Leseprobe: LANDSCHAFT - ERINNERN

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Marcus Cordes LANDSCHAFT - ERINNERN Über das GedäChtnis iM erfinden von orten


© 2010 Junius verlag Gmbh stresemannstraße 375 22761 hamburg alle rechte vorbehalten autor: Marcus Cordes (e-mail: marcus.cordes@t-online.de) Layout und satz: autor / sonja Luise Kupgisch, hannover Umschlagbild: Landschaft am bunker ‚valentin’, bremen-farge (Photo: bendix und Marcus Cordes) druck: druckerei rasch, bramsche Printed in Germany isbn 978-3-88506-470-1


vorwort Und danK LANDSCHAFT – ERINNERN setzt aktuelle theorien zum vorgang des erinnerns mit den denkweisen des Gestaltens, entwerfens und bauens aus der Perspektive der Landschaftsarchitektur in beziehung. bei dem vorliegenden buch handelt es sich um die dissertationsschrift, die ich bis 2009 unter dem titel „das erfinden von Landschaft. erinnern und Gedächtnis im bilden von orten“ am institut für Landschaftsarchitektur der Gottfried wilhelm Leibniz Universität hannover verfasst habe. das interesse, sich als Landschaftsarchitekt mit theoretischen vorstellungen und auffassungen zur Gedächtnisbildung zu befassen, basiert durchaus auf mehreren vorausgehenden inspirationen und begegnungen. die fertigstellung dieser arbeit gebührt hingegen der kritischen und unermüdlichen begleitung durch Udo weilacher sowie den theoretischen und methodischen anregungen von Martin Prominski. beiden gilt daher mein außerordentlicher dank. einen großen anteil an den denkansätzen und der Konzeption der arbeit haben darüber hinaus die gemeinsamen erlebnisse und anregenden Gespräche mit langjährigen begleitern wie norbert rob schittek und Kathrin barbara volk, Marianne Mommsen, Gero heck und nicole Uhrig sowie den Mitarbeitern des Lehrgebiets Landschaftsarchitektur und entwerfen, wie eva benz-rababah, Johannes böttger, anja dreybrodt und heike schäfer. ihnen sei hier herzlich für die geistige teilhabe gedankt. für das wachsame Lesen und die kritischen anmerkungen möchte ich des weiteren Caroline hertel, angela düppenbecker und sonja Kupgisch danken sowie meiner frau Melanie Cordes, die zudem mit ihren bereichernden anregungen und Korrekturen zur vollendung der schrift beigetragen hat. hervorzuheben ist das engagement des Junius-verlags, durch den in Person von steffen herrmann und brit Müller das erscheinen und die Produktion des buches ermöglicht und vorangetrieben wurde. ein umfassender und besonderer dank gilt meinem sohn bendix und der kleinen Mathilda, die es immer wieder geschafft haben, mich mit ihrem belebenden dasein fabelhaft zu unterstützen. Marcus Cordes


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EINFÜHRUNG

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ERINNERUNG. der ort in der vorsteLLUnG von GedäChtnis

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Gedächtnis im Erinnern

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erinnerung

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Gedächtnis

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Landschaft in der Kultur des erinnerns

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Simonides und die Mnemotechnik

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die erinnerungsfiguren und die Gebilde ihrer Gedächtnisorte

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Zur Metaphorik von Erinnern und Gedächtnis

20

räumliche Metaphern

21

die tradition der Gedächtnistheater

29

Konstruktionen des Erinnerns

29

Gedächtnis als struktur im wahrnehmen von welt

38

Zur rekonstruktion der Geschichte in der erfindung von Gegenwart

41

repräsentationen kollektiver erinnerungen im individuellen Gedächtnis

42

Kultursemiotik

45

die Konzeptionen zum ‚semiotischen dreieck‘

48

die bedeutungslosigkeit des ‚referens’ und die wesensform des ‚bedeutenden Zeichens’

51

vom Zeichen über das ereignis zum ort

55

Zur Erinnerung

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TOPOS. der ort aLs ereiGnis

59

Kommunikation als stetige Annäherung an Wirklichkeit

60

die abwesenheit im denken des ortes

61

Modelle zur Logik des Ortes

62

topos – annäherungen an den aristotelischen ortsbegriff

78

basho – der ort bei Kitarõ nishida

86

ortsdenken – zur aufnahme der Kategorie ort

87

Zum Topos

89

LANDSCHAFT. forMen Und strateGien des erinnerns iM biLden von orten

90

Relationen im Vorgang der Verortung und Gestaltung

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Topographie

93

vom ereignisort zum erinnerungsmoment

99

das entdecken von spuren – formen der ortsbezeichnung

100

› beschriftungen des ortes ‹


109

› Platzieren von figuren ‹

111

› fokus Landschaftsbild ‹

114

Topologie

115

die strukturen im vergegenwärtigten ort-in-ort-Gefüge

121

› strukturen konturieren ‹

130

› in Choreographien erzählen ‹

134

Topochronie

135

Zwischen ‚diachronischen’ und ‚synchronischen’ ereignisfeldern

137

› einblendungen / Überblendungen ‹

139

› ort zwischen Zeiten ‹

142

Topopräsenz

143

im augenblick – gegenwärtige hüllen oder die aura des ortes

145

› einfassungen zur verortung des imaginären ‹

151

› Umfassen einer bedeutenden Leere ‹

164

› von ort zu ort ‹›

167

Perspektivismen – individuelle erinnerung und kulturelles Gedächtnis

169

› Perspektiven und Projektionsräume ‹

174

Zur Landschaft

175

LANDSCHAFT – ERINNERN

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Denken in Landschaften

178

Landschaftsdenken

anhanG 183

Projektindex Geschichtspark ehemaliges Zellengefängnis Moabit – berlin archäologischer Museumspark Kalkriese – osnabrücker Land Garten der erinnerung – innenhafen duisburg hommage an walter benjamin – Portbou between the Lines – Jüdisches Museum berlin reflecting absence – world trade Center Memorial new York alte synagoge wuppertal sintergärten und eroberungsfelder im Landschaftspark duisburg-nord

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Bibliographie

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Abbildungen


Einführung

Durch Landschaft erleben und erschaffen wir die Kultur, in der wir uns selbst positionieren. In ihr verbinden wir all jene Eindrücke, Erscheinungen und Vorstellungen, die durch ihre Zusammenfügung in hohem Maße zur Ausbildung unserer eigenen Identität beitragen. Als solche ist Landschaft ein kommunikativer Akt, bei dem, basierend auf kulturspezifischen und individuellen Erinnerungen, Bedeutungen und Erlebnisse an Orte gebunden werden. Am Ort erfinden wir die Landschaft, die uns Orientierung bietet. In der Erinnerungskultur bildet Landschaft eine wesentliche Kategorie zum Aufbau und zur Herleitung des kulturellen Gedächtnisses. Landschaft, und mit ihr der Ort, werden als konkrete Medien begriffen, um bedeutende Ereignisse im Gedächtnis zu behalten. Direkt angesprochen werden hierbei Architekturen, künstlerische Installationen, seltener hingegen städtebauliche oder landschaftsarchitektonische Ensembles. Dem gegenüber entwickelt sich in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Kultur des Erinnerns ein Landschaftsverständnis, das scheinbar weit über diese objektivierten Medien hinausgeht und auf die Struktur des Gedächtnisses selbst verweist. Es basiert auf der Erkenntnis, dass sich das Gedächtnis über die Repräsentationen von Erfahrungen und Bedeutungen organisiert. Im Sinne dieser Auffassung lässt sich das Gedächtnis als ein Strukturgebilde darstellen, das in Form eines aktivierten Ortsgefüges einer inneren Landschaft entspricht. Auch im Feld der Landschaftsarchitektur stellt sich immer wieder die Frage, welche Gestalt Vergangenes besitzt oder wie wir uns an einem Ort identifizieren und welche Rolle dabei unser Gedächtnis spielt. Gerade bei der konkreten Gestaltung designierter Gedächtnisorte bedarf es eigener Strategien, die in der Darstellung vergangener Bedeutungen vor allem die gegenwärtigen Deutungsmechanismen aufzeigen, denen sie unterliegen. Aber selbst innerhalb unserer scheinbar alltäglichen Projekte beschäftigen wir uns gestalterisch mit vorgefundenen Elementen und nehmen Bezug auf vorhandene Strukturen, die ihre eigene Geschichte mitbringen. Wir geben ihnen eine neue Gegenwart, indem wir sie mit neuen Inhalten und Interpretationen konfrontieren. Der Landschaftsarchitekt Paolo L. Bürgi merkt hierzu an: „Die Geschichte wird respektiert, da von den Spuren der Vergangenheit ausgegangen werden muss, um neue Projekte zu realisieren.“1 Einige Zeit später greift er erneut die von Ernst Hubeli2 formulierte Frage auf: „Wie kommt die Geschichte in den Entwurf?“3 und verdeutlicht damit, dass jeder Entwurfsarbeit die Geschichte bewusst oder unbewusst eingeschrieben ist. Sie ist Quelle der Inspiration und Teil der Imagination, die wir hervorrufen wollen und müssen. In der vorliegenden Arbeit werden diese beiden Betrachtungsfelder zusammengeführt. Es sollen Verbindungen und Bezüge zwischen den theoretischen Erkenntnissen der interdisziplinär besetzten Erinnerungsforschung und der gestaltenden Landschaftsarchitektur hergestellt werden. Die im Hinblick auf die Kategorien Ort und Landschaft eröffneten Perspektiven offenbaren Gemeinsamkeiten, die nur in der Vereinigung von wahrnehmender und gestaltender Aktivität sichtbar werden.

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1

BüRGI, Paolo L.: Dimensionen der Erinnerung. In: Topos, Bd. 3, München 1993; S. 42-48

2

HuBELI, Ernst: Wie kommt die Geschichte in den Entwurf? In: Werk, Bauen + Wohnen Heft 1/2/1989; S. 26

3

BüRGI, Paolo L.: Erinnerung und Imagination – Die Geschichte als Quelle der Inspiration. In: Historische Gärten Heute, hrsg. v. M. Rohde und R. Schomann, Leipzig 2003; S. 66


Ziel ist es daher, im Rahmen der Trias Erinnerung – Topos – Landschaft eine einheitliche, theoretisch getragene Auffassung von Ort und Landschaft herauszustellen, die das Erinnern als wesentlichen Aspekt im Gestalten und Entwerfen von Landschaft verdeutlicht, in der zugleich aber auch die bedeutende Rolle der Landschaftsarchitektur innerhalb der Erinnerungskultur erfasst werden kann. Anhand eines vorangestellten Kommunikationsschemas sollen die Prinzipien erläutert werden, die zu einem einheitlichen Verständnis von sich dynamisch aufbauenden Landschaften beitragen, in denen sich gleichsam das Bedeuten von Geschichte repräsentiert. Im ersten Kapitel Erinnerung wird zu Beginn den grundsätzlichen Vorstellungen von Gedächtnis und Erinnern nachgegangen. Die in ihnen hervorgehobene Bedeutung von Raum, Zeit, Ort und Landschaft steht dabei im Vordergrund. Im Rahmen der Erinnerungskultur stützen sich einzelne Konzeptionen zunehmend auf Begriffe wie Erinnerungs- bzw. Gedächtnisorte, Erinnerungslandschaften oder Mnemotope, durch deren Verwendung das enge wechselseitige Verhältnis von Gedächtnis und Raum dargelegt wird. In der Beschäftigung mit den Medien des Erinnerns sowie den Funktionen und Ausprägungen des Gedächtnisses zeigen sich die Tendenzen zu einer metaphorischen Versinnbildlichung. Diese lassen sich kulturgeschichtlich zum Teil in räumlichen, bildhaft wirksamen Modellen bis heute wieder finden. Ausgehend von dieser kulturhistorischen Herangehensweise stellt die Einbeziehung von Erkenntnissen und Theorien der kognitiven Gedächtnisforschung zum Verständnis des Wahrnehmungs- und Vergegenwärtigungsprozesses die Grundlage der weiterführenden Betrachtungen dar. Im Mittelpunkt stehen hier die raumzeitlichen Vernetzungen des Gedächtnisses, die in Anbetracht ihrer komplexen Struktur durchaus Analogien zu Netzwerken kulturell geschaffener Handlungs- und Gestaltungsräume aufweisen. Die Erkenntnisse der Gedächtnisforschung bestätigen und ergänzen dabei Behauptungen, die im Forschungsfeld der Semiotik von einzelnen Vertretern zeichentheoretischer Modelle verfochten werden. So kann und muss in diesem Zusammenhang die Landschaftsarchitektur im Sinne der Baukultur als Sprache verstanden und erklärt werden. In dem Kapitel Topos werden Annäherungen an philosophische Lehren zur Bestimmung und Auffassung von Topos bzw. Ort aufgezeigt, in denen sich die im ersten Kapitel angesprochenen theoretischen Ansätze widerspiegeln. Ausgehend vom aristotelischen Toposbegriff, auf den sich Vertreter der europäischen Kulturgeschichte immer wieder bezogen haben, wird versucht, die darin enthaltenen Wesenszüge mit den heutigen Fragestellungen aus der Erinnerungsforschung zu konfrontieren. Hinzugezogen werden dabei die Lehren von Kitarõ Nishida, der als Begründer der modernen japanischen Philosophie den Begriff des Ortes (Basho) als Ausgangspunkt seines Gesamtwerkes ansieht. Den hierbei in Erscheinung tretenden, skizzierten Anschauungen entspringen grundlegende und weit reichende Konsequenzen für unser Verständnis von Raum und Landschaft, die insbesondere bei der Erfassung und Beurteilung gestalterischen Handelns sowie im Entwerfen selbst deutlich werden.

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Mit Bezug auf die ersten beiden Kapitel, wird im Abschnitt Landschaft ein eigenes kommunikationstheoretisches Schema vorgestellt. Auf die wesentliche Kategorie Ort hin ausgerichtet, lassen sich hiermit die Relationen Topographie, Topologie, Topochronie und Topopräsenz darstellen, die den Vorgang der Vergegenwärtigung als Akt der Verortung umschreiben. Sie unterliegen dabei Aspekten und Prinzipien, die einzelne Entwurfs- und Gestaltungsstrategien evozieren. Diese lassen sich in unterschiedlichen Projekten wieder finden, in denen ein örtlicher Vergangenheitsbezug maßgebliche Bedeutung besitzt. Mit ihrer bildhaften Sprache verdeutlichen und bereichern sie die theoretischen Erläuterungen. Die Strategien können allerdings keiner spezifischen Kategorie institutionalisierter Gedächtnisorte zugeordnet werden. Die angesprochenen Denkmäler, Mahnmale, Gedenk- und Begegnungsstätten, Museumsanlagen, Parks und Gärten repräsentieren somit nicht ihre institutionelle Zuordnung, sondern dokumentieren die generellen Prinzipien und grundsätzlichen Methoden bei der Gestaltung einstiger Ereignisorte. Es gilt dabei, gemeinsame Ansätze herauszuarbeiten und den einzelnen konzeptionellen Strategien zuzuordnen. Im Rahmen des Schemas Ver-Ortung wird zum einen ein Spektrum unterschiedlicher Gestaltungsaspekte aufgezeigt und zum anderen übergreifend die Landschaftsarchitektur mit ihren Methoden und Potenzialen verstärkt in den Fokus der Erinnerungskultur gerückt. So werden mit dem konkreten Wahrnehmen und Gestalten in der Landschaft die sprachlichen Strukturen in der Konstruktion jener Orte entdeckt, an denen vergangene Ereignisse in Erscheinung treten. Aus dieser Erkenntnis heraus kann dem Landschaftsdenken im Gestalten von Ortsbezeichnungen eine wesentliche Rolle zugewiesen werden. Diese besagt, dass die Landschaftsarchitektur im Zuge ihrer strategischen Annäherungen an bedeutende Orte einen entscheidenden Beitrag zur Kultur des Erinnerns leisten kann. Für das Entwerfen vor Ort ist damit zugleich aber auch der Anspruch verbunden, nicht die vermeintlichen Kulissen des Gewesenen zu rekonstruieren, sondern vielmehr die Bedeutungen, die wir vergangenen Ereignissen zusprechen, im Kontext ihrer sprachlichen Struktur am gegenwärtigen Ort zu repräsentieren. Sei es die Bezeichnung eines konkreten Gedächtnisortes oder die umwidmung einer im Wandel begriffenen postindustriellen bzw. durch Konversion geprägten Landschaft - die im Gedächtnis landschaftlich verorteten Ereignisse formulieren Identitäten, die auch im Vergehen von Funktion und Nutzung anwesend sind. Ihnen gilt es über das Vergegenwärtigen einen Ausdruck zu verleihen, der nur im Erfinden von spezifischen übersetzungen der vergangenen Ereignisse erkennbar ist. Diese stets neue Konstruktion setzt Destruktion voraus, die im Aufsuchen der in dieser Arbeit aufgezeigten Relationen zur Ver-Ortung ihren ursprung findet. Die Landschaftsarchitektur hat ihrerseits das Potenzial, diesen Vorgang im Rahmen der Baukultur zu veranschaulichen. Daneben ist der identitätsstiftende Anspruch an Landschaft ohne den Akt des Vergegenwärtigens und damit ohne das Andeuten vergangener Strukturen nicht denkbar.

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ErinnErung. DER ORT IN DER VORSTELLuNG VON GED채cHTNIS


Es herrscht eine enge Verbundenheit zwischen landschaftlichem Erleben, dem räumlichen bzw. örtlichen Denken und den Vorstellungen, die wir uns von dem machen, was wir Erinnerung und gedächtnis nennen. landschaften wahrnehmend oder gestaltend aufzubauen heißt, das gedächtnis erinnernd zu aktivieren und damit Ereignisse miteinander in Beziehung zu setzen. Daneben scheint es unumgänglich, das Verständnis von Erinnerung und gedächtnis über die Wesenszüge von Ort und landschaft begreifbar zu machen und so ihre Komplexität zu veranschaulichen. in der Kultur des Erinnerns haben wir es mit zwei Erscheinungen von landschaft zu tun. Zunächst lässt sich jene gegenständliche gestalt von landschaft ansprechen, die, ausgehend von der Betrachtung des raums, das Erkunden von konkreten Erinnerungsfiguren und -formen in landschaft eröffnet. Darüber hinaus zeigen sich aus der sicht auf gedächtnis und Erinnerung strukturen und Muster, die in der Vereinigung der beiden größen raum und Zeit landschaft als Denkmodell erst konstituiert. so paradox diese unterscheidung auch klingen mag, beiden Anschauungen gilt es zu folgen und ihre sichtweisen miteinander zu vergleichen. in dieser gegenüberstellung wird letztlich deutlich, dass sich beide Perspektiven in ihrem Aufbau analog zueinander verhalten. Bildlich ausgedrückt weisen sie gewissermaßen gemeinsame Fluchtpunkte auf und unterliegen zum teil gleichen Brennweiten. Erinnerung und gedächtnis stellen für das Wahrnehmen zentrale Kategorien dar, die sich, so konkret sie auch wirken, einer direkten Darstellung entziehen. um ihre Begriffe kreisen, den Blickwinkeln einzelner Disziplinen entsprechend, die jeweiligen Auffassungen von Ort und landschaft. „Das Spannende an diesem Thema ist, dass jede Wissenschaft, jede Disziplin immer nur einen kleinen Zugang gewährt und man immer gleich die nächste Tür aufmachen muss, um eine Perspektive, eine Fragestellung überhaupt unterbringen zu können, die von der anderen Disziplin ausgespart wird [...]“4 bemerkt Aleida Assmann in der Studiozeit zum thema ‚Das gestern im heute’. Angesichts dieses weiten und unüberschaubaren Feldes bedarf es umso mehr einer abstrakten Beschreibung und Eingrenzung, die am Beginn der Betrachtungen eine grundsätzliche begriffliche Differenzierung von Erinnerung und gedächtnis vornimmt.

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AssMAnn, Aleida: gesprächsausschnitt im rahmen der Studiozeit des Deutschlandfunks am 27. März 2003. Das Gestern im Heute. Interdisziplinäre Ansätze in der Erinnerungsforschung. Von Dörte hinrichs. hamburg 2003

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v. AQuin, thomas: Quaestio disputata de anima (untersuchung über die seele) art. 13, conclusio

Gedächtnis im Erinnern „Im Menschen ist nicht alles Gedächtnis, sondern Erinnerung.“5 (Thomas von Aquin, Über die Seele) in einigen Diskussionen im rahmen der Erinnerungskultur lassen sich immer wieder grundlegende, teilweise gegensätzliche Begriffsvorstellungen finden, die scheinbar auf gleichen, sich selbst erklärenden Konzepten und Definitionen beruhen. Bei näherer Betrachtung dieser Auseinandersetzungen, die sich mit den Formen und dem umgang mit gedächtnisorten sowie mit dem kollektiven bzw. kulturellen gedächtnis befassen, zeigt sich allerdings, dass sie oft mit unterschiedlichen individuellen oder disziplinären interpretationen belegt sind. sie erschweren somit nicht selten eine inhaltlich angemessene Debatte. infolge der unausweichlichen Ambivalenz des Phänomens Erinnerung zwischen der individuellen Betrachtung auf der einen und dem allgemeinen, kollektiven interesse auf der anderen seite, scheint dies auch nur verständlich zu sein. so sind einerseits biographische Erinnerungen untrennbar mit unserer 10

ErinnErung – DEr Ort in DEr VOrstEllung VOn gEDächtnis


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AssMAnn, Aleida: gesprächsausschnitt im rahmen der studiozeit des Deutschlandfunks am 27. März 2003. Das Gestern im Heute. Interdisziplinäre Ansätze in der Erinnerungsforschung. Von Dörte hinrichs. hamburg 2003

eigenen Existenz und identität verbunden, andererseits ist Kommunikation ohne das Erinnern nicht möglich. hinzu kommen die von Assmann konstatierten, fachspezifischen Ansätze, die jeweils für sich genommen kein umfassendes Verständnis von gedächtnis und Erinnerung liefern: „Also die Neurologen z.B., die sprechen ja nur über unsere sozusagen physische Software oder Hardware, die ermöglicht, dass wir uns überhaupt erinnern können. Das Individuum als Person spielt da keine Rolle, sondern da geht es um den Körper selbst und das Gehirn. Die kognitiven Psychologen, die erforschen wiederum, wie diese psychologischen Gedächtnisprozesse ablaufen, aber sie fragen dann auch nicht nach unserem lebensbiographischen Zusammenhang, in dem wir Erinnerungsleistungen vollbringen. Die Psychoanalyse wiederum fragt dann nach diesem Lebenszusammenhang und der Relevanz von Erinnerung. [...] Wir sind ja auch gesellschaftliche Wesen und stehen in bestimmten historischen Kontexten. Dann kommt also die soziale Dimension rein, die politische Dimension rein, wir leben ja auch in Staaten, die bestimmte Programme und Ziele verfolgen, und sind auch Teil dieser Identität. Und schließlich kommt auch noch die Kultur hinein. Es gibt eine Masse von externalisierter Erinnerung, in Gestalt von kulturellen Artefakten, Bücher, Literatur, über die wir auch unsere eigenen Erfahrungen und Erinnerungen formen und umformen.“6 Mit der Annäherung an das Phänomen der Erinnerung berühren wir demnach u. a. die allgemeinen geistes- und naturwissenschaften wie Philosophie, Psychologie und Physiologie – hierbei insbesondere die hirnforschung und neurobiologie – sowie in der weiteren Betrachtung die Bereiche der angewandten Wissenschaften von den Kultur- und Kunstwissenschaften bis hin zur soziologie. Erinnerung

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schMiDt, heinrich (1991): Philosophisches Wörterbuch. neu bearbeitet von georgi schischkoff. 22. Auflage. stuttgart. s. 753-754

Die individuelle Erinnerung ist zunächst eine Form der Vergegenwärtigung. sie ist ein Prozess, ein Vorgang, bei dem wir eine besondere Verbindung zwischen unserem Bewusstsein und teilen unseres gedächtnisses formulieren. Der Begriff Vergegenwärtigung wird dabei bestimmt als „der psychische Akt, durch den Gedachtes, Vorgestelltes, Vermutetes, Geahntes, Erinnertes, Erwartetes, Geplantes, Beabsichtigtes, begrifflich Gewußtes aus dem Bereich des (momentan) Nichtbewußten (Vergessenen) emporgehoben und zu einem Teilinhalt des Bewußtseins gemacht wird. Das Ergebnis einer Vergegenwärtigung ist das Vergegenwärtigte, der aktuelle Bewußtseinsinhalt.“7 Die Erinnerung an sich ist also nicht die sich als Vergegenwärtigtes herausbildende Erinnerungsfigur im engeren sinne, d.h. nicht ausschließlich das resultat der Vergegenwärtigung. Die Erinnerung stellt vielmehr den Akt der Vergegenwärtigung selbst dar, in dem die Erinnerungsfigur als teil des bewussten Erlebnisses immanent ist. sie ist damit der imagination (lat. – ‘Einbildung‘, ‘Phantasie‘, ‘bildhaft anschauliches Vorstellen‘, ‘Einbildungskraft‘) verhaftet und nur durch diese möglich. so ist „Erinnerung, das unwillkürliche oder willentlich herbeigeführte Wiederauftauchen von Bewusstseinsinhalten, die dem ursprünglichen Erleben mehr oder weniger ähnlich sind oder zu sein scheinen (Erinnerungsgewissheit und ihre Täuschungen). Die Fähigkeit der (genauen) Erinnerung ist bei verschiedenen Menschen sowie bei demselben Menschen verschieden für gedächtnis im Erinnern

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Die Beziehung zwischen Erinnerung, Ort und Landschaft ist für die Erinnerungskultur ebenso relevant wie für die Theorie der aktuellen Landschaftsarchitektur. Mit diesem Buch wird entlang der Trias Erinnerung - Topos - Landschaft eine einheitliche, theoretisch fundierte Auffassung von Ort und Landschaft entworfen, die das Erinnern als wesentlichen Aspekt im Gestalten und Entwerfen von Landschaft beschreibt und zugleich die bedeutende Rolle der Landschaftsarchitektur innerhalb der Erinnerungskultur benennt. Anhand von Beispielen aktueller landschaftsarchitektonischer Entwurfs- und Gestaltungsstrategien macht diese Studie die zahlreichen Aspekte und Relationen, die dem Phänomen des Erinnerns zugrunde liegen, anschaulich.

Marcus cordes ist Landschaftsarchitekt in Hannover und promovierte im Rahmen seiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der LeibnizUniversität. Darüber hinaus ist er Inhaber des Büros momentum3 – landschaftsarchitektur.

ISBN 978-3-88506-470-1


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