VOL. 4 | SOMMER 2016 | 7 € A: 7,70 € | CH: 12 CHF | LUX: 8 €
WAS MACHST DU AUS DEINEM LEBEN? CREEDOO PRÄSENTIERT EINE EIGENTLICH UNBEZAHLBARE PRODUKTION ALEXANDER SÄNGERLAUB CAROLINE SCHMITT CHRISTINE FAGET DANIEL HÖLY & DEBORA HÖLY EUGEN WENZEL JOHANNES DILLMANN JONATHAN STEINERT JULIA WADHAWAN KATHARINA WILHELM KATHRIN ERNSTING MANUEL SCHUBERT MARTIN HAHN MATTHIAS LAUERER NICOLAS LECLOUX REGINA SCHMENN SABINE VINKE SERGE ENNS AND SIMON JAHN TEXT BY
MIT DAUMENKINO
Are you ready? Jeder Tag der erste –. Jeder Tag ein Leben. Jeden Morgen soll die Schale unseres Lebens hingehalten werden, um aufzunehmen, zu tragen und zurückzugeben. Leer hinreichen – denn was vorher war, soll sich nur spiegeln in i hrer Klarheit, ihrer Form und i hrer Weite.
Diese Zeilen schrieb der ehemalige UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld 1957 in sein Tagebuch. Vier Jahre später kam er bei einem Flugzeugabsturz in Afrika ums Leben. An meinen ersten langen Flug nach Indonesien kann ich mich noch sehr gut erinnern. Ich war tierisch aufgeregt, wollte unbedingt am Fenster s itzen, um später die W olken zu sehen, und hoffte allen Ernstes darauf, ein angeregtes Gespräch mit meinem Sitznachbarn zu führen. Schon beim Anschnallen merkte ich, dass aus Letzterem nichts werden würde. Mein Nachbar war ein routinierter Anzugträger und schon vor dem Start eingeschlafen. Und auch aus dem Fenster durfte ich nicht schauen – beim Langstreckenflug musste die Abdeckung unten bleiben. Was blieb, war die Aufregung zu fliegen – und der Respekt vor dem Piloten. Bis heute mache ich mir vor jedem Flug bewusst, dass ich mein Leben in seine Hände lege. Heutzutage vertrauen wir neben Piloten, Lokführern und Taxifahrern z unehmend den neuesten Technologien, uns durchs Leben zu navigieren. Sie sollen unseren komplexen Alltag lenken, leiten, steuern. Und ein Ende dieses schnelllebigen Wandels ist nicht in Sicht: Selbstfahrende Autos, selbstständige Haushaltsroboter und smarte D atenbrillen warten auf uns. D ahinter stecken mächtige A lgorithmen und eine künstliche Intelligenz, die uns das L eben erleichtern sollen. Manchen von uns fällt es schwer mit den technologischen Entwicklungen Schritt zu halten. Zu überfordernd sind all die neuen Möglichkeiten, das Tempo und das Suchen nach der Balance zwischen dem realen und virtuellen Leben. Digitalisierung hin oder her – wie kommen wir eigentlich mit diesem eben klar? Was macht das Leben lebenswert, wann fühlen wir uns L lebendig – und was bedeutet es h eutzutage, wohl zu leben? Diesen Fragen sind wir nachgegangen. Herausgekommen ist ein Kaleidoskop an Geschichten, die so nur das Leben schreiben kann – und die zeigen, dass sich das Leben lohnt. Ready for take-off? Daniel Höly Editor-in-Shift 2
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Noch 21900 Tage WARM-UP 4 5 6 8
Editorial Playlist World Wide Weird CommunityWall
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LEBENDIG 12 16 18 19 22 28 34 40 46
Grenzgänger by Caroline Schmitt Ungeplante Lebensretter by Kathrin Ernsting Erst die Antworten, dann der Ausweis by Martin Hahn Leben retten ohne Verzicht by Regina Schmenn Ausgeschlachtet, aber am Leben by Kathrin Ernsting Der zweite Puls by Katharina Wilhelm „Die Angst ist immer da“ by Manuel Schubert Lückenfüllerinnen aus Leidenschaft by Simon Jahn „Heute muss alles perfekt sein“ by Debora Höly
05:22 03:22 03:17 02:51 13:57 13:30 08:50 11:19 11:12
SHIFT sucks vs. SHIFT rocks: Geig uns doch mal so richtig deine Meinung und schmier uns deinen Senf um die Ohren. Nur so kann SHIFT noch besser werden. Jetzt bei der kurzen OnlineUmfrage mitmachen: j.mp/shiftumfrage
LEBENSWERT 54 56 62 68 76 82
Nach Hause by Kathrin Ernsting und Sarah Heuser Der Beginn ist nicht gleich der Anfang by Eugen Wenzel Der Wert des Lebens by Johannes Dillmann Zu Gast beim Nachbarn by Jonathan Steinert „Veränderung hat eine gewaltige Macht“ by Daniel Höly Sonnenscheinkinder by Conny Wenk und Debora Höly
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LEBEWOHL 92 103 104 106 108 110 112 114
Wie wollen wir morgen arbeiten? by Alexander Sängerlaub Was fehlt, ist die Zeit by Daniel Höly Dossier: Mut zur Veränderung Lösch’ deinen Netflix-Account by Nicolas Lecloux Mut zum Minimalismus by Serge Enns Ich bin dann mal im Busch by Sabine Vinke Goodbye Multioptionsgesellschaft by Debora Höly Wake up, Neo… by Daniel Höly
23:36 02:15 01:20 04:35 04:34 04:33 04:26 29:46
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AuthorWall SHIFT Paten Impressum Mehrwert?
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BONUSTRACKS shiftmag.de www www www www www www
Wunschoma gesucht by Christine Faget Nachgefragt bei Conny Wenk by Debora Höly Wann bin ich wirklich by Julia Wadhawan Besser ohne by Kathrin Ernsting Flucht nach vorn by Manuel Schubert „Urlaub? Da würde ich verrückt werden!“ by Matthias Lauerer
Gesamtlesezeit (exkl. Bonustracks) bei einer durchschnittlichen Lesegeschwindigkeit von 150 Wörtern pro Minute
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USA
Schwein gehabt?
USA
Looping, Smile, Selfie Na toll! 30 Minuten lang mussten Adrenalin-Junkies in ihren Sitzen auf einer Achterbahn im kalifornischen Disneyland warten, nachdem ein Besucher seinen Selfiestick gezückt hatte. Der Mann, der Fotos oder Videos von sich machen wollte, zog mit dieser Aktion den Ärger der anderen Besucher auf sich (zu Recht!). Erst zwei Stunden später war die Achterbahn wieder freigegeben. Dabei hätte der Mann, nennen wir ihn mal Donald Duckface, eigentlich wissen müssen, dass Selfiesticks in allen Disney Freizeitparks aus Sicherheitsgründen längst verboten sind. Denn schon 2015 kam ein Besucher auf derselben Achterbahn auf die grandiose Idee, seinen Selfiestick ausprobieren zu wollen.
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Sie können es einfach nicht lassen: Schon seit Jahren arbeiten Wissenschaftler jeglicher Kritik zum Trotz daran, menschliche Stammzellen und tierische Embryonen zu verbinden. Nun ist es US-amerikanischen Wissenschaftlern gelungen, im Körper eines Schweines mensch liches Gewebe wachsen zu lassen. Dazu hatten die Wissenschaftler Stammzellen von Menschen in ein Schweineembryo eingepflanzt. Die Tiere seien ein idealer „biologischer Inkubator“, um menschliche Organe zu züchten, sagte Walter Low, Professor für Neuro chirurgie an der Universität von Minnesota. The Island awaits you!
Portugal
Mit Handtasche in den Atlantik Ein britisches Ehepaar auf Kreuzfahrt. Ein handfester Streit. Die Differenzen zu groß. Abbruch der gemeinsamen Kreuzfahrt. Kauf von Flugtickets zurück nach Großbritannien. Das Ehepaar verliert sich aus den Augen. Frau sieht das Kreuzfahrtschiff ablegen. Denkt ihr Mann wäre wieder aufs Schiff gegangen. Stürzt sich kurzerhand mit Handtasche in die Fluten. Schwimmt dem Schiff hinterher, um es einzuholen. Vier Stunden später: Fischer hören ihre Hilfeschreie. Frau wird stark unterkühlt gerettet. Wassertemperatur betrug 18 Grad. Und der Mann? Der saß währenddessen im Flugzeug zurück nach Großbritannien.
World Wide Weird Kuriositäten und herrlich Verrücktes aus aller Welt Zusammengestellt von Debora Höly
China
Einmal Miaussage, bitte!
Schweiz/England
Männer, die mit Ziegen leben Kein Job, persönliche Probleme, stressiger Alltag. Thomas Thwaites hatte die Nase voll und kam zu einem ungewöhnlichen Entschluss: Er würde sein modernes Leben in London beenden und zu einer Ziegenherde nahe dem Dorf Wolfenschiessen in der Schweiz ziehen – als Ziege. Er bewarb sich für ein Universitätsstipendium, um Ziegenpsychologie zu studieren, ließ sich Prothesen fertigen, um bequem auf allen Vieren laufen zu können, und mit einem künstlich konstruierten Ziegen-Magen ausstatten. Seine Erfahrungen hat der 35-Jährige nun in seinem Buch „GoatMan: How I took a Holiday from Being Human“ veröffentlicht.
Eine Meldung für alle Sommerlöcher der Welt: In chinesischen Massage salons kommen nun auch Tiere zum Einsatz: Ab sofort können verspannte Büroangestellte sich von Katzen massieren lassen. Diese treten an genehm rhythmisch auf ihren Rücken und lösen so jegliche Verspannung. Ihr könnt euch sicher sein: Wenn wir das nicht mit eigenen Augen in diesem Internetz gesehen hätten, würden wir es selbst nicht glauben. Ab nach China!
Japan
Eine stachelige Angelegenheit Lust auf Kaffee, Kuchen und – einen Igel? Vor Tokios kürzlich eröffnetem Café Harry stehen die Menschen neuerdings Schlange: um auch endlich mal einen kleinen Igel zu herzen. Für die stacheligen Streicheleinheiten bezahlen sie sogar Eintritt. Wer dachte, bekloppter geht’s nicht mehr, aufgepasst: Sollte ein Besucher sich nicht mehr von „seinem“ Igel trennen können, kann er ihn auch direkt kaufen und mit nach Hause nehmen. Für alle Menschen mit Stachelphobie gibt’s im Café Harry auch die Möglichkeit, mit Eidechsen zu knuddeln. Oder in das Hasen-Café zu wechseln, das demselben Besitzer gehört.
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Zweieinhalb Jahre ist es her, dass er die Krebs-Diagnose erhielt. Seitdem lebt er ohne Magen, Speiseröhre, Milz und Dünndarm – aber nicht ohne L ebensfreude. Lothar W essling lebt heute sehr b ewusst, geht oft in den U rlaub und fragt sich, w arum die Krankenkasse e igentlich nicht seine Kreuzfahrt bezahlt. Text Kathrin Ernsting Fotos Leonard von Bibra
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er Lothar Wessling und seine Frau Konny in ihrem Haus in Troisdorf besucht, wird mit einer herzlichen Gastfreundschaft empfangen. Sie haben oft und gerne Besuch, immer eine offene Tür und ein offenes Ohr. Anfangs dachte ich, wir unterhalten uns über seine Krankengeschichte und wie das mit den Organen ist, die ihm fehlen. Doch stattdessen bekomme ich zuerst einen starken Kaffee und einen Einblick in die Umtriebigkeit des 54-Jährigen serviert: Jeden Monat eine Reise, das könnte er in diesem Jahr schaffen. Mal mit dem
Kreuzfahrtschiff von New York in die Karibik, mal ein Kurztrip in die Türkei. Dabei blitzen die Augen besonders, wenn er von den Schnäppchen berichtet. Und tatsächlich hat Lothar ein Händchen dafür, besondere Angebote zu finden – und dann einfach zu fahren. Denn berufliche Termine hat er schon lange nicht mehr. Sportlich war Lothar schon immer, zum Arzt musste er kaum – zumal das Warten dort für ihn vergeudete Zeit ist. Doch die rapide Gewichtsabnahme vor drei Jahren hatte seine Mutter alarmiert. Sie schleppte ihn zum Arzt. Kurz vor Weihnachten 2013 dann die
Ausgeschlachtet, aber am
Leben
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„ Im ersten Jahr nach der OP saß ich m orgens mit Tränen in den A ugen am Tisch, weil ich essen musste“
Diagnose: M agenkrebs. Die Behandlung: C hemo, OP, Reha, Chemo. Die Wahrscheinlichkeit zu überleben lag nach Aussage der Ärzte bei 20 Prozent. Über diese Zeit berichtet Lothar routiniert, er hat schon vielen Menschen davon erzählt. Von dem Schock bei ihm und in seinem Umfeld. Vom Wunsch, dass es schnell gehen möge – der Weg zurück ins Leben oder das Sterben. Er kann gut erzählen. Ob als Prediger in der Kirchengemeinde oder in der Schule vor 80 bis 90 aufmerksamen Achtklässlern – er berichtet gerne von seinen schlimmsten Tagen. Und das, obwohl er sich vor vielen Menschen immer noch unwohl fühlt. „Da muss ich vorher alles vorbereitet haben“, erklärt er mir schulterzuckend. In unserem Gespräch ist nichts vorbereitet und die Antworten sprudeln nur so aus ihm heraus. Dass er bei anderen Gelegenheiten ein Konzept braucht, überrascht.
Ausgeschlachtet Er kokettiert gerne damit, dass er heute keinen Organspendeausweis mehr braucht, „sie haben mich ja schon ausgeschlachtet“. Dazu kam es in jener dramatischen Operation, in
„Die Wahrscheinlichkeit zu überleben lag nach A ussage Mehr der Ärzte bei 20 Prozent“ der neuen
dazu in Vol. 4 e b a Ausg op juiced.de/sh
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Mit 24 Jahren kippte Meike Mittmeyer-Riehl aus der Dusche.
Diagnose: Schlaganfall. Weil Ärzte ihre Fragen nicht beantworten konnten, machte sie sich selbst auf die S uche nach der U rsache – und erfüllte sich auf dem Weg d orthin auch einen Traum. Text Manuel Schubert
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uf dem Tennisplatz fing alles an. Sie habe sich komisch gefühlt, erinnert sich Meike Mittmeyer-Riehl, ein leichtes Stechen im Hals, immer stärker werdende Kopfschmerzen. Vielleicht bahne sich ja eine Erkältung an, dachte sie. Also lieber vorsichtig sein, das Match nicht zu Ende spielen und ab nach Hause. Dann ging alles schnell. Unter der Dusche wurde sie plötzlich schwach, konnte nicht mehr stehen. Auch das Sprechen fiel ihr schwer, die einfachsten Worte gerieten zur Mammutaufgabe, „als hätte ich zu viel Alkohol getrunken“. Und dann, als sie so hilflos auf dem Badezimmerboden lag, merkte sie, dass nicht nur ihren Beinen die Kraft ausgegangen war. Die komplette linke Körperhälfte – taub, unbeweglich, fremd. Oder kurz: gelähmt. Nach 30, vielleicht 40 Sekunden war der Spuk vorbei. Als hätte jemand den Reset-Knopf gedrückt. Die Anzeichen, sie waren eigentlich eindeutig, doch Meike Mittmeyer-Riehl wollte es nicht wahrhaben. Sie sei doch jung, schlank, rauche nicht, redete sie sich ein. Und kam zu einem klaren Fazit: „Das passt nicht, das kann nicht sein.“ Kann leider doch sein, wussten die Sanitäter, und brachten die jun-
ge Frau in die Stroke Unit des Klinikum Darmstadt. Stroke Unit, das ist die Spezialstation für Schlaganfälle. An der Diagnose gab es keinen Zweifel. Ein Schlaganfall. Mit gerade einmal 24 Jahren. Zeitsprung. In der verträumten Gemeinde Münster, einem idyllischen Ort, irgendwo zwischen Frankfurt und Darmstadt, scheint die Welt noch in Ordnung. Der Himmel ist blau, die Straßen leer. Alles, was man hört, ist ein mehrstimmiges Konzert aus vielen Vogelkehlen. Kein Motorenlärm, keine gestressten Gesichter, viel Grün, wenig Grau. Meike Mittmeyer-Riehl bewohnt hier mit ihrem Ehemann Dennis eine Wohnung im ersten Stock eines in die Jahre gekommenen Mehrfamilienhauses. Direkt nebenan be findet sich ein Spielplatz, am Straßenrand parkt ein eingestaubtes Wohnmobil.
Mehr euen n r e d n i u z da Vol. 4 e b a g Aus op juiced.de/sh „Ich hatte keine Lust darüber zu sprechen, wollte das g anze Mitleid nicht“ SHIFT
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Während andere Frauen im Alter von 26 Jahren noch dabei sind, sich selbst zu finden, als Backpacker durch die Welt zu reisen oder die entscheidenden Weichen für eine vielversprechende Karriere zu stellen, wird Stefanie Vogt Mutter. Aus Überzeugung.
„Heute muss alles
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sein“ 46
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Mehr euen n r e d n i u z da Vol. 4 e b a g Aus op juiced.de/sh
Ich treffe Stefanie, als sie gerade bei ihren Eltern im Rheinland ist. Sie wohnt eigentlich im fernen Brandenburg, doch hin und wieder besucht sie ihre Familie. Das Gespräch mit ihr kann ich in aller Ruhe führen, da ihre Söhne von der Oma beaufsichtigt werden – ein Vorrecht, das Stefanie nur selten genießen kann. Doch auch wenn sie den größten Teil des Tages allein für ihre drei Jungs verantwortlich ist, erweckt sie nicht den Anschein, dass sie das Muttersein überfordern würde.
Interview Debora Höly
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Hast du es zu irgendeinem Zeitpunkt bereut, schwanger geworden zu sein? Nein. Als man mir nach 20 Stunden sagte, dass nichts vorangeht und ich wehenfördernde Mittel bekommen sollte, war der Punkt erreicht, an dem ich dachte, dass ich die Schmerzen nicht mehr ertragen kann. Aber bereut habe ich es nicht. Auch wenn die erste Geburt schwer war, konnte ich mir sehr schnell wieder vorstellen, ein Kind zu bekommen. Kinder sind einfach etwas Tolles. Ich wollte immer Kinder haben und habe nicht in der Illusion gelebt, dass Geburten nicht schmerzhaft oder Schwangerschaften nicht schwer seien. Ich hab nie gedacht, dass es leicht wird. Was genau ist denn schön daran, Kinder zu haben? Es fühlt sich irgendwie richtig an. Ich finde es etwas ganz Besonderes, gemeinsam mit meinem Mann eine Familie zu gründen. Man fühlt sich vollkommener.
Stefanie, wann hast du das letzte Mal richtig ausgeschlafen? Richtig durchgeschlafen habe ich das letzte Mal vor der ersten Schwangerschaft. Und ausgeschlafen wahrscheinlich in der ersten Schwangerschaft, also bevor das erste Kind da war – Anfang 2012. Seitdem ist es mit dem Schlafen schwierig. Vor allem Babys kann man nicht einfach abgeben. Und stillen kann halt auch nur die Mutter.
Woher kam dein Kinderwunsch? Ich bin selbst in einer großen Familie auf gewachsen und fand es unglaublich toll, dass wir vier Kinder waren. Jeder, der Geschwister hat, weiß, dass man mit ihnen eine einzigartige Verbindung hat. Man kennt sich so gut, man ist in der gleichen Lebenssituation und mit den gleichen Herausforderungen aufgewachsen. Ich fand es so besonders, Geschwister zu haben, und wollte selbst auch eine große Familie – gerade im Alter. Wenn ich meine Oma sehe, die drei Kinder und jetzt so viele Enkel hat: Die ist nicht allein.
Was hast du in dem Moment empfunden, als dein erster Sohn geboren wurde? Vor allem Erleichterung, als er endlich da war. Natürlich war ich auch glücklich. Meine erste Geburt war ziemlich schwer und deswegen war ich total glücklich, endlich meinen Sohn im Arm zu halten. Aber was mich überrascht hat, ist, dass man sich nicht gleich als Mutter fühlt. Man muss erst Mutter werden. Es ist nicht so, dass man ein Baby kriegt und dann sofort diese krassen Muttergefühle hat, sondern die müssen sich erst entwickeln. Am Anfang kennt man sein Baby nicht – das war ein Gedanke, den ich nicht eingeplant hatte.
Hast du dich aufs Muttersein vorbereitet? Ich glaube, wenn man in einer großen Familie aufgewachsen ist, ist man schon ganz gut vorbereitet, weil man vieles mitgekriegt hat. Ich hab aber auch das Gefühl, dass man das Muttersein in unserer Gesellschaft kaum noch kennt. Oder nur noch am Rande, weil alle arbeiten gehen und sich das Muttersein auf einen kleinen Teil des Tages beschränkt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass man selbst nicht so viele Mütter kennt, die zu Hause geblieben sind. Ich finde es schade, dass manche nicht wissen, wie man Mutter ist, weil sie das selbst nicht erlebt haben.
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Foto Sarah Heuser
Nach Hause Möchte nicht jeder von uns seinen Lebensabend zu Hause statt im Heim verbringen? Für Demenzpatienten ist das häufig nicht möglich. Die Sehn sucht nach Vertrautem lässt manche von ihnen aus dem Heim ausbüxen und sich manchmal selbst gefährden. Nach kurzer Zeit haben die Patienten allerdings oft vergessen, wohin sie wollten. Hier setzt diese Fake-Bushaltestelle in Benrath an. Sie bietet den Patienten das beruhigende Gefühl, auf den Bus warten zu können, der sie nach Hause bringt. Doch angefahren wird die Haltestelle nie. So können die Pflegenden die Demenzkranken unversehrt abholen, wenn sie vergessen haben, dass sie weg wollten. Die Täuschung macht das Leben entspannter. Ob es dadurch auch lebenswerter wird? SHIFT
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Text Debora Hรถly Fotos Conny Wenk, Neufeld Verlag
Sonnen schein kinder
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Leben mit einem Chromosom mehr
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nd dann kam der kleine Mann etwa vier Wochen zu früh auf die Welt, mit einem klitzekleinen Chromosom mehr als geplant, und mein Traum vom perfekten Glück zerbrach in tausend Stücke. […] Das war für mich das Schlimmste, was einem im Leben passieren kann“, beschreibt Bettina Lühning die Geburt ihres Sohnes Benjamin. Heute denkt sie, dass sie damals ein perfektes Teil der Leistungsgesellschaft war, in der etwas weniger Perfektes, etwas nicht Vollkommenes, keinen Platz hatte.
Was, wenn es anders kommt, als gedacht? Was, wenn das langersehnte Kind ein Chromosom mehr hat als die meisten Menschen? Dieser Frage ist Fotografin Conny Wenk persönlich nachgegangen, als ihre Tochter Juliana 2001 mit Down-Syndrom geboren wurde. „Für uns ist damals eine Welt zusammengebrochen und ich war überzeugt, nie mehr glücklich sein zu können“, schreibt Wenk in der Einleitung ihres Buches Außergewöhnlich. „Ich hatte völlig überholte K lischeebilder im Kopf und wusste, ehrlich gesagt, überhaupt nichts über das Down- Syndrom.“ Damals, in diesen ersten Tagen nach der Geburt, die statt mit Freude mit viel Trauer gefüllt waren, hätte sie sich zeit gemäße medizinische Informationen und schöne Bilder von Kindern mit Down-Syndrom gewünscht.
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Aus ihrem anfänglichen schwarzen Loch halfen ihr Mütter von Kindern mit DownSyndrom, die wirklich mit ihr mitfühlen konnten. Nach und nach durfte sie lernen, dass das gewisse Extra ihr Leben vollkommen verändert – und zwar positiv. Sie durfte erfahren, dass das Leben auch ohne Perfektion schön und reich sein kann. Und sie hätte sich gewünscht, dass ihr das jemand gesagt hätte, als ihre kleine Tochter geboren wurde. Dass sie zur Geburt ihrer Tochter statt dem Buch „Trostgedanken“ ein paar Mut machende und hoffnungsvolle Worte gehört hätte. So wie Katharina Weides, die zwei Tage nach der Geburt ihrer Tochter Besuch bekam. Gerade wollte sie der Verwandten von der schlimmen Diagnose berichten, als diese unterbrach und sagte: „Na und? Das sind Sonnenscheinkinder!“ Sonnenscheinkinder. Das sei das Schönste gewesen, was sie damals gehört hatte. „Und es zauberte sogar ein kleines Lächeln in mein tränenverschmiertes Gesicht“, erinnert Weides sich.
Mehr neuen dazu in der ol. 4 V e Ausgab op juiced.de/sh
„Die Jahre nach Soneas Geburt haben mich mehr gelehrt als mein ganzes Leben zuvor“
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Mut
zur Veränderung
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Gewagt, getan – so lebe ich wohl „Wir dürfen niemals vergessen: Unsere vornehmste Aufgabe ist es zu leben“, sagte der französische Philosoph Michel de Mon taigne. Leben sollen wir. Nur wie? Wir jammern über zu viel Stress, zu viel Arbeit, zu viele Informationen, zu wenig Geld, zu wenig Zeit, zu wenig Erfüllung. Wir sehnen uns nach einer gesunden WorkLife-Balance, ohne zu wissen, wie sie aussehen soll, wie wir das Leben und die Arbeit (ist Arbeit nicht Teil des Lebens?) in Einklang bringen können. Was ist die Lösung, was könnte uns weiterbringen? Bedingungsloses Grundeinkommen? Rente mit 60? Eine 8-StundenArbeitswoche? Entschleunigung? Künstliche Intelligenz?
Vielleicht sind das Ansätze, die unser Leben erleichtern und besser machen würden. Aber wären wir dann wirklich glücklich und zufrieden? Würden sie uns Wohlstand, Sicherheit, Freiheit und Unabhängigkeit ermöglichen? Was fehlt uns (als Person und als Gesellschaft) zu einem Leben, wie wir es uns wünschen? Vier Personen beschreiben aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln, was für sie ein lebenswertes Leben ausmacht und wann sie sich lebendig fühlen. In einem Satz zusammengefasst wären das: Mut zum Auswandern, Mut zum Gründen, Mut zum Minimalismus und Mut zur Verbindlichkeit. Wir freuen uns über weitere Ideen für ein besseres Leben an shiftback@shiftmag.de.
Mehr euen n r e d n i u z da Vol. 4 e b a Ausg op juiced.de/sh
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W A K E U P, N E O… 114
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Mehr neuen r e d n i u z a d Vol. 4 e b a g Aus op juiced.de/sh
THE ALGORITHM HAS YOU... Text Daniel Höly
Wer glaubt, dass wir in Zukunft noch selbstbestimmt leben werden, der glaubt auch, dass Katzen in Zukunft von selbst stubenrein werden. Ich habe Angst. Weniger vor der Zukunft als vor dem Schreiben dieses Artikels. Denn einen Artikel über Algorithmen zu schreiben, den auch der Durchschnittsnutzer versteht und darüber hinaus mit Gewinn liest, verlangt mir sehr viel ab. Dabei ist das Thema möglicherweise wichtiger als alle anderen Themen, die wir in dieser Ausgabe behandelt haben (wie anmaßend, ich weiß). Weil es der Frage nachgeht, ob wir in Zukunft selbstoder fremdbestimmt leben werden. Ob wir die Kontrolle über unser Leben, unsere Unabhängigkeit, unsere Freiheit v erlieren werden – und was wir tun können, damit es erst gar nicht dazu kommt.
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Wenn’s mal wieder länger dauert – schnapp’ dir ’ne und die V erstopfung ist vergessen! Geheimtipp: SHIFT eignet sich nicht nur als fesselnder Zeitvertreib für die zähen Momente des Lebens, sondern auch als geschickt platziertes Ablenkungsmanöver für Gäste, mit d enen du dich eigentlich nicht gerne unterhalten möchtest. Und solltest du beim Griff nach dem Toilettenpapier einmal unverhoffter Dinge den Kürzeren ziehen, kann eine SHIFT-Ausgabe mit CO2-neutraler Druckbilanz und FSC-zertifiziertem Papier im Gegensatz zu Tablets und Co. wahre Wunder bewirken. Daher sichere dir jetzt unsere SHIFT Flat ab 28 Euro für die nächsten vier Ausgaben: juiced.de/shop/shift-flat