zu langweilig. Sie möchte nicht im Reihenhaus wohnen, nicht auf der Bank neben dem Sandkasten sitzen und gelangweilt ihre Kinder mit denen der anderen Spielplatz-Muttis vergleichen. Lieber will sie reisen und was erleben. Die Welt sehen und neue Erfahrungen machen. Aber mit Kindern ist das schwierig. Also lieber doch keine Familie. Sie ist ja noch jung, sagt sie, und Kinder kriegen könne sie später noch. Ihre Familie, ihre Eltern und Geschwister, die reichen ihr ja eigentlich auch schon. Die machen schon genug Stress, sagt sie. Familie – Stress oder etwas, auf das ihr nicht verzichten wollt? In dieser Ausgabe dreht sich alles um die Familie in all ihren Formen. Ich finde, Familie ist wie alles andere: Zu viel davon ist ungesund, zu wenig ist einfach nicht genug.

Sabine Kurz, Chefredakteurin

aUS DEM rEDAKTIONSLEBEN ...

Andreas treibt als Mann die Frauenquote in die Höhe. Wie er das macht? Er sagt der NOIR Adieu und widmet sich seiner Bachelorarbeit. Dem Chef vom Dienst Alex wird ganz schwindelig – er bleibt zurück mit einer rein weiblichen Chefredaktion. Danke für dein Engagement, Andreas! Wir hoffen auf zahlreiche Gastauftritte!

Schreibblockaden und leere Bildschirme waren gestern. In Zukunft macht Bettina Schneider den NOIRAutoren das Leben leicht. Sie gibt Tipps und Tricks und räumt Steine aus dem Weg von der Themenidee zum fertigen Text. Die 22-Jährige hat dieses Jahr Abitur gemacht und ist von Natur aus hilfsbereit.

Wer hoch fliegt, fällt tief. Anika Pfisterer träumte von einer Welt ohne Fahrradschlösser. Doch noch während sie die waghalsige These zu Papier bringt, geschieht das Unerhörte: Ihr Fahrrad ist weg! Ein bitterer Beigeschmack für den Beginn einer Fahrradschloss-Revolution. Die ganze Geschichte gibt‘s auf Seite 13. NOIR Nr. 26 ( Juni 2 012)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

10 KommentaR 14 Portr ät

04 Titel 11 Titel

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Editorial. RedaktionsGeschichten Kultur. Chantalismus Titelthema. Wandel der Erziehung

Titelthema. Erziehungsstile

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Porträt. Leben mit Sonnenschein

NOIR Nr. 26 ( Juni 2 012)

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Umfrage. Bedeutung der Familie

Kommentar. Hotel Mama?

Titelthema. Eineiige zwillinge Interview. Zwischen zwei Familien Kolumne. Fahrrad- & Luftschlösser

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Porträt. Ellen von Unwert KULTUR. Keine 99-Cent-Parties Querbeet. Patchwork im Urlaub Impressum. Wer steckt hinter NOIR?


Kultur

Chantal hat's nicht einfach

Cheyenne-Jaqueline

Peaches

Mailin

Blue Ivy

Sari PiéricLanzelotte Donatus Phönix

Etienne-Roché

Knox Alvaro Kevin Barbie Rowena

Jill-Leeann

Text: Irina Blesch | Layout & Illustration: Luca Leicht

Devin

Tamia-Blue

Ludmilla

Sindy

Enola-Angelina

Finwick

Joy

Samenta

Desideria Chantal Justine

Kimberley-Michelle

Travis-Paxton

Randy Dustin

Iron

Chanaya Feline Chanel-VivianaZowieAshley Frederik-Pasquale Célandine Jasmin

Rocky Tussnelda

Bronko

Boy Virginia-Leonie

Tyron-Maddox Joleen

S

ie heißen Luna-Summer und Jake Conner Axel und sind die neuen Leidtragenden einer unkonventionellen Strömung. Die Rede ist von extravaganten Vornamen, die Kinder ihren überaus kreativen Eltern zu verdanken haben. Individuell, melodisch und außergewöhnlich in der Kombination – mehr Kriterien scheinen ihre Namen wohl nicht erfüllen zu müssen. Doch oftmals erntet dieser Trend nicht mehr als ein mitleidvolles Kopfschütteln. Man spricht scherzhaft vom »Chantalismus«. Ein unvorteilhaftes Phänomen, das laut Definition »die Unfähigkeit, Kindern sozialverträgliche Namen zu geben« ausdrückt. Wenn Kinder ihre Eltern für die Namensgebung verklagen könnten, würden sie das tun? Diese Frage stellt sich der gleichnamige Blog, der Geburtsanzeigen mit chantalistischem Charakter sammelt. Nicht weniger etikettierend ist übrigens das männliche Pendant: Kevinismus. Stilblüten wie Mia Milou oder Jaden James sind Beispiele dafür, wie ambitioniert einige Eltern sind, ihrem Sprössling größtmögliche Individualität einzuhauchen. Egal ob mit oder ohne Bindestrich, ein- oder mehrsprachig: Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Inspiration für werdende Eltern bietet dankenswerterweise der »Chantalizer« einer Website, der per Mausklick zufällig einen Namen kreiert. Wa-

gen wir einen Versuch. Das Ergebnis: Cheyenne Justine Seraphina. Dass ein gleichnamiges Baby gerade das Licht der Welt erblickt, ist leider nicht auszuschließen. Ein Name ist aber mehr als nur ein Name. Das bestätigt auch eine Studie der Universität Oldenburg – zum Nachteil aller Mandys und Justins. Demnach werden ihre Leistungen von Lehrkräften negativer wahrgenommen als die ihrer Mitschüler Maximilian oder Sophie. Wer seinem Nachwuchs also einen Gefallen tun möchte, orientiert sich besser nicht an Sängerin Gwen Stefanie, die ihre Tochter »Zuma Nesta Rock« nannte oder Fußballstar David Beckham, der seine kleine »Harper Seven« im Kinderwagen durch die Hollywood Hills schiebt.

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titelthema

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titelthema

Vernachlässigt und Überbehütet. Die Familie wandelt sich. Das war schon immer so. Doch heute gibt es Erziehungskurse im TV, überforderte Eltern und überarbeitete Psychologen. Eine Entwicklung, die nichts Gutes verheißt. Text: Judith Daniel | Fotos: Felix Krummlauf | Layout: Tobias Fischer

»E

s gibt in der Bundesrepublik einen fast universalen Konsens darüber, dass Eltern in erster Linie mit ihren Kindern über Konflikte sprechen und sie nicht schlagen sollten«, sagte der Hamburger Soziologe Karl-Heinz Reuband schon 1997. Und trotzdem treffen provokative TV-Formate noch heute auf ein breites Publikum. Sie zeigen Gewalt innerhalb der Familie, wie bei »Die Super-Nanny«. Was hat sich also geändert in unseren Familien? Was wollen Eltern heute anders machen als noch vor 50 Jahren? Welche Erwartungen werden an die Institution Familie gestellt? Ältere Generationen blicken heute gerne nos­ talgisch verklärt auf ihre eigene Erziehung zurück. Die Soziologie bestätigt nüchtern: Es hat ein Wertewandel stattgefunden. Wo früher Gehorsam, Ehrlichkeit und Sitte im Vordergrund standen, begreifen sich Eltern heute mehr als Begleiter der Persönlichkeitsentwicklung auf dem Weg zur Selbstständigkeit. Doch die Achtung des individuellen Charakters verträgt sich nicht mit Prügelstrafen und Essensentzug. Was sind also moderne Erziehungsmethoden? Was tun, wenn das Zusammenleben doch aus dem Ruder läuft? Daniela Stadler arbeitet als Heilpädagogin. Sie erlebt die Probleme vieler Familien. Erziehungsratgeber seien mit schuld, wenn viele Eltern unsicher sind, glaubt Stadler. Die Therapeutin ist sich

sicher: »Eine normale Frau hat eine normale Mutterausstattung.« Das heißt, sie ist auch ohne Katja Saalfrank und rosafarbene Bücher in der Lage, ihr Kind zu erziehen. Doch unsere Gesellschaft baue einen Leistungsdruck gegenüber jungen Familien auf. Jeder Zweite fühle sich als Hobbypsychologe. Oft steht schon vor der Geburt eines Kindes fest, auf welches der drei Gymnasien in der Stadt es gehen soll. Daniela Stadler glaubt sogar, dass ein Kind in der modernen Familie oft nur als Projektionsfläche der Elternträume dient. Eine Frau wollte als Mädchen Ballett tanzen und zwingt nun ihre Tochter drei Mal in der Woche ins Training. »Eine Mutter muss geben, nicht nehmen,« sagt Stadler. Frauen seien heute oft zu unreif, um ein Kind zu erziehen. Das Wohl des Kindes sei zwar meist das Ziel, aber junge Eltern seien verwirrt von der Fülle an Informationen und Anforderungen. Stadler beschreibt zwei große Trends unserer Zeit: Vernachlässigung einerseits, weil die Eltern zu sehr mit sich beschäftigt sind – Überbehütung andererseits, in der es dem Kind nicht möglich ist, selbstständig zu handeln und eigene Interessen zu entwickeln. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es völlig selbstverständlich, dass ein Kind frei war, Dinge auszuprobieren, um so seine Grenzen zu tes▶ ten. Wurden diese überschritten, gab es eben NOIR Nr. 25 (April 2 012)

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Titelthema

Ärger. Nur so könne ein Mensch lernen, was richtig oder falsch ist – und so auch nach und nach zu hinterfragen lernen, um seine eigenen Maßstäbe zu finden. Heute jedoch kann diese Grenzübertretung – und damit Grenzerfahrung – oft nicht mehr stattfinden, da Kindheit zu einem durchorganisierten Projekt wurde. Viele Kinder kommen heute von der Schule zum Mittagessen, in die Hausaufgabenbetreuung, danach zum Musikunterricht oder Sportverein. Freie Nachmittage sind oft mit Nachhilfe belegt. Ein Kind kann so keine eigene Persönlichkeit entwickeln. Wenn die Eltern alles vorbestimmen, wird es viel mehr dazu gezwungen, ihre Fehler zu wiederholen. Was ist also passiert in einer Familie, wie sie bei der Super-Nanny zu sehen ist? Stadler sagt hierzu ganz deutlich: »Die Super-Nanny ist gestellt. Doch diese Geschichten gibt es.« Kinder werden zu Symptomträgern. Sie spiegeln die Beziehung der Eltern wider, deren Selbstverständnis und Frustrationen. Was ist zu tun, wenn das Familienleben aus dem Ruder läuft? »Scheinbar kleine Schritte bedeuten für die Familie große Schritte, die wir gemeinsam wertschätzen und die sich auch nicht nach Jahren, sondern innerhalb kurzer Zeit einstellen«, lautet die Einschätzung der berüchtigten FernsehPädagogin Katja Saalfrank. Doch auch eine Mutter war mal Tochter. Erziehung ist abhängig von unterbewusstem Wiederholen der eigenen Erziehung – wieder der Vorwurf der Unreife. Stadler beobachtet, dass moderne Eltern nicht reflektieren, sondern kopieren. Das Abkupfern von Erziehungsstilen, wie die Super-Nanny es vorlebt, ist einfach und bequem. Bei einer Reflexion stößt man unter Umständen auf dunkle Seiten der eigenen Persönlichkeit. Das macht keinen Spaß. Und es dauert. Was aber tun, wenn das Kind mit 12 Jahren raucht und klaut? Wer soll therapiert werden? Die sozialpädagogische Familienhilfe setzt hier keinen Fokus. Wichtig ist aber: Ein Kind aus einer Familie herauszureißen, um es separat zu erziehen, ist beinahe unmöglich. Der Einfluss von Eltern auf ihr Kind sei viel stärker, als dass eine Jugendhilfe ihn ersetzen könnte, so Stadler. Erst bei Jugendlichen können die Eltern außen vor gelassen werden. Sie haben in dem Alter sowieso an Bedeutung verloren. 6

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Also müsste eine Katja Saalfrank, die direkt mit der ganzen Familie arbeitet, doch alles richtig machen, oder? Was sind die Vorwürfe der Kinderschutzbünde und Pädagogen? Über »entwürdigende Zurschaustellung von Kindern vor laufender Kamera« empörte sich der Deutsche Kinderschutzbund. Ein Vierjähriger sagte in der Folge vom 14. September 2011: »Mama darf nicht mehr hauen. Es tut so weh.« Die Schläge wurden mehrmals gezeigt, entsprechende Videos sind auf Ewigkeiten im Netz zu finden. Doch Saalfrank verteidigt dies: »Mir geht es eher darum, Themen aufzugreifen, die im Verborgenen stattfinden und oft tabuisiert sind. Wie zum Beispiel Gewalt in der Familie. Ich will vor allem die Folgen für Kinder aufzeigen. Grundsätzlich finde ich, dass es viel zu viele Tabuthemen in der Familie gibt.« Doch besteht hier ein Missverständnis. Natürlich sind Tabus in unserer Gesellschaft zu recht verpönt. Doch »persönliche Tabuthemen haben immer auch einen Sinn«, meint Daniela Stadler. »Ein Problem, das verschwiegen wird, ist wie ein gärender Saft in einem dicht verschlossenen Fass. Natürlich will der da raus. Aber das muss mit Gefühl und nach und nach geschehen, sonst geht das Ganze in die Luft.« Ein Tabu ist immer ein sehr verletzlicher, intimer Bereich eines Menschen. Wird dieser zu grob behandelt, wie es in der Medienöffentlichkeit der Fall ist, kann das den Zerfall einer Familie bedeuten. Kinder sind sensible Wesen, da sind sich Daniela Stadler und Katja Saalfrank einig. Wie der Umgang in einer Familie sich gestalten sollte, wird wohl auf ewig ein streitbares Thema bleiben. Trotz alledem: Junge Eltern, lasst euch nicht stressen!


Titelthema

Mit Zuckerbrot und Peitsche Kaiserreich, 1968er und heute: Mit der Gesellschaft haben sich auch die Erziehungsstile geändert. Text: Isabel Stettin | Layout: Luca Leicht

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flege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.« So steht es im Grundgesetz. Wie Eltern ihre Kinder erziehen, bleibt ihnen selbst überlassen.. Geht es um Erziehungsstile, unterscheidet man zwischen drei Idealtypen: Der autoritäre, der laissez-faire und der liberale Stil. Typen, die der Lauf der Zeit hervorgebracht hat. Denn der gerade angesagte Erziehungsstil ist immer Spiegel der Gesellschaft. Während des Kaiserreichs dominierte der autoritäre Stil. Der Vater war Familienoberhaupt, die Rollen in der Familie waren klassisch verteilt. Autoritäre Eltern dirigierten und kontrollierten ihren Nachwuchs, für ihn gab es Lob und Tadel. Musterbeispiel: Struwwelpeter. Sohn Konrad hält sich nicht an die Worte seiner Frau Mama. Finger ab! Philipp zappelt und wackelt. Der Vater erhebt drohend den Zeigefinger. Irgendwann wurde die Peitsche gegen Zuckerbrot getauscht. Und der Zappelphilipp hätte wohl eher auf der »stillen Treppe« verharren müssen, statt Prügel einzustecken. Ideen des antiautoritären Stils – mit viel Toleranz, wenig Grenzen und Vorschriften. Im Extremfall lässt man die Kinder einfach machen: Haare schnippeln, Teddy eincremen und Tapeten abreißen. Die Kinder sollen sich frei entfalten, ohne dass die Eltern mit ihrer Erziehung die Entwicklung steuern. Der antiautoritäre Stil war Resultat der Nachkriegsgeneration. Die 68er-Revolution machte Deutschland lebendiger, toleranter und offener. Die Proteste brachen auch die verkrusteten Familienstrukturen auf. Mit langen Haaren und Flower-Power-Musik wollten die Eltern ihre Kinder antiautoritär erziehen.

Zwischen den beiden Extremen liegt der liberale oder demokratische Erziehungsstil – wohl der, dem die meisten Eltern heute folgen. Moderne Eltern möchten ihre Kinder nicht mehr als ihnen untergeordnete schwächere Glieder in der Hierarchie sehen, sondern als gleichberechtigte kleine Menschen auf Augenhöhe. Grenzen werden zwar aufgezeigt, andererseits aber Eigenverantwortung gefordert. Die Eltern sind einsichtig und verständnisvoll, Entscheidungen werden gemeinsam getroffen. Sie wollen alles richtig machen, Erziehungsratgeber stapeln sich. Es wird gefördert und gefordert. Das Resultat: vom Geigenunterricht erschlagene, vom dreisprachigen Kindergarten überforderte, am Ende gelangweilte Kinder, die nie gelernt haben, sich mit sich selbst und der Welt zu beschäftigen. Mit dem Wandel des klassischen Familienbildes hat sich auch die Erziehung stetig verändert. Mittlerweile lebt ein Großteil der Deutschen in zusammengewürfelten PatchworkVerhältnissen, viele sind alleinerziehend. Gewaltsame Methoden sind mittlerweile verboten. Aber immerhin noch 40 Prozent der Mütter und Väter in Deutschland geben zu, ihren Kindern hin und wieder einen »Klaps auf den Po« zu geben. Bei zehn Prozent setzt es ab und an Ohrfeigen. Diese Ergebnisse brachte eine im März erschienene Forsa-Umfrage der Zeitschrift »Eltern« hervor.

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Reportage

Ein Leben mit dem Sonnenschein Im Gewöhnlichen liegt das Wunder: Josia wurde als Kind mit Down-Syndrom geboren. Doch seine Familie schenkt ihm ein Leben, das möglichst normal ist. Text: Corinna Vetter | Layout: Luca Leicht

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amilie Marquart ist eine ganz normale Familie. Die Eltern Uwe und Birgit leben mit ihren vier Kindern in einer idyllischen badischen Kleinstadt. Die zwei Töchter machen gerade ihr Abitur, der eine Sohn Johannes besucht die neunte Klasse der Realschule. Und dann wäre da noch Josia. Er ist der jüngste Sohn der Familie. Der Zehnjährige spielt für sein Leben gerne Fußball, sein Idol ist Manuel Neuer. Josia ist mit dem Down-Syndrom geboren. Das Down-Syndrom, auch Trisomie 21 genannt, ist eine Genmutation, bei der das 21. Chromosom dreifach vorkommt. Dieses Extrachromosom wirkt sich unterschiedlich auf die Betroffenen aus: Die Behinderungen reichen von leichter kognitiver Einschränkung bis hin zu starker geistiger Behinderung. Häufige Symptome sind auch Organfehlbildungen, eingeschränkte Sensorik und Sprachbildung sowie eine schlechte Sehstärke. Josia ist schwach eingeschränkt, sein Leben unterscheidet sich nicht allzu sehr von dem anderer Kinder. Er besucht die dritte Klasse der Grundschule, spielt im Fußballverein und hat viele Freunde. »Ich habe seine Behinderung nie als anormal oder negativ erlebt«, sagt Josias Schwester Judith. »Erst als ich älter wurde, habe ich gemerkt, dass unsere Familie ein wenig anders ist als andere. Trotz Josias guter Entwicklung braucht er natürlich besondere Pflege, zum Beispiel tägliche Muskelübungen und halbjährliche Kuren. »Das fanden wir aber nicht schlimm – wenn unsere Eltern mit Josia in Kur waren, hatten wir sturmfrei«, sagt Judith. »Josia hat genauso Rechte und Pflichten wie die anderen Kinder«, sagt seine Mutter Birgit. »Er räumt die Spülmaschine aus und deckt auch den Tisch.« Eine Sonderbehandlung führt bei vielen Menschen mit Behinderung zu einer Sonderstel-

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lung in der Gesellschaft. Das wollen seine Eltern nicht. So besuchte Josia einen ganz normalen Kindergarten in seinem Heimatort und besucht nun eine integrative Grundschule. »Eine Sonderschule wäre nicht der richtige Platz für ihn«, sagt Birgit Marquart. Ihrer Meinung nach ist Integration und Verständnis alles. »Das gemeinsame Lernen und Leben ist das Wichtigste für Kinder mit DownSyndrom.« Weil Josia mit so vielen Menschen ohne Behinderung Umgang hat, kennt er keine Berührungsängste. Viele anderen Down-Syndrom-Kinder, die nur Sondereinrichtungen besuchen, haben den Umgang mit gesunden Kindern nie richtig gelernt und scheuen den sozialen Kontakt. Nicht so Josia. Seltsame Kommentare hat sich Familie Marquart über Josia selten anhören müssen. Ihr Umfeld ist sehr verständnisvoll und hat die Entscheidung der Eltern, ihr Kind nicht abzutreiben, nie in Frage gestellt. »Es ist so bewegend, weil er nicht weiß, wie besonders seine Situation ist«, sagt Birgit Marquart. Denn ein Kind mit Down-Syndrom aufzuziehen, wird von der Gesellschaft oft verpönt. »Mein Doktor hat mich sogar zu Hause angerufen und versucht, mich von einer Abtreibung zu überzeugen.« Doch ein Leben ohne Josia kann sich die ganze Familie heute nicht mehr vorstellen. »Er ist unser Sonnenschein.«


TitelThema

Mama, Papa und Du Das Kinderzimmer steht leer und verlassen … Braucht man Familie überhaupt noch, wenn man auf eigenen Beinen steht, selbst Bierkästen tragen kann und staubsaugen? NOIR-Autorin Leonie Müller hat sich in Stuttgart umgehört. Fotos: Alexander Schmitz | Layout: Tobias Fischer

Steffi, 29: M eine Famili e bedeutet te später se mir viel. Ic lbst eine Fa h möchmilie gründ Karriere ist en, wegen die aber no der ch nicht in Planung.

Daniel (li.), 20 und Marius (re.), 21: Wir wohnen beide seit fast zwei Jahre n nicht mehr zu Hause, durch Telefon und Skyp e halten wir aber den Kontakt. Alle paar Wochen vor Ort vorbeizuschauen, ist auch immer mal wieder schön. wichtig. Meiner Meinung nach ist Mariann, 22: Mir ist die Familie sehr ren Beziehungen. ande alle das Familienleben die Basis für

Sascha (re.), 24: Familie ist für mich meist damit. Freund ens nur nervig schaften sind . Ich verbinde mir viel wicht nicht viel iger! e Familie. Sie ohnerinnen mein ew itb M Ge fahre W e mein itte Wochenend Für mich sind gefähr jedes dr Un r. ige Leonie (li.), 20: st lu d un ltag einfacher machen den Al deutet meine e. ber. Trotzdem be rü da h fro n bi ich nach Haus ne und Ich wohne allei enhalt. Alisa (re.), 18: g und Zusamm un tz tü rs te Un ich m r fü e Famili

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KOMMENTAR

An Mutters Rockzipfel Layout: Tobias Fischer und Luca Leicht

Pro: Schluss mit Hotel Mama! Text: Elisabeth Adeyanju Omonga

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ndlich das machen, was man will. Unabhängig und frei, raus von zu Haus. Wer träumt nicht davon? Die eigenen vier Wände sind nicht nur ein Zeichen von Unabhängigkeit, sie symbolisieren auch einen neuen Lebensabschnitt. Schluss mit Hotel Mama! Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein und eine gewisse Belastbarkeit für die kommenden finanziellen Nöte werden jetzt auf die Probe gestellt. Der schnellste Weg zum Erwachsenwerden ist auszuziehen und die Welt auf eigene Faust zu bestreiten. Und das am besten weit weg von Mama und Papa. Jetzt ist Kochen angesagt, Putzen, Einkaufen und für die nächste Prüfung Lernen. Anfangs ist es schwer, aber mit der Zeit entwickelt man Strategien, mit Problemen alleine umzugehen. Früh auszuziehen stärkt das Selbstbewusstsein – Unsicherheit und Ängste schwinden. Mit 19 Jahren bin ich von Aachen nach Berlin gezogen und ich kann sagen: Ich habe vieles für mein Leben gelernt, nicht nur das Kochen.

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Contra: Ausziehen, nein, danke!

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Text: Melanie Michalski

ch wohne noch bei Mutti!«, diesen Spruch findet man auf T-Shirts, Tassen und sogar Socken. Was wie ein Vorwurf klingt, hat durchaus Vorteile. Dabei geht es nicht um Bemutterung durch die Eltern, sondern auch um finanzielle Hilfe. Denn die Erwartungen der Jüngeren steigen: Sie wollen möglichst schnell ein Auto, ein Studium und am besten noch ein Auslandssemester in Australien oder Kanada. Dafür tun wollen sie nichts. Nebenher arbeiten schon gar nicht. Wer länger zu Hause wohnt und in der Nähe studiert, spart Geld für später und kann sich besser auf sein Studium konzentrieren. Wer eine Ausbildung macht und nur wenig Geld zur Verfügung hat, ist meistens auf seine Eltern angewiesen. Warum dann nicht gleich noch eine Weile daheim wohnen? Familie bedeutet gleichzeitig auch Kraft und Unterstützung. Und wer ein harmonisches Familienleben hat, muss wohl eher vertrieben werden, als dass er freiwillig auszieht.


Titelthema

Hanni gegen Nanni Geschwister und gleichzeitig beste Freundinnen: Idyllische Ideen vom Zwillingdasein kennen wir alle. NOIR-Autorin Silke Brüggemann wollte wissen, wie es wirklich ist, im »Doppelpack« aufzuwachsen. Layout: Luca Leicht

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* Die Namen wurden von der Redaktion geändert.

ena und Lisa Haselmeyer* (beide 27) sind eineiige Zwillinge. Sie haben die gleichen Gesichtszüge und die gleichen Augen. Lena ist aber einige Zentimeter größer als Lisa. Und auch charakterlich sind sie völlig verschieden: Lena ist ehrgeizig und ernsthaft. Lisa ist eine Frohnatur, die auch ohne Karriere glücklich ist. »Lena und ich waren noch nie gleich«, sagt sie. Eineiige Zwillinge haben gleiche Erbanlagen, aber diese Erbanlagen zeigen nicht bei beiden die gleiche Wirkung. Gleiche Gene sind keine Garantie für Gleichheit in Aussehen, Entwicklung und Charakter. Es gibt eine Menge an Einflüssen, die dazu führen, dass bestimmte Gene einund ausgeschaltet werden. Dass sich unterschiedliche Gene aktivieren, ist auch bei eineiigen Zwillingen normal. Deshalb sind die meisten Zwillinge ungleicher, als uns manche Filme weismachen wollen. Zwillinge sind nicht immer ein Herz und eine Seele. Das sei eine Erfindung der Medien, meint Meike Watzlawik. Die Psychologin ist Lehrbeauftragte an der TU Braunschweig und beschäftigt sich mit der Entwicklung von Identität und Beziehungen von Zwillingen: »Die Beziehung zwischen Zwillingen kann alle Bandbreiten annehmen, die es bei Geschwistern auch gibt.« Auch bei Lena und Lisa fliegen oft die Fetzen: »Wir haben oft unterschiedliche Meinungen, egal ob es um Filme, Autos oder Geld geht.« Trotzdem können sie nicht ohne einander: »Von meinen anderen Geschwistern höre ich manchmal drei Wochen nichts, das ist normal. Wenn ich aber Lena so lange nicht höre, frage ich mich, ob ich etwas Falsches gesagt habe.«

Psychologin Watzlawik kennt das: Bei Zwillingen ist die Bindung oft enger als zwischen anderen Geschwistern. »Das liegt daran, dass sie dasselbe Alter haben und dadurch vor allem in der Kindheit vieles gleichzeitig erleben.« Damit Zwillingskinder getrennt gefördert werden können, werden sie oft in unterschiedliche Klassen gesteckt. So war das auch bei Lisa und Lena. »Wir haben dann öfter die Rollen getauscht und Lehrer und Mitschüler reingelegt«, erzählt Lisa. Das Trennen – das vermeintliche Geheimrezept von Lehrern und Eltern – kann aber auch schädlich sein, sagt Psychologin Watzlawik. »Einige Zwillinge, die viel zusammen machen, können von solch einer plötzlichen Trennung einen Schaden tragen«, weiß sie. Zwillinge seien sich auch ohne Trennung schnell bewusst, dass sie eine eigene Identität haben – lange bevor sie in die Schule oder in den Kindergarten kommen. Zwillingskinder haben den Vorteil, dass sie sich selbst durch den anderen beobachten können. Andererseits stehen sie unter einer besonderen Aufmerksamkeit. Lisa findet: »Es ist lustig, ein Zwilling zu sein. Besonders, wenn du wildfremde Leute triffst, die glauben, dich zu kennen.«

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Titelthema

Zwischen zwei Familien Miriam Conrad ist vor 23 Jahren in Indien geboren. Im Alter von einem Jahr wurde sie von einer deutschen Familie adoptiert. Im Interview mit NOIR-Autorin Iris Schmutz erzählt sie von ihrem Leben im Schwabenland und ihren indischen Wurzeln. Layout: Tobias Fischer

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arum haben sich deine Eltern für eine Adoption entschieden? Wir haben gute Bekannte, die auch ein Kind adoptiert haben und im Gespräch mit ihnen sind meine Eltern darauf aufmerksam geworden. Es war ein sehr langer Prozess, bis der ganze Papierkram erledigt war, ganze zwei Jahre. Man braucht Durchhaltevermögen und einen starken Willen für eine Adoption. Wie kamst du dann von Indien nach Deutschland? In Indien war ich im Kinderheim »Ashraya Children’s Home« untergebracht. Von dort hat mich eine Ärztin mit dem Flugzeug nach Deutschland gebracht. Ich war damals noch sehr jung und kann mich an diese Reise nicht mehr erinnern. Der Tag, an dem ich in Deutschland angekommen bin, war mein erster Geburtstag und die Adoption das beste Geschenk! Meine Mama hat mir erzählt, dass ich nach meiner Ankunft nur Reis gegessen habe und mich erst langsam an andere Nahrungsmittel gewöhnen konnte. Du warst zu jung, um die Adoption bewusst mitzubekommen. Wie hast du schließlich davon erfahren? Sobald die Selbstwahrnehmung da ist, fällt einem Kind auf, was anders an ihm ist. Bei mir ist

der Unterschied nicht zu übersehen: Meine Haut ist viel dunkler als die meiner Eltern. Trotzdem ist das Wort »adoptiert« als Kind ganz schön schwer auszusprechen! Natürlich hatten die anderen Kinder auch die üblichen Vermutungen, zum Beispiel dass ich in einen Schokoladentopf gefallen sei. Ich bin froh, dass meine Eltern ehrlich zu mir waren. Das ist wichtig, damit eine Adoption glücklich verläuft. Ich kenne Adoptiveltern, die es ihren Kindern erst in einem gewissen Alter erzählt haben. Das hat früher oder später immer zu Schwierigkeiten geführt. Hast du dich jemals dafür interessiert, deine leibliche Familie kennenzulernen? Als Kind habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Mit 16 habe ich dann öfter überlegt, ob ich meiner leiblichen Mutter wohl ähnlich sehe und mit 18 dann Kontakt mit der Ärztin aufgenommen, die mich nach Deutschland gebracht hat. Sie meinte, dass meine leibliche Mutter geheiratet hätte und der neue Mann nichts von mir wisse. In Indien könnte sie verstoßen werden, wenn sie mich treffen würde. Ich war zwar traurig, aber dadurch konnte ich die Sache auch abschließen. Ich habe ja hier meine richtige Familie. Ich spreche Schwäbisch wie alle hier und ich liebe Spätzle. Gibt es etwas in deinem heutigen Leben, das dich an deine Ursprünge erinnert? Manchmal gibt es Momente, wenn ich asiatische Gewürze rieche, in denen ich ein komisches Gefühl im Bauch merke. Das könnte ein Überbleibsel meiner Wurzeln sein. Außerdem haben meine Eltern mir meinen indischen Namen von meiner leiblichen Mutter als Zweitnamen gegeben. Sunanda bedeutet »die strahlende Sonne«.

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Kolumne

Fahrrad- und LuftschlösseR Prüfungsphase. Der Kurs der Währung Zeit schwebt über den Dächern der Börse. Eine Minute im Wert zu einem heiligen Gral. Ich muss meine LuxusSekunden sparen – und zwar beim Fahrradabschließen! Text: Anika Pfisterer | Layout: Tobias Fischer

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ein Fahrradschloss hat es nicht anders gewollt. Es steht stur auf dem Uniplatz und bockt beim Aufschließen. Ich muss Gewalt anwenden – bis zum Dominoday: Ein Fahrrad nach dem anderen stößt sich um mich scheppernd die Knie auf, bleibt verwundet liegen und entblößt den Superhelden in der Mitte. Für solche Blamagen bin ich nicht Student. Vor allem habe ich dafür keine Zeit. Seit ich nicht mehr abschließe, bin ich ein freier Mensch. Eine Brise Gandhi weht, wenn ich vom Sattel oder Thron – unklar – gleite, meinem Fahrrad seine tägliche Freiheit schenke und der Welt mein Ja-Wort. Pastellfarbene Blumen sprießen gen Himmel, wo ein Engelschor tiriliert: »Gepriesen seist du, Drahtesel!« Die Fahrräder und Herzen um mich werden eingesperrt in Käfige des Misstrauens, graue Männer stehen daneben und rauchen die Zeit.

Warum die Sicherheit auf die Nachkommastelle reglementieren, solange die Nullkommanix-Verschwörung herrscht – über ein Volk weißer Schafe! Die paar schwarzen Schafe haben kein Interesse an Gebrauchträdern mit Rost am Lenker. »Irgendwann klaut es dir einer!«, tönt die Urban Legend seit Monaten. Obacht, ihr Schwarzmaler! Der nächste verschwindet mitsamt Fahrrad, damit er einsieht: Viel wahrscheinlicher als ein Fahrraddiebstahl ist ein in den Gulli fallender Schlüssel oder ein Schloss, das an den Nussspuren in der Schokolade erstickt. Wenn ich meinen Ledersattel in der weidenden Fahrradherde aufblitzen sehe, rauschen die Endorphine. Ich bin die freudig wartende Mama an der Kita-Pforte. Ein Schloss degradiert Fahrräder zu einer Selbstverständlichkeit: Das Fahrrad ein IchBin-Das-Ich-Bin-Da. Aber Fahrräder leben nicht von Klau-Blockaden sondern von Liebe. Seit ich meinem Fahrrad Freiraum lasse, blüht unsere

Beziehung wie ein Himbeerstrauch. Apropos Himbeerstrauch und Grünzeug: Wer so besitzergreifend in den Wald ruft: »Mein Fahrrad!«, kriegt schlechtes Karma mit Computervirus, Casting-Misserfolg und Pipapo. Dann tönt der innere Kritiker: Leben verplempert mit Schlüssel-Ertasten in den Abgründen der Tasche oder Seele – unklar –, mit Niederknien auf schmutzigem Boden, mit Wirbelsäule sinusförmig Biegen zwischen Massen von Fahrrädern, verplempert mit der falschen Schlüsselwahl, weil man der Intuition der Finger glaubte, verschwendet in 180 GradDrehbewegungen der rechten Hand. Mit der Zeit gehaushaltet wie Gott in Frankreich, gelebt wie Sisyphos und sein Stein! An dem Tag, an dem ich meinem Fahrrad- und Luftschloss Lebewohl sagte, kaufte ich eine mechanische Uhr und konvertierte. Ich ziehe sie einmal am Tag auf für mehr als 24 Stunden Laufzeit. Nix ins Leere verpufft oder Keller-Aktienkurs. Es gibt ein Leben ohne Fahrradschloss!

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Leserbriefe

Märchen trifft Zirkus Sie wechselte die Seiten. Anfangs als Top-Model vor der Kamera wurde sie innerhalb kurzer Zeit zu einer der angesagtesten und originellsten deutschen Modefotografinnen: Ellen von Unwerth. Vor ihrer Kamera hatte sie Supermodels wie Kate Moss, Naomi Campbell und Eva Herzigová. Sie gilt als Entdeckerin von Claudia Schiffer. Text: Alexander Schmitz | Layout: Luca Leicht

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laudia Schiffer kniet in einem holzvertäfelten Raum verspielt auf einem schwarzen Cord-Sofa. Rote High Heels an den Füßen, als Oberteil ein langes weißes Top, zwischen ihren Armen ein weißer Stoff-Teddy-Bär – sie knabbert an seinem Ohr. Ellen von Unwerth inszeniert ihre Models außergewöhnlich, in einer Mischung aus Mode und Fetisch. 1954 in Frankfurt am Main geboren, wächst Ellen von Unwerth im Allgäu in einem Waisenhaus auf, später bei Pflegeeltern. Mit 16 Jahren zieht sie mit ihrem damaligen Freund in eine Kommune nach München. Damals arbeitete sie als Clown-Assistentin und NummernGirl im Zirkus Roncalli. Heute noch erinnern die Fantasiewelten, die sie in ihren Fotos inszeniert an ein Zirkusvolk – eine autobiografische Seite ihres Werkes.

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Angefangen hat Ellen von Unwerth auf der anderen Seite der Kamera. Eine Kosmetikfirma spricht sie auf der Straße an und leitet damit ihre Modelkarriere ein. Zehn Jahre ist sie erfolgreich. Durch ihre Beziehung zu einem Fotografen kommt sie zur Fotografie. Während eines Fotoshootings 1986 in Kenia fotografiert sie die Bewohner eines Dorfes. Ihre Fotos werden in einem französischen Modemagazin veröffentlicht. Drei Jahre später fotografiert sie die noch unbekannte Claudia Schiffer für die französische Ausgabe der Zeitschrift Elle. Mit ihrem Shooting für Guess Jeans machte sie Schiffer bekannt. Neben Supermodels hat sie auch Musiker und Schauspieler wie Madonna, Britney Spears oder Eva Green vor der Linse. Ihren Blick für Ästhetik setzt Unwerth auch als Regisseurin für Kurzfilme und Musikvideos ein.

Ellen von Unwerths Aufnahmen erinnern an ihr Vorbild Helmut Newton, von dem sie selbst als Model fotografiert wurde. Durch ihre eigene Erfahrung vor der Kamera weiß sie, wie man Models fotografiert. Ihre Fotografien erschienen in großen Magazinen wie Elle, Vogue und dem Stern. Heute lebt sie mit ihrer Tochter in Paris.

Inzwischen erschien Ellen von Unwerths Buch »Fräulein« im Taschen Verlag. Es zeigt ihre Aufnahmen aus den letzten 15 Jahren – romantisch-kitischig in einer märchenhaften Fantasiewelt.


Wissen

Auferstanden aus dem Punk Für 99-Cent-Partys haben sie kein Verständnis. In Stuttgart haben sich viele Jugendliche von diesen Partys losgesagt und eine eigene Kultur geschaffen, in der es um mehr geht als um Spaß und Alkohol. Text: Felix Groell | Layout: Luca Leicht

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ie Großraumdiskotheken deutscher Millionenstädte und Partymeilen wie die Hamburger Reeperbahn oder die Stuttgarter Theodor-HeussStraße sind jedes Wochenende nachts Treffpunkt Tausender Jugendlicher und junger Erwachsener, die schick mit High Heels und Ed-Hardy-Hemd in den Clubs und Bars feiern gehen. Etlichen jungen Erwachsenen graut es vor diesen Meilen, vor den Ed-Hardy-Trägern und vor David Guetta. Sie fühlen sich davon nicht angesprochen. Doch auch sie wollen feiern. »Manche Leute sind schon in der Schule irgendwie anders. Ich finde, man sollte sie ermutigen, ihr Anderssein zu leben. Ich meine jetzt keine Crash-Kids oder Drogenabhängige, sondern Leute, die eine andere Vorstellung von Gesellschaft haben und auch andere Vorstellungen davon, wie man auf einer Party feiert«, erzählt Lars Lewerenz im Gespräch mit NOIR. Der 34-Jährige hat mit der Gründung seines Labels »Audiolith« 2003 in Hamburg keinen neuen Akteur der Musik­i ndustrie geschaffen, sondern einfach einen neuen Ansatz: Jugendliche, die Partys in glitzernden Großstadtclubs oder 99-Cent-Dorfdiskotheken anwidern, sollen sich zusammenfinden – und feiern. Partys und Konzerte ohne Dresscode und mit anderer Musik: Diese Nische füllen nun Partyreihen wie »Stuttgart Kaputtraven« oder das »Audiolith Maximum« in Hamburg. Dort treten Bands und DJs auf wie »aUtOdiDakT« oder Egotronic, die Kultstatus in der Szene elektronischer Punkbands haben. Seit mehr als zehn Jahren tourt »Egotronic«Gründer und Sänger Torsun von Berlin-Kreuzberg

durch das Land – mit Songs wie »Raven gegen Deutschland«. Wie alle andere Künstler des Labels »Audiolith« kommt auch Torsun ehemals aus der Deutschpunk- und Metalszene, bis er durch neue elektronische Möglichkeiten die Musikproduktion für sich entdeckte. »Audiolith« ist, was so viele Punklabels früher gewesen sind: Punk mit anderen, mit neueren Mitteln«, erklärt Torsun. Das bedeutet harte elektronische Bässe mit computerproduzierten C64- oder auch 8-Bit-Sounds. Antifaschismus, Solidarität und Gesellschaftskritik – für »Audiolith« sind das nicht nur Themen. Es sind die Grundsätze des Labels. Diskussionen unter jungen Erwachsenen anzustoßen, Menschen zum Handeln und für das Außergewöhnliche zu ermutigen – das seien die übergeordneten Ziele, erklärt Lars Lewerenz. Ganz gleich ob in Stuttgart, Hamburg, Leipzig oder Köln: Überall hat sich aus der Symbiose zwischen Party, Punk und politischer Haltung eine eigene Jugendkultur entwickelt. NOIR Nr. 26 ( Juni 2 012)

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Querbee t

Patchwork-Urlaub Text: Harriet Hanekamp | Layout: Tobias Fischer

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eine Familie, das sind Gisela (62), Heinz (65), Sabine (39), Lena (18), Felix (27), Ilse (69), Alexander (45), Karin (43), Hester (13), Harald (11) und ich – Harriet (16). Wie andere Familien haben auch wir einen Geburtstagskalender an der Wand hängen. Der hat aber statt vier Spalten – Mama, Papa und zwei Kinder – elf. Wenn wir einen Ausflug machen möchten, wird das geplant, als gingen wir auf Völkerwanderung. Wir sind eine echte Patchworkfamilie. Das bedeutet vor allem eine große Herausforderung, wenn es ums Organisieren und Planen geht, zum Beispiel eines Urlaubs. Elf Menschen, darunter vier Jugendliche, die in verschiedenen Bundesländern leben und zur Schule gehen, sollen unter einen Hut gebracht werden. Wer hat wann Ferien? Wo wollen wir überhaupt hinfahren? Und wie sollen wir da alle samt Sack und Pack hinkommen? Aber es funktioniert trotzdem. Letzten Sommer waren wir gemeinsam auf Mallorca, dieses Jahr wollen wir nach Südfrank-

reich. Da wir so viele sind, reicht natürlich weder Zelt noch kleines Ferienhaus – wir brauchen eine Villa. Da müssen wir zwar immer noch Zimmer teilen, aber dafür ist es gemütlich und kuschelig. Das ist es auch schon auf der Hinfahrt: Zu dritt quetschen wir uns zehn Stunden auf die Rückbank im Auto; sonst würden wir gar nicht alle in die Autos passen. Chaotisch und kompliziert ist es eigentlich immer. Und mit Kompromissen müssen wir alle leben. Aber dafür wird es nie langweilig mit meiner elfköpfigen Familie.

Impressum NOIR ist das junge Magazin der Jugendpresse BadenWürttemberg e.V. Ausgabe 26 – Juni 2012 Herausgeber Jugendpresse Baden-Württemberg e.V. Fuchseckstraße 7 70188 Stuttgart Tel.: 0711 912570-50 Fax: 0711 912570-51

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Chefredaktion Anika Pfisterer anika.pfisterer@noirmag.de (V.i.S.d.P., Anschrift wie Herausgeber) Susan Djahangard susan.djahangard@noirmag.de Sabine Kurz sabine.kurz@noirmag.de Bettina Schneider bettina.schneider@noirmag.de Chef vom Dienst Alexander Schmitz alexander.schmitz@noirmag.de

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Redaktion Irina Blesch (ibl), Silke Brüggemann (sbr), Judith Daniel (jd), Felix Groell (fg), Harriet Hanekamp (hha), Sabine Kurz (sku), Melanie Michalski (mm), Leonie Müller (lm), Elisabeth Adeyanju Omonga (eo), Anika Pfisterer (apf), Alexander Schmitz (als), Iris Schmutz (is), Andreas Spengler (as), Isabel Stettin (ist), Corinna Vetter (cv) redaktion@noirmag.de Lektorat Dominik Einsele dominik.einsele@noirmag.de Layout & Art Director Tobias Fischer

tobias.fischer@noirmag.de

Layout-Team Tobias Fischer, Luca Leicht

Titelbilder Titel: Felix Krummlauf; Teaser-Fotos, v.l.n.r: Felix Clasbrummel / jugendfotos.de, Florian Penke / jugendfotos.de, Paul Prasser / jugendfotos.de Bildnachweise (sofern nicht auf der entspr. Seite vermerkt) S. 1 (oben): gute / sxc.hu; S. 1 (unten): Privat (3x); S. 2 »Zwillinge«: Stefan Beger / pixelio.de; »Hotel Mama«: Gerd Altmann / Carlsberg1988 / pixelio. de; »Kamera«: Josefin Hardinger / jugendfotos. de; »Familie«: Felix Krummlauf; S. 7: MilkaMilchschaum / photocase.com; S. 8: Privat; S. 10: Privat; S. 11: Matrjoschka / photocase.com; S. 12: Privat; S. 13: schwedenmädchen / photocase.com; S. 14: Ellen von Unwerth / Taschen Verlag; S. 15: kikiiii / photocase.com; S. 16: analice / photocase.com

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Anzeigen, Finanzen, Koordination Miriam Kumpf miriam.kumpf@noirmag.de Druck Horn Druck & Verlag GmbH & Co. KG, Bruchsal www.horn-druck.de

NOIR kostet als Einzelheft 2,00 Euro, im Abonnement 1,70 Euro pro Ausgabe (8,50 Euro im Jahr, Vorauszahlung, Abo jederzeit kündbar). Bestellung unter der Telefonnummer 0711 912570-50 oder per Mail an abo@noirmag.de. Für Mitglieder der Jugendpresse BW ist das Abonnement im Mitgliedsbeitrag enthalten.


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